INKLUSION – QUELLENVERZEICHNIS II
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Cornelius
Breyer, Günther Fohrer, Walter Goschler, Manuela Hager, Christina Kießling und
Christoph Ratz (Hgg.)
Sonderpädagogik und Inklusion
Reihe: Lehren und Lernen mit behinderten Menschen Band 26
ATHENA-Verlag 46047 Oberhausen 1. Auflage 2012
ISBN 978-3-89896-483-8
Für Erhard Fischer zum 60. Geburtstag
Vorwort
Fast zeitgleich wurde in Deutschland in den 1970er-Jahren
einerseits das Sonderschulsystem flächendeckend etabliert, andererseits aber
auch ernst zu nehmende Forderungen nach Integration erhoben. Auf der einen
Seite sucht die Intensität, mit der das sonderpädagogische System
zwischenzeitlich in Deutschland ausgebaut wurde, weltweit ihresgleichen. Auf
der anderen Seite stehen heute weitreichende Bemühungen, die UN-Konvention über
die Rechte der Menschen mit Behinderungen durch geeignete Bildungsangebote
inklusiv umzugestalten – regional allerdings mit sehr unterschiedlicher
Ausprägung.
Die inklusive Entwicklung des Bildungssystems steht politisch und moralisch
außer Frage. Dennoch tauchen bei ihrer Umsetzung Fragen auf…. Kann das
erreichte Niveau sonderpädagogischer Förderung in inklusiven Institutionen
gehalten werden? Ist eine inklusive Gruppenzusammensetzung tatsächlich
uneingeschränkt im Interesse der Kinder oder Erwachsenen mit Behinderungen?...
Prof. Dr. Erhard Fischer… hat sich für den Ausbau der Integration eingesetzt
und wurde in den wissenschaftlichen Beirat des Bayerischen Landtags berufen…
Der Bereich „Allgemeine Fragen“ umfasst grundlegende Beiträge. Der zweite
Bereich umfasst Themen zu Unterricht und Schule. Schließlich finden sich im
dritten Bereich Überlegungen mit und von benachbarten Disziplinen..
Würzburg… Die Herausgeber
Andreas Möckel
Heilerziehung, Bildsamkeit und Inklusion in der Geschichte der Heilpädagogik
…Immer wieder sprachen sich Pädagogen in den vergangenen 200 Jahren für eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern in Schulen aus… Die Ursprünge der Heilpädagogik lassen sich als Ursprünge der Pädagogik verstehen (Möckel 1988,24f.)
Deutsche UNESCO-Kommission e. V. Leitlinien für die
Bildungspolitik
www.unesco.de/4162.html
v.28.09.2012
Bisher war es so, wie Heinrich Hanselmann es 1932 in seiner
Antrittsvorlesung sagte.
>So geht denn ziemlich vom Beginn unseres Volksschulwesens an bis in unsere
Zeit jener breiten Heerstraße der Bildung ein schmaler Pfad parallel, dem man
den sehr mißverständlichen Namen Heilpädagogik gegeben hat<. (Hanselmann
1932, 2)
Wenn man von der Forderung der Inklusion ausgeht, muss sich
das insofern radikal ändern. Es muss in Zukunft eine viel stärkere gegenseitige
Empathie aufgebracht werden als bisher. Immer wieder sprachen sich Pädagogen in
den vergangenen 200 Jahren für eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht
behinderten Kindern in Schulen aus…. Jetzt soll die Konsequenz daraus gezogen
werden, dass Heilerziehung Pädagogik ist >und nichts anderes< *
*… Zitat Paul Moor Heilpädagogik, S.273
Heilpädagogik kann zeigen, wo Erziehung ihren Sitz im Leben
hat. Ob das auch mit dem Begriff einer Idee der Bildsamkeit zu leisten ist,
hängt davon ab, wie „Bildsamkeit“ verstanden wird. (a. a. O. S.13,14)
Tenorth bietet eine dreigliedrige Periodisierung der Geschichte der
Heilerziehung an. Die erste Phase beginnt in der Aufklärung, und zwar mit der
Wirkung der Idee der Bildsamkeit. Tenorth zeigt das an den ersten Instituten
für den Unterricht und der Erziehung taubstummer und blinder Kinder auf. Die
zweite Phase setzt er mit dem Beginn der „Selbstdestruktion“ der Idee der Bildsamkeit
an. Die dritte Phase. So kann man hinzufügen, beginnt nach dem zweiten
Weltkrieg. Die Idee der Bildsamkeit macht sich in den Forderungen von
Integration und Inklusion neu geltend…
Die Selbstdestruktion der Idee der Bildsamkeit
Tenorth
sieht in der ersten Phase der Heilerziehung ein wirksames System am Werk. Die
Natur des Kindes und die Erfindungsgabe der Erzieher, beide verklammert durch
die Idee der Bildsamkeit, waren ein wirksames System, das jedoch bewusst sein
musste, wenn es wirksam bleiben wollte. Der Systemcharakter der
heilerzieherischen Methoden sei jedoch zerfallen, und die „Einheit einer
antizipierenden, in der universalen Idee der Bildsamkeit begründeten
Technologie habe sich aufgelöst (Tenorth 2006, 313). An die Stelle der in der
ersten Phase der Heilerziehung erfolgreichen“ Antizipation einer besseren
Zukunft“ (ebd.) seien „die Klassifikation der schlechten Gegenwart des
Klienten“ (ebd.) und eine berufsständige professionelle Technik“ (ebd.)
getreten. Die Pädagogen… Mitte des 19. Jahrhunderts…… bezogen sich mehr und
mehr auf Medizin, Psychologie und Psychiatrie… an den „Erfahrungen mit der
Technologie“ (ebd.)… ferner an den Veränderungen im Verständnis der Natur des
pädagogischen Klienten“ (ebd.). (a. a. O. S.14)
„Der Raum der Möglichkeiten, den die Pädagogen antizipiere und für die
Gestaltung ihrer eigenen Welt nutzen können, verändert sich, nicht mehr die
hypothetische, sondern die gegebene Welt und ein anderes Bild der Natur
regieren die Konstruktion der pädagogischen Realität.“ (ebd.514)
… Die einseitige Bevorzugung der sog. „deutschen Methode“ (der
„lautsprachlichen“ Bildung Taubstummer) belege den Wandel in den Grundannahmen,
und Tenorth zitierte Friedrich Diesterweg, der gegen Friedrich Moritz Hill
gewandt zu bedenken gab, nur fortgesetzte Versuche könnten entscheiden, ob die
Gestenmethode oder die Sprachausbildung besser sei… (a. a. O. S.15)
Diesterweg, wie bereits Herbarth, akzeptierten die Psychologie als Instanz, die
zeigen könne, wo die „Grenzen der Bildsamkeit“ lägen.
„anders als die pädagogischen Innovateure um 1800 verlagerte er mit diesem
Denken über die Natur als ‚Anlage‘ die Anstrengung des Pädagogen von der
‚Erfindung‘ und der Technologie weg zur Diagnose und Beobachtung des Gegebenen
hin,“ (ebd.)…
Gut pädagogisch gelte zwar immer noch die Prämisse, dass sich die
Individualität erst „im unmittelbaren Vollzug der Erziehung erweisen müsse. Das
geschehe jetzt aber nicht mehr „konstruierend, sondern die Natur beobachtend,
nicht mehr antizipierend, sondern konstatierend.“ (ebd.) Die wesentliche
Referenzliteratur, aus der „der Pädagoge im Allgemeinen und auch der Pädagoge
der Behinderten“ den Begriff der „Individualität“ des Kindes bezögen, sei nicht
anthropologisch, sondern im Kontext der „Pathologie“ des Kindes entwickelt. „Begabung“,
„Anlagen“, „Talent“, „Gene“, aber auch „Schwachsinn“ oder „jugendlicher
Verbrecher“ steckten dafür den Rahmen ab… (ebd.517) Ein Zeichen dafür sieht
Tenorth in der neu gegründeten Zeitschrift Die Kinderfehler und in
Strümpels Arbeiten zur Pädagogischen Pathologie:
„wie immer die Details dieser neuen pädagogischen Lehre vom Menschen aussehen,
nicht die universale Idee der Bildsamkeit regiert jetzt, sondern erneut ein
Mechanismus, indem Bildsamkeit nicht generell unterstellt, sondern
klienttypisch zu- oder abgesprochen wird.“… (ebd. 518)… (a. a.
O. S.16) „Statt der Anregungskraft der pädagogischen Welt“ regiert nunmehr „die
Homogenität von Lerngruppen“. Das zweite Beispiel ist die „Hilfsschule“, die
auch von Sonderpädagogen erfunden worden sei, „um in der Regelschule frei von
Kindern arbeiten zu können, die als ‚lernbehindert‘ gelten!“ (ebd.) Die
Hilfsschule rückt bei Tenorth in den Zusammenhang mit den „endlosen Listen und
Klassifikationen, in denen ‚Kinderfehler‘ aufgearbeitet werden“ (ebd.519)
Der Niedergang der Idee der Bildsamkeit zeige sich am schärfsten in der
Pädagogik zur Erziehung geistig behinderter Kinder und in ihrer Hilflosigkeit
gegenüber den Verstiegenheiten der Rassenlehre… „nicht allein ein nationales,…
sondern offenbar zuerst ein professionelles Syndrom gewesen sei (ebd.). … auch…
in der Schweiz…“ (a. a. O. S.17)
Die Entwicklungspsychologie habe sich von der scheinbar unauflöslich fixierten
Dualität von Anlage und Umwelt getrennt und zu einer handlungsbezogenen Theorie
des „Begabens“ gefunden…. Exemplarisch ablesbar an der Karriere des
Begriffs Eigensinn (ebd.) Noch um die des Jahrhundertwende als Makel des
Kindes, also ein ‚Kinderfehler‘, sei Eigensinn in der schulkritischen
Literatur seit Hermann Hesse zum Indiz für das Drama des begabten Kindes
geworden, das sich gegen den bornierten Lehrer und die subjektbedrohende Schule
behaupte…
Der Wandel des Begriffs der Bildsamkeit
…Ideen verkehren sich unter Umständen, wenn sie umgesetzt werden, in ihr Gegenteil. Für den Missbrauch politischer und religiöser Ideen gibt es in der Geschichte Europas genügend Beispiele. Auch die Idee einer allgemeinen öffentlichen Erziehung in Schulen ist nicht eindeutig, sondern hat – trotz der Behauptung „allgemein“ zu sein – unterschiedliche, separierende Schultypen entstehen lassen. „Transformation“ und „Deformation“, zwei Begriffe, die Tenorth ebenfalls gebraucht, treffen Vorgänge, wie unerwünschte Nebenwirkungen, Wandel zum Schlechteren, Verfall, Vernachlässigung oder Missverstand wohl besser als „Selbstdestruktion“….
Es ist keine Schule für gehörlose oder für blinde Kinder
bekannt, die im Namen der Bildsamkeit gegründet worden wäre…. (a. a. O.
S.18,19)
Universell war in der Aufklärungszeit die Idee der Humanität, in deren Namen
die angeborenen und unveräußerlichen Menschenrechte verkündet wurden. Im Namen
der Humanität entstanden Emanzipationsbewegungen, zum Beispiel der Juden, der
leibeigenen Bauern, der Taubstummen und Blinden…
Bildsamkeit, wie Herbart später formulierte, erhält nur dann eine auf
die Erziehung aller Kinder ab zielende Bedeutung, wenn die Idee der Humanität
als Imperativ hinzugedacht wird.
Ideen aber können wachsen. Ein Beispiel dafür ist die Verkündigung der
Menschenrechte im Jahre 1776. Die Verfassungsväter der Vereinigten Staaten
dachten damals nicht an eine Emanzipation der Sklaven…
Dieser Prozess kommt erst zu einem Abschluss, wenn die Erziehungswissenschaft
ihre Grundbegriffe so weit elaboriert, dass sie jedes beliebige soziale Thema
untersuchen kann, bei dem „Ungleichzeitigkeit“ in „Gleichzeitigkeit“ überführt
werden muss…(a. a. O. S.19) Der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg und zur
Fortbildung ging seit 1948($) Hand in Hand. Die Achillesferse der Lehrer wie
der Sonderschullehrer war ihr unkritisches Vertrauen in die Universitäts-Wissenschaften.
Sie suchten Anlehnung, wo sie diese fanden – und das war nicht immer bei der
Pädagogik… Bezeichnend dafür ist der Umgang der Schulen für Gehörlose mit
schwerhörigen Kindern und die Schulen für Blinde mit sehbehinderten. In beiden
Fällen kamen die Anstöße zur Verbesserung der Unterrichtsorganisation
von medizinischen Untersuchungen… (a. a. O. S.22) Die heilpädagogischen
Anstalten des 18. Jahrhunderts markieren eine Wende. Sie nahm die von Heinrich
Roth eingeleitete Wende in der Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg vorweg. So
verstand auch Wilhelm Flitner die Anfänge der Heilerziehung (Flitner 1957);
doch er führte sie nicht auf genuin pädagogische Leistungen zurück, sondern auf
die Naturwissenschaften…
Ihr fehlte beispielsweise der Gedanke des Negativen Wissens und seiner Funktion
in der Erziehung (Oser/Spychiger 2005) oder die Einsicht in die Ambivalenz der
Erziehungsgewalt, wie Tenorth das am Begriff des „Kindesfehlers“ Eigensinn
zeigt…
…auch die Selbstheilungskräfte sind erst spät in den Blick der
Erziehungswissenschaft gekommen… Was Tenorth mit „Erfindung“ in der
Heilerziehung bezeichnet, ist die Entdeckung der Kompensation, die eine
wichtige heilpädagogische und zugleich allgemein pädagogische Kategorie ist.
Der Ausfall eines Sinnes macht den Unterricht nicht unmöglich… (a. a. O. S.23)
Tenorth, Heinz-Elmar (2006); Bildsamkeit und Behinderung – Anspruch, Wirksamkeit und Destruktion einer Idee. In: Raphael, Lutz / Tenorth. H.-E. (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. München Oldenbourg Verlag, 497 – 520
Walther Dreher
Winds of Change – Inklusion wollen
1 Prolog
Szene eins:
Der Festtag ist gekommen und mit ihm auch Gäste, die Erhard Fischer, den Jubilar,
lange nicht mehr gesehen haben… Er kennt die Spannungspole >Integration und
Qualität sonderpädagogischer Förderung<… (a. a. O. S.27)
2. Winds of change
2.1 Wind-Stärke
Mein Text entlehnt den Titel „Winds of change“ einem Beitrag von Otto Scharmer,
dessen Ansatz den roten Faden der nachfolgenden Ausführungen bildet. In der
Einleitung der >Theorie U< schreibt Scharmer (2009,22):>…Die Krise
unserer Zeit ist nicht einfach die Krise einer einzelnen Führungskraft, eines
Landes, einer Weltregion. Die Krise unserer Zeit offenbart das Sterben einer
veralteten sozialen Struktur und einer bestimmten Art des Denkens, einer
überkommenen Art der Institutionalisierung und des gemeinsamen Hervorbringens
von sozialen Formen<. ..
2.2. Wind-Richtung
So stürmisch und revolutionär geht es in den Erziehungsfeldern nicht zu…
Was haben Sonderpädagogik und Inklusion mit einem >family tree of non
violent resistance and grassrouts leadership<, also einem Genogramm
gewaltfreien Widerstands und basisorientierter Führungskonzepte zu tun?...
Vielleicht sind es auch hier >veraltete soziale Strukturen< und
eine bestimmte >Art des Denkens<, die verhindern, aufrichtig nach einem
gemeinsamen Hervorbringen von neuen Formen des Gemeinwesens im weitesten Sinne
zu suchen. (a. a. O. S.28,29)
Denk-Richtungen, welche die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) anzeigt und
Denk-Spuren, die sie legt, sind unübersehbar…
In einfacher Sprache [dies ist ein Fachterminus,
nach welcher künftig Unterrichtsinhalte in Sätze gepackt werden, die beinahe nur
noch Subjekt und Prädikat umfassen!! WW] finden wir den Hinweis so
ausgedrückt: >Alle Menschen haben Menschen-Rechte. Menschen mit behinderten
haben die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen. Überall auf dieser Welt.
Oft geht es behinderten Menschen schlechter als Menschen ohne Behinderungen.
Die meisten Behinderten leben in sehr armen Ländern. In vielen Ländern haben
behinderte Menschen weniger Rechte. Sie werden schlechter behandelt… Die UN ist
eine große Gruppe. Sie macht für die ganze Welt Politik. In der UN arbeiten
fast alle Länder der Welt mit.. Die UN hat genau nachgedacht… (Beauftragter der
Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen o.D.,2) …. Und> sie hat
behinderte Menschen gefragt<, kommen in >einfacher Sprache< mehr zur
Geltung als im offiziellen Text… Viele behinderte Menschen aus der ganzen Welt
haben an dem Gesetz mitgearbeitet. Sie wissen am besten: welche Rechte brauchen
wir? (a. a. O. S.29) … Die BRK muss als Meilenstein erkannt werden, der
zugleich Grenzstein ist zum Übergang in eine neue Welt, die gänzlich
verschieden ist von dem, was aus der Vergangenheit kommt, das heißt, der Geist
der BRK weht nicht in eine Richtung, die höchstens einen Weg des >Mehr vom
Gleichen< markieren möchte…
Aufgabe… [der] Behindertenpädagogik… den >Menschen<, den wir als
>behindert< bezeichnen – mit neuen Augen zu sehen…
Georg Feuser [:] >Es müsse ‚eigentlich‘ ein ureigenstes pädagogisches
Anliegen sein, sich auf das zu orientieren, was aus einem Menschen seiner
Möglichkeit nach werden kann und nicht auf das, wie er uns gerade erscheint,
dass er sei…< (Feuser 1996,22)
2007 haben sich junge Menschen – Jugendliche mit sonderpädagogischem
Förderbedarf aus Schulen des Sekundarschulbereichs, beruflichen Bildungsgängen
und Hochschulen – in Portugal getroffen und in der Erklärung von Lissabon
formuliert, wie sie ihre Rechte sehen… Zur >Inklusiven Bildung< äußerten
sie ihre Meinung unter anderem dahingehend, sich frei entscheiden zu können,
welche Schulen sie besuchen wollen… (a. a. O. S.30) >Wir sehen viele
Vorteile in der inklusiven Bildung. Wir erwerben mehr soziale Kompetenzen, wir
haben ein besseres Erfahrungsspektrum, wir lernen, in der normalen Welt zurecht
zu kommen; wir müssen Freunde und Freundinnen mit und ohne sonderpädagogischen
Förderbedarf finden und mit ihnen interagieren – von der inklusiven Bildung
profitieren nicht nur wir, sondern auch alle anderen< (European Agency for
Development in special Needs Education 2007)….
…. jüngst die Diskussion um >Gemeinsames Forschen mit Menschen mit intellektuellen
Behinderung< (Buchner/Koenig/Schuppener 2011)… Warum muss eine Mutter 2011
noch Folgendes unterstreichen: >Wir Eltern müssen als Vorreiter leisten,
unsere Kinder als defizitäre Bündel zu betrachten, wie es uns gerne vermittelt
wird< (Fröhlich-Primus 2011,2).
Noch immer scheint zu stimmen: >Wer für sein Kind Inklusion will, muss
kämpfen< (Dreher/Lyra 2008, 233), wenngleich die BRK darlegt, >….
>dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass
Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und
einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht…< (UNO 2006,Präampel
>e<) … Fazit der Jugendlichen von Lissabon…:>Unsere Zukunft müssen wir
uns selbst aufbauen. Wir müssen Barrieren in uns selbst und in anderen Menschen
ohne Behinderung abbauen. Wir müssen über unsere Behinderung hinauswachen –
dann wird die Welt uns besser akzeptieren< (European Agency for Development
in Special Needs Education 2007). (a. a. O. S.31,32) Diese Zukunft, der Abbau der
Barrieren und das über sich selbst hinauswachsen gelingt nur, wenn die
Betroffenen und die ihnen als >Experten von außen< begegnen, die
Vergangenheit hinter sich lassen und >von der Zukunft her< wahrzunehmen
beginnen und damit eine Form von >Behinderung< eliminieren, die Scharmer
mit >intentional violence< bezeichnet (Scharmer 2011). Dazu kommentiert
Lyra (2010,34 f.) >Dieser Gewalttypus bezieht sich auf die Tatsache, dass es
einigen Menschen – die oft als Randgruppen eingeordnet werden – nicht ermöglicht
wird, von ihrem höchsten Zukunftspotenzial her betrachtet und wahrgenommen zu
werden…<
2.3 Gegen-Wind … (a. a. O. S.32)
Der blinde Fleck
… – vielleicht sogar eine Vielzahl von Flecken – Verstärkt wird dieser
>blind spot< dadurch, dass er ein solcher des kollektiven Bewusstseins
ist…. Diese Blindheit lässt die >inner source dimension< – den Quell-Ort
für Entdeckungen, Erkenntnisse, neue Ideen, für neue Potenziale, neue
Bedeutungen, neuen Sinn, neue Energie, neues Wolleben –, lässt den Ort eines
zukünftigen möglichen Ganzen, nicht wahrnehmen. Von hier gewinnt Artikel 8 der
BRK (UNO 2006), gern zitiert, aber wenig beachtet und geachtet, eine ungeahnte
Sprengkraft…
Mit dem Terminus >Presencing< – einer Wortschöpfung aus >Presence<
und >Sencing< – wird eine Zeitdimension erfasst, welche >auf die
Ankunft einer in der Zukunft liegenden Möglichkeit Bezug nimmt… (a. a. O: S.33)
.. Für…(Cox 2008) stellt sich der >blind spot< des kreativen
Werdens doppelbödig dar. Er unterscheidet eine >passive< von einer
>aktiven< Blindheit. Der Grund für letztere liegt für ihn im >Ego<
des Menschen. Das Ego, im Unterschied zum authentischen Selbst, schafft Räume
der Abwesenheit, des >Absencing<, wie sie auch vielfältig im Verstehens-
und Annäherungsprozess der BRK zu entdecken sind…. Das Ego ist eng mit
unserer Verletzbarkeit verknüpft. Da wir uns dies nicht eingestehen wollen,
versuchen wir ihr zu entgehen durch Urteilen (voice of judgement), lassen uns
von unserer Furchtsamkeit (voice of fear) leiten und wehren uns gegenüber anderen
mittels Zynismus (voice of cynisme). >Unserer egos werden die wichtigsten
Manager unserer Strategien, durch die wir Kämpfe und Erniedrigungen in
zwischenmenschlichen Erfahrungsfeldern zu vermeiden suchen. Im Kern stellen
Egos eine Sammlung interpersonaler Überlebensstrategien dar< (ebd.)…Wir
können dieses >Ego< in seinen Aktionen beobachten lernen, es loslassen,
um dann unser >authentisches Selbst<, unser >bestes Selbst<
erscheinen, auftauchen zu lassen…
Die spannungsvolle Polarität von >presencing< und >absencing< mit
einem Fokus auf letzteren lässt sich exemplarisch am Modell der
Kompetenzzentren sonderpädagogischer Förderung in NRW ablesen. Zu Beginn der
Etablierung dieser Zentren im Sinne des Ausbaus von Förderschulen zu
Kompetenzzentren für sonderpädagogische Förderung gem. §20 Abs.5 Schulgesetz
NRW, sind wir 2007 in einem Beitrag zum Kongress >Eine Schule für alle<
davon ausgegangen, dass der Impuls >Eine Schule für alle< den Impuls
>Kompetenzzentren< verstärkt, und umgekehrt… sich – im Dialog
miteinander und im Hören aufeinander – zu einer neuen Bildungslandschaft
transformieren können. (a. a. O. S.34,35)
„Beide Impulse und die damit verbundenen Impulsgeber sind für das aus der
Zukunft auftauchende inklusive Bildungswesen in einem inklusiven Gemeinwesen
gleichermaßen verantwortlich!“ (Dreher/Lyra 2008,, 244) Diese unsere Erwartung
ist in keiner Weise erfüllt worden, wenn wir jetzt das Gutachten von Rolf
Werning (2011) zur Kenntnis nehmen. Im Nachhinein verwundert das nicht…. Eine
weitere Parallele findet sich in NRW einige Jahre zuvor im Modell der
Integrativen Lerngruppe (IL). Der Impuls wurde von oben in die Debatte
geworfen…
2.4 Auf-Wind
>Change<, Wandel sind dennoch im Auf-Wind. Was sich in die Lüfte
schwingt, soll beispielhaft sichtbar gemacht werden…
Karl-Heinz Imhäuser (2011) weist mit >Fragen ÜBER fragen< unter Bezug auf
den >Index für Inklusion< in eine interessante Richtung. Der Index mit
seinen Indikatorfragen – vorweg eine non duale Perspektive einnehmend – will
>Dialoge< anstoßen… (a. a. O. S.35)
Es geht darum zu beantworten, nicht zu beantworten, das heißt, auf
unterschiedliche Lösungsansätze hin zu navigieren und sich auf Prozesse das
Abwägens einzulassen. Dabei schlägt Imhäuser eine spannende Erkenntnisbrücke
zum Physiker Hans Peter Dürr und dessen Bezug zur Logik der Natur, welche keine
>zweiwertige Ja- oder Nein, sondern Sowohl-als-auch, ein Dazwischen, das
Eben-nicht-Greifbare bzw. das Unentschiedene< zeigt (ebd. 44). Diese
Mehrwertigkeit oder Vielfalt öffnet Räume für eine andere, eine neue
Welt… Das Zusammenwirken vieler „Wirks“ für eine winzige Artikulation der
Wirklichkeit... (a. a. O: S.36)
Inklusion wollen
Knüpfen wir noch einmal an die radikale, also
>wurzelhafte< Epistemologie der Theorie U …und Index für Inklusion… von
Olga Lyra an. Scharmer (2009, 106f.) weist auf die Entwicklung von
>Sichtweisen auf soziale Felder seit dem 19. Bis ins 21. Jahrhundert hin…
Trennlinien entstehen hier durch Dualismen von Subjekt und Objekt. Ihr folgt
der Blick auf die Lebenswelt, der durch das Merkmal der
>Intersubjektivität< – die Lebenswelt ist eingebettet in ein Netzwerk
kollektiver Beziehungen – charakterisiert ist. Im 21. Jahrhundert tritt mit der
Kategorie >Transsubjektivität< eine Perspektive auf die gelebte Gegenwart
hinzu, Hier liegt das Feld der Auseinandersetzungen im >Selbst<. Bildhaft
durch das Symbol des Baumes betrachtet sind Objektivität und
Intersubjektivität jene Teile, die sich als Blätter, Zweige und Stamm
sichtbar über der Erde erheben. Transsubjektivität ist das unsichtbare
Wurzelwerk. Wenn es hier um Trennlinien, sozial gesehen zwischen >selbst und
anderen< geht, dann liegen deren >(Ab)Gründe im Selbst, ökologisch
gesehen zwischen >Sinnen-Welt und Selbst< und geistig gesehen zwischen
>selbst und Selbst<. Nach Scharmer ist es eine >Signatur der
Gegenwart<, sich in allem Handeln dem >unsichtbaren Wurzelsystem<
zuzuwenden…(a. a. O: S.37)
In diesem Sinne kommt dem >U< die Qualität eines Wasserzeichens zu,
eingeprägt in das Denken, Fühlen und Wollen unserer Zeit, auf individueller und
kollektiver Ebene und zugleich diese prägend durch die Fähigkeit, >den
inneren Ort, aus dem heraus wir handeln, zu verändern< (ebd. 121) Lyra, Olga
(2010): Führungskräfte und Gestaltungsverantwortung in schulischen
Bildungsfeldern., Theorie U als Impuls für tiefgreifenden Wandel in inklusiven
Bildungslandschaften. Dissertation. Köln.
3.1 Wind-Schatten
…Die Stimme des Beurteilens (voice of judgement) scheinbar
kundiger Experten gibt hier das Motto aus: >Inklusion ja – aber nicht auf dem
Rücken der Behinderten<. Wobei der blinde Fleck verhindert zu erkennen, dass
sich hinter dem Motto ein zweites, vielleicht das eigentliche verbirgt;
>Inklusion ja – aber nicht auf Kosten unseres Schonraumes
Heilpädagogik/Sonderpädagogik oder Rehabilitation!<…
http://de.wikipedia.org/wiki/Universal_Design
3.2. Wind-Stille
Es wird deutlich, Inklusion und in diesem Kontext die Theorie U sind Impulse, die uns vieles abverlangen… (a. a. O. S.38) … So steht die Wind-Stille polar zur Wind-Stärke und bedingt ein sich-Überlassen einem Stille-Raum (Scharmer 2009, 402ff.), ein Sich-Öffnen den Räumen des Geistes, des Herzens und des Wollens und ein Entdecken des Quellortes meines höchsten Selbst…
4 Epilog
Wings of change –Flügel der Wandlung
.. Wenn das Wasser den Fisch zum Fisch bildet, die Luft den Vogel zum Vogel, dann bildet die Kultur den Menschen zum Menschen, der Mensch ist Geschöpf seiner Kultur. Aber er ist nicht nur ein Gewordener, sondern auch ein Werdender, der sich neue Erkenntnisräume zu erschließen vermag, indem er seinen liebgewordenen Kokon verlässt, sich >beflügelt auf-schwingt< zu schöpferisch eigenverantwortlichem Tun, getragen von >entfalteten Wings of change<…. die mich zu Flügeln für andere werden lassen und die zugleich als Flügel der anderen mich heben und mittragen… (a. a. O. S.39)
Scharmer, C. Otto (2009) Theorie U. Von der Zukunft her
führen. Presencing als soziale Technik. Heidelberg: Carl-Auer verlag
Scharmer, C. Otto (2011): winds of change.
http://www.blog.ottoscharmer.com/?m=201102/
Christel Rittmeyer
Zum Stellenwert der Sonderpädagogik und den zukünftigen Aufgaben von
Sonderpädagogen in inklusiven Settings nach den Forderungen der
UN-Behindertenkonvention (a. a. O. S.43)
…Inklusion, das ist für mich aber nicht nur Theorie. Als Konrektorin an
einer Schule für Kranke mit dem Arbeitsschwerpunkt Kinder- und
Jugendpsychiatrie weiß ich vielmehr aus tagtäglicher Erfahrung, was es heißt,
sehr heterogene Schüler zu unterrichten. Aber ich weiß auch aus eigener
Erfahrung, dass es möglich ist, und, worin die Vorzüge, aber auch, worin die
Herausforderungen bestehen…
2 Rückblick auf die Entwicklung hin zur Forderung nach Inklusion
Mit Sander (2003) können in der Geschichte des Umgangs mi
Menschen mi Behinderung … die folgenden Phasen unterschieden werden:
1. Exklusion: Kinder mit Behinderung sind von jegliche Schulbesuch
ausgeschlossen.
2. Separation oder Degregation: Kinder mit Behinderung besuchen eigene
abgetrennte Bildungseinrichtungen (Sonderschulen).
3. Integration: Kinder mit Behinderung können mit sonderpädagogischer
Unterstützung Regelschulen besuchen.
4. Inklusion: Alle Kinder mit Behinderung besuchen wie alle anderen Kinder
Regelschulen, die die Heterogenität ihrer Schüler und Schülerinnen schätzen und
im Unterricht fruchtbar machen. (vgl. Sander 2003, 317)
…In meiner Publikation zur UN-BRK aus dem Jahre 2009 habe ich geschrieben, dass
sich Deutschland angesichts des Umstandes, dass nur 14 % der Schüler eine
integrative Regelschule besuchen, praktisch schwerpunktmäßig in der Phase der
Separation mit gleichzeitig geringanteiliger Integration befände, auf der
Ebene der Theorie hingegen eine Weiterentwicklung zur Inklusion festzustellen
sei (vgl. Themenheft 4/2003 der Zeitschrift Sonderpädagogische Förderung)
In ihren Empfehlungen zur Umsetzung der UN-BRK zwei Jahre später kommen Klemm
und Preuss-Lausitz zu der Einschätzung, dass Deutschland auf der Entwicklungsstufe
der Integration stehe… (a. a. O. S.44)
3 Was fordert die UN-Behindertenrechtskonvention?
In der UN-BRK werden für alle Lebensbereiche Ziele formuliert, die die
Partizipation von Menschen mit Behinderung erleichtern und Diskriminierung und
Ausschluss verhindern sollen (vgl. Klemm/Preuss-Lausitz 2011,8) Die UN-BRK ist
damit ein Werk, dessen Ausführungen weit über den Bereich der Pädagogik
hinausgehen, im Grunde allumfassend ist.
Es bedeutet deshalb – je nach Sichtweise – eine Überfrachtung, eine Überforderung
oder auch eine Selbstüberschätzung, wenn inklusive Bildung nur als Aufgabe des
Bildungssystems begriffen wird…. (Heimlich 2011,45) Der gesamtgesellschaftliche
Aspekt inklusiver Erziehung wird in der Diskussion jedoch weitgehend
vernachlässigt… Die Gesellschaft reißt Menschen immer stärker aus gewachsenen
sozialen Strukturen hinaus, so dass Inklusion immer mehr zur Aufgabe jedes
einzelnen wird. Gerade Menschen mit Behinderung oder sozialen Benachteiligungen
fallen aber leicht aus diesem selbst zu organisierenden Inklusionsprozess
heraus… (vgl. ebed.46) Auf Schule und Unterricht bezogen ist der Paragraph 24
der UN BRK (vgl. Anhang)
http://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf
[aus dem Internet ausgewählt WW]
Darin favorisiert die UN ei egalitäres, inklusives
Schulsystem (vgl. Ellger-Rüttgardt 2009, 446). Besondere pädagogische Maßnahmen
werden allerdings nicht ausgeschlossen.
Interessant ist die für den Bereich gemeinsamen Lernens neue bzw. neuartige
Argumentation der UN-BRK. Denn sie argumentiert nicht pädagogisch oder
ökonomisch, sondern menschenrechtlich (vgl. Klemm/Preuss-Lausitz 2011,14) (a.
a. O: S.45)
4 Wie wurde die UN-BRK in der Bundesrepublik Deutschland
eingeführt?
Die Bundesrepublik Deutschland hat die UN-BRK im Dezember 2008 (mit Wirkung zum
26.03.2009) einstimmig in Bundestag und Bundessrat übernommen. Insgesamt kann
aber gesagt werden, dass das Bekenntnis zur UN-BRK in der Bundesrepublik
Deutschland nur recht schleppend voranging: Unterzeichnung am 30.03.2007,
Ratifizierung im Dezember 2008, Wirksamwerden im März 2009. Den Grund… sieht
Merkelbach in der Forderung nach einem >inklusiven Bildungssystem<. Mit
einer solchen Forderung kann sich ein Land, das international zu der Gruppe mit
den höchsten Separierungsquoten gehört (vgl. Sander 2002, 8) insgesamt nur
schwer tun. Der in diesem Zusammenhang häufig zitierte Übersetzungsfehler war
denn auch offenbar kein echter Übersetzungsfehler. Die Übernahme der UN-BRK im
Bundesrat scheint vielmehr nur unter der Voraussetzung zustande gekommen zu
sein, >dass das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales im
Einvernehmen mit der Kultusministerkonferenz die englische Formulierung
>inclusive education system< mit >integratives Bildungssystem<
übersetzte und damit die Konvention in einem zentralen Punkt falsch
wiedergab< (Merkelbach 2009, 1s.)… Es wurde damit eine Gleichsetzung
beibehalten, die bis auf die Übersetzung der Dokumente der Konferenz von Salamanca…
im Jahre 1994… zurückgeht… Auch Marianne Demmer, Leiterin des
Organisationsbereichs Schule in der GEW, sieht das Hauptproblem für die späte
Ratifizierung ähnlich wie Schumann: in der >Philosophie der Konvention<,
die >auf die Idee einer inklusiven Gesellschaft< beruht und damit im
Widerspruch stehe >zur deutschen Tradition und Praxis des Aussonderns<
(Merkelbach 2009, 2). Entsprechend wenig pointiert sind auch die Empfehlungen
der KMK [Kultus-Minister-Konferenz] zur Umsetzung der UN-BRK… vom 18.11.2010…
(a. a. O. S.46) … dass aber >subjektive Rechtsansprüche […] erst durch
gesetzgeberische Umsetzungen begründet [werden]< (Klemm/Preuss-Lausitz 2011,
15). Im Übrigen spricht die KMK auch von einer >Pluralisierung der
Förderorte<. Diese Positionierung ... erklärt sich vermutlich daraus, das
nur so ein Kompromiss der einzelnen Bundesländer, die mit ihrer Kulturhoheit
nach wie vor einen hohen Stellenwert haben, und in denen die
integrative/inklusive Beschulung sehr unterschiedlich entwickelt ist, erreicht
werden konnte (vgl. Heimlich 2011,44)….
Gegen die Umsetzung der UN-BRK hat es in der Folge dann auf Länderebene zum
Teil massive Proteste gegeben. >Eine klare Kampfansage< kam prompt aus
Bayern, das nach Linds Statistik mit 6,11 Prozent zusammen mit Baden-Württemberg
mit 6,63 Prozent und Nordrhein-Westfalen mit 6,92 Prozent die meisten
Sonderschüler(innen) unter den alten Bundesländern hat…
Wie auch immer die Haltung der KMK letztlich zu interpretieren ist: mit
Heimlich kann festgestellt werden, dass durch die Ratifizierung der UN-BRK eine
rechtlich verbindliche Verpflichtung zur Umsetzung der Konvention besteht… im
Range eines Bundesgesetzes…
Die ratifizierte Fassung ist allerdings die englische… (Heimlich 2011, 45) (a.
a. O. S.45)
5 Welche Bedeutung hat die UN-BRK für die Bundesrepublik Deutschland und die Sonderpädagogik?
Von der ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Karin Evers-Meyer, wird die UN-BRK als >ein Meilenstein zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung< (vgl. Schumann 2009,1) bezeichnet… >Behinderung wird nicht länger vorwiegend aus medizinischer oder sozialer Sicht betrachtet, sondern als menschenrechtliches Thema festgeschrieben. Sie wird nicht nur als Bestandteil des Menschlichen (Zusammen-)Lebens anerkannt und bejahrt, sondern darüber hinaus als Quelle (möglicher) kultureller Bereicherung wertgeschätzt…
6 Werden Sonderpädagogen in Zukunft noch gebraucht?
Ulrich Heimlich schreibt 2011, dass die UN-BRK keine
Abschaffung der Sonderpädagogik, aber einen Modernisierungsauftrag beinhalte…
>In den Schulen von New Brunswick,, die unter Gordon Poreter den Schritt
>from integration to inclusion< vollzogen haben (Perner 1197,75), hat
sich dadurch die Sonderpädagogikfunktion erheblich geändert. Die ehemaligen
>special educators< sind jetzt in den Regelschulen als >method
and resource reachers< tätig (ebs., 76).
Folgende Merkmale kennzeichnen die Tätigkeit der M&R-Lehrkräfte:
7 Welche Aufgaben haben Sonderpädagogen in einem inklusiven Setting?
… nach Einschätzung einiger Fachvertreter werden sie zukünftig sogar noch mehr benötigt… So gehen beispielsweise Klemm und Preuss-Lausit in ihrem Gutachten davon aus, dass bis 2020 85% der Schülerinnen und Schüler in NRW integrativ unterrichtet werden.
Was ist eine inklusive Schule?
„Die inklusive Schule ist eine integrative, völlig aussonderungsfreie
Reformschule, die allen Kindern und Jugendlichen, die individuelle optimale
Bildung und Erziehung vermitteln will (s. auch Biewer 2001, 154). Jedes Kind
gilt als besonderes Kind. Die große Heterogenität der Schüler und Schülerinnen
wird von den Lehrpersonen der inklusiven Schule als Selbstverständlichkeit
betrachtet; >multi-level instruction< 1997, 78 f.), Unterricht auf
mehreren Niveaus, findet in jeder Klasse statt. Die Regelschulpersonen werden
dabei von sonderpädagogischen Fachkräften und bei Bedarf von weiteren
Fachkräften unterstützt< (Sander 2001, 7) … (a. a. O. S.49) …
8 Welche Chancen und Risiken sind mit der Inklusion für die Sonderpädagogik und ihr bisheriges Klientel verbunden?
Was inklusiver Unterricht für Sonderpädagogen tatsächlich
bedeutet, das wird letztlich nur die praktische Erfahrung in der Zukunft zeigen
können…
So sind… >Befürchtungen, nach denen mit der Ausweitung der
sonderpädagogischen Förderung auf die Allgemeinen Schulen ein Kompetenzverlust
einhergehen würde oder gar eine Infragestellung der sonderpädagogischen
Fachkompetenz [,,,] gegenstandslos (Heimlich 2011, 49) >Sonderpädagogische
Lehrkräfte haben in Allgemeinen Schulen vielmehr die Erfahrung gemacht, dass
ihre Fachkompetenz anerkannt wird und sie sogar Gelegenheit haben, im Rahmen
ihrer mobilen Tätigkeit ihre Fachkompetenz zu erweitern… Beratungsangebote für
Eltern und Lehrkräfte … (ebd.) (a. a. O. S.50)
Nachdem ich über 30 Jahre die Entwicklung hin zur Inklusion intensiv verfolgt
habe, bin ich allerdings schon 1987 auf ein Risiko aufmerksam geworden,…
nämlich den Verlust bisheriger sonderpädagogischer Hilfen durch eine >Low-Cost-Education<.
Was… im Einzelfall zu Exklusion führen kann…
>In einem umfangreichen Buch wird der Fall eines gehörlosen Mädchens
dargestellt, das die Allgemeine Schule seines Wohngebietes in einer Kleinstadt
im Bundesstaat Kalifornien besucht (Siegel 1994). Es sitzt in der Klasse,
bewegt sich auf dem Schulhof, darüber hinausgehende Kontakte mit anderen
Schülern kommen aber kaum zustande… Die Leistungsfortschritte …. Unzureichend.
Zeichensprache erlerne sie nicht..< (Biewer 2005, 105) Ein ähnliches Phänomen
zeigte sich in den USA und Italien bei der Auflösung psychiatrischer
Einrichtungen. Sowohl in Amerika wie in Italien war eine Kostenersparnis zwar
nicht das Ausgangsmotiv für die Bestrebungen zum Abbau der psychiatrischen
Anstalten. In beiden Ländern war die Decarceration jedoch mit einer
ausgesprochenen Sparpolitik verbunden (vgl. Rittmeyer 1988, 149) … Für die
Sonderpädagogik war und ist mit der UN-BRK verbunden, dass sie von einigen
Seiten in Frage gestellt wird. Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass
sich – wenn sich die größte Aufmerksamkeit in Sachen UN-BRK erst einmal gelegt
hat –, Sparmaßnahmen bei der Umsetzung durchsetzen könnten… (a. a. O. S.51)
Speck verweist auf ein Risiko, das mit der bislang letztlich ungeklärten Frage
nach der Notwendigkeit der weiterhin für bestimmte Schüler zeitweise oder
durchgängig notwendigen geschlossenen Lernumgebung verbunden ist… >Es fühlt
sich nicht jedes lernende Kind in jeglicher Umgebung wohl. Auch in der
>inklusiven Klasse< kann sich ein Kind >exkludiert< fühlen<.
(Speck 2011, 89)
9. Welche Aufgaben stellen sich der Fachdisziplin Sonderpädagogik angesichts
des Arbeitsfeldes inklusive Schule? ...
Nicht eingegangen wird von den beiden Autoren auf die Frage, wie dem erweiterten
Beratungsbedarf entsprochen werden soll… (a. a. O. S.52) Schwer zu beurteilen
ist, ob und wie zu vermutenden Low-Cost-Lösungen entgegengewirkt werden kann…
In einer inklusiven Schule spielt Diagnostik eine weitaus größere Rolle als bisher in der allgemeinen Schule und der Förderschule… (a. a. O. S.53)
Hans-Jürgen Pitsch
Inklusion, Konstruktivismus und Kulturhistorische Tätigkeitstheorie
Zwei Schulen
… In diesem nur grob skizierten Bereich heben sich nach dem Kriterium der
betrachteten Personenmenge zwei Pole heraus:
1.1. Zwei Schulen und die Frage der Inklusion
Beide Schulen scheinen auf den ersten Blick als unvereinbare
Gegensätze. Verschärft wird diese Einschätzung durch radikalkonstruktivistische
Alleinvertretungsansprüche im Zusammenhang mit inklusiver Pädagogik, wie sie
etwa von Lars Anken formuliert werden. Er meint, >dass Inclusive Education
der handelnde Ausdruck einer (radikal-) konstruktivistischen Epistemologie und
eine (radikal-)konstruktivistische Epistemologie der theoretische Ausdruck
einer Inclusiven Education sein kann< (2010,2), bindet also
Inklusionspädagogik an (radikal-) konstruktivistisches Denken. Bescheidener
erwartet Kurt Reusser vom Konstruktivismus nur den Fortschritt >vom
epistemologischen Leitbegriff zur Erneuerung der didaktischen Kultur<
(2006,151). (a. a. O. S.59)
Auf der anderen Seite gründet der wohl seit langem radikalste Verfechter einer
inklusiven >Schule für alle<, Georg Feuser (1989: 1993), sein Konzept
auch auf der Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule einschließlich
deren marxistischen Grundlagen und fordert auch heute noch, dass unser
Verständnis von Behinderung und Persönlichkeitsentwicklung >dem historischen
und dialektischen Materialismus< (Fenser 2011) verpflichtet zu sein habe.
Auch er erstrebt eine Erneuerung der didaktischen Kultur, konkret durch
Zentrierung des Unterrichts auf den>gemeinsamen Gegenstand< in der
Organisationsform des Projektunterrichts.
Auf den zweiten Blick beschreiben Konstruktivismus und Tätigkeitstheorie häufig
Gleiches mit verschiedenen Begriffen und konvergieren in vielen Bereichen….
1.2 Zwei Schulen und die Frage nach dem Huhn und dem Ei
Kersten Reich (2006, 36) bezeichnet Prager und Wygorski als psychologische Vorläufer für den Konstruktivismus, was heißt, dass Konstruktivismus eine auf beiden aufbauende Erscheinung sei. Auch der soziale und interaktive Konstruktivismus, wie von Reich vertreten, wird auf Wygorski zurückgeführt, weil dieser der sozialen und kulturellen Umwelt des Kindes erheblichen Einfluss zuschrieb (sozialer Konstruktivismus 2010). Durchgängig wird jedoch vorallem in philosophischer Literatur darauf verwiesen, das konstruktivistisches Denken bis zu Parmenides aus Elea (geb. ca.540 v. Chr.9) zurück zu verfolgen sei…(a. a. O. S.60)
2 Konstruktivismus
2.1 Grundgedanken
Konstruktivistisches Gedankengut hat bereits mit der
Übernahme von Jean Prager auch die Geistigbehindertenpädagogik erreicht, unter
Rückgriff auf radikale Positionen später mit deutlicher Betonung der
individuellen Konstruktion von Wirklichkeit. Kognitionen entstehen nach dieser
Auffassung ausschließlich im Individuum selbst…
Deutlich moderater kommt konstruktivistische Argumentation in der
Allgemeinpädagogik (z. B. Siebert 2005,, Reih 2004; 20056) wie in der
Geistigbehindertenpädagogik (z.B Fischer 2003; 2004; 2008) daher. Sie
leugnet die Existenz einer außerindividuellen realen materiellen wie sozialen
Welt (>Realität<) nicht…
2.2. Erkenntnis und Wahrheit
Kern des konstruktivistischen Denkens ist >die Problematisierung von Ansprüchen der Wahrheit und des Zugangs zur Realität< (Hug 2010,1) Gefragt wird nicht, was Wissen >ist<,, sondern wie es gemacht wird; >der Fokus liegt damit auf Wie-Fragen und prozeduralen Perspektiven< (ebd.). (a. a. O. S.61) [Grobe Verkürzungen habe ich im Folgenden vorgenommen WW, obwohl alles lesenswert ist.]
3 Tätigkeitstheorie
… Tätigkeitstheorie basiert auf fünf Prinzipien:
· Tätigkeit (activity), objektbezogen, motivgesteuert, von Antizipation geleitet (Rodriguez 1998);
· Handlung (action), bewusst, zielgerichtet, geplant und kontrolliert ausgeführt. Eine Handlung kann mehreren Tätigkeiten dienen (Udeen/Valderaz/Pastor 2008,5 )
· Operation (operation), automatisch, ohne eigenes Ziel, von den aktuellen Handlungsbedingungen beeinflusst (Rodriguez 1998,29, erfahrungsabhängig
…. (a. a. O. S.63)
>Viabilität< [Gangbarkeit] meint instrumentelle Aneignungslogik des
Wissens. Aneignung bedeutet in der kulturhistorischen Auffassung den Erwerb von
Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen zur Welt und über die
Welt, die arten des Umgangs mit ihr und diejenigen gedanklichen und materiellen
Werkzeuge, die beim Eingreifen in die Welt behilflich sein können…
Viabilität im Sinne des Konstruktivismus bedeutet aber auch, dass ein Weg nur
für einen bestimmten Menschen gangbar sein muss. Andere Menschen können andere
Wege, Verfahren, Methoden als für sich viabel empfinden. Um zu einem für
mehrere Individuen tragbaren Ergebnis zu gelangen, müssen individuell
unterschiedliche Viabilitäten irgendwie zusammengeführt werden….
Nach konstruktivistischer Auffassung entsteht die Gültigkeit von Begriffen,
Handlungsschemata, Zielen, Gefühlen >erst auf der Ebene der Intersubjektivität<
(Schüßler 2005, 92), wenn diese auch von anderen Subjekten geteilt werden….
4.2 Subjekt und Gesellschaft
Viabilität kann im konstruktivistischen Sinne >nur
subjektiv bestimmt werden< (ebd, 91) und dient der Anpassung des Individuums
an seine Umwelt, ganz utilitaristisch dem Überleben. Für Überindividuelles,
Allgemeingültiges, Soziales ist dann kein Platz mehr, auch nicht mehr für
soziale Regeln, Normen, Werte, für >unabhängig vom Individuum existierende
Lebensbedingungen und Machtverhältnisse< (ebd.91). (a. a. O. S.64)
Wirklichkeit ist dann >das Produkt mentaler Aktivität eines Individuums[…]
und nicht […] das Produkt sozialer und historischer Prozesse< (ebd.). Das
Denken erübrigt dann das Handeln, und die eigene Anpassung ersetzt das eigene
verändernde Eingreifen in die Umwelt.
An diesem Punkt argumentiert die Tätigkeitstheorie genau umgekehrt: Erst das
eigene Eingreifen in die Umwelt führt zum Lernen, zur Aneignung dessen, was
bereits vorhanden ist. Und dazu gehören auch Regeln, Normen, Werte, gehört
Allgemeinverbindliches, gehört >kulturell legitimiertes Wissen<
(Rustemeyer 2003,99).Ähnlich argumentiert auch der interaktionistische
Konstruktivist Kersten Reich: >Wenn also Konstruktivisten so sehr das
Erfinden betonen, dann heben sie auf den individuellen Lernvorgang ab, ohne
verkennen zu wollen, dass solche Erfindungen oft nur kulturelle,
wissenschaftliche usw. Entdeckungen sind, die in der Lebenswelt vorliegen<
(Reich o.J. 96)… (a. a. O. S.65)
5 Konsequenzen für die Didaktik
5.1 Auswahl der Lerninhalte
Gerne wird argumentiert, die Anerkennung menschlicher Subjektivität verlange,
den Lernenden die Auswahl der Lerninhalte nach deren Interessen zu überlassen.
Aber auch vom Lehrer präsentierte Inhalte als Angebot zur Wiedergewinnung der
eigenen Handlungsfähigkeit und Erweiterung der Verfügungsmöglichkeiten, also
zur Kompetenzseigerung der Schüler sind nach Schüßler (2003, 01) >durchaus
zu legitimieren<. Eine solche Didaktik sei aber nicht subjektivistisch,
sondern >immer nur als dialogische zu konzipieren, d. h. Inhalte gibt es
nicht unabhängig von den Lerninteressen und Handlungsproblematiken< (ebd.)….
Die Tätigkeit vermittelt zwischen Subjekt und Welt (Lerngegenstand). Der
Mediator (Mentor, Erwachsene, bereits Kompetentere) vermittelt zwischen Subjekt
und Tätigkeit und damit zwischen Subjekt und Welt…
5.2 Lernen der Aneignung
Auch die Tatsache, dass der Lernende die Reize auf ihre je eigene, durch ihr Struktur (ihr Vorwissen, ihre Denkmöglichkeiten) determinierte Weise verarbeiten, schließt >nicht unbedingt die Fähigkeit ein, sich selbständig Wissen anzueignen und diesen Prozess autonom zu organisieren< (ebd. 88), Auch die Aneignung von Wissen will gelernt werden, und dazu ist der Lernende auf die Vermittlung durch bereits Wissende angewiesen…. (a. a. O. S.66) … Aufgabe des Lehrers ist und bleibt, seine Schüler mit den Lerninhalten in Beziehung zu bringen…. (a. a . O. S.67)
6 Weiterentwicklungen
Wie der Konstruktivismus von seinen radikalen Formen hin zu
sozialen und interaktivistischen, so hat sich auch die Tätigkeitstheorie über
die Jahre hinweg entwickelt.
Uden et al. (2008, 4) beschreiben drei >Generationen< dieser Entwicklung:
International scheint die
Rezeption der Tätigkeitstheorie wesentlich weiter gediehen zu sein als in
Deutschland… (a. a. O: S.68)
… Auch Mirjam Faust referiert kritisch, dass in der materialistischen Pädagogik
das Menschenbild zu sehr am Arbeitsbegriff festgemacht wird< (2007, 73),
Kommunikation und moralisches Handeln z.B. unberücksichtigt bleiben und
>dass das Marx’ sche Gesellschaftsbild unverändert übernommen wird und
andere Erklärungsansätze nicht berücksichtigt werden< (Faust 2007, 73f.)
Trotz dieser Kritik bleiben deutsche Vertreter der Tätigkeitstheorie hartnäckig
bei ihrer Forderung, dass unser Verständnis von Behinderung und
Persönlichkeitsentwicklung >dem historischen und dialektischen
Materialismus< (Feuser 2011, 120) verpflichtet zu sein habe… [Aber:]
Inklusiver Unterricht hat sich an den Schülern zu orientieren und nicht an
Ideologien… (a. a. O. S.69)
Andreas Fröhlich
Diversity Management – ein übertragbarer Ansatz?
… Diversity Managemen ist eine Antwort, die auf die schon
realisierte und sich weiter abzeichnende Globalisierung von Produkten und
Handel eine Antwort zu geben sucht. Immer mehr Firmen, aber auch Behörden und
andere Institutionen, sehen sich einer großen Vielfalt von Mitarbeitern
gegenüber, die aus unterschiedlichen Kulturen stammen, deren individuelle
Unterschiede beachtlich sind bzw. auch jetzt erst wahrgenommen werden…. Lange
Zeit ging es darum, diese Unterschiede möglichst einzuebnen, durch Fort- und
Weiterbildung einen gleichen Level der Fähigkeiten zu erreichen und somit
Kommunikations- und Informationsstörungen zu vermeiden und die
Kooperationsfähigkeit zu verbessern. (a. a. O. S.75,76) Seit einigen Jahren
wird nun erkannt, dass die Unterschiede durchaus als positiv-kreatives
Potenzial gesehen werden können. Ältere und jüngere, männliche und weibliche,
solche aus der unmittelbaren räumlichen Umgebung und andere, die von sehr weit
her kommen, bringen zusätzliche Qualifikationen und Fähigkeiten mit, die über
das engste berufsspezifische Können hinausgehen. …>Humanressourcen<…
Die eigentliche Zielrichtung ist die höhere Wertschöpfung. Es gab Zeiten, da
man dies offener Ausbeutung nannte… Soll aus einem solchen Konzept etwas
abgeleitet werden können, das Menschen mit Beeinträchtigungen dient?...
Ironisch zugespitzt: Die Freundlichkeit eines Menschen mit Down-Syndrom?
Ausgezeichnet, hier können wir die Grundstimmung einer Belegschaftsgruppe
positiv beeinflussen. Ein blinder Mitarbeiter? Ausgezeichnet, seine erhöhte
Konzentrationsfähigkeit, da er durch allerlei visuelle Effekte nicht abgelenkt
wird, können wir sehr gut gebrauchen. Der Mitarbeiter im Rollstuhl? Auch kein
Problem, lange sitzende Tätigkeiten ist er gewöhnt… (a. a. O. S.76)
Charta der Vielfalt
….Bei Charta der Vielfalt wird Behinderung ausdrücklich thematisiert ... auf persönliche Nachfrage hingegen musste eingestanden werden, dass bislang dazu eigentlich noch nichts vorliegt…
Biodiversität und Genaberration
Wenn man Fragen der Globalisierung mit der des Lebens auf
diesem Globus verknüpft, so kommt man nicht umhin, sich mit Fragen der
Biodiversität zu befassen… (a. a. O. S.77)
Biodiversität, so stellen die Biowissenschaften fest, ist allerdings nur unter
der Bedingung der Abgrenzungen des Abgeschlossenseins möglich. Eine völlig
offene >biologische Landschaft< führt zu einer zunehmenden Vermischung
und Angleichung. In gewisser Weise haben wir das das thermodynamische Gesetz
hier auf biologische Sachverhalte anzuwenden….
Hier, so können wir sagen, liegt der eigentliche Kerngedanke
der Inklusion. Diversität – bei Behinderung oft auch als negativ empfunden –
löst sich auf, wenn unterschiedliche Populationen am gleichen Ort, zur gleichen
Zeit, unter gleichen Bedingungen leben. ..
Die entsprechenden Wissenschaften haben bei vielen Menschen, die wir als
behindert bezeichnen, eine Genaberration festgestellt, die zu einer
Funktionsänderung führt, diese dann im Phänotyp zu einer Verschiedenheit, zu
einer Auffälligkeit, ggf. auch zu Aktivitätsveränderungen, aus denen dann die
bekannten Partizipationseinbußen entstehen… (a. a. O. S.78)
Vielleicht ist das Down-Syndrom ein Versuch der >Natur< eine gewisse
stärkere Emotionalität, Freundlichkeit, Ausdrucksstärke experimentell
evolutionär zu erproben. ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung]
kann auch als Versuch der Natur gesehen werden, auf die zunehmende
Beschleunigung in fast allen Alltagsprozessen zu reagieren…
3 Die Inklusion der Harmlosen
… Der skeptische Blick: Zu welchem Zeitpunkt ist diese
UN-Konvention verabschiedet worden? Man könne kritisch anmerken, dann erst, als
Medizin und Erfahrung, vielleicht auch Pädagogik und Psychologie, gezeigt
haben, dass Behinderung nicht ansteckend ist… (a. a. O. S.79)
…>Weggesperrt< oder >chemisch neutralisiert< werden nach wie vor
viele Menschen,. Die >verschieden< sind. Menschen, die wir als gefährlich
erachten und darüber hinaus immer auch Menschen, die unser Empfinden quälen,
weil sie unerträglich arm sind….
4 Das Recht anders zu sein
Vor Jahren war es in Frankreich in einer Radiosendung, dass
ich erstmals die Formulierung >le droit d’être different< hörte. Es ging
um nordafrikanische Immigranten in das >französische Mutterland<…
Das Leben in der >Parallelwelt< gilt als Bedrohung, andere Lebensformen,
andere Lebensziele werden als fremd und gefährlich gesehen, (a. a. O. S.80)
Wieder könne man einen kühnen spekulativen Gedanken formulieren: sind die
Einrichtungen für Menschen mit Behinderung vielleicht auch Parallelwelten, die
jetzt nicht mehr ertragen werden?...
5 Menschheit ist Vielfalt
… (a. a. O. S.81)
Karl-Ernst Ackermann
Veränderungen im Selbstverständnis der Geistigbehindertenpädagogik im Kontext
von Leitvorstellungen. Zur Verortung von >Inklusion< in der
Geistigbehindertenpädagogik
1 Krise der Heil- und Sonderpädagogik?
… Das letzte größere Krisenszenario ist noch gar nicht so lange her – eine Dozententagung der Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern hatte im Jahr 2001 in München stattgefunden (Bundschuh 2002): Die aktuelle Krise tritt nun mit der neuen Leitvorstellung >Inklusion< auf den Plan… dieses Leitprinzip beansprucht den Rang eines Menschenrechts (vgl. z. B. Wocken 2011)…. Ich.. werde .. mich im Weiteren mit Inklusion als einem Musterbeispiel für Leitvorstellungen in der Sonderpädagogik – und hier noch konkreter, nämlich vor allem in der Geistigbehindertenpädagogik – befassen. Ich werde also zunächst einen Blick auf die für die Geistigbehindertenpädagogik relevanten Leitvorstellungen werfen, mit denen in der Regel eine gewisse Änderung des pädagogischen Selbstverständnisses und des >pädagogischen Gegenstands< einhergegangen war und einhergehen wird. So zeichnete sich zum Beispiel noch in das vergangene Jahrzehnt hinein mit dem Leitbild >Integration< eine Tendenz zur Entwicklung einer >Integrationspädagogik< ab, mit der ja nicht nur ein Namenswechsel intendiert war… (a. a. O. S.83,84)
2 Leitvorstellungen in der Geistigbehindertenpädagogik und ihre Folgen
Anfang der 1980er Jahre wurde im deutschsprachigen Raum das
>Normalisierungsprinzip< als neue >Philosophie< des Handelns und
Denkens in der Behindertenhilfe vorgestellt. In einem Band der >Kleinen
Schriftenreihe< im Lebenshilfeverlag mit dem Titel >Das
Normalisierungsprinzip. Eine Einführung< machte Walter Thimm (1984) auf
diese neue Sichtweise des Handelns und Denkens in der Behindertenhilfe
aufmerksam. Er griff damit einen zentralen Gedanken aus Skandinavien auf, den
Bank-Mikkelsen im Dänischen Fürsorgegesetz bereits 1959 folgendermaßen
formuliert hatte: >Normalisierung bedeutet: den geistig Behinderten ein so
normales Leben wie möglich zu gestatten< (zitiert nach Thimm 1984,4).
Dieser neuen >Philosophie< wurde damals nicht nur zustimmend, sondern
auch mit Ablehnung begegnet. Man befürchtete, die Menschen sollten
>normalisiert< werden. Nachdem deutlich geworden war, dass es sich
hierbei um ein Missverständnis handelte – denn diese Leitvorstellung meinte und
meint Normalisierung der Lebensbedingungen und eben nicht die Person –
wurde diese >Philosophie< in der Geistigbehindertenpädagogik nach und
nach umgesetzt…
Das heißt die Rezeption dieses Prinzips fand auf der Ebene der
>Professionellen< statt, insbesondere in den Verbänden und
Großeinrichtungen als den adäquaten Adressaten des Normalisierungsprinzips. Das
Selbstverständnis innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik als Disziplin wurde
hierdurch offensichtlich nicht wesentlich tangiert. (a. a. O. S.84,85)
Nach dem Normalisierungsprinzip folgte mit der Integrations-Bewegung
in den 1980er-Jahren bekanntlich bald eine weitere Neuorientierung, die in der
Geistigbehindertenpädagogik zu heftigen Grundsatzdebatten und selbstkritischen
Rückfragen über die bisherigen Zielsetzungen führte. Mit diesem neuen
Leitbegriff ging jedoch nach und nach im Mainstream das Missverständnis einher,
Integration ließe sich herstellen, ohne das gesamte Bildungssystem zu verändern
– und dies, obgleich mit der Behindertenpädagogik Feusers (1993) bereits ein
begründeter Ansatz vorlag, der diese Prämisse betonte. Inzwischen erscheint
vielen Verfechtern die >Integration< als gescheitertes Experiment, das
nur noch als >Inklusion< in der ursprünglich gedachten Richtung
fortgesetzt werden kann.
hier lässt sich so viel festhalten: Integration wurde als Organisationsform des
Bildungssystems verstanden und dementsprechend im Blick auf bildungspolitische
Adressaten formuliert, aber zunehmend auch innerhalb der
Geistigbehindertenpädagogik diskutiert und so nach und nach in den Rang einer
zentralen Orientierung innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik gehoben.
Anders formuliert: Der genuine pädagogische Gegenstand der Geistigbehindertenpädagogik
– nämlich die Bildung des Individuums – wurde von der hinzutretenden
Leitvorstellung >Integration< nach und nach überlagert und schließlich in
weiten Teilen der Integrationsbewegung zum Gegenstand der
Geistigbehindertenpädagogik gemacht – letztendlich ein Selbstmissverständnis!
Denn hiermit wurde lediglich eine von mehreren >Bedingungen< von Bildung
mit dem genuinen Gegenstand der Geistigbehindertenpädagogik, nämlich
>Bildung< des Individuums, mehr oder weniger verdrängt.
Mitte der 1990er Jahre tauchte das neue Leitprinzip >Selbstbestimmung< auf. Hiermit wurde den Menschen mit geistiger Behinderung die bislang vorenthaltene Idee auf Selbstbestimmung als längst überfällige emanzipatorische Errungenschaft zuerkannt… mit Selbstbestimmung wurde Abbau von Fremdbestimmung gemeint…
…eine Errungenschaft – oder nicht vielmehr eine unabdingbare
Voraussetzung und Verpflichtung, ohne die man in der modernen Gesellschaft als
>Modernisierungsverlierer< gilt und gar nicht mithalten kann (vg.
Waldschmidt 1999). (a. a. O. S.85)
Gleichwohl besteht zwischen >Selbstbestimmung<
im weiten Sinne und >Bildung< eine hohe Übereinstimmung, sodass mit
Selbstbestimmung in der Geistigbehindertenpädagogik eine Leitvorstellung
eingeführt wurde, die der pädagogischen Intention mehr als alle bisherigen
Leitvorstellungen entgegenkommt…
Im Zuge der der neuen Sozialgesetzgebung (SGB I, IX und XII), aber auch mit der
neuen WHO-Klassifikation ICF [International
Classification of Functioning, Disability and
Health] wurde der Gedanke der Teilhabe bzw. Partizipation in die Fachdiskussion
eingeführt, der nun zunehmend an die Stelle des Begriffs Rehabilitation tritt.
Es würde aber ein Missverständnis darstellen, das Recht auf Teilhabe auf ein
>Dabeisein ist alles< zu reduzieren. Denn es geht un Teilhabe am Leben in
der Gesellschaft im umfassenden Sinn! Doch wiederum gilt: Teilhabe ist zwar
eine wesentliche Bedingung für die Bildung des Individuums. Sie stellt aber
nicht das Zentrum des pädagogischen Grundgedankens dar. Oder anders formuliert:
Zentraler >Gegenstandsbereich< der Pädagogik ist >Bildung< als eine
historisch-anthropologische Möglichkeit des Individuums…
Darüber hinaus sollten bei einer selbstkritischen Reflexion von
Leitvorstellungen nicht nur die programmatischen Positionen der Geistigbehindertenpädagogik
aufgegriffen werden, sondern nach den weitaus wirksameren Leitvorstellungen
gefragt werden…z.B. nach der bis heute sehr wirksamen Leitvorstellung an
>heimlichen Leitbild< der >Stellvertretung<…. (a. a. O. S.86)
Leitvorstellung>Inklusion< in der aktuellen Diskussion
Zur Fachdiskussion in der >Teilhabe< … Jahrgang 2011 der Zeitschrift >Teilhabe<,
Hans Wocken versucht mit einem Beitrag >Zur Philosophie
der Inklusion< (2011), die zentralen Grundgedanken >Selbstbestimmung,
Gleichberechtigung, Teilhabe der Behindertenrechtskonvention (BRK 2008) als
>Trias< herauszuarbeiten, die seiner Ansicht nach der Trias >Freiheit,
Gleichheit, Brüderlichkeit< der >Aufklärung< bzw. der Französischen
Revolution entspricht und sich hiermit zugleich begründen lasse… Im Zuge der
Entfaltung dieser Zusammenhänge folgert Wocken…. Auf der Ebene von
handlungsleitenden Konsequenzen … die Trias >Assistenz, Gleichstellung und
Inklusion<… Doch die Beziehungen, die zwischen philosophischen
Grundlagen und Menschenrechten gezogen werden, basieren zunächst auf
Analogiebildungen,… (a. a. O. S.87)
Vor diesem Hintergrund wird dann von >Inklusion< als einem begründeten
Menschenrecht gesprochen.
Ebenfalls im Heft 2 der >Teilhabe< wurde unter der Überschrift >Die
unreflektierte Integration von Kindern mit geistiger Behinderung verletzt ihre
Würde< ein Leserbrief von Riccardo Bonifranchi (2011) abgedruckt, der eine
Debatte auslöste, die sich in den Heften 3 und 4 fortsetzte. Bonifranchi
knüpft… an einen Beitrag von Frühauf (2011a) an, in dem >ernüchternde
statistische Ergebnisse zur Integrationsquote in Deutschland und die geringe
Bedeutung von Inklusion moniert werden. (Frühauf 2011a,34). Bonifranchi
stellt demgegenüber die These auf, die >Integration von geistig behinderten
Kindern in den Regelschulbereich< (ebd. 90) verletze die Würde dieser
Schüler, da quasi alle diese Kinder nach einer unbestimmten Zeit den
Regelbereich wieder verlassen müssen… dass an Stelle einer optimalen
Förderung die Integration gesetzt werde (ebd.) bzw. dass diese Kinder in der
Inklusion permanent überfordert würden…
Auf diesen Leserbrief reagierte in Heft 3 der Teilhabe 2011 Andreas Hinz… unter
dem Titel >Unbelegte Behauptungen und uralte Klischees – oder Krisensymptome
der Heilpädagogik?<… (a. a. O. S.88)
3.2 Zwei Ebenen des Argumentierens
… die Diskussion bewegt sich auf zwei Ebenen, die parallel
zueinander liegen, jedoch nicht miteinander in Berührung treten. Nämlich
einerseits werden auf einer >programmatischen Ebene< Zielsetzungen,
Sollvorstellungen, innovative Ideen und Ansprüche sowie Wertsetzungen
entwickelt und begründet, andererseits wird auf einer >Ebene der
Faktizität< auf die Mechanismen des Alltags, auf die Machbarkeit und die
Logik der Realitäten verwiesen… (a. a. O. S.89)
… Im Blick auf die Feststellung Rohrmanns (2011) nicht die Behindertenpädagogik
Feusers und Jantzens, sondern die Heil- und Sonderpädagogik sowie die
Behindertenpädagogik Hamburger Provenienz befinden sich in der Krise, stellt
sich die Frage, ob die Bemerkung Frühaufs über eine >Entgrenzung der
Fachdisziplin und deren stärkere Verortung in der Gesellschaft< (Frühauf
2011b, 99) nicht weitaus umfassender gewichtet werden muss… (a. a. O. S.90)
3. 3 Von der Bildung des Individuums zur Entwicklung einer inklusiven
Gesellschaft
Im Editorial zu Heft 4 der >Teilhabe< (2011) verweist Monika Seifert
(2011) darauf, dass die – zugleich mit der Ratifizierung der UN-BRK erfolgte –
Umbenennung der Zeitschrift >Geistige Behinderung< ab 2009 in
>Teilhabe< als >Programm< zu verstehen ist.
>Nicht länger sollte primär die Behinderung eines Menschen im Fokus
stehen, sondern sein Recht auf Teilhabe in allen Lebensbereichen. […] Ziel ist
die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft, die alle Menschen als
gleichberechtigte Bürger(innen) willkommen heißt, die Verschiedenheit
wertschätzt und ihren individuellen Bedürfnissen sowie dem jeweiligen
Unterstützungsbedarf Rechnung trägt […]< (Seifert 1011, 146 ) …
Wenn man nun aber die fachwissenschaftlichen Statements in der >Teilhabe<
dazu liest, kann man den Eindruck gewinnen, dass auch die
Geistigbehindertenpädagogik als wissenschaftliche Disziplin mehr oder weniger
fraglos einem solchen grundlegenden Wechsel der Orientierung folgt und sich
nunmehr als Teilhaberwissenschaft versteht…
Doch was für einen inzwischen 50-jährigen Verband für Fortschritt und
Selbstreflexion gelten darf, gerät im Kontext der Disziplin zu einem
fragwürdigen Kurswechsel. Denn die Geistigbehindertenpädagogik … hat spätestens
in den 1990er Jahren ihre Orientierung am medizinischen Paradigma aufgegeben.
Im Zentrum stehen…. Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger
Behinderung in ihrer Lebenswellt… (a. a. O. S.91)
Deutlicher: die Pädagogen beanspruchen jetzt nicht mehr den Fokus auf die Bildung und Erziehung von Individuen (ohne und mit Behinderung) zu richten, sondern gesellschaftliche Situationen / soziale Kompetenzen (sofern sich diese überhaupt fassen lassen) so zu modellieren, dass darin alle Menschen willkommen geheißen werden… (a. a. O. S.92)
4 Zum pädagogischen Selbstverständnis – ein basaler pädagogischer Grundgedankengang
…Realisierte Pädagogik vermittelt… einerseits
zwischen>Aufwachsen< und >Gesellschaft< (oder zwischen
>Natur< und >Kultur<), andererseits zwischen den Generationen.
Zentraler Bezugspunkt dieser beiden Vermittlungsprozesse ist der der Gedanke
der >Bildsamkeit< des Menschen. Kern dieser Idee ist die Möglichkeit und
das Interesse des Individuums, sich zu bilden…. (a. a. O. S.93)
… Bildung als Tätigkeit des sich seiner Selbst Innewerdens im Medium von
Symbolen muss vom je einzelnen Subjekt aus sich heraus ergriffen werden. Es
handelt sich um einen Prozess, der nicht delegiert bzw. für andere Menschen
übernommen werden kann, jeder muss hierzu im Rahmen seiner Möglichkeiten
selbst tätig werden. Das heißt… nicht nur >transitive Bildung<…,
sondern unverzichtbar…>reflexive[n] Bildung<….
Bedingungen der Bildung im Kontext von:
… Dort, wo Menschen miteinander in einen gemeinsamen Handlungszusammenhang eintreten, werden Formen der Institutionalisierung (repressive, entfremdende oder aber schützende, stützende oder konstituierende) hervorgerufen. Die Pädagogik vermittelt zwischen Individuum und Gesellschaft… (a. a. O. S.94)
…. Doch Fokus und Kern dieses pädagogischen Grundgedankenganges ist Bildung als eine menschliche Möglichkeit. Zu klären ist, durch welche Bedingungen ein Individuum jeweils Bildung hervorbringen kann….
5 Veränderungen im Gegenstand und Selbstverständnis der Geistigbehindertenpädagogik. Zum Ort der Inklusion im pädagogischen Grundgedankengang.
… Aus systemtheoretischer Sicht wird Inklusion weniger als
Ziel, sondern vielmehr als ein für Gesellschaften notwendiger Prozess
verstanden – und es wird beobachtet, dass dieser immer auch mit Exklusion
einhergeht. Inklusion und Exklusion gehören aus dieser Sicht demnach zusammen…
Insofern richtet sich Inklusion an die Adresse der Politik und Bildungspolitik
bzw. an die Gesellschaft und ihre Institutionen. (a. a. O: S.95) … Es handelt
sich also bei Inklusion nicht um einen pädagogischen,, sondern vielmehr um
einen politischen Begriff, dem in der pädagogischen Fachdiskussion derzeit der
Status eines politischen Kampfbegriffs zukommt, der notwendig ist, um
wesentliche Prozesse in der Gesellschaft anzustoßen. Ob diese Prozesse dann
auch im Sinne derer, die sie anstoßen, gesteuert werden, ist eine spannende
Frage…
Im inklusionspädagogischen Kontext geht es vorrangig um die
Gestaltung von gesellschaftlichen Bedingungen, um zu einer gelungenen Form von
gesellschaftlichen >Verkehrsformen< zu gelangen. Also wenige um
Pädagogik, sondern um Politik.
In dieser Verkennung des pädagogischen Grundgedankens liegt meiner Ansicht nach
das Hauptproblem, der Diskussion in der Geistigbehindertenpädagogik. (a. a. O.
S.96)
… Die >Dignität der Praxis< (Schleiermacher) verweist auf die notwendige Orientierung und Vergewisserung pädagogischen Denkens am konkreten Bildungsgeschehen… Das bezieht sich auf alle >Brennpunkte< … auch auf die >Tatsache< der Rückschulung im Kontext von Inklusionsbemühungen…. [viele Kinder müssen wieder aus der Regelschule herausgenommen werden, weil sie dort versagen oder stören.]
… Denn es geht bei dieser Problematik gerade darum, nicht die Identität von Absicht und Realität zu beschwören, sondern die Differenz zwischen der Faktizität einerseits und der Intentionalität andererseits als das spezifisch Pädagogische festzuhalten… (a. a. O. S.97)
Konrad Bundschuh
Systeme – Inklusion – Betroffene
Grenzen und Möglichkeiten der Verwirklichung
1 Systeme in der Krise
Häufig wurde und wird der Systembegriff auch im Zusammenhang
mit heilpädagogischen Fragestellungen verwendet (vgl. Kobi 1999). Dieser
Begriff erweist sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nicht zuletzt auch im
Kontext des Zusammenbruchs sozialer, ökonomischer und finanzieller Systeme als
problematisch, da einzelne Menschen mit speziellem Erziehungs-, Förder- und
Hilfsbedarf, mit Beeinträchtigungen und Behinderungen im Rahme systemischen Denkens
nicht immer adäquat wahrgenommen werden…
Das Schulsystem fordert in der Regel Leistung von den Schülern. Kindern werden
gerade heute mit epidemiologischer Genauigkeit Verhaltens-, Lernstörungen und
Behinderungen attestiert. Familien, Schulen und andere Institutionen sind an
den Grenzen der Belastbarkeit angelangt.
… Die Klagen über Aggression und Gewalt, allgemeine Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu, ca. 25 % aller Kinder sind betroffen. (a. a. O. S.101,102) Ca. sieben Prozent aller Schulkinder werden in Förderschulen unterrichtet. Klingt in diesem Zusammenhang der Gedanke an Inklusion zunächst nicht als ironisch und utopisch? … Stellt der Inklusionsgedanke die Lösung für ein Leben mit Behinderung in unserer Gesellschaft dar – auch unter den Aspekten Lernen, Bildung, Persönlichkeitsentwicklung und vor allem Lebensqualität?... Es stellt sich dabei die Frage, was zu tun sei, damit Leben individuell wie kollektiv gelingen kann in einer Welt , die in vieler Hinsicht die Maßlosigkeit, speziell die Leistungsfähigkeit zum Maß aller Dinge erhebt…. Zweifellos bezieht Inklusion alle Menschen ein. Sie geht weit über schulische Belange hinaus, erstreckt sich über die gesamte Lebensspanne und intendiert ein wert- und würdevolles soziales Zusammenleben aller Menschen…
2 Inklusion kritisch betrachtet
… Seinen Ursprung hat der Terminus… Inklusion… in der
Soziologie Niklas Luhmanns (1987), der ihn als Gegenbegriff zu Exklusion
verstand und beide Begriffe als >Primärdifferenz von
Gesellschaftssystemen< betrachtete (vgl. Biewer 2009, 124 f.). Abgesehen von
der Verwendung der Begriffe >inclusion<, >inclusive education< oder
>inclusive schools< im angloamerikanischen Raum, in dem Integration mit
Inklusion zunächst meist gleichgesetzt wurde, hat der Begriff seinen
bildungswissenschaftlichen Ursprung in der Salamanca-Erklärung von 1994.
>Das Leitprinzip, das diesem Rahmen zugrunde liegt, besagt, dass Schulen
alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen,
sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und
begabe Kinder einschließen, Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von
sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anderen
benachteiligten Randgruppen oder –gebieten< (deutsch: UNESCO 1994,14). Die
britische Literatur der 1990er Jahre beschreibt häufig folgende Merkmale des
Konzepts der >inclusive school<: Die Verschiedenheit der
Schüler(innen) stellt den Ausgangspunkt des Schulkonzepts dar und wird als
positiver Wert angesehen, nicht als Problem oder eine Erschwernis für
Lehrkräfte. … Die inklusive Schule stellt einen Beitrag zur Entwicklung einer
inklusiven Gesellschaft dar (vgl. Biewer 2009, 126 ff.)
Die Österreichische UNESCO-Kommission übersetzte 1996 die Salamanca-Erklärung
ins Deutsche und übertrug >inclusion< mit >Integration< und
>inclusive schools< mit >integrative Schule<. Es bestand zu diesem
Zeitpunkt noch kein Bewusstsein darüber, dass diese Übersetzung möglicherweise den
Sachverhalt nicht genau trifft. >Inclusion< wurde von Anfang an mit
>Inklusion< übertragen, ungeachtet der Kritik, dass der ebenfalls
denkbare Bezug auf das lateinische >includere< (= einschließen,
einsperren) unpassende Assoziationen wecken könnte. Auch der
Alternativvorschlag …>Einbeziehung<… blieb folgenlos… (a. a. O. S.103)
… In Deutschland wird immer noch ein geringer Anteil von Schülern integrativ
beschult; mit großer Wahrscheinlichkeit liegt die Zahl bei zehn Prozent;
Inklusion befindet sich noch im Anfangsstadium einer Verwirklichung. Aufgrund
der evidenten Mängel im Rahmen integrativer Prozesse können Forderungen
entwickelt und Verbesserungsvorschläge abgeleitet werden….
Der Unterschied zwischen schulischer Integration und Inklusion besteht insbesondere
in der Zielsetzung: >Die Integrationspraxis versucht, aus
sonderpädagogischer Warte individuumsbezogen die Einbeziehung ihrer Klientel
mit sonderpädagogischem Förderbedarf, je nach individueller Schädigung, mit
personenbezogener Ressourcenausstattung…, während die Inklusionspraxis mit
systemischem Ansatz alle Schüler an einer gemeinsamen Schule für alle teilhaben
und individuell wie gemeinsam lernen lassen und dies mit systembezogener
Ressourcenausstattung und allen beteiligten Berufsgruppen… (a. a. O. S.104)
… Martin Giese hebt hervor, dass sich der Inklusionsdiskurs quasi in einem,
>anthropologischen Niemandsland< befindet und weist auf den
theorieabstinenten Inklusionsdiskurs, ferner auf strukturalistische
Insuffizienzen hin… (2011, 218 ff.) Inklusion bewegt sich aus
wissenschaftlicher Sicht auf unsicherem Terrain.
3 Inklusion als Aufgabe
… Dabei geht es nicht nur um eine soziale Integration im
Sinne des Geltenlassens und Verstehen von Mitmenschen mit Behinderung und deren
Eingliederung in die Welt der Nichtbehinderten. Inklusion im umfassenden
pädagogischen Verständnis bedeutet vielmehr, dass alle Kinder und Jugendlichen
im gemeinsamen Leben durch Lernen an gemeinsamen Inhalten, kooperativ und
kommunikativ beteiligt sind, gemeinsam spielen, lernen und arbeiten, wobei der
Inklusionsbegriff spezifische Möglichkeiten und Grenzen noch zu wenig
reflektiert. Wichtig ist dabei, den Kindern und Jugendlichen mit Behinderung an
den gemeinsamen Lernprozessen eine aktive Teilnahme zu ermöglichen… Nur in Interaktionen
mit aktiver Beteiligung aller lernen Kinder und Jugendliche mit und ohne
Behinderung einen unbefangenen Umgang miteinander, der die immer drohende
Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung verhindern hilft
(Bundschuh/Heimlich/Krawitz 2007, 141-145) Inklusion als Ziel ist in der
sonderpädagogischen Diskussion an sich unumstritten…. Die jahrzehntelange
Praxis der schulischen Separation behinderter Kinder aufgrund traditioneller
Klassifikation in verschiedene Behinderungsarten vor allem in Anlehnung an
medizinische und psychologische Vorgaben und das darauf basierende
Sonderschulüberweisungsverfahren stehen allerdings in einem Widerspruch zum
pädagogischen Inklusionspostulat… (a. a. O. S.105)
…Reinhard Markowetz (2007) stellt in einem Überblicksartikel zum Thema
>Inklusion und soziale Integration von Menschen mit Behinderungen< über
20 Prinzipien zusammen… Der ethische Imperativ unserer Verfassung (Artikel 3,
Abs.3, Satz 2 des Grundgesetzes, 1994) Niemand darf wegen seiner Behinderung
benachteiligt werden http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3.html
legitimiert den pädagogischen Auftrag für integrative Erziehung und gemeinsamen
Unterricht. Weiterhin: Normalisierung (behinderte Menschen sollen ihr Leben so
normal wie möglich führen können), Unteilbarkeit von Integration (jedes
behinderte Kind, unabhängig von Art und Schwere der Behinderung hat Anspruch
auf integrative Erziehung und gemeinsamen Unterricht. Weiterhin: Normalisierung
(behinderte Menschen sollen ihr Leben so normal wie möglich führen können)…
Ganzheitlichkeit (jeder Mensch ist so zu akzeptieren, wie er ist), das
dialogische Prinzip (die Begegnung zwischen Menschen als die eigentliche und
wirksame pädagogische Situation) und die Freiwilligkeit. …
4.Inklusionspädagogik als dynamischer Prozess auf verschiedenen Ebenen
…Inklusion… in heterogen zusammengesetzten Lern- und Spielgruppen von Anfang an… Kinder mit und ohne Behinderung haben damit auf natürliche Weise Gelegenheit, voneinander zu lernen und von ihrer Unterschiedlichkeit zu Lernen und Entwicklungsprozessen angeregt zu werden. (a. a. O: S.106,107) Aus diesem Grunde sollte Inklusion das gesamte Bildungswesen, schlichtweg das ganze Leben des Menschen umfassen… Außerhalb von Bildungseinrichtungen im engeren Sinne gewinnt das Konzept der Normalisierung noch mehr an Bedeutung. Normalität bedeutet dabei keineswegs Anpassung Behinderter an die Normen der Gesellschaft. Vielmehr bringt das Normalitätsprinzip zum Ausdruck, dass Menschen mit Behinderungen wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft ein Recht auf normale Lebensbedingungen haben (z.B. Zeiteinteilung, Wohnen, Freizeit, Reisen, Entscheidungen)…. Während in der traditionellen Pädagogik eine defizitorientierte Sicht von Behinderungen dominierte, steht in der Integrations- und vor allem Inklusionspädagogik eine kompensations-und ressourcenorientierte Sichtwiese im Vordergrund…. Unterschiedlichkeit ist… konstituierendes Moment von Erziehungs- und Bildungsprozessen in modernen Gesellschaften…. Die gesellschaftliche Ebene is die normative Grundlage integrativer Prozesse. Integration und erst recht Inklusion geraten aber zunehmend in Widerspruch mit normativen Setzungen einer Gesellschaft, die seit jeher >Behinderte als deviante Personen< exotisierte, gleichzeitig aber >besondere< Einrichtungen für deren Rehabilitation geschaffen hat. Weshalb sollten sich diese Einrichtungen – von der gesellschaftlichen Ebene her betrachtet – nun plötzlich erübrigen? (a. a. O. s.107,108) Inklusion provoziert und macht Widersprüche transparent… Wir sind allerdings – vor allem bei Berücksichtigung der Schwerfälligkeit und Resistenz der involvierten Systeme – von einer Lösung der Problematik weit entfernt. (a. a. O. S.108,109)
Ansätze und Aspekte inklusiver Unterrichtung
Bei Eltern, Pädagogen, bildungspolitkern und bei Verbänden
ist die Überzeugung gewachsen, dass eine angemessene Vorbereitung von Kindern
mit und ohne Behinderung auf ein gemeinsames Leben in unserer Gesellschaft nur
gelingen kann, wenn die soziale Inklusion behinderter Kinder in der Regelschule
– soweit wie möglich – verwirklicht wird….
Im Mittelpunkt steht die einzelne Person, das Subjekt mit seiner jeweils
individuellen Entwicklung…
Insofern erscheint es pädagogisch eher vertretbar zu sein, ein Kind mit
erheblichen Lernproblemen in einer Schule mit einem entsprechenden
Förderschwerpunkt wie z. B. Lernen, geistige Entwicklung, Verhalten, Sehen zu
unterrichten, als es in der Regelschule bzw. Allgemeinen Schule zum permanenten
Schulversager mit allen Konsequenzen für den Persönlichkeitsbereich (Ängste,
totaler Motivationsverlust, Frustration) werden zu lassen (Bundschuh 2008, 46 –
59, 267 -173). …. Es darf nicht sein, dass um des Etiketts >Inklusion<
willen von Anfang an in die Allgemeine Schule integriert wird, ohne das
pädagogisch sinnvolle Voraussetzungen dafür geschaffen wurden… (a. a. O. S.109)
6..Inklusion – Grenzen und Möglichkeiten
Die Sonder- und Heilpädagogik muss sich als Wissenschaft intensiv mit der Frage der Inklusion und >kindesorientierter Unterrichtung< von Schülern beschäftigen…
6.1 Grenzen
Bisher liegt keine allgemein anerkannte Definition von
Inklusion vor; es handelt sich wohl eher um einen euphemistischen Begriff, der
es Wissenschaft und Praxis ermöglicht, ethisch akzeptable Gedanken zu äußern,
unbefangen über pädagogisch und ethisch Wünschenswertes zu reflektieren…. Es
wird schwierig sein, das traditionelle Doppelsystem Allgemeine Schule und
Förderschule als geteiltes System zu einem neuen inklusiven Schulsystem
umzuwandeln… Systeme sind relativ starr, sie tragen in sich eine
Beharrungstendenz… (a. a. O: S.110)
Betrachtet man Inklusion unter den Aspekten der Kompatibilität von
Leistungssicherung und sozialer Erziehung, klafft die Schere unüberbrückbar
weit auseinander; ob sich dieser Spagat in Zukunft verringern oder gar
neutralisieren lässt, bleibt fraglich…
Für die Realisierung von Inklusion wird eine inklusive Gesellschaft gefordert;
dabei gehört zur Gesellschaft, dass es immer auch Gewinner und Verlierer
gibt. Werte und Normen des Miteinander und Füreinander werden häufig nicht
beachtet. Kein Zweifel, die schulische Inklusion von Kindern mit und ohne
Behinderung wird nur von einem Teil der Gesellschaft eingefordert. Unter
systemtheoretischem Aspekt kann aber nicht ein Teil das Ganze bestimmen…
Wir sprechen bereits wieder zu häufig über die Betroffenen, statt mit den
Menschen mit Behinderungen. Man sollte sie selbst und die nahen Bezugspersonen
fragen, wie sie sich im Zusammenhang mit ihrer Situation Inklusion vorstellen…
Das hierarchisch gegliederte Schulsystem setzt die eigentlichen Grenzen für die
adäquate Förderung von Kindern mit Lernproblemen in der Allgemeinen Schule, vor
allem wenn man bedenkt, dass die Grundschule in zunehmendem Maße als
Zubringerschule zu den weiterführenden Schulen dient… (a. a. O. S.111)
6.2. Möglichkeiten der Inklusion
Die Weiterentwicklung des ursprünglich als Integration bezeichneten Ansatzes in Richtung Inklusion im Sinne einer >Schule für alle< wird möglich sein, aber nur Schritt für Schritt können Lösungen gemeinsamen Lernens umgesetzt werden. Es wird ein langsamer und langwieriger Prozess sein, bei dem auch mit Rückschlägen zu rechnen ist….Dabei wird es notwendig sein, Einstellungen der Menschen in unserer Gesellschaft und das Schulsystem, in dem der Leistungsgedanke nahezu durchgängig dominiert, im Sinne von Inklusion zu ändern. Das Leistungsdenken ist in unserer Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg gewachsen und damit tief verwurzelt…
6.Perspektiven
Der Boden für Inklusion ist bereitet, die frühe Separierung
bzw. Klassifikation von Schülern bis zur vierten Klasse der Grundschule wird
sehr häufig kritisiert, der ideologische Streit zwischen verschiedenen
Schulmodellen und Systemen wie Gesamtschule und gegliedertes Schulsystem
weitgehend neutralisiert.
Sonder- und Heilpädagogik stand und steht nicht im Dienste normorientierter,
lehrplan- und lehrerorientierter schulischer Wirklichkeit im Sinne der Passung
und Anpassung des Kindes an gegebene Verhältnisse, nimmt vielmehr entschieden
die Position des in Probleme geratenen Kindes gegenüber dem System Schule und
allen Implikationen (Schulamt, Lehrer, Prüfungen) ein. Erst mit der
Orientierung an der speziellen Bedürfnissituation beginnt der Weg des
Verstehens…(a. a. O: S.112)
II Fragen zu Unterricht und Schule
Michael Wagner
Die inklusive Schule der Zukunft -
wirklich eine Schule für alle?
.. Nach Speck steht Inklusion für einen Zustand des sozialen
Eingeschlossenseins, für Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und für ein
Einbezogensein in lebensrelevante Kommunikationszusammenhänge. Gleichzeitig
macht er aber darauf aufmerksam, dass es sich hierbei letztlich um eine
Metapher handelt, die erst im Hinblick auf ein spezifisches Bezugssystem mit
einer klaren inhaltlichen Bedeutung verbunden werden kann (vgl. Speck 2010, 61)
In einem solchen Bildungssystem ist sichergestellt, dass >Menschen mit
Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft leben, Zugang zu
einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen
und weiterführenden Schulen haben< (ebd. 36 (Schattenübersetzung!))… Nach
Heimlich verzichten inklusive Bildungseinrichtungen von vornherein auf jegliche
Form der Aussonderung… (Heimlich 2011, 45)…. Dabei bezieht sich die
prinzipielle Anerkennung von Vielfalt sowohl auf die Unterschiede zwischen
Menschen als auch auf ihre Gleichheit im Sinne eines gemeinsamen Menschsein.
Die Vielfalt wird anerkannt und als >reichhaltige Quelle für das Lernen,
Unterrichten und den Aufbau von Beziehungen<(Booth 2010, 62)
anerkannt. (a. a. O: S.117,118)
Die Aspekte von >Heterogenität< beziehungsweise >Vielfalt< beziehen
sich im Kontext von Inklusion nicht nur auf die Dimensionen >Kompetenz<
und >Einschränkung<, sondern umfassen auch verschiedene
Geschlechterrollen, ethnische, sprachliche und kulturelle Hintergründe,
religiöse und weltanschauliche Überzeugungen, Familienstrukturen, soziale
Lagen< (Hinz 2002, 357)…
2 Die inklusive Schule – eine Schule für wen?
… ob dies letztendlich nicht zu einer Überforderung aller am
Bildungsprozess Beteiligen führen muss? …(a. a. O: S.118)
Betrachtet man … die Ausführungen in einem Handbuch der Parlamentarier,
das von den Vereinen Nationen 20078 zur Erläuterung der Behindertenrechtskonvention
herausgegeben wurde, so wird der Zusammenhang Inklusion –>Schule für
alle< – scheinbar relativiert. >Experience has shown that as many as 80 or 90 per cent of Children
with specific education needs, including children with intellectual
disabilities, can easily be integrated into regular schools an[d]
classrooms< (United Nations 2007, 83). … Eine Gruppe, die allerdings
mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu diesen 20 % gehört, sind Kinder und
Jugendlichem ist einer schweren oder mehrfachen Behinderung, mit massiven
Verhaltensauffälligkeiten oder zum Teil auch mit schweren chronischen oder
progredienten Erkrankungen…
Wocken (2011, 95) geht … davon aus, dass es >zur Inklusion aller Kinder mit
Behinderungen […] zweierlei Systeme [bedarf]< Für Kinder mit den
Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, emotional und soziale Entwicklung ist…
zukünftig das >inklusive Regelsystem< …(Wocken 2011, 95) … zuständig. Für
Kinder mit den Förderschwerpunkten Sehen, Hören, geistige Entwicklung,
körperliche und motorische Entwicklung gibt es das >inklusive
Unterstützungssystem< (ebd., 99): In ihm wird >wie bisher üblich der
sonderpädagogische Förderbedarf formell festgestellt und darauf aufbauend eine
personenbezogene Zuweisung zusätzlicher und fachlich angemessener Pädagogenstunden
vorgenommen< (ebd.., 100).
In eine solchen inklusiven Unterstützungssystem werden die Schülerinnen und
‚Schüler mit Behinderung auf verschiedene Klassen und Schulen verteilt und den
sonderpädagogische Förderung erfolgt ambulant durch einen sonderpädagogischen
Wanderlehrer<, der von Klasse zu Klasse, von Schule zu Schule geht und dort
>seine< Kinder aufsucht< (ebd., 101). Auch für Reiser (2002, 415) ist
die Forderung nach einer >Schule für alle< eine Illusion. Er geht davon
aus, dass es für einzelne Kinder und Jugendliche auch zukünftig einen Bedarf
nach speziellen schulischen Einrichtungen geben wird… >rehabilitative
Einrichtungen< (ebd.). (a. a. O. S.119,120) … Für die… scheinbar nicht in
das >inklusive Regelsystem< (Wocken) inkludierbaren Schülerinnen und
Schüler ist es auch… so, dass sie weiterhin in besonderen schulischen
Settings zusammengefasst und unterrichtet werden. Dies birgt die große Gefahr
der Bildung von eher homogenen >Restschulen< bzw. >rehabilitativen
Einrichtungen< (Reiser) in sich, was letztlich eine noch stärkere Exklusion
und Marginalisierung dieser Kinder und Jugendlichen zur Folge hätte, wie das
aktuell der Fall ist… man wird mit Blick auf die Gefahr des Entstehens
neuer >rehabilitativer Einrichtungen< letztlich immer noch in der Phase
der Separation und Segregation stecken bleiben…. Schule der Zukunft … muss…
notwendigerweise eine >Schule für alle< sein. (a. a. O. S.120)
3 Der Weg zu einem inklusiven Bildungssystem
… Nicht schuladministrative Aspekte im Kontext der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs entscheiden über den zukünftigen Schulort, sondern Eltern, Kinder und Jugendliche haben ein Wahlrecht, das in der UN-Konvention als ein >menschenrechtlich verbürgter Anspruch< (ebd.) festgeschrieben wird... (a. a. O. S.121)
4 Entwurf einer inklusiven Schule für alle
..Konzept.. Feuser.. der >entwicklungslogischen
Didaktik< (vgl. u. a. 1989)… Sein Ziel ist es, dass >alle Kinder in ihrer
momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen in Orientierung auf
die >nächste Zone der Entwicklung< an und mit einem Gemeinsamen
Gegenstand < spielen, lernen und arbeiten< (Feuser 2002, 283). Feusers
ausschließlich auf das Modell >Gemeinsames Lernen am Gemeinsamen
Gegenstand< begrenzter Ansatz erfährt durch die von Wocken beschriebenen
unterschiedlichen Lernsituationen (1998) eine konzeptionell wichtige und
notwendige Erweiterung… Vielfalt reicht dabei von sogenannten >koexistenten
Lernsituationen<, in denen Schülerinnen und Schüler in gemeinsamen
Lernsituationen in erster Linie auf sich selbst und ihre individuellen
Handlungspläne konzentriert sind, bis hin zu kooperativen Lernsituationen, in
denen im Sinne Feusers gemeinsam gelernt wird…
Um .. Kinder[n] und Jugendliche[n] mit schweren Behinderungen… gerecht werden
zu können, sind unterschiedliche Settings notwendig, die ein hohes Maß von
Individualisierung, bis hin zur didaktisch vorstrukturierten Einzelsituation
gekennzeichnet sind. Mit Markowetz kann man dies als >exklusiv-individuelle
Lernsituationen [bezeichnen; M.W.). in denen die meisten Kinder in gemeinsamen
Lernsituationen nahezu Unterricht das Gleiche tun, während eines oder auch
mehrere Kinder parallel das Ihrige tun dürfen< (Markowetz 200, 177). (a. a.
O. S.122,123) ..Ziel einer solchen Schule ist es auch, auf der Basis sehr
unterschiedlicher Lernangebote verschiedene Schulabschlüsse zu ermöglichen…
Fragt man nun, welche Kriterien für Eltern von Kindern und Jugendlichen
mit Behinderung bei der Schulwahl relevant sind, so zeigt beispielsweise eine
Elternbefragung… 2008 in Bayern…, dass von den 158 Eltern… 64 % (n=101)
die Möglichkeiten von Förderung und Therapie als wichtigen Grund angeben (vgl.
Fickenscher/Kannewischer/Wagner 2010, 257)…. z.B. Krankengymnastik,
Ergotherapie. Logotherapie…
In einer Schule, in der sowohl verschiedene Lernsituationen als auch
verschiedene therapeutische Angebote realisiert werden sollen, laufen die
jeweils heterogen zusammengesetzten Schulklassen allerdings Gefahr, in mehr
oder weniger stabile Teilgruppen zu zerfallen, was der Idee eines inklusiven
Unterrichts zuwider laufen würde. Um dies zu vermeiden, ist es notwendig, das
die sogenannte >Schulklasse< sich in ihrer Funktion verändert. Aus ihr
muss eine heterogen zusammengesetzte >Stammgruppe< werden, die für die
einzelnen Schülerinnen und Schüler den sozialen und immer wieder auch
unterrichts- und lernbezogenen Mittelpunkt bildet…. Die einzelne Schülerin, der
einzelne Schüler lernt in seiner Stammgruppe, verlässt sie aber immer wieder
auch, um situativ in anderen Unterrichtssituationen lernen zu können oder um
therapeutische Unterstützungsangebote wahrzunehmen… (a. a. O. S.123)
Abb.1: Strukturmodell einer >Schule für alle< [nicht wiedergegeben]
Désirée Laubenstein
Eine Schule für alle oder eine Schule für jeden – Gedankenfragmente zu
diskursiven Praktiken im Rahmen aktueller Inklusionsdiskussionen
Mit PISA hat eine neue Diskussion in der Bundesrepublik
begonnen. Eng gekoppelt sind hieran Überlegungen zur Bildungsgerechtigkeit mit
den Strukturelementen Verfügbarkeit (availability), Zugänglichkeit
(accessibility), Annehmbarkeit (acceptability) und Adaptierbarkeit
(adaptibility vgl. Lindmeier 2010, 2) … ein…Bildungssystem…wird… dann als
ungerecht empfunden, wenn es bestimmte Menschen strukturell benachteiligt … in
einem unmittelbaren Verweisungszusammenhang mit dem…Begriff…. der
Chancengleichheit , >Die grundsätzliche Problematik spitzt sich auf die
Frage zu, ob >Chancengleichheit< darin bestehe, alle Schüler gleich zu behandeln
oder sie radikal verschieden, nämlich entsprechend ihren jeweiligen
Bedürfnissen zu fördern< (vgl. Brennner 2011, 14, in Anlehnung an
Hellekamp/Musolf 1999).
Tatsache ist jedoch, dass es heutzutage eine ganze Reihe von potentiellen
Verlierern des Bildungsprozesses gibt, und dass hier regionale, konfessionelle,
geschlechtsspeifische, lebenslagenspezifische, ethnographische und kulturelle
Aspekte mit hineinspielen. Demzufolge ist Ahlbeck (2011, 69) zwar zuzustimmen,
wenn er hervorhebt, dass in der Bundesrepublik niemand aufgrund seiner Herkunft
vom Schulbesuch ausgeschlossen wird, der Aspekt der Benachteiligung bleibt
davon jedoch unberührt. >Wer die Schule von ihrem gesellschaftlichen Auftrag
her denkt, dem stellt sich das Problem der Bildungsgerechtigkeit unter neuen
Perspektiven: nicht mehr unter dem Aspekt der Versorgung einer möglich großen
Zahl von Schülern mit möglichst hohen formalen Abschlüssen, sondern die
Bereitstellung eines ausdifferenzierten Schulangebots für verschiedene
Bedürfnisse.< (Brenner 2011, 35) (a. a. O. S. 127,128)
Fußnote 3. Vgl. hierzu die Diskussion im soziologischen Diskurs über die
>Überflüssigen< (Hark 200).
Hierbei gelingt es dem deutschen Schulsystem bisher nicht, jedem Kind eine
faire Bildungschance einzuräumen (vgl. Dräger 2009, 4). Zurzeit befindet sich
das Schulsystem in einer paradoxen Situation: >Immer mehr Schülerinnen und
Schüler werden außerhalb von Förderschulen integrativ gefördert, bei
gleichzeitiger Zunahme der Schülerzahl in Förderschulen. […] An den insgesamt
3.302 Förderschulen in Deutschland werden derzeit etwa 400.000 Schülerinnen und
Schüler (4,9% aller Schüler ) unterrichtet. Unter den EU-Staaten hat
Deutschland damit den höchsten Anteil an Schülerinnen und Schüler, die in
Förderschulen unterrichtet werden. Vor allem Jungen sind an Förderschulen stark
überpräsentiert< (Autorengruppe 2010, 6).. >Während in Hamburg etwa ¼ der
Schüler mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung am gemeinsamen Unterricht
teilnimmt, sind es in Baden-Württemberg
(II) lediglich 0,13 % […] Überraschenderweise ist… Bremen, hinsichtlich
aller Förderschwerpunkte der Spitzenreiter in den Integrationszahlen, in der
Integrationsquote für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Schlusslicht…
Schüler mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung werden in Bremen in
kooperativer Form gemeinsam mit jahrgangsentsprechenden Klassen der
zugeordneten allgemeinen Schule in der Verantwortlichkeit des jeweiligen
Förderzentrums unterrichtet. Somit liegt keine Integration im Sinne der KMK
vor< (Breyer 2010. 9) … (a. a. O. S.129) … Wie positionieren sich die
Teilnehmer(innen) dieser Diskurse? Welche Wirklichkeit wird durch welche
Argumentation konfiguriert? Welche Wissensordnungen lösen sich durch die
Inklusionsdebatte ab? Lösen sie sich überhaupt ab? Und vor allem: wer
interpretiert diese Diskurse…? … Wer hat die Deutungsmacht? ...
Wie wird Behinderung im Inklusionsdiskurs produziert und reproduziert?
… Reuter (2010, 24) formuliert: >Inklusion ist eine
Lebensform, bei der Unterschiede zwischen den Kindern in ihren Interessen,
Wissensständen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, familiäre und kulturelle
Hintergründe, kommunikative Kompetenzen, Herkunftsbedingungen, Begabungen und
Beeinträchtigungen zum Potenzial des Lernens aller Beteiligten werden
können<… Die Beschulung in Sondereinrichtungen wird gleichgesetzt mit
Diskriminierung, Isolation und Trennung von der Teilhabe am gesellschaftlichen
Leben.
Allerdings lassen sich in diesem Kontext auch kritische Stimmen finden. Kobi
(2008, 14) mahnt an: >Ein Inklusions-Konzept, das nicht in den Ruch einer
>Totalen Institution< geraten will, hat zumindest die Möglichkeit zur
Selbst-Exklusion offen zu halten…(a. a. O. S.130,131) [spricht von] Orwell‘scher
Sprachsäuberung… >Behindertsein ist schön!<, >Geistig Behinderte gibt
es nicht!<, >Celebrate Diversity!<, so die Interjektionen der
Verzückung im Ausblick auf das belobigte Land< (ebd. 19) Auch Ahrbeck (2011,
8) bemerkt kritisch: […] niemand soll mehr ausgeschlossen werden. Allerdings
darf sich dann auch niemand mehr, und das ist die Kehrseite, aus diesem System
entfernen.< …
Ahrbeck (2011, 107f.) resümiert: >Die Diskussion ist affektiv erheblich
aufgeladen… Insofern ist auch nicht gesichert, mitunter sogar
unwahrscheinlich, dass alle Kinder von einer inklusiven Beschulung profitieren
können,< … >.. >…ach ich bitte euch, dies in Zukunft zu
ändern, alle Kinder brauchen eine Schule für alle< und individuelle
Förderung, bitte verhindert diese ausgrenzung und dieses
>abnunbinichandersgefühl< für kinder mit behinderung. Ich habe es am
eigenen Leib und ganz besonders in meiner seele erfahren, wie sich diese
ausgrenzung anfühlt. Ich hatte viele jahre nur einen unangemessenen lernstoff,
die praktische beschulung ignorierte meine handlungsstörung als autistin,
es ist keinem menschen anzusehen was er versteht, ganz egal wie schwerwiegend
die behinderung auch sein mag, es ist nie beurteilbar ob ein mensch nicht doch
klug ist, und es nur nicht zeigen kann, deshalb muss jedes kind das recht haben
den ganz nomalen unterricht zu bekommen, auch wenn sein wissen nicht
abgeprüft werden kann…< (Klein 2010, 33). (a. a. O. S.13 1)
Zemp (1995, 355ff.) hebt hervor: …> Nach all dem, was ich gehört habe, muss
ich annehmen, dass die Sonderpädagogik noch nie etwas von der
Behindertenbewegung gehört hat… Wir in der Behindertenbewegung sind längst
woanders: wir fordern Emanzipation statt Integration […] Wir wollen nicht in
die gleiche Misere integriert werden, wie Menschen ohne Behinderung sind! Wir
fordern das selbstverständliche Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und das
Anerkanntsein in unserem Sein mit unseren spezifischen, eben vielleicht anderen
Möglichkeiten.<
…. So verweist die Soltauer INITIATIVE für Sozialpolitik und Ethik in sozialen
Arbeitsfeldern (2010) darauf hin, dass unter sozial- und wirtschaftspolitischer
Perspektive die Euphorie der Behindertenverbände, die mit der Ratifizierung der
UN-Behindertenkonvention einhergeht, nicht geteilt werden kann. … Die Soltauer
Initiative (2010, 11) stellt fest: >Eine Inklusiom gerade behinderter
Menschen in einer vom System her exkludierenden Politik ist schwer
vorstellbar.< (a. a. O: S.132)
Der Deutsche Behindertenrat (2010) fordert in seinem Positionspapier, dass
Wissenschaft und Forschung ihren Blick auf die inklusive Bildung fokussieren
müssen…
Der vds (2010, 27) hebt hervor: >Soll Inklusion gelingen, wird sowohl die
permanente Weiterentwicklung eines hochqualifizierten interdisziplinären
Unterstützungssystems von Förderzentren für alle (sonderpädagogischen)
Bedürfnisse als auch die prozessbezogene, qualitätsorientierte Evaluation der
Systeme benötigt.< Warnend weist der vds darauf hin, dass hierbei
>allgemeine und Förderschule nicht als konkurrierende Systeme diskutier
werden [dürfen], sondern als qualitative Förderangebote in einer
gemeinsamen Bildungslandschaft.< (ebd. 24).
Erst in ihrem Entwurf am 03.12 2010 äußert sich die KMK explizit zur inklusiven
Bildung…: >Die inklusive Schule ist eine Zielvorstellung, die in einem
längerfristigen Prozess zu verwirklichen ist. Dabei können die vorhandenen
Organisationsformen sonderpädagogischer Förderung einschließlich der
Förderschulen weiter geführt und einbezogen werden.<
(KMK 2010, 18) …
Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften, Sektion Sonderpädagogik
hat daraufhin am 15.03.2011 …kritisch herausgestellt, dass das Recht auf
Bildung und die Forderung der Umstellung auf ein inklusives Erziehungs- und
Bildungssystem nicht vereinbar ist mit der Pluralisierung der Förderorte<
oder der >Beibehaltung von Sonderinstitutionen<.
Die Monitoring-Stelle des deutschen Instituts für Menschenrechte stellt in
ihren Empfehlungen an die Länder, die Kultusministerkonferenz und den Bund am
31. März 2011 heraus, dass bisher nur vereinzelt der erforderliche Rechtsrahmen
für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems geschaffen (Bremen),
Rechtsanpassungen vorgenommen (Hamburg, Schleswig-Holstein), Konzepte erstellt
(Berlin, Mecklenburg-Vorpommern) oder regionale Arbeitsprozesse organisiert
wurden (Baden-Württemberg). (a. a. O. S.133,134) >Beunruhigend sind die
Zeichen aus einem Bundesland (Sachsen), das sich im Schulbereich dem Auftrag
aus der Konvention weitgehend verschließt< (ebd. 4)…. (a. a. O. S.134)
Wer sind nun die sozialen Akteure im Inklusionsdiskurs?
Wer hat die Sprecherposition? Die betroffenen Personen?
Die Wissenschaftler(innen)? Die Politiker(innen)?
Überraschenderweise sind es scheinbar nicht die Menschen mit
Benachteiligungen/Behinderungen selbst, die im Rahmen der Inklusionsdebatte
Gehör finden und die über ihre Teilhabe in allen für sie relevanten
Lebensbereichen selbst bestimmen können…
Das Normalitätsdenken, der ständige Konfliktbereich zwischen behinderten und
nichtbehinderten Menschen, fällt in den Beurteilungen und Überlegungen unter
den Tisch< (Sierck 1989, 9)…
Wie werden die Subjektpositionen im aktuellen Inklusionsdiskurs konstituiert?
Subjekte |
Positionen |
Menschen mit Benachteiligung/ |
Hilfebedürftig-förderbedürftig |
Eltern |
Engagiert/unwissend |
Regelschullehrer(innen) |
(in)kompetent |
Sonderpädagog(inn)en |
Wissend/ignorant |
Politiker(innen) |
Unflexibel |
Nach dem dargestellten Stand der pro/contra Diskussion im
Inklusionsdiskurs werden die Subjektpositionen nach alter Tradition aufrechterhalten…
(a. a. O. S.135)
… Mit dieser Zuschreibungspraxis lassen die derzeitigen Praktiken keine
Positionsveränderung zu. Ein verändertes Wissen über
Benachteiligung/Behinderung wird zwischen den Subjekten so nicht hergestellt
werden können.
Gibt es mögliche Diskussionsuniversen?
Gibt es einen gemeinsamen konsensuellen Bereich aller Akteure?
… die UN-Behindertenkonvention…
Gibt es eine Verschiebung der Akteure und eventl. Ihrer Positionen innerhalb des Diskurses? Wer spricht zukünftig?
… Es gilt, bestehende Ängste und Abwehrmechanismen zu
analysieren und zu beobachten, inwieweit die sonderpädagogische Theorie und
Praxis Emanzipationsbestrebungen von Menschen mit
Benachteiligungen/Behinderungen ignoriert, nicht ernst nimmt oder diese als
>Nichtverarbeitung einer Behinderung< (Eggli 1993, 131) deklassiert.
Indem nichtbehinderte Menschen bestimmen, welche benachteiligten/behinderten
Menschen integriert werden, üben sie soziale Kontrolle aus. Diese
Machtstrukturen gilt es, im Sinne Foucaults (1978; 1993; 1994) zu analysieren….
… Vielmehr können, sollten und müssen immer auch die betroffenen Kinder und
Jugendlichen und ihre Eltern selbst (mit)entscheiden können und dürfen, wo und
wie sie Bildung erfahren und in welcher (schulischen) Organisationseinheit dies
möglich ist. (a. a. O. S.136)
Dies kann eine >Schule für alle< sein, denkbar wäre jedoch auch eine
>Schule für jeden<. (a. a. O. S.137)
Reinhard Markowetz
Inklusive Didaktik (k)eine Neuschöpfung!?
Ein Beitrag zur didaktischen Diskussion über Gemeinsamen Unterricht
1 Problemstellung und einleitende Zusammenhänge
Menschliches Lernen ist komplexer als es und die
Lerntheorien suggerieren. Lernen ist ein höchst individueller und lebenslanger
Prozess, dem die gegenwärtige Lernkultur in unseren Regelschulen nicht mehr
gerecht zu werden scheint. Lehrer()innen), die ihren Unterricht so planen und
vorbereiten, dass alle Schüler(innen) im Gleichschritt das Gleiche lernen
können, werden auf Dauer weder den eigenen Ansprüchen an den Erfolg ihres
Unterrichts genügen, noch den Bildungsansprüchen der ihnen anvertrauten
Schülerschaft nachkommen können. Noch immer orientieren sich die Lehrer(innen)
am Ideal des Lernens in weitgehend homogenen Gruppen… Nur zu gut wissen
wir, dass sich die sehr breit gefächerten Unterrichtskonzeptionen, denen wir in
Gestalt von Begriffen und Worthülsen wie z. B. offener Unterricht, Öffnung von
Schule, Verzicht auf äußere Differenzierung und Betonung von Maßnahmen der
inneren Differenzierung und Individualisierung, organisiertes, entdeckendes
Lernen, soziales Lernen, Erfahrungslernen, Entwicklungsorientierter Unterricht,
Lernen mit und nach dem Wochenplan, Stärkung der lernenden Subjekte,
Freiarbeit, fächerübergreifender, gar fächeraufhebender Unterricht,
kommunikativer Unterricht, Projektunterricht usw. (vgl. z. B. Bönsch 1995;
Glöckel 1996; Gudjons/Teske/Winkel 1991; Meyer 1987) begegnen, nur langsam
verbreiten und vor allen Dingen auch in den weiterführenden Schulen nur
zögerlich durchsetzen (a. a. O. S.141,142) Es scheint so, dass , dass
schon die reformwilligen Avantgardisten enorme Probleme bei der praktischen
Umsetzung eben jener >anderen, alternativen Lehr- und Lernformen< haben,
sich schwer tun, die Schule neu zu machen und den Unterricht >zeit- und
kindgemäß zu gestalten, so wie es die ganz >großen< Pädagogen (z. B.
Klafki 1971; 1995; v. Henrig 1994) vorgeben und Kulturkritiker aufgrund ihrer
Analyse des gesellschaftlichen Wandels und der veränderten Kindheit (vgl. Beck
1986; Postman 1983; Preuss-Lausiz 1993; Rolff/Zimmermann 1985) längst zwingend
anraten…
Stattdessen haben uns die >Kurznachrichten aus einer didaktischen
Wunderwelt< erreicht, die verheißungsvoll den Einzug in ein
>Superlea[r]ning – Megateaching < ankündigen (vgl. Terhart 1978, 181
ff.). Es ist die Rede von der Suggestopädie, dem Ansatz des Neurolinguistischen
Programmierens (NLP) und der Edukinestetik. Diese stark körperbezogenen,
biologisch fundierten Formen des Lehrens und Lernens werden bereits unter dem
Sammelbegriff >Neurodidaktik< Friedrich 1985; Preiß 1996) subsummiert.
Dabei hat es den Anschein, dass diese psychotherapeutischen Ansätze genau dort
ansetzen, wo unsere pädagogische Verzweiflung am größten ist und uns beste
Aussichten auf schnellen, reibungslosen eigenen Erfolg bei gleichzeitiger
Heilung der Lernprobleme unserer Lernenden einräumen. Solche Methoden
versprechen uns bislang ungeahnte Erfolge hinsichtlich der Quantität und
Qualität des Lernens auf physiologische Grundlage und begründen ein Verständnis
von Didaktik , das keiner tiefgründigen didaktischen Theorie mehr bedarf…
Friedrich, Gerhard (1985); Die Praktikabilität der Neurodidaktik. Frankfurt a.
M. Lang – Preiß. Gerhard (Hrsg.) (1996): Neurodidaktik, Pfaffenweiler:
Centaurus
Gleichzeitig boomen parallel zu den Schulen private Nachhilfeinstitute, die
gegen gute Bezahlung aufarbeiten, was unsere Schulen nicht mehr zu leisten
vermögen, die unsere Schüler coachen und briefen (engl. to brief =
unterrichten), um ihnen das Überleben in den Häusern des Lehrens und Lernens so
lange wie nur möglich zu sichern. (a. a. O. S.142,143)…
Oder sollte es tatsächlich genügen, sich unterrichtmethodisch
fortzubilden, um dann je nach Lust und Laune, in x-beliebiger Reihenfolge, ….
In den Warenkorb der dort eingelagerten und über die Medien bereits
feilgebotenen Verfahrensweisen zu greifen?...
…Wir… brauchen dringend ein schlüssiges, lehr- und praktisch anwendbares
didaktisches Konzept, nachdem wir inklusiven Unterricht effektiv planen und
gestalten können. Aus der integrationspädagogischen Literatur sind uns bereits einige
didaktische Positionen bekannt (vgl. z. B. Feuser 1995¸Reiser 1991¸Spicher 1998)… Mir ist kein Überblick
bekannt, der grundlegend über Akzeptanz und zahlenmäßige Verbreitung
didaktischer Positionen innerhalb der Integrationspädagogik und nun auf den
Terminus Inklusionspädagogik erweitert, fundiert Auskunft gibt. (a. a. O.
S.143,144)
2 Bestimmung einer inklusiven Didaktik durch die Integration und Balance didaktischer Modelle
… Konkrete didaktische Entscheidungen lassen sich daraus
nicht unmittelbar ableiten. Sinnvoll gebündelte und in einem gewissen logischen
Zusammenhang stehende didaktische Prinzipien schärfen bisweilen aber klar
umschriebene Unterrichtskonzepte, die sich zwischen offenen und geschlossenen
Formen des Unterrichts bewegen, Ausdruck unterschiedlicher lern- und
bildungstheoretischer Grundauffassungen sind und … auch den Vollzug ganz
bestimmter unterrichtsmethodischer Umsetzungen vorsehen… (a. a. O. S.144,145)
Didaktische Modelle suchen den Kontakt zu wissenschaftlichen Theorien und die Anbindung
an Wissenschaftstheorien und lassen sich umgekehrt aus ihnen ableiten und
schärfen. An der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis haben demnach
didaktische Modelle als Instrument der Erfassung, Analyse, Planung,
Durchführung und kritischen Reflexion wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung
der Wirklichkeit von Schule und Unterricht…
Was also liegt näher, als die verschiedenen Aspekte und
Aufmerksamkeitsrichtungen synergetisch in ihren Erklärungswerten und
Planungsdimensionen zusammenzuführen, die >Patchwork-Metapher< innerhalb
der Identitätstheorien (vgl. Keupp et al. 2002) auf die Didaktik zu übertragen
und das Wissen, das einzelne didaktische Modelle zur Verfügung stellen, für die
Entfaltung einer umfassenden Theorie einer inklusiven Didaktik zu nutzen, die
den Umgang mi Gleichheit und Differenz als Aufgabe des Sozial- und
Bildungssystems beschreiben, analysieren und kritisch-konstruktiv im
Bildungsalltag lösen kann.
In diesem Beitrag ist es nicht Ziel, alle didaktischen Modelle zu sichten und im
Einzelnen näher zu beschreiben. Nach Kron (2004, 63) wären dies vierzig
didaktische Theorien und Modelle. Die die Didaktik als Wissenschaft
gegenstandsorientiert bestimmen. Bönsch (1996, 97) kommt auf lediglich zwölf
Ansätze… Das deutet darauf hin, dass… zum anderen einige Modelle (z.B. die
kybernetische respektive kybernetisch-informationstheoretische Didaktik von
Felix Cube),… völlig versandeten… (a. a. O. S.146)
An anderer Stelle (Markowetz 2007c) habe ich die Konturen jener zehn
didaktischen Positionen skizziert, denen ich gegenwärtig aufgrund ihres mehr
oder weniger stark spürbaren emanzipatorischen Erkenntnisinteresses einen
entstigmatisierende Kraft durch Bildung für alle und Teilhabe am Gemeinsamen
Unterricht einräume …
Die Abbildung 1 versucht hierzu eine Zusammenschau jener Ansätze, die sich nach
Kron (2004, 68) mit fünf zentralen Leitbegriffen: >1. Bildung, 2. Lernen, 3.
Interaktion, 4. System und 5. Konstruktion< klassifizieren und ordnen
sowie zur gegenstandtheoretischen Bestimmung und Herausarbeitung einer
inklusiven Didaktik heranziehen lassen… (a. a. O: S.147) Keines der Modelle
repräsentiert eine Didaktik als Ganzes, sondern bildet immer nur bestimmte
Ausschnitte aus der Wirklichkeit und ein verkürztes Verständnis von Schule und
Unterricht ab… (a. a. O: S.148)
Abb. 1 [nicht wiedergegeben]
3 Zwischenbilanz und Ausblick
Aus meinen Ausführungen… lässt sich ableiten, das eine
inklusive Didaktik keine >Neuschöpfung< zu sein braucht. Eine inklusive
Pädagogik will und kann gegenwärtig weder die pädagogische Theorie noch die
Praxis um eine Variante bereichern…
Das … wesensbestimmende Moment, vermittelnde Etwas und kleinste gemeinsame
Vielfache ist vor dem Hintergrund des kardinalen Prinzips der Unteilbarkeit von
Integration (vgl. Muth 1991) als ein fundamentaler Ausdruck der unendlichen
pädagogischen Geschichte der >Wiederherstellung der Einheit des Menschen in
der Menschheit< (Séguin 1812-1880), aber konkreten Utopie einer inklusiven
Gesellschaft, axiomatisch das der Teilhabe, das der sozialen Anerkennung und
Zugehörigkeit aller Menschen, das keiner Letztbegründung bedarf, sondern im
Rekurs auf den ethischen Imperativ unserer Verfassung und die als
Menschenreicht formulierte Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen
als oberstes Prinzip von paradigmatischer Qualität auf der Mikro- und
Makroebene seine fundamentale, durchgängige Orientierungsfunktion zu erfüllen
hat und eine handlungsleitende und systemerneuernde Funktion darstellt…
Eine inklusive Pädagogik und ihre Dialektik sollte nicht den Anspruch erheben,
eine völlig neue, noch nie dagewesene Pädagogik und Didaktik erfinden zu wollen
und sich davor hüten, sich … ins Abseits stellen und letztlich für schlechten
und die Selektionsfunktion von Schule erfüllenden Unterricht verantwortlich zu
machen. Aber eine inklusive Pädagogik kann als übergeordnetes Konstrukt
operieren, das ohne ein schlechtes Gewissen bekommen zu müssen, sich durchaus
der historisch gewordenen Theorien, bestehenden Modellvorstellungen,
überdauernden Konzepten und allseits für wichtig empfundenen Prinzipien
bedienen… (a. a. O. S.150,151)
Auch eine inklusive Pädagogik ist zunächst nur Pädagogik und kann nichts
anderes als Pädagogik sein. Aber sie ist eine in die Zukunft gerichtete ,
reformerische und moderne Pädagogik,… versucht, die Subjekte wieder
einander näher zu bringen, um dabei neue Sozial- und Umgangsformen
hervorzubringen, soziale Kohäsion zu produzieren und Inklusion in der
Gesellschaft zu stabilisieren und dauerhaft zu halten… (a. a. O. S.151)
…-Wesensmoment eines solchen heuristischen Modells ist das Inklusive, das als
durchgängiges Prinzip von paradigmatischer Qualität die Theorie und Praxis des
Gemeinsamen Unterrichts anzuleiten hat. Merkmale, an denen sich das
Wesensmoment des Inklusiven erkennen und messen lässt, sind u. a. :
Die Theorie und Praxis wird auf ihrem Weg zu einer integrativen Pädagogik und Didaktik sich an solchen komplexen Zusammenhängen orientieren müsse, wenn wir ernsthaft wollen, dass behinderte und nichtbehinderte Menschen als gleichberechtige Interaktionspartner zu Akteuren und Konstrukteuren ihres Lernens im gemeinsamen Unterricht werden, dabei in Beziehung zueinander treten und miteinander eine solidarische >Grammatik des sozialen Umgangs< (vgl. Kobi 1993, 414ff.) hervorbringen. (a. a. O: S.152,153)
... Die in der Abbildung 2 für einen Überblick fixierten Grundstrukturen des <Neudenkens und Neumachens (vgl. von Hentig 1994) einer Schule für Alle und der Gemeinsamen Unterrichtung u. a. von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung lassen unmissverständlich Bildung als behindertensoziologisch bedeutsamen Lösungsansatz und Ausgangspunkt für sämtliche didaktischen Überlegungen zur Vorbereitung von Gemeinsamen Unterricht und seinen fortlaufenden Lehr- und Lernprozessen erkennen… (a, a, O. S.153) … Eine inklusive Pädagogik und Didaktik, die sich vorbehaltlos dem Prinzip der Unteilbarkeit verpflichtet weiß, darf das Problem der Pseudokooperation von behinderten und nicht behinderten Schülerinnen und Schülern nicht verschweigen. Maßnahmen der >Inneren Differenzierung und Individualisierung< oder der >Inneren Differenzierung durch Individualisierung< können eine uneingeschränkte kooperative Beteiligung im Gemeinsamen Unterricht nicht umfassend garantieren. Exkklusiv-individuelle Lernsituationen sollten deshalb als unverzichtbare Grundform im Gemeinsamen Unterricht anerkannt, individualpädagogisch begleitet und gewinnbringend didaktisch gestaltet werden… [so] dass trotz zugelassener Nähe und Distanz soziale Kohäsion entsteht, das Recht auf Gleichheit und Verschiedenheit verbrieft und das Wesensmoment des Inklusiven im Gemeinsamen Unterricht erhalten und spürbar bleibt. Gelingt das, sind Sonderpädagogik und Allgemeine Pädagogik auf dem gemeinsamen Weg zu einer inklusiven Didaktik.
Abb. 2 [nicht wiedergegeben]
Ingeborg Thümmel
Unzureichende Lautsprache –ein Exklusionsrisiko?
Ausgewählte Ergebnisse einer landesweiten Studie zur Förderung
von kaum- und nichtsprechenden Schülern in niedersächsischen
Bildungseinrichtungen mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
im Lernbereich Kommunikation
1 Problemumriss (a. a. O. S.161)
… Angesichts der Gefahr, dass die UN-BRK in der Umsetzung scheitern könnte,
weil z.B. nicht geprüft wird, welche Exklusionsprozesse sich für welche
Schülergruppen im Schulsystem verstetigen und welche angemessene Vorkehrungen
erforderliche Bedingungen für gelingende Inklusion darstellen, haben sich die
fünf großen Fachverbände der Behindertenhilfe in Deutschland
zusammengeschlossen mit dem Ziel, eine interdisziplinäre Teilhabeforschung im
Verbund mit >Wissenschaftler(inne)n unterschiedlicher Forschungsrichtungen konzeptionell
auszuarbeiten (Buchner/Koenig/Schäfers 2011, 2).
Von dem Ressourcenmodell ausgehend soll diese Teilhabeforschung die folgenden
zwei zentralen Fragestellungen in den Blick nehmen:
>Wie sehen gesellschaftliche Inklusionsbedingungen und Exklusionsrisiken
aus? Welche Unterstützungssysteme wirken sich in welcher Weise auf
Teilhabechancen und –einschränkungen aus?< (Ebd.)….
1.2 Wozu Kommunikationsförderung im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung?
… Sprechen ist die komplexeste und differenzierteste, aber
auch störanfälligste Kommunikationsform. Verständliches Sprechen hängt davon
ab, das die einzelnen Laute korrekt gebildet werden (Artikulation), die Regeln
von Wortfolge und Satzstruktur Beachtung finden (Syntax) und die Beziehung
zwischen Bedeutung und Zeichen (Semantik) erfasst werden. Des Weiteren müssen
die Wörter meist mit Absichten verbunden werden (Pragmatik), Sprechflüssigkeit
muss gewährleistet sein, Lautstärke und Betonung (Prosodie) sowie Resonanz
angepasst sein.
Im Nachfolgenden werden Schüler als nicht- oder kaum sprechend klassifiziert,
wenn sie fremden Personen gegenüber einfache Wünsche oder Befindlichkeiten
nicht verständlich äußeren können… (a. a. O. S.163)
In der ursprüngliche Bedeutung communicare (lateinisch) bedeutet Kommunikation,
>teilen, mitteilen, teilnehmen lassen; gemeinsam machen, vereinigen<.
…Communio (Gemeinschaft)…
In diesem Kontext lässt sich eine fehlende Lautspracheproduktion als ein
Exklusionsrisiko identifizieren.
Seit den 1990er Jahren öffneten die damaligen Schulen für Geistigbehinderte
ihre Türen für schwerst- und mehrfachbehinderte Schüler (Thümmel 2003)… In…
unterschiedlichen Bundesländern wurde ein prozentualer Anteil von nicht- oder
kaumsprechenden Schülern an Schulen für Geistigbehinderte von 24% bis hin zu
60% ermittelt (Adam 1996: Bundschuh/Herbst/Kannewischer 1999; Coon/Ziemen
2000). Eine neuere Studie von Boenisch (2004), die letztendlich 2009 in Gänze…
veröffentlicht wurde, ermittelte für alle Bundesländer… mit Ausnahme von
Bremen… an Förderschulen mit dem Schwerpunkt Körperlich-Motorische Entwicklung.
Boenisch (2009a, 2009b) erfasste bundesweit 20% (n=2,291) kaum- oder
nichtsprechende Schüler mit dem Förderschwerpunkt Körperlich-Motorische
Entwicklung… in Niedersachsen lediglich 6% (n=53) in diesem Schwerpunkt… (a. a.
O. S.164) Dieses Ergebnis legte die Vermutung nahe, dass zumindest in
Niedersachsen ein weitaus größerer Anteil an kaum- und nichtsprechenden
Schülern … in Förderschulen mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung
beschult wird.
1.3 Auf welche curricularen und welche konzeptionellen Grundlagen bezieht sich Sprach- und Kommunikationsförderung im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung?
Sprach- und Kommunikationsförderung… ist ein zentraler
Bestandteil des Bildungsauftrages von vorschulischen sowie schulischen
Einrichtungen… in den Lehrplänen aller Bundesländer für den Förderschwerpunkt
Geistige Entwicklung. Gleichzeitig wird sprach- und Kommunikationsförderung …
im allen Lernbereichen eingeplant und [soll] durchgeführt [werden]…
Ab … 2000 überarbeiteten bzw. verfassten alle Bundesländer im Anschluss an
KMK-[Kultus-Minister-Konferenz] Empfehlungen ihre Lehrpläne …Geistige
Entwicklung neu. Die Lehrplanrevision war nicht zuletzt dem Umstand geschuldet,
dass eine veränderte Schülerschaft verstärkt in die Schulen mit dem
Förderschwerpunk Geistige Entwicklung drängte, Schüler… mit schweren
Behinderungsformen, die mit den eingeführten didaktisch—methodischen
Verfahrensweisen nicht erfolgreich zu fördern waren. In diesem Kontext wurde
auch erstmalig Unterstützte Kommunikation (UK) … international…
Augmentative and Alternative Communication.. in die Lehrpläne
aufgenommen… Unter AAC, deutsch UK, werden alle pädagogischen und
therapeutischen Maßnahmen und Hilfen subsumiert, die zu einer Verbesserung der
Verständigung von Personen ohne oder mit erheblich eingeschränkter Lautsprache
beitragen können….
Unterstützte Kommunikation beruht auf einem multimodalen Kommunikationssystem,
das alle Ausdrucksmöglichkeiten eines Menschen bewusst berücksichtigt. Dies
können körpereigene, im natürlichen Kontext erworbene Kommunikationsformen
sein, wie Blickbewegungen, Mimik, Laute/Lautsprache, Gestik und
Körperhaltungen. Des weiteren können hilfsmittelgestützte, erlernte
Kommunikationsformen wie Gebärden, nicht-elektronische Hilfen wie Symboltafeln
und –bücher sowie elektronische Hilfen zu Einsatz kommen… (a. a. O. S.163)
Allem Anschein nach scheint UK als geeignetes Förderkonzept anerkannt und
akkreditiert zu sein…. [Aber] das Phänomen des time-lags, die zeitliche
Verzögerung zwischen der Veröffentlichung von Lehrplänen und Curricula und
deren Umsetzung… ist … bekannt, zum anderen bestätigen vielfältige
Alltagserfahrungen, dass von den administrativen Vorgaben nicht auf deren
Umsetzung und schon gar nicht auf eine erfolgreiche Förderung geschlossen
werden darf. Die Gesamtsituation… ist mithin derzeit ungeklärt.
2 Zum Stand der Kommunikationsförderung an niedersächsischen Bildungseinrichtungen mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
2.1 Fragestellung und Design der niedersächsischen Studie
… Wie häufig, unter welchen Bedingungen und mit welchen
Ergebnissen (Erfolgen) kommt UK als Förderkonzept … zum Einsatz? … Fragebogen
(Erdélyi/Thümmel 2011; Hüsken/Prien/Thümmel 2011; Prien 2011, Thümmel 2011)…
(a. a. O. S.168)
… Insgesamt wurden in einer landesweiten Totalerhebung von Juni 2010 bis
Dezember 2010 2010 Lehrkräfte an 119 Bildungseinrichtungen mit dem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung in Niedersachen befragt.
2.2. Ausgewählte Ergebnisse
Von 119 niedersächsischen Bildungseinrichtungen sind 56
Tagesbildungsstäten, demnach private Bildungsinstitutionen, und 63 staatlich
Förderschulen… 1215 Fragebögen… wurden… verschickt…
Rücklaufquote von 49 Prozent… als gut zu klassifizieren.
Im Schuljahr 2009-10 besuchten 6945 niedersächsische Schüler mit einem
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung eine Schule oder Tagesbildungsstätte….
Die Studie erfasst bezogen auf die Verwendung von Lautsprache die Angaben von
insgesamt 4159 Schülern… Von diesen … werden von den befragten Lehrkräften 1118
Schüler als kaum- und nichtsprechende Schüler klassifiziert. Dies entspricht
einem Prozentanteil von 26,88 … Das Verhältnis von Bedarf und vorgehaltenen
Förderressourcen wurde über die Differenz zwischen der Schülerzahl, bei denen
die Lehrkräfte einen Bedarf an UK feststellten und der Schülerzahl, die mit UK
gefördert wird, errechnet . Danach ergab sich eine Unterversorgung von 5 %...
Die Frage, wie oft die genannten Kommunikationsmittel verwendet werden, sollte
Aufschluss geben über die Häufigkeit des Einsatzes körpereigener
Kommunikationsmittel…
Die Aussagen der befragten Lehrkräfte zur Häufigkeit des Einsatzes
körpereigener Kommunikationsformen sowie nicht-elektronischer und
elektronischer Kommunikationshilfen durch kaum- oder nichtsprechende Schüler
schlüsseln die nachfolgenden Diagramme auf: (a. a. O. S.167,168)
Abbildung 1 [Säulendiagramm von mir in eine Tabelle
verwandelt:
links 0 Einsatz meistens oder immer/ rechts: Einsatz selten oder nie WW]
Anteil der kaum- und nichtsprechenden Schüle, die körpereigene
Kommunikationsformen nutzen im Vergleich zu denen, die nicht-elektronische und
elektronisch Kommunikationshilfen einsetzen (Mehrfachnennungen, n= 1003,
Angaben in Prozent)
Unartikulierte Laute |
50 |
50 |
Gesten |
58 |
42 |
Blickbewegungen |
72 |
28 |
Mimik |
79 |
21 |
Kommunikationsschürzen |
0 |
0 |
Talker |
18 |
82 |
Gebärden |
29 |
71 |
Folgerichtig zur Darstellung der von den Schüler…n am häufigsten verwandten Kommunikationsformen geben 54,8 % der Lehrkräfte an, dass gute oder sehr gute Erfolge der Förderung durch die Vermittlung körpereigener Kommunikationsmittel wie Mimik, Gestik, Blickkontakt erzielt werden und dies insbesondere im Hinblick auf das Lautsprachverständnis… Beindruckend deutlich weist … Abb.2 aus, das die hohe Prozentzahl an befragten Lehrkräften zeigt, die nur einen geringen bzw. keinen Erfolg oder Vermittlung von Gebärden, Zeichen- und Symbolzeichen sehen. Entsprechend eingeschränkt durch die Kommunikationsbarrieren beurteilen die Lehrkräfte die Teilhabemöglichkeiten am Schulleben der kaum- und nichtsprechenden Schülerinnen und Schüler. So erklären 53 % der Lehrkräfte, dass kaum- und nichtsprechende Schüler sich selten oder gar nicht am Unterricht beteiligen, 4[?] der befragten Lehrer berichten über seltene oder fehlende Beteiligung dieser Schüler am Klassen- und Pausengeschehen… (a. a. O. S.168)
Abbildung 2: [Säulendiagramm von mir in eine Tabelle
verwandelt.
links gute oder sehr gute / rechts: keine oder geringe Erfolge durch Einsatz
von WW]
Erfolgseinschätzung in Bezug auf die Vermittlung von nicht-elektronischen und
elektronischen Kommunikationshilfen ( n=1003; Angaben in Prozent
Gebärden |
32 |
68 |
Talkern |
31 |
69 |
K.-Bücher, -tafeln, -schürzen |
34 |
66
|
Abbildung 3: [Säulendiagramm von mir in eine Tabelle
verwandelt:
links 0 Einsatz meistens oder immer/ rechts: Einsatz selten oder nie WW]
links: trifft meistens zu; trifft selten oder nie zu
|
66 |
34 |
Schüler äußert aus eigener |
23 |
77 |
3 Diskussion der Ergebnisse
Mit der Studie wurde erstmalig die Bildungssituation von kaum- und nichtsprechenden Schülerinnen und Schülern, die niedersächsische Bildungseinrichtungen mit dem Förderschwerpunk Geistige Entwicklung besuchen, erforscht… Im Spiegel der aus der UN-Konvention resultierenden Rechtsansprüche und der 4A-Strukturmerkmale für hochwertigen inklusiven Unterricht verdeutlichen die ausgewählten Ergebnisse einige der festgestellten Exklusionsprozesse…, die die Teilhabe für kaum- und nichtsprechende Schüler… erheblich erschweren. (a. a. O. S.169)
(1)
Exklusionsprozesse durch Einschränkung der Zugänglichkeit
(Limitation of Availability)
Besonders das >Abfall-Ergebnis< der Studie zeigt die Notwendigkeit einer radikalen Systemveränderung im Blick auf die Zugänglichkeit zu Bildungsinstitutionen für kaum- und nichtsprechende Schüler…Immerhin 48 Prozent der Bildungseinrichtungen für Schüler… mit der diagnostischen Zuschreibung von Förderbedarf Geistige Entwicklung sind im Bundesland Niedersachsen Tagesbildungsstätten, also in privater Trägerschaft… bleibt demnach knapp der Hälfte… der Zugang zum staatlichen Schulwesen verwehrt… eine schwerwiegende Bildungsbeeinträchtigung… , weil private Einrichtungen über Schüleraufnahme und Schülerablehnung in eigener Zuständigkeit entscheiden und auch weil… weitaus weniger Klassenleitungen über eine wissenschaftliche Lehrerausbildung verfügen.
(2)
Exklusionsprozesse durch Einschränkung der Verfügbarkeit
(Limitation of Accessibility)
Mehr als ein Viertel der Schülerschaft in den Bildungsinstitutionen im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung wird von zuständigen Lehrkräften als kaum- und nichtsprechend diagnostiziert…. Die hohe Selektivität der Lerngruppen im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung verhindert Peer-Learning, weil gleichaltrige Sprachmodelle fehlen.
(3) Exklusionsprozess durch Einschränkung der Verfügbarkeit der nötigen Ressourcen (Limitation of Acceptability)
Die zunächst festgestellte gute Versorgung von 95% der kaum- und nichtsprechenden Schüler… mit Kommunikationsförderung erwies sich als Artefakt. Es konnte gezeigt werden, dass sich Kommunikationsförderung vornehmlich auf körpereigene Kommunikationsformen beschränkt, die am häufigsten im natürlichen Kontext erlernt werden. Die Reichweite dieser Kommunikation ist jedoch beschränkt, da nur eine begrenzte Anzahl von Intentionen und Inhalten so kommuniziert werden kann. Möglicherweise verleitet die Mehrfachbehinderung die Lehrkräfte zur Annahme, dass eine Entwicklung über basale Kommunikationsformen hinaus nicht möglich ist. Denkbar allerdings ist auch, dass die Lehrkompetenz fehlt… (a. a. O. S.170)
(4) Exklusionsprozesse durch Einschränkung der Anpassung an die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler (Limitation of Adaptability)
Mehr als ein Drittel der kaum- und nichtsprechenden Schüler…
können aus Sicht der Lehrkräfte ihre Wünsche oder Freude nicht äußern, knapp
ein Viertel gelingt es … nicht, aus eigener Motivation Gefallen und Missfallen
auszudrücken, über die Hälfte… beteiligen sich nicht aktiv am Unterricht. Vor
dem Hintergrund dieser Datenlage lässt sich feststellen, dass die Anpassung an
die kommunikativen Bedürfnisse der kaum- und nichtsprechenden Schülerfälle
gescheitert ist….
Hier zeigt sich für die Teilhabeforschung im Bildungsbereich ein weites
Forschungsfeld, das sich allerdings nur dann bearbeiten lässt, wenn wirksame
Exklusionsprozesse in der schulischen Praxis aufgedeckt werden und die Umsetzung
von Konzepten durch Wirksamkeitsstudien nachgewiesen wird. (a. a. O. S.171)
Michael Häusler
>… wie hat du‘ s mit der Inklusion?<
Der Umgang mit Widersprüchen und Ungewissheiten als Herausforderung an die
Professionalität von Geistigbehindertenpädagogen
…
Zugang und Fragestellung
Muss man an Inklusion glauben? Beinhaltet die Qualifikation
zum rechten Sonderpädagogen ein Glaubensbekenntnis zur schulischen Inklusion?
So könnte man mit [Goethes] Faust fragen. Er beansprucht für sich, ethische Werte
wie den der Nächstenliebe auch ohne Religion begründen und praktizieren zu
können. Seine skeptischen und relativierenden Äußerungen befriedigen Gretchen
jedoch nicht, sie besteht darauf; >Man muss dran glauben!<
Fast könnte man derzeit meinen, dass schulische Inklusion in der
Sonderpädagogik ebenfalls zur Glaubenssache erhoben wird, die dementsprechend
ein Glaubensbekenntnis erfordert (Vgl: Speck 2011) und somit im Sinne der hier
gewählten Überschrift zur Gretchenfrage geworden ist… (a. a. O. S175)
Allerdings sind derzeit Zielsetzungen und Rahmenbedingungen eines sich
verstärkt als inklusiv verstehenden Schulsystems nur schemenhaft zu erkennen.
So bleibt nicht nur weitgehend offen, wie und in welchem Umfang gemeinsamer
Unterricht konkret gestaltet werden soll, sondern auch, welche Rolle
Sonderpädagogen in diesem System spielen werden und welche Ausbildung sie dafür
brauchen (vgl. Lindmeier 2009).
Hierzu möchte ich die Frage stellen, wie Lehrerinnen und Lehrer für Schüler mit
geistiger Behinderung sich auf diese spannungsreichen und offenen Situationen
einstellen können und damit die These verknüpfen, das ein wesentliches Merkmal
(sonder-)pädagogischer Professionalität darin besteht, Widersprüche und daraus
entstehende Ungewissheiten als Grundstruktur pädagogischen Handelns zu erkennen
und im Rahmen der Entwicklung der eigenen Lehrerpersönlichkeit reflektierend
und handelnd auszubalancieren. Der professionelle Pädagoge zeichnet sich
demnach nicht durch den unbedingten Glauben an eine verabsolutierte Wahrheit
aus, sondern dadurch, dass er mit Widersprüchlichkeiten und Ungewissheiten in
seinem Arbeitsfeld reflektiert umzugehen vermag (vgl. Meyer 2001). …
2 Spannungsfelder – Widersprüche – Ungewissheiten
2.1 Pädagogisches Handeln in Spannungsverhältnissen
… Der Begriff des Spannungsfeldes stammt aus der Physik:
Spannung entwickelt sich zwischen zwei Polen mit unterschiedlichen Ladungen.
Als Metapher auf die Pädagogik bedeutet das, dass Spannungsfelder zwischen
Polaritäten, gegensätzlichen Begriffen und Sachverhalten entstehen… (a. a. O.
S.176) An einem Beispiel lässt sich dies verdeutlichen: Eine junge Kollegin
übernimmt erstmals eigenverantwortlich eine Klasse an einem Förderzentrum mit
dem Förderschwerpunk geistige Entwicklung. Selbstbestimmung und Autonomie des
Kindes sind für sie hohe Werte, die sie auch gerne in entsprechenden offenen
Unterrichtsformen konkretisieren möchte, bald jedoch stellt sie fest, dass ohne
Regeln, Absprachen und gezielte Instruktion geordnetes Arbeiten noch schwer
möglich ist bzw. die Schüler… damit überfordert sind, ihr Lernen und
Zusammenleben selbst zu organisieren. Bei der Auswahl der Unterrichtsinhalte
sind ihr Themen wichtig, an denen ihre Schüler… als Person wachsen, kreativ
sein und sich individuell entfalten können – sie stellt aber bald fest, dass
manch einer seine Schuhe noch nicht selbst binden kann… Sie sieht, dass die
Förderung der Klassengemeinschaft ein wichtiges Anliegen sein muss, erkennt
aber auch die höchst unterschiedlichen Lernbedürfnisse und Lernniveaus in der Klasse,
die vielfältige Differenzierungsmaßnahmen und offene Formen von Unterricht
erfordern. In diesem Zusammenhang sieht sie sich auch mit der Frage
konfrontiert. Ob sie ihren Schülern in einem festgelegten Zeitraum ein Quantum
an Fähigkeiten und Wissen vermitteln oder ihnen im Rahmen ihres individuellen
Lerntempos Zeit geben soll, sich mit Inhalten in Ruhe auseinanderzusetzen? Sie
hat gelernt, ihren Unterricht sorgfältig vorzubereiten und zu planen,
registriert aber zugleich, dass ihre Schüler … in den Unterrichtsstunden eigene
Bedeutsamkeiten und Handlungsziele entwickeln und formulieren, die zu
berücksichtigen sind, auch wenn dies Ihre Planung durcheinanderbringt.
Auch in Bezug auf ihre eigene Lehrerpersönlichkeit mag sich die Kollegin mit
Widersprüchen konfrontiert sehen: Menschliche Nähe und persönlicher Bezug
bedeuten ihr im Umgang mit Menschen viel – es zeigt sich jedoch, dass es immer
wieder nötig ist, zu ihren Schüler…n ein gewisses Maß an Distanz zu wahren,
sowohl um ihrer Rolle als Lehrerin und Autoritätsperson gerecht zu werden, als
auch, um sich von ihrer Tätigkeit und den oft prekären und bedrückenden
Schicksalen ihrer Schüler… nicht völlig absorbieren zu lassen. Als kritische
und selbstbewusste Persönlichkeit sieht sie sich… mit administrativen Gegebenheiten
und Zwängen konfrontiert, als Beamtin in eine Hierarchie mit Pflichten und
Erwartungen eingepasst… (a. a. O. S.177)
Diese Beschreibung und Analyse pädagogischer Professionalität orientiert sich
an strukturanalytischen Ansätzen der Professionalisierungsforschung (vgl. u.
a. Terhart 2010, 92). Meyer bringt deren Grundaussage auf die prägnante
Formel, Schule sei der >gelebte Widerspruch< (2001, 218), deren in sich
widersprüchliche strukturelle Elemente eine lineare Ableitung von Handeln aus
wissenschaftlichen Vorgaben ausschließen…
2.2 Ungewissheit
Das Ausbalancieren von Spannungsverhältnissen kann nicht
nach einem allgemein verbindlichen Maß erfolgen, sondern muss je nach der
besonderen Situation stets von neuem versucht werden. Dies ist ein Teil der
Ungewissheit (vgl. Häußler 2005) bzw. Des Nichtwissens…
Am deutlichsten kommt dieser Rest an Nichtwissen im jeweils einmaligen
pädagogischen Bezug zum Kind zu Tragen … (a. a. O. S.178)
3 Schulische Inklusion – Spannungsfelder und Ungewissheiten aus der Sicht der Geistigbehindertenpädagogik
3.1 Ist über schulische Inklusion überhaupt noch zu diskutieren?
…
3.2 Die Allgemeine Schule: homogene Lerngruppen oder Heterogenität?
>Akuter Handlungsbedarf besteht in erster Linie für die
allgemeinen Schule<, stellt Speck (2010, 112) mit Blick auf Art.24 der
UN-Behindertenkonvention fest…. Aus persönlicher Erfahrung ist dazu zu sagen,
dass bei allem guten Willen und prinzipieller Offenheit bei Lehrkräften und
Schulaufsicht der Allgemeinen Schule hier derzeit noch wenig Bewegung zu
beobachten ist. Für wesentlich gravierender halte ich jedoch die Tatsache, dass
mit der Forderung nach Inklusion in einem im Wesentlichen auf Sortierung der
Schüler… in (vermeintlich) homogene Lerngruppen hin ausgerichteten,
Lebenschancen zuweisenden Schulsystem ein gewaltiges Spannungsfeld entsteht, in
dem die Beteiligten Gefahr laufen zerrissen zu werden. Im Mittelpunkt dieses
Systems steht nach wie vor wie ein Fels das Gymnasium, das diejenigen, die
seinen Anforderungen genügen, zur Hochschulreife führt. Den übrigen werden ihre
Plätze in den anderen, von den meisten Eltern und Schülern weniger begehrten
Schularten zugewiesen. In der Grundschule werden die Weichen für die weitere
Schullaufbahn der Kinder gestellt, wodurch dieser und den in ihre tätigen
Lehrkräften eine immense, verantwortungsvolle Aufgabe aufgebürdet ist. (a. a.
O. S.179,180)
… Speziell bezogen auf Schüler…. Mit geistiger Behinderung ist festzustellen,
dass Lehrkräfte an Allgemeinen Schulen hier (noch) kaum über spezifisches
Fachwissen verfügen…
3.3. Förderzentren mit dem Förderschwerpunkt geistige
Entwicklung:
Öffnung oder Wahrung des Bestehenden?
Die Förderschulen und damit auch die Schule für geistig
behindere stehen seit jeher bezüglich des Selbstverständnisses in einer
Grundspannung: Sie kümmern sich um Kinder mit besonderen Lernbedürfnissen und
entlasten damit die Allgemeine Schule. Da dies jedoch nach wie vor
hauptsächlich in separierenden Einrichtungen geschieht, entsteht ein
Spannungsverhältnis zum Ziel der gesellschaftlichen Integration… woraus sich
vielleicht auch ableiten lässt, worum immer wieder Impulse zur Integration
behinderter Kinder gerade von Sonderpädagogen ausgingen… (a. a. O: S.180)
So sieht Lindmeier (2020) es als einen Verstoß gegen das Gleichheitsangebot an,
wenn Schüler… durch die Zuordnung zu eine bestimmten Schulart von bestimmten
Bildungsangeboten und –inhalten ausgeschlossen bleiben >So könnte es
beispielsweise sein, dass auch Schüler… mit sonderpädagogischen Förderbedarf im
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung Fremdsprachen erlernen wollen…
< (Lindmeier 2010,4) [Aber:] >Barrieren für Lernen und Teilhabe< (Hinz
2009, 173)v lassen sich nicht nur im Kontext der Förderschulen ausmachen. Eine
albtraumhafte Vision in diesem Zusammenhang ist das Bild eines Kindes mit
geistiger Behinderung, das mit einem Schulbegleiter in der Ecke des
Grundschul-Klassenzimmers Lego spielt, um die anderen nicht beim
Mathematikunterricht zu stören!
3.3 Lehrkräfte an Schulen für geistig Behinderte: Lehrer oder Berater?
Noch ist nicht abzusehen, wie eine inklusive Schule in Zukunft aussehen wird – ein ineinandergreifendes Gebilde von Förder- und Regelschule oder eine im Sinne des Inklusionsgedankens zu Ende gedachte Schule für alle. In letzterer bestünde kein Bedarf mehr an Sonderschullehrern im herkömmlichen Sinne, sondern nur noch an Beratern, die den Lehrkräften an Allgemeinen Schulen in heterogenen Klassen zur Seite stehen. Es käme der Tag, an dem diese Spezialisten nicht mehr in der Lage wären, auf eine in eigener Unterrichtspraxis erworbene Erfahrung und Kompetenz zurückzugreifen, weil es den Ort, an dem sie diese hätten sammeln können, nicht mehr gäbe… (a. a. O. S.181) Die Reduktion auf eine mehr oder weniger spezialisierte Beraterfunktion würde den Beruf des Sonderschulpädagogen um wesentliche Aspekte beschneiden. Lehrer –Sein und darüber hinaus Sonderschullehrer-Sein…
3.5 Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung:
>Anders-Sein und Mitmachen-Wollen<
(Vliegenthart)
>Teilhabe< am Leben der Gesellschaft ist ein Grundwert
inklusiven Denkens und wird als solcher kaum hinterfragt. Wer allerdings mit
Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung arbeite, wird vielleicht
bemerken, dass sie in ihrer Emotionalität, ihrem Handeln und ihrer
Kommunikation auch etwas Eigenes im Sinne einer eigenen Welt konstituieren
können, die Nicht-Behinderten nur bedingt zugänglich ist: dieses Eigene ist in
seiner Direktheit oft erfrischend, ist in seiner Originalität manchmal
erstaunlich, manchmal auch bizarr, es beinhaltet großen Humal, ebenso aber auch
durch die Erfahrung von Begrenztheit und Niht-Können bedinge tiefe Tragik und
Traurigkeit. Es stellt sich dahr die Frage, wer an dieser Welt Anteil hat und
ob es im Falle von Menschen mit geistiger Behinderung nicht voreilig ist zu
schließen, alle wollten auf jeden Fall und ausschließlich an der Welt der
>Normalem< partizipieren… >… Der Erzieher behinderter Kinder steht bei
seiner Arbeit in einer dauernden Spannung zwischen einerseits dem Bestreben, den
seiner Fürsorge Anvertrauten zu helfen, die größtmögliche Anpassung an die
Lebensformen der Nichtbehinderten zu erreichen und andererseits dem Bemühen,
dem Typisch-Eigenen jedes dieser Kinder Rechnung zu ragen. Der Erzieher möchte
ihnen die uns allen vertraute Welt zugänglich machen, aber doch auch
>ihre< Welt respektieren und verhindern, dass sie in eine unangemessene
Form gezwängt werden<, schrieb der niederländische Heilpädagoge W. E.
Vliegenhart im Jahre 1968 (18) (a. a. O. S.182,183)
Welt konstituiert sich in diesem Zusammenhang sicherlich immer auch über den
Austausch mit anderen, Identität über den Vergleich mit ihnen. … >Es gibt so
etwas wie eine Behindertenidentität: das soll heißen, dass sich manches
behinderte Kind vornehmlich an Gleichbetroffenen orientiert, um zu wissen, wer
es ist. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Jeder kennt das: Wer wissen will, wie
gut, wie schön, wie klug etc. er ist, vergleicht sich mit anderen. Dabei hat
die Orientierung an Menschen, die ihm ähnlich sind, einen guten psychologischen
Sinn; sie stärkt nämlich das Selbstvertrauen. Für eine Orientierung des
Behinderten an Gleichbehinderten sind die Integrationsklassen Hamburger Prägung
strukturell ungeeignet: Es gibt nicht z. B. mehrere geistig Behinderte in einer
Klasse oder mehrere Körperbehinderte bemerkt Antor in seinem Bericht über
Integrationsklassen an Hamburger Grundschulen (Antor 1988, 3f.). Hinzu kommt
die Gefahr, dass gerade Kinder mit geistiger Behinderung immer wieder ihr
Unvermögen und Nicht-Können gespiegelt bekommen und dies als Teil ihrer
Identität verinnerlichen….
4 Haltung – die ethische Basis professionellen Deutens und Handelns
4,1, Werte und Widersprüche
Die Analyse der genannten Widersprüchlichkeiten als Kern
pädagogischer Professionalität bleibt unbefriedigend, solange nicht
deutlich wird, auf welcher Basis denn pädagogisches Handeln und professionelle
Reflexivität beruht. Diese muss eine ethische Komponente haben … eine
>pro-inklusive Grundeinstellung<…eine >inklusive Haltung< …(Dlugosch
2010, 296) … Als deren Grundwerte werden u. a. >Humanisierung und
Demokratisierung der Schule … Freiheit und Solidarität, Gleichheit und
Gerechtigkeit< (Wilhelm/Binsinger, zit. N. Dlugoscj 2010, 196)
genannt. (a. a. O. S.183,184) Und weiter: >Die inklusive Einstellung und
Haltung baut auf ein ganzheitliches Weltbild und ganzheitliches
Menschenbild< (ebd.). Schon diese wenigen, mit hohem normativem Gehalt
aufgeladenen Sätze machen deutlich, dass hier eine Wertsetzung erfolgt ist, die
noch vor jeder vermeintlich objektiven und empirisch abgesicherten Sicht auf
Erziehung und Bildung… wirksam ist….
… viele Jahre der Forschung in Modellversuchen haben sicherlich zahlreiche
Erkenntnisse und objektives Wissen über gemeinsame Lernprozesse von Kindern mit
und ohne Behinderung erbracht… Jedenfalls wurde meines Wissens noch
nicht belegt, ob eine integrative bzw. inklusive Schule oder ein sich in
Förderschule und Allgemeine Schule differenzierendes Schulsystem das
>bessere< Modell ist. Die oben genannten Prinzipien lasen sich zudem auf
abstrakter Ebene trefflich formulieren, erfreuen durch ihren Wohlklang und
scheinen zunächst ohne weiteres konsensfähig. Zwei Fragen sind dennoch zu
stellen: Dürfen sich – zum ersten – Inklusions-Skeptiker nun nicht mehr auf
diese Werte berufen? … Kann nur eine inklusive Schule eine humane Schule
sein…? (a. a. O. S.184) … Zum zweiten ist ganz pragmatisch zu fragen, was
im Kontext Schule heißt, einem Kind Respekt entgegenzubringen und es in seiner
Individualität anzuerkennen? Dies wird die Grundhaltung sein, mit der die
Lehrkraft ihm zunächst gegenübertritt. Sie wird jedoch auch nicht umhin können,
ihm unter Umständen mit einigem Nachdruck Lebens- und Lernaufgaben zuzumuten,
die es womöglich ablehnt, weil sie ihm zunächst schwerfallen… Sie wird versuchen,
ein Sozialverhalten des Kindes, welches die Klassengemeinschaft beeinträchtigt,
mit geeigneten Mitteln in sozial verträgliche Bahnen zu lenken. Sie wird
darüber hinaus womöglich ein familiäres Umfeld des Kindes sehen, in dem es kaum
Unterstützung für die Arbeit der Schule gibt….
4.2 Die Haltung des Einzelnen als Basis sonderpädagogischer Professionalität
Die eine, >richtige< Haltung kann es demnach nicht
(mehr) geben. Dies wäre auch wenig zeitgemäß. In einer pluralistischen Gesellschaft,
welche großen kollektiven und handlungsleitenden Glaubensvorstellungen wie
Nation, Religion, Tradition oder Gemeinsinn und den damit verknüpften in sich
konsistenten Wertesystemen keine Allgemeingültigkeit mehr zugesteht und
Normsetzung und Sinngebung individualisiert hat, scheint die bloße Übernahme
einer ethischen Haltung nicht mehr ohne weiteres möglich. Diese ist vielmehr in
eigener Anstrengung in einem Akt der Selbstvergewisserung zu gewinnen…
(a. a. O. S.185)
Der Pädagoge Alfred Perzelt definiert Haltung, die er zum Begriff des Wissens
in Bezug setzt, dabei wie folgt: >Die wesentliche Seite des Haltungsproblems
liegt beim Ich selbst. […] Das Wissen muss, wenn es für Haltung da ist,
fordern, dass man sich dem Ich in eigenen Fragen selbst widmet, dass man sich
das eigene Ich selbst zur Aufgabe macht, um sich zu finden.< (Perzelt 1963,
45)
In einer Zeit des Wertepluralismus ist diese Aufgabe komplex: Haltung muss mehr
denn je eine reflektierte, autonome, selbstverantwortete Haltung des Einzelnen
sein, die tendenziell eher skeptisch gegenüber Letztbegründungen und
Verabsolutierungen bleibt und in der folglich unter anderem Offenheit,
Gelassenheit und mitmenschliche Solidarität eine Rolle spielen (vgl. Häusler
2000a) …
Roland Stein
Unlösbar oder gar kein Problem…? Die inklusive Beschulung
verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher
Nachdem Deutschland im März 2007 die UN-Konvention
„Übereinkommen über die Reche von Menschen mit Behinderungen< …
unterschreiben hat, ist ein Prozess der Umgestaltung der schulischen Landschaft
in die Gänge gekommen…. [der}] das gesamte deutsche Schulsystem betrifft.
Häufig wird recht leichtfertig davon ausgegangen, dass gerade Schüler mit
Lernbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten besonders leicht integrierbar
bzw. innerhalb eines inklusiven Schulsystems an Allgemeinen Schulen beschulbar
wären. Es kann allerdings mit gutem Grund prognostiziert werden, dass zwei
besondere Problemfelder der Inklusionsentwicklung entstehen, wenn es wirklich
um eine >Schule für alle< ginge; zum einen die inklusive Förderung
Schwerst- und Mehrfachbehinderter – zum anderen aber auch diejenige von
Schülern… mit Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben. Belege dafür finden
sich national wie international (vgl. Goerze 1990, 2008; Preuss-Lausitz &
Klemm 2008; Speck 2010,100, 2011; NLTS 2000 http://www.nlts2.org
).
Epidemiologische Studien gehen von alarmierenden Raten psychischer Störungen
bei Kindern und Jugendlichen aus: Eine sorgfältige , von Ihle & Esser
(2002; 2008) veröffentlichte Metaanalyse von einschlägigen, qualitativ
anspruchsvollen Studien über 30 Jahre hinweg kommt zu einer mittleren
Periodenprävalenz von 18 % psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen…
Erschwerend tritt hinzu, dass von einer beträchtlichen Zahl hoch persistenter,
also überdauernder Problematiken ausgegangen werden muss; Ihle & Esser
(vgl. 2002) schätzen die Rate von über mehrere Jahre andauernden Störungen auf
etwa 10 % aller Kinder und Jugendlichen… Auch die Schulen für Kranke im Bereich
der Kinder- und Jugendpsychiatrie bauen ihre Angebote breitflächig aus, weil
der Bestand bei Weitem nicht ausreicht. (a. a. O. S.189,190)
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass es aus zahlreichen Studien heraus auch
klare Hinweise darauf gibt, dass eine beträchtliche Persistenzrate zwischen
externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten in den ersten drei Lebensjahren
einerseits sowie massiven Verhaltensproblematiken, insbesondere Delinquenz im
Jugend- und Erwachsenenalter festzustellen ist (vgl. Kissgen 2008; Kuschel et
al. 2008), also zu einen externalisierende Erscheinungswiesen häufig massive
Probleme nach sich ziehen, zum anderen hier Früherkennung und Frühprävention
sowie -intervention wichtig wären.
Aufschlussreich ist… der Blick auf die Förderquoten anhand der Statistik der
Kultusministerkonferenz: In den meisten Bundesländern bestehen besondere
Schulen für diejenigen Kinder und Jugendlichen, die auf Grund ihrer
Auffälligkeiten in Regelschulen als nicht >tragbar< beurteilt werden.
Dabei handelt es sich mit Stand 2008 bundesweit um 0,445 % der Schüler… (vgl.
Kultusministerkonferenz 2010b,43) … über die zehn Jahre… zwischen 1999 und 208…
hinweg mit einer Erhöhung um 62,4 % ….
Die Förderquote der Schüler mit Förderbedarf in der emotionalen und sozialen
Entwicklung insgesamt (also einschließlich der in allgemeinen Schulen
verbleibenden) liegt mit Stand 2008 bei 0,694 %; auch sie stieg … an…<
Es ergibt sich ein sehr zwiespältiges Bild: Einerseits
erweist sich im Vergleich der Förderschwerpunkte die >Integrationsquote<,
d. h. das Verhältnis zwischen Schülern an allgemeinen Schulen und Schülern an
Förderschulen als recht hoch. Aber andererseits ist ein erheblicher
Problembereich massiver psychischer Störungen zu bedenken, die eine integrierte
oder inklusive Beschulung sehr schwer bis unmöglich machen…
(a. a. O. S.190) Es ist davon auszugehen, dass durch verhaltensauffällige
Schüler… sehr gravierende Problematiken für Schule und Lehrer entstehen:
Insbesondere durch Aggression und Gewalt sowie Aufmerksamkeitsdefizite und
Hyperaktivitätsstörungen – aber etwas verdeckter auch durch
Autismus-Spektrum-Störungen, Angstproblematiken, die in den epidemiologischen
Studien durchgängig an vorderster Stelle stehen, sowie ergänzend Depressivität.,
Drogen- und Suchtproblematiken, Suizidalität usw. Auch Schulabsentismus bzw.
schulaversives Verhalten stellen ein sehr breitflächiges Problem dar (vgl.
Herz/Puhr/Ricking 2004; Rickiing/Schulze/(Wittrock 2009; Sälzer 2010). … Es
wäre sinnvoll, normative Zielsetzungen, also Inklusion als Wert und
Wertentscheidung, von Fragen der nüchternen Betrachtung der Wirksamkeit
bestimmter institutioneller Lösungen und pädagogischer Maßnahmen zu trennen.
Im internationalen Vergleich müsste sehr sorgsam untersucht werden, inwiefern
Deutschland hier wirklich einen Aufholbedarf hat und wo genau (vg. Etwa
Willmann 2008; Speck 2010). Die in der Diskussion dominante Betrachtung von
Integrationsquoten wird der Komplexität der Tatbestände nicht gerecht. Eine
hohe Integrationsquote sag noch nichs über die tatsächliche Integration bzw.
Die Qualität inklusiver Beschulung… aus…
EWin Schüler könne formal in einer Allgemeinen Schule integriert sein, während
er wegen seines auffälligen Verhaltens de facto von seinen Mitschülern, vielleicht
auch von den Lehrern ausgegrenzt wird. Ein Schüler könnte in einer
>exkludierenden< Fördereinrichtung beschult werden, mit dem Ziel,
Ressourcen aufzubauen, die ihm helfen, sich in seinem späteren Leben zu
integrieren, sei es in Freizeit und Alltag, sei es hinsichtlich Arbeit und
Beruf. Insofern könnte man auch eine Schule für Erziehungshilfe als
>inklusiv< beschreiben, indem sie wichtige Ausprägungsform des
allgemeinen Schulsystems darstellt und indem sie solchen Schülern im Hinblick
auf ihre gesellschaftliche Integration hilft, die im allgemeinen Schulsystem,
so wie es ist, nicht haltbar sind. Der >exklusive< Charakter von
Förderschulen ergibt sich ja nicht so sehr, weil sie exkludieren, sondern weil
sie die vom allgemeinen Schulsystem exkludieren Schüler… aufnehmen.
Eine sehr breit angelegte internationale Metaanalyse von Vergleichsanalysen
zwischen integrierter und separierter Beschulung erbrachte uneinheitliche
Ergebnisse ohne wirklich klaren Vorteil für integrierte Beschulung (vgl.
Lindsay 2007). Der Autor empfiehlt sehr dringend Modellversuche, um näher
bestimmen zu könne, welche Schüler unter welchen Förderbedingungen in
welcher Hinsicht wirklich profitieren … denn ein Gewinn hinsichtlich des
einen Aspekts wird möglicherweise durch Probleme hinsichtlich eines anderen
erkauft.
Eine deutsche Untersuchung von Huber (vgl. 2006; 2009) legt nahe, dass
gerade die tatsächliche soziale Integration lernbeeinträchtigter und
verhaltensauffälliger Schüler in allgemeinen Schulen keineswegs leicht zu
erreichen ist und … auch erhebliche Schwierigkeiten ergeben…
Im Gesamtbild dürfte es sehr wahrscheinlich sein, dass zumindest mittelfristig
im Hinblick auf einen Teil dieser Störungsbilder nicht auf spezifische
Schulangebote im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung
verzichtet werden kann. Auf der anderen Seite müssen allerdings angesichts der
Verbreitung psychischer Störungen und dem entsprechender Probleme im Bereich
Verhalten und Erleben zugleich die Bemühungen intensiviert werden,
Zum Erreichen dieser Ziele können die bestehenden Schulen zur Erziehungshilfe als Kompetenzzentren diene, wenn sie weiterentwickelt werden… [zahlreiche Literaturangaben] (a. a. O. S.193)
… Ein bedeutendes zweites Unterstützungssystem können die
Schulen für Kranke im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie sein. Die
Ausgestaltung dieser Schulen ist derzeit allerdings recht heterogen…
Was die Frage der Professionalität und Entwicklung anbelangt, so fördert eine
Analyse des Forschungsstandes zu Schulen für Kranke in der Psychiatrie
erhebliche Defizite zutage. Es gibt wenig Forschung … [zahlreiche
Literaturangaben] Nachsorge und Beratung stellen einen der spannendsten
Brennpunkte der Diskussion um die Aufgaben von Schulen für Kranke dar (vgl.
etwa Schmitt 2000¸Seebach 2004; Verband Sonderpädagogik 2008) ,,, (a. a. O.
S.192)
Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen bringen gegenwärtig und
zukünftig in zweierlei Hinsicht, sowohl im Hinblick auf ihre große Verbreitung
als auch im Hinblick auf ihre intensiven Ausprägungsformen, erhebliche
Anforderungen in das gesamte Schulsystem hinein, auch für die Lehrer… sowie
andere pädagogische Berufsgruppen. Gerade diese Problemstellungen bergen die
Gefahr der Überlastung und des beruflichen Ausbrennens (vgl. John/Stein 2008).
Insofern sind Schutzmaßnahmen im schulischen System und für die einzelnen
Professionellen gegen berufliches Ausbrennen sehr bedeutsam. Das Schulsystem
wird sich weiterentwickelnde professionelle Systeme benötigen, die gezielt,
individualisiert und flexibel unterstützen. Zentren für Erziehungshilfe sowie
Schulen für Kranke im Kinder- und Jugendpsychiatrie können bereits heute, erst
recht jedoch bei gezielter Weiterentwicklung, wesentliche Unterstützung für das
gesamte Schulsystem liefern… (a. a. O. S.195)
Heinz Mühl
Einzelfallhilfe versus systemische Hilfen bei Verhaltensstörungen im
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung – Die Sonderpädagogik auf dem inklusiven
Prüfstand?
1 Problemstellung
Die Bemühungen um eine inklusive Schule insbesondere im Gefolge der Ratifizierung der UN-Konvention… rütteln an den Fundamenten der Sonderpädagogik, die häufig auf Individualisierung und Einzelfallhilfe angewiesen ist. Neuerdings hat Brüggelmann (2011) auf positive Aspekte der Individualisierung in Didaktik, Methodik und Unterricht hingewiesen. …
Insbesondere die Forderung nach Dekategorisierung und Deetikettierung stellt die sonderpädagogischen Förderschwerpunkte in der bisherigen Form im allgemeinbildenden Schulbereich in Frage. In der Konvention selbst wird die Kategorie >Behinderung< nicht in Frage gestellt. Dekategorisierung soll Etikettierung und damit Stigmatisierung verhindern, also die negativen Folgen von sonderpädagogischer Förderung durch Förderpädagogen. Als Folge davon werden auch die individuelle sonderpädagogische Förderung und spezielle Curricula in Frage gestellt…
2 Beispiele individueller Förderung
2.1 Einzelförderung 1: Pädagogischer Umgang mit dem selbst
verletzenden Verhalten einer Jugendlichen mit geistiger Behinderung und
autistischer Störung*. *Gekürzte Fassung der Examensarbeit von Herrn Class
Bußmann (2002).
Zielsetzung
Ziel der Förderung war es, das selbst verletzende Verhalten (SVV) einer fünfzehnjährigen Schülerin (P) mit schwerer geistiger Behinderung und autistischer Störung zu reduzieren sowie beschäftigungs- und Kommunikationskompetenzen aufzubauen. (a. a. O. S.199)
Person: Lebensweltlicher Hintergrund und Verhaltensstörung
P war zu Beginn der Studie 15,5 Jahre alt. Sie lebte … bei
ihren Eltern und wurde in einer Gruppe der Sekundarstufe I einer Förderschule
Geistige Entwicklung unterrichtet. Sie konnte sich verbal nicht äußern, machte
sich aber vor allem in Essenssituationen durch Gesten verständlich. P hatte
wenig Kontakte zu den Mitschülern und nahm auch von sich aus keine Kontakte
auf. Verbale Anweisungen konnte K weitgehend verstehen. Einen Großteil des
Tages verbrachte sie in einer Ecke sitzend, wobei sie Stereotypen ausführte.
Spaß machte ihre der Schwimm- und Sportunterricht, ansonsten mied sie die
meisten Beschäftigungsangebote oder ging nur sehr zögernd auf sie ein. In der
Gruppe waren Gummi-Einweghandschuhe ihre Lieblingsgegenstände. Die von ihren
Bereuungspersonen aufgeblassen, mit etwas Wasser gefüllt und verknotet wurden.
P zeigte stereotype und sich selbst verletzende Verhaltensweisen. Als SVV
konnte am häufigsten das Schlagen des Kopfes gegen harte Gegenstände beobachtet
werden. Außerdem schlug sie oft mit der Hand gegen den Kopf oder gegen den
Oberschenkel und mit den Hacken eines Fußes gegen das Schienbein des anderen
Beines. An Stirn und Nase zeigten sich dauerhafte Spuren des SVV in Form einer
verhornten Stelle auf der Stirn und einer >Boxernase<, an Händen und
Armen häufig Kratzspuren. Sie kniff sich auch selbst in den Arm. Vereinzelt kamen
auch fremdaggressive Verhaltensweisen vor; so schlug sie manchmal andere mit
der Hand oder stieß sie mit ihrem Kopf, kratzte und kniff sie an Armen und
Händen.
Funktionale Diagnostik
Als SVV galt jeder sichtbare Schlag der Hand an den Kopf
oder Körper, jeder sichtbare Stoß des Körpers gegen einen harten Gegenstand und
jeder Tritt gegen den eigenen Körper. Teilweise gingen die Stöße des Kopfes
gegen harte Gegenstände über in ein Anlehnen des Kopfes an diesen Gegenstand.
Neben SVV wurde notiert, ob P einer Beschäftigung nachging oder ob sie sich
passiv verhielt. Neben der systematischen Beobachtung wurden mit den
Betreuungspersonen und der Mutter Gespräche geführt. Zudem sollten sie
Fragebögen zur Funktion der SVV ausfüllen.
… Mit der systematischen Beobachtung.. [durch die] Betreuungspersonen…
wurde die Zeit zwischen 8.00 und 12.30 Uhr erfasst, der Zeitraum, den der Autor
täglich in der Gruppe verbrachte…. Das häufige Auftreten von SVV in
Essenssituationen lag offenbar darin begründet, dass P ca. eine Stunde am Tisch
sitzen musste und nicht mit ihren Einweghandschuhen spielen durfte….
Als Ergebnis der funktionalen Diagnostik insgesamt war das SVV mit hoher
Wahrscheinlichkeit multifunktional und wurde von P in erster Linie als
Vermeidungsreaktion auf unangenehme Anforderungen und als Versuch, Gegenstände
zu bekommen, gezeigt. (a. a. O. S.200,201) Als Selbststimulation trat es
erst dann auf, wenn die aufgeblasenen Einweghandschuhe für ihre stereotypen
nicht zur Verfügung standen.
Fördermaßnahmen
Von den Betreuungspersonen und dem Autor wurde ein
Maßnahmenkatalog erstellt, der die aufrechterhaltenden Faktoren des SVV
beseitigen und die positiven Aktivitäten fördern, ihr Beschäftigungsrepertoire
erweitern sowie ein Kommunikationssystem aufbauen sollte.
… Auf SVV solle reagiert werden, indem möglichst neutral, aber bestimmt >Hör
auf< zu P gesagt und ihre schlagende Hand sanft heruntergedrückt wurde, um
einen möglichen Reflex zu unterdrücken und das SVV zu unterbrechen. Hörte das
SVV daraufhin auf, so sollten ihr Beschäftigungsangebote gemacht werden. Wurde
das SVV zur Vermeidung von Anforderungen eingesetzt, so durfte auf keinen Fall
nachgegeben werden, sondern die Aufgabe sollte mit ihr zu Ende geführt werden.
dabei solle nicht geschimpft und nur so viel Körperkontakt wie nötig eingesetzt
werden… Erst nach Aufhören des SVV sollen die Betreuungspersonen sich P
zuwenden und ihr Beschäftigungsangebote machen. Als Verstärker solle
einheitlich das Lob >Gut, P< verwandt werden… Essenssituationen… möglichst
kurz ..(ge)halten…
Schließlich zeigte sich, dass P gerne Klavier spielte. Wenn P anfing sich zu
langweilen und ihr stereotypisches Schütteln der Einweghandschuhe langsam in
SVV überging, wurde versucht, mit ihr in den Musikraum zu gehen. Wenn sie schon
SVV zeige, wurde gewartet, bis dieses Verhalten ausblieb, um das SVV nicht mit
dem Klavierspielen zu verstärken… An schönen Tagen konnte man auch in den
Garten gehen und mit dem Fahrrad fahren, wippen, schaukeln oder auch einfach
nur in der Sonne sitzen… Gebrauch von Bildkarten.. [als] Möglichkeit.. sich zu
verständigen… (a. a. O. S.201)
Ergebnisse
[Es]…konnte das Niveau der täglich gezählten Schläge, das in
der Grundrate bei etwa 103 lag, in der Maßnahmenphase auf 40 Schläge pro
Vormittag gesenkt werden. An drei Tagen … waren die Datenwerte höher..
der erste … Tag.. der Maßnahmenphase… am 14. Tag… wahrscheinlich
Menstruationsbeschwerden… am 17. Tag… zwei Bezugspersonen erkrankt,,,
eine Betreuerin als Vertretung….
Auch die Nachbeobachtung hatte kein erneutes Ansteigen von SVV bei P gezeigt.
Das Ergebnis kam wahrscheinlich dadurch zustande, dass einige entscheidende
Auslöser für SVV ausgeschaltet werden konnten, Wahrscheinlich wirkte sich
das oft wütende und ärgerliche Verhalten der Betreuungspersonen auf P verstärkend
aus… Ein weiterer Erfolg der pädagogischen Maßnahmen bestand in der Zunahme der
Beschäftigungszeit… durchschnittlich… 30 Minuten… So wurden
>Leerlaufphasen< reduziert, und sie konnte aus einer größeren Anzahl von
Beschäftigungsangeboten eine ihr angenehme Beschäftigung auswählen. So konnten
auch die Phasen verringert werden, in denen sie sich durch stereotypes
Verhalten, welches nicht selten in SVV überging, entspannte. (a. a. O.
S.202,203) Stattdessen spielte sie nun häufiger Klavier….
P machte gegen Ende der Studie einen zufriedeneren Eindruck als vorher. Die
langen Phasen, in denen sie weinend und schreiend, sich selbst schlagend oder
den Kopf gegen die Heizung stoßend in einer Ecke des Ruheraums oder auf dem
Gang saß. Nahmen deutlich ab…
2.2. Einzelförderung 2: Pädagogische Maßnahmen bei einer Schülerin mit Verhaltensstörungen * Gekürzte Fassung der Examensarbeit von Frau Mechthild Renschen (2002).
Zielsetzung
In dieser Förderung, die etwa drei Monate dauerte, wurde versucht, das störende Verhalten einer Schülerin (S) im Unterricht zu reduzieren und lernfördernde Kompetenzen zu entwickeln. (a. a. O: S.203)
Person: Lebensweltlicher Hintergrund und Verhaltensstörung
… S war zu Beginn der Maßnahme 13;4 Jahre alt. Sie lebte in
den ersten drei Lebensjahren mit zwei Geschwistern bei ihren Eltern. Aufgrund
der familiären Situation wurden die drei Kinder schon früh in einem Heim
aufgenommen. Im Alter von neun Jahren wechselten sie in die jetzige
Heimsonderschule und besuchten dort die Klassen für geistige Entwicklung. S
lebe in einer Wohngruppe mit Kindern und Jugendlichen verschiedenen Alters und
Geschlechts. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Schule wurde S in ihrem
Verhalten als unselbständig und kleinkindhaft beschrieben. Sie musste viele
alltägliche Dinge erst lernen. Anforderungen, selbst etwas zur Bewältigung
ihres Alltags beizhutragen, wurden von ihr als Zumutung aufgefasst.
Ihr Verhalten wurde als stark abhängig von Stimmungsschwankungen beschrieben.
Sie suchte Zuwendung durch sich wiederholende Fragen und kleinkindhaftes,
albernes Verhalten. In extremen Konfliktsituationen reagierte sie mit sich
selbst verletzendem Verhalten, indem sie sich an den Kopf schlug, sich auf den
Boden warf oder sich selbst heftig beschimpfte…
Funktionale Verhaltensanalyse
Informationen wurden durch freie und systematische
Verhaltensbeobachtungen in der Klasse gewonnen. Gespräche mit den Lehrpersonen
und Erzieherinnen der Wohngruppe ergaben weitere wertvolle Hinweise. In der
Beobachtungs- und Förderphase wurde die Anzahl der unangemessenen
Verhaltensweisen erfasst. Als Messinstrument diente ein Beobachtungsbogen, in
dem das Auftreten bzw. Nichtauftreten dieser Verhaltensweisen in kurzen
Zeitintervallen erfasst wurde. Eine Beobachtungseinheit bestand aus 30 Minuten.
Die Datensammlung erfolgte anfangs täglich in der 1. Und 2. Stunde, bzw.
montags in der 3. Und . Stunde.
Während der Förderphase fand die Datensammlung an drei Tagen der Woche statt.
Während der Untersuchung fungierte die Autorin als Versuchsleiterin und
Beobachterin. … In einigen Sitzungen protokollierte die Klassenlehrerin als
zweite Beobachtungsperson…
Folgende Verhaltensstörungen sollten reduziert werden: (a. a. O. S.204)
Die Auslöser für diese Verhaltensweisen waren schwer
auszumachen…
Kaum oder selten traten diese Verhaltensweisen in der Schule in Essens-, bei
Feispiel- oder in Entspannungssituationen auf, die für sie eine besondere
Bedeutung hatten. S verhielt sich herausfordernd und provokant , wenn sie das
Gefühl hatte, zu wenig Beachtung zu erhalten….Die ständigen Ermahnungen wirkten
sich vermutlich nachteilig auf das Selbstbild von S aus. Negative Reaktionen
erfuhr sie in diesen Situationen auch durch die Mitschülerinnen. ..
Fördermaßnahmen
Nach der Grundphase setzte die Fördermaßnahme für die erst
genannte Verhaltensstörung ein. Von beiden Lehrkräften sollte diese
konsequent ignoriert werden; wenn das unangemessene Verhalten nicht mehr
auftra, wurde angemessenes Verhalten beachtet.
Vor dem Einsatz der zweiten Fördermaßnahme wurde mit S der Zweck der Förderung
besprochen. Dazu wurden bildhaft die erwünschen Verhaltensweisen dargestellt,
damit sie die Abmachung vor Augen hatte. Damit sollte ihr bewusst werden, dass
sie durch ihr Verhalten viele Konflikte erlebte und Aufgaben nicht fertig
stellen konnte, da sie nicht konstant am Unterricht teilnahm. S erklärte sich
spontan bereit teilzunehmen. Ebenso wurden die Mitschülerinnen…
informiert…
Als Token (Eintausch-Verstärker) diente ein Puzzle mit 500 Teilen – Puzzeln war
eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen –. , welches in Tütchen zu je die Teilen
gegen einen Chip am Ende der Unterrichtsstunde eingetauscht werden konnte. Die
30-minütigen Sitzungen waren in Zeitintervalle von fünf Minuten eingeteilt. Da
S nur wenig Bewusstsein im Umgang mit Zeit hatte, wurde ihr durch eine Sanduhr
der Ablauf eines Zeitintervalls deutlich. (a. a. O. S.205,206) … Beim Umtausch
der Chips … gegen die gleiche Anzahl Tütchen mit Puzzleteilchen… wurde durch
Lob die Mitarbeit, das Fertigstellen der Aufgabe o. ä. sozial verstärkt…
Eine zusätzliche pädagogische Körperarbeit sollte positiv auf das Körper- und
Selbstbild der Schülerin einwirken. Inhalt und Zielsetzung … waren:
· Den eigenen Körper kennen lernen, Körperteile wahrnehmen,
· Körperspannungen wahrnehmen und Körper entspannen,
· Kräfte entdecken, mobilisieren und gezielt steuern.
Diese Einzelfördermaßnahme fand an drei Tagen in der Woche jeweils eine Doppelstunde in einem kleinen Raum als fest integrierter Bestandteil ihres Stundenplanes fünf Wochen lang statt… Raum leicht abgedunkelt, eine Decke auf dem Boden ausgebreitet, … Schuhe … ausgezogen, … leise Entspannungsmusik. Mit einem Rollentausch bei den Übungen sollte sie auch Verantwortung für sich übernehmen. So konnte sie Fürsorge und Behutsamkeit an der Partnerin lernen und diese Gefühle in ihren Alltag übertragen… Als Einstieg in jede Sitzung konnte sie kurz erzählen, wie es ihr ging… Die letzten 15 Minuten der Stunde konnte sie puzzlen. (a. a. O. S.206)
Ergebnisse
Der Trend der Grundraten, geschätzt durch die Split-Mittel-Methode,
war bei den Grundraten 1 und 3 deutlich abfallend, bei der Grundrate 2 stark
ansteigend…
Besonders die Fördermaßnahme zur Reduzierung der Aufgabenverweigerung
erzielte eine sofortige starke Wirkung und trug damit zur internen Validität
der Untersuchung bei….
Subjektive Erfahrungen zur Auswertung der Körperarbeit waren folgende:
Diskussion
Die Einzelförderung hat gezeigt, dass das problematische
Verhalten von S im Unterricht reduziert und eine kontinuierliche und relativ
störungsfreie Teilnahme am Unterrichtsgeschehen möglich wurde. Dies gelang ihr
auch in der kurzen Phase, in der die Verstärkung durch das Tokensystem
zurückgenommen wurde….
Die Verhaltensänderung führe zu keinen Generalisierungseffekten in anderen
Unterrichtsfächern. Daher schiene es sinnvoll. Maßnahmen zur Förderung der
Generalisierung in anderen Unterrichtsfächern und bei anderen Lehrkräften
weiterzuführen.
Da die Förderung im Klassenverband erfolgte, kam es anfänglich zu
problematischen Situationen, in denen ein Schüler eifersüchtig auf die
außergewöhnliche Situation von S reagierte…
3 Schlussfolgerungen
Aus pädagogischer Sicht können Fördermaßnahmen bei
Verhaltensstörungen bei Schülern mit geistiger Behinderung sinnvollerweise
grundsätzlich aus drei Komponenten bestehen: (1) aus Maßnahmen, welche
die Handlungsmöglichkeiten der betroffenen Person unter Berücksichtigung der
Funktionen des Problemverhaltens erweitern, (2) aus Maßnahmen, welche die
Lebenswelt zur Unterstützung der Handlungserweiterung verändern, und (3) aus
Maßnahmen, die direkt auf die Beeinflussung des Problemverhaltens gerichtet
sind. Dabei ist zu bedenken, dass die Verhaltensstörung den betroffenen ein
gewisses Maß an Kontrolle über ihre Umgebung ermöglichen, die ihnen nicht ohne
entsprechenden Ersatz genommen werden sollte. Verhaltensstörungen sollten daher
mit Ausnahme von massiv selbst verletzenden oder fremdaggressiven
Verhaltensweisen nicht von vornherein unter allen Umständen unterdrückt werden
(Mühl 2002,36)…. (a. a. O: S.208)
… Es ist versucht worden, am Beispiel der Förderung … [bei] Verhaltensstörungen
bei Schülern mit geistiger Behinderung darzulegen, dass individuelle Aspekte
unerlässlich sind, um eine wirksame Reduzierung zu erreichen. Damit sind zwar
Etikettierungseffekte nicht völlig auszuschließen, aber sie sind geringer
einzuschätzen als Distanzierungs- und Vernachlässigungseffekte, die ohne eine
solche Art der Förderung eintreten und die Persönlichkeitsentwicklung
beeinträchtigen würden. (a. a. O. S.209)
Christoph Ratz & Ullrich Reuter
Die Jakob-Muth-Schule in Nürnberg
und ihre >intensiv-kooperierenden Klassen< (IKON).
Ein Beispiel an dem konzeptionelle Entwicklung, politische Abhängigkeit und
aktuell zu lösende Aufgaben integrativer Schulentwicklung sichtbar werden
Einleitung
Bemühungen, integrierte oder inklusive Schulkonzepte zu
gestalten, gibt es nicht erst seit der UN-Konvention, sondern mindestens seit
dem Gutachten des Deutschen Bildungsrates 1973. Das Förderzentrum,
Förderschwerpunkt geistige Entwicklung der Lebenshilfe Nürnberg, bemüht
sich seit Jahren um die Gestaltung solcher integrativer Settings.
Als Symbol seiner Bemühungen hat die schule sich … 2009 nach dem wesentlichen
Initiator des o. G. Gutachtens, Jakob Muth, benannt. …
Es wird deutlich, dass die Bemühungen der Jakob-Muth- Schule vor dieser
Zeitenwende enorm waren und sich gegen vielfältige Widerstände … durchsetzen
mussten. Dadurch aber stand bei Vorliegen des neuen Gesetzes mit den
ICON-Klassen eine Konzeption zur Verfügung… als Vorreiter in einer sich nun
rasant entwickelnden bayerischen Szene…
(a. a. O. S.211)
2 Die ICON-Klassen
Das private Förderzentrum der Lebenshilfe Nürnberg e. v. ist
eine staatlich anerkannte Ersatzschule mit dem Förderschwerpunkt geistige
Entwicklung, die Schüler… aus dem Stadtgebiet Nürnberg aufnimmt. Die besondere
Zusammensetzung der Schülerschaft (etwa die Hälfe kommt aus Familien mit
Migrationshintergrund aus fast 30 Nationen, ein hoher Anteil rekrutiert sich
aus sogenannten sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen) führt dazu, dass
viele Schüler einen mehrfachen Integrationsbedarf aufweisen.
Die Schule ist seit ihrer Gründung im Jahr 1978 die Heilpädagogische
Tagesstätte (HPT) der Lebenshilfe angeschlossen. Beide Einrichtungen arbeiten
eng zusammen und ergänzen sich zu einem Ganztagsangebot. In den letzten Jahren
wurden jeweils ca. 23 Klassen mit durchschnittlich zehn Schülern… sowie
acht schulvorbereitende Gruppen (SVE) Heilpädagogischer Kindergarten gebildet.
Seit etwa zehn Jahren öffnet sich die Schule auf Initiative des Vorstands sowie
der pädagogischen Teams und der Schul- und Tagesstättenleitung….
Die Berufsschulstufe wurde an einem eigenen Standort in der Nähe der von
Berufsschulen und Werkstätten ausgelagert, um dort eine stark
lebensweltbezogene Vorbereitung auf gesellschaftliche und berufliche
Eingliederung umzusetzen, auch in enger Zusammenarbeit mit >Access< bei
der Begleitung von Jugendlichen auf Arbeitsplätze am ersten Arbeitsmarkt. Der Mobile
Sonderpädagogische Dienst (MSD) unterstützt eine zunehmende Zahl von
Schülern mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Nürnberger
Montessori-Schule und der Jenaplan-Schule.
Für die wissenschaftliche Begleitung und Beratung der Weiterentwicklung der
Einrichtung auf dem Weg zu >einer Schule für Alle< wurde Prof. Dr. Jutta
Schöler(TU Berlin) gewonnen….
Seit dem Schuljahr 2003/2004 wurde kontinuierlich ein ganzer Grundschulstufenzug
als >Außenklassen< an der Grundschule Gebersdorf, einem Stadtteil
im Nürnberger Südwesten aufgebaut. Die regelmäßige gemeinsamen Unterrichtszeit
in der dort praktizierten 2 : 1-Kooperation (2 Grundschulklassen kooperieren
mit einer entsprechenden Jahrgangklasse der JMS) beträgt sechs bis zwölf
Wochenstunden. Hinzu kommen gemeinsame Projekte, Feiern, Feste und Ausflüge.
Aufgrund der positiven Erfahrungen … wurde das Außenklassen-Modell seit 2005
auf eine weitere Grundschule , die Wahlerschule im Stadtteil Schmiegling
ausgeweitet (a. a. O. S.212,213)
Vergleichbare Kooperationen mit Hauptschulen gestalteten sich als nicht
durchführbar. Erfreulicherweise besteht seit dem Schuljahr 2007/2008 eine
Außenklasse an der staatlichen Geschwister-Scholl-Realschule (3. Bzw. 6.
Jahrgangsstufe). Kennzeichen der Zusammenarbeit der Partnerklassen von Real-
und Förderschule ist, dass der Unterricht überwiegend in einer Lerngruppe
stattfindet… Methodisch finden vor allem Formen des offenen Unterrichts (Lernwerkstat,
Wochenarbeit) sowie fächerübergreifende Projekte statt. Ab Schuljahr 2012/2013
soll eine zweite Partnerklasse dort eingerichtet werden….
2.2 IKON-Klassen – von der Idee zum Start
Die zweite Öffnungsrichtung neben den Außen- und
Partnerklassen verändert das Förderzentrum noch unmittelbarer: Seit 2010 werden
Grundschulklassen in intensiver Kooperation mit Förderschulklassen innerhalb
der>Sondereinrichtung< unterrichtet (ICO = Intensiv-kooperierende Klassen
Nürnberg). Auch wenn das BayEUG von 2003 diese Form gemeinsamen Unterrichts
ausdrücklich vorsieht, war die Umsetzung doch ein ausgesprochen
mühsamer und schwieriger Weg.
Nach einer Zukunftswerkstatt zum Thema >Gemeinsame Bildung und
Betreuung für alle Kinder< im Dezember 2005, der die Kompetenzen, Ideen
und Visionen der zukünftig Beteiligten sammelte, entstand bis 2009 ein
gemeinsames pädagogische s Konzept (vgl. Jakob-Muth-Schule 2009). Diesem liegt
die Idee zugrunde, die positiven und ermutigenden Erfahrungen aus den
bestehenden Partnerklassen in den organisatorisch freieren Rahmen einer
Förderschule zu verlegen, die dort vorhandenen Infrastruktur (Barrierefreiheit,
Fachräume, Hilfsmittel, Ganztagsangebot) und Kompetenzen für gemeinsames Lernen
und Spiel zu nutzen, den >Schonraum Förderschule< zunehmend für
>Normalität< und in die Kommune hinein zu öffnen und damit die
Jakob-Muth-Schule in eine >Schule für alle< weiterzuentwickeln, in der es
keine >Restschüler< gibt, sondern Kinder und Jugendliche mit und ohne
besondere Bedürfnisse gemeinsam leben und lernen. (a. a. O. S.213,214)
Gleichzeitig sollte in der Verknüpfung von Heilpädagogischer Tagesstätte und
einem von der Lebenshilfe gegründeten integrativen Hort ein integratives
Ganztagsangebot realisiert werden.
Der erste Versuch… scheiterte 2008 am zu kurzen zeitlichen Vorlauf sowie an
Schwierigkeiten bei der Kommunikation zwischen Träger und Schulaufsicht und dem
mangelnden Interesse von Grundschuleltern….
Seitens des Schulamtes wurde die Dunant-Schule, eine große Grundschule in etwa
3 km Entfernung, als Partnerschule aus gewählt und zugesichert, das die Zahl
der sprengelübergreifend angemeldeten Grundschüler pro Klasse bei maximal 17
liegen darf. Die Stadt Nürnberg als Sachaufwandsträger…
Der Umbau der zu kleinen Klassenzimmer in je einen einander liegenden großen
und einen kleinen Unterrichts- und Tagesstättenraum wurde gerade noch
rechtzeitig fertig.
Trotz vieler bürokratischer und finanzieller Hürden bestand das größte ‚Risiko
darin, ob es gelänge, eine ausreichende Zahl, also mindestens 30 Eltern zu
finden, die bereit sein würden, ihr Kind ohne Förderbedarf für das völlig neue
Projekt … anzumelden. Mit Infoabenden, Presseberichten und
Mund-zu-Mund-Propaganda gelang es… (a. a. O. S.214)
2.3 Erste Erfahrungen
Nach dem ersten IKON-Schuljahr fällt die Zwischenbilanz der
Beteiligten insgesamt positiv aus. Die beiden gemeinsamen Klassen aus Grund-
und Förderschülern haben sich zwar unterschiedlich, aber insgesamt erfolgreich
entwickelt… Hohe Anforderungen wurden an die ‚Teamfähigkeit der Pädagoginnen gestellt;
zusammen mit den Mitarbeiterinnen der Tagesstätte und des Horts waren
einschließlich Pflegekräften, FSJ [Freies Soziales Jahr]-Praktikantin und
Schulbegleiterin 16 Personen (ohne Fachlehrkräfte) unmittelbar beteiligt… Nach
einigen Wochen stellte sich heraus, dass sich unter den Regelschulkindern
einige Schüler mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten befinden, deren Probleme
vorher nicht bekannt waren, sodass ungewollt und entgegen den gesetzlichen
Vorgaben . die eigentlich nur >normale< Grundschüler mit Förderschüler
geistige Entwicklung kooperieren lassen wollten, tatsächlich eine >Schule
(oder Klassen) für alle< entstanden… dennoch wurde in beiden Klassen
durchgängig gemeinsamer Unterricht mit hohen Anteilen offener Unterricht
durchgeführt… Seitens der beteiligten Eltern besteht eine sehr hohe
Zufriedenheit, auch wenn es deutliche Unterschiede zwischen den
Grundschuleltern, die sich bewusst für dieses Projekt entschieden hatten, und
den Förderschuleltern, die ihr Kind notwendigerweise in eine Förderschule
einschulen mussten, im Hinblick auf Identifikation mit dem Projekt und die
Zusammenarbeit mit den Pädagoginnen gab. Die Werbung interessierter Eltern für
den zweiten Anlauf (mit einer neuen ersten ICON-Klasse) wurde zum Selbstläufer.
Ohne besondere öffentliche Aktivitäten gab es deutlich mehr Anmeldungen als zu
vergebende Plätze.
Das Konzept eines pädagogisch gemeinsam gestalteten Ganztags erweist sich als
sehr wertvoll und tragfähig für die Beziehungen und Entwicklungen des Kindes….
(a. a. O. S.215)
3.Wissenschaftliche Begleitung
Es gibt eine unüberblickbare Menge an Literatur über
Inklusion und Integration, und auch eine ganze Reihe zum Teil sehr
umfangreicher Forschungsprojekte …. Schüler im FsgE können zu einem
überwiegenden Anteil nicht an Gruppenerhebungsverfahren teilnehmen, darüber
hinaus haben die Verfahren keine Normen für diese Gruppen von Schülern…
Das Institut für Grundschulforschung mit Sitz in … Nürnberg zeigte mit den
Professorinnen Sabine Martschinke und Bärbel Kopp auf Anfrage spontan
Interesse, zur Geistigbehindertenpädagogik an der Universität Würzburg (Ratz)
bestanden bereits Kontakte. (a. a. O. S.216),217)
Die ersten Kontakte zwischen den beiden Fächern zeigten ein hohes Maß an
Kooperationsbereitschaft, aber auch eine große Unterschiedlichkeit in der
Erfahrung bezüglich der Integration von Schülern im FsgE und ebenfalls in den
Forschungsmethoden… So sieht zunächst die Frage nach der Schulleistung im
Bereich der Grundschulforschung ein klares methodisches Vorgehen nach sich:
normiere Schulleistungstests, ein längsschnittliches Verfahren mit mehreren
Messzeitpunkten. Dieses Verfahren kann auf nur wenige Schüler im FsgE
übertragen werden…
Zusammenfassend können nach einem Jahr folgende erste Aussagen getroffen werden
(vgl. Martschinke/Kopp/Ratz 2011 sowie 2012):
4 Aktuell zu lösende Aufgaben, die charakteristisch für eine Schule auf dem Weg sind
Um gegenwärtigen Zeitpunkt lassen sich einige Handlungsfelder und Zukunftsaufgaben beschreiben, die als exemplarisch zu bezeichnen sind für Schulen, die auf dem Weg der Inklusion sind. (a. a. O. s.218,219) Sie verdeutlichen, das bei den vielen positiven Erfahrungen stets auch neue Herausforderungen entstehen.
4.1 Umgang mit Heterogenität und Komplexität
Bereits 1990 bestimmte Annedore Prengel das in dreifacherweise bestimmte Phänomen der Heterogenität als >Spannungsverhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit< ….
· >Die verschiedenen Lebensäußerungen und Lernbedürfnisse werden in ihrer je spezifischen Eigenheit durch die Lehrkräfte beachtet und beantwortet.<
· >Mitschüler… lernen sich gegenseitig als verschiedene und verschieden Wachsende wahrzunehmen und anzuerkennen.<
· Weil die Ressourcen der persönlichen Zuwendung… allen gleichermaßen entsprechend ihren unterschiedlichen Bedürfnissen zur Verfügung stehen […], kann sich Selbstachtung bei allen entwickeln. Sie ist das Recht auf Gleichheit im Freiraum der Verschiedenheit< (Deppe-Wolfinger/Prengel/reiser 1990, 273 ff.)
Im ICON-Projekt zeigt sich diese Vielfalt als Realität und zugleich als Erfahrungsmöglichkeit und Lernziel in vielfacher Weise:
… Die unterschiedlichen Voraussetzungen und Erwartungen an Grund- und Förderschullehrkräfte (Lehrpläne, Lernfortschritt, Leistungsbeurteilung) erzeugen Drucksituationen, die oft nur schwer auszuhalten sind… (a. a. O: S.219)
4.2 Besondere pädagogische Voraussetzungen
Ist es schon enorm anspruchsvoll und anstrengend, den
>ganz normalen Alltag< in solch heterogenen pädagogischen Situationen zu
bewältigen, so stellen Schüler mit ausgeprägten sozial-emotionalen Störungen
(unabhängig vom Status Regel- oder Förderschüler) oder einem hohen
Betreuungsbedarf aufgrund ihrer Behinderung (z. B. Schüler mit autistischen
Störungen, aggressivem Verhalten, stark eingeschränkter Kommunikations- oder
Bewegungsmöglichkeit, mit hohem Pflegeaufwand) weitere Herausforderungen dar.
Ist die komplexe Situation einer Gruppe von ca. 25 Kindern für alle Schüle
geeignet und förderlich? Können Schule, Tagesstätte und Hort
Interventionen leisten, die eigentlich medizinisch-therapeutische Maßnahmen
erfordern?
Verhaltensstörungen sind en unterschätztes Problem bei der Gestaltung von
inklusiven Settings…. Dworschak/Kannewischer/Ratz/Wagner (2012b) zeigten
jüngst, dass >52 % der Schüler… mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung
in Bayern eine ausgeprägte Problematik des Verhaltens und der Emotionen
zugeschrieben werden kann< (ebd., 162) – dabei kann auch von einem
deutlichen Anteil von psychischen Störungen ausgegangen werden… in den beiden
IKON-Klassen… [liegt] der Anteil eher noch höher… 8 von 14
Förderschülern…, was 57 % entspricht… Auch auf der Seite der Grundschüler
stellt sich die Frage nach Verhaltensstörungen. Die Erfahrung zeigt, das sich
in >Angebotsschulen< eine andere Mischung findet als in Sprengelschulen,
auch wenn hierfür kein empirischer Beleg vorliegt. Das spezielle Modell der
ICON-Klassen ist für den Grundschulbereich ein Angebot, das von Eltern, die bei
einer >normalen<Regelbeschulung unter Umständen Probleme für ihr Kind
erwarten, gerne in Anspruch genommen wird… (a. a. O. S.220)
4.3 Ganztagsangebote und ganzheitlicher Förderbedarf
Die Erfahrungen der JMS in außen- und Partnerklassen an Regelschulen haben gezeigt, dass die gemeinsame Bildung und Erziehung von Kindern mit und ohne Förderbedarf nicht auf die Schule allein beschränk bleiben darf…
4.4 Ressourcen und Infrastruktur
…. Die Klassenzusammensetzung mit durchschnittlich 16 Grundschülern, von denen einige z. T. erheblichen Förder- oder zumindest pädagogischen Betreuungsbedarf mitbringen, und 8 bis 9 Schülern mit hohem Förderbedarf stellt ohne Zweifel (zu?) hohe Anforderungen an Mitarbeiter und Kinder. Kooperationsstunden sind nicht vorhanden. (a. a. O. S.221,222) Die Stundentafeln der beiden kooperierenden Schularten sind insbesondere in Jahrgangsstufe 3 nicht mehr kompatibel (28 Pflichtstunden für Grundschüler, 22 für Förderschüler) zusätzliche Stundenzuweisungen für notwendige Angleichungen sind nicht vorgesehen…
… Insbesondere die Verteilung von Zuständigkeiten zwischen Kultus- und Sozialministerium, zwischen Schuladministration, Kommunen und Behörden der Eingliederungshilfe(Bezirk, Jugendhilfe u. a. ) führen zu Verteidigungs- und Verteilungskämpfen auf verschiedenen Ebenen…
5 Fazit
(a. a. O. S.222)
… Jakob Muth, der Initiator des Bildungsrats-Gutachtens von 1973 und Namensgeber der Nürnberger Schule, hat schon 1991 aus intensiver Beobachtung integrativer Förderung behinderter Kinder im allgemeinen Unterricht die erstaunliche Konsequenz gezogen, das nicht nur >Regelschulen ohne Aussonderung<, sondern gerade auch weiter entwickelte spezialisierte Einrichtungen langfristig gelingende Integration möglich machen: >Ich bin dagegen der Auffassung, dass die Sonderschule unter den integrativen Schulen, also das Schulmodell, was behinderte Kinder ohne Selektion aufnimmt, auch in Zukunft weiterbestehen wird. Allein an Schulen, die behinderte Kinder jedweden Schweregrades aufnehmen können, lässt sich zum einen die Qualifikation von Lehrern der verschiedenen sonderpädagogischen Fachrichtungen permanent sichern und mit der allgemein/pädagogischen Kompetenz andere Lehrerin Zwei-Lehrer-Systemen kooperativ verbinden…
Walter Göschler
Lernwerkstätten und Inklusion
Am Institut für Sonderpädagogik an der Universität Würzburg wurde 2007 beschlossen, eine Lernwerkstatt für die Studierenden einzurichten. Hierzu wird seitdem eine Mitarbeiterstelle finanziert, die für den Aufbau, die konzeptionelle (Weiter-)Entwicklung und für die Leitung zuständig ist. Herr Prof. Dr. Erhard Fischer, dem dieses Festschrift gewidmet ist, hatte zu dieser Zeit die geschäftsführende Leitung des Instituts für Sonderpädagogik inne….
1 Lernwerkstatt als uneinheitlicher Begriff
Der Begriff Lernwerkstatt wird sowohl in der Fachliteratur als auch im Zusammenhang mi Bildungseinrichtungen nicht einheitlich verwendet. In erziehungswissenschaftlicher Hinsicht ist ein Schwerpunkt im Bereich der Primarschulpädagogik festzustellen… Bei aller Uneinheitlichkeit der Begriffsverwendungen scheinen Lernwerkstätten immer verbunden mit dem Wunsch, Erziehung und Bildung vom Kindergartenalter bis in die Universitäten hinein reformorientiert in einer Veränderung der Lernsituation und auch des Lernortes zu begreifen und realisieren zu wollen (vgl. Seitz 2003, 197)…. (a. a. O. S.227)
1.1 Lernwerkstätten als Reformelemente
…. Lernwerkstätten in Deutschland werden zu Beginn der 1980er Jahre begründet, zuerst an der TU Berlin und an der Gesamthochschule Kassel (vgl. Kirschhock 2005, 203). Seit 1986 finden bundesweite und internationale Tagungen zu Lernwerkstätten statt. Nach einer Zeit der Konsolidierung des bundesrepublikanischen Erziehungs- und Bildungssystems bis in die 1060er Jahre hinein >wird allerdings zunehmend Kritik an der traditionellen Grundschulkonzeption geübt. Reformansprüche und Schulwirklichkeit scheinen sich in vielen Punkten nicht vereinbaren zu lassen< (Müller-Naendrup 1997,37)… Die innere Schulreform beschäftigt sich mit >Fragestellungen, die die Gestaltung des Schullebens, den erzieherischen Unterricht, das Prinzip des sozialen Lernens, die Gestaltung einer kinderfreundlichen Lernumwelt, die Leistungsbeurteilung ec. Betreffen [ebd. 4]. … >nach dem Vorbild der Teacher Centres in den USA und England< (Schomaker 2011, 208)….
1.2 Erziehungswissenschaftliche Anbindung
…Doch wie ist dieses Reformbestreben inhaltlich zu fassen?
Innere Schulreform ist sehr eng mit dem Begriff >Offener Unterricht<
verknüpft.- Doch auch dieser Begriff lässt eine Vielzahl an Varianten und
Realisierungsmöglichkeiten offen… (a. a. O. S.228)
Eine Orientierung gibt die Antwort von Lillian Weber, die das Workshop Center
in New York 1972 begründete (vgl. Ernst 1996, 40)… >Die Frage, was ‚Offener
Unterricht ausmacht, ist schwer für mich zu beantworten, denn ich
habe diesen Begriff nicht in die Welt gesetzt, das ist eher ein zufällige
Name. Natürlich wollte ich so etwas wie ‚Öffnung‘ . Eine bessere Bezeichnung
wäre vielleicht ‚Zugänglichkeit‘. […] Ich wollte, daß die Klassenräume sich ein
wenig zur Welt hin öffnen, zur Realität der vielen Dinge in ihr. <ich wollte
ein Höchstmaß an Interaktion der Kinder… als Motor des Denkens< (ebd.).
Drei Punkte erscheinen an diesen Aussagen bedeutsam:
Damit wird eine Orientierung geschaffen, die über den Aspekt der Individualisierung und Differenzierung hinausweist hin zu einem gemeinsamen Tun…
1.3 Schwerpunktsetzungen
Lernwerkstätten können gefasst werden als >Arbeitsumgebungen, die nach dem Prinzip der anregenden Lernlandschaft gestaltet sind und so alternative Lernorte darstellen< (Hagstedt 2009a,1). Orientierungspunkte sind nicht einzelne Lernziele, sondern die Zielrichtung weist auf >übergeordnete pädagogische Ziele und auf einen umfassenden Bildungsbegriff< hin (Kirschhock 2008, 20). Es werden Freiräume geschaffen auf seien der Lernenden und die Lehrerrolle verändert sich vom Instrukteur hin zum Begleiter oder Berater… Nicht der Unterricht steht im Vordergrund, sondern die Lernenden. Demnach sind Lernwerkstätten Orte, >an denen noch oder wieder in subjektbezogenen Zeitrhythmen gearbeitet und Erfahrung nicht nur simuliert< wird (Selle 1992, 40). Die Verantwortung für Lernfortschritte verlagert sich stärker auf den Lernenden. Damit eignen sich Lernwerkstätten zur Realisierung einer >partizipativen Lehr- und Lernkultur< (Wedekind 2009, 3) Dabei wird ein Lernverständnis zugrunde gelegt, indem das Kind Akteur des Lernprozesses im Sinne eines aktiven, entdeckenden und konstruierenden Lernens ist. Die ist ein jeweils individueller Weg in situativen und sozialen Zusammenhängen (vgl. ebd., 4). (a. a. O. S.229)
2 Integration und Inklusion als uneinheitliche Begriffe
… In der Bayerischen Bildungslandschaft wurde die Leitlinie >Integration durch Kooperation< ersetzt durch >Inklusion durch Kooperation<< und der Inklusionsbegriff kommt auch dann zum Tragen, wenn einzelne Kinder oder Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf sich in einer Raum-Zeit-Nähe zu Kindern und Jugendlichen ohne …Förderbedarf befinden….
2.1. Entwicklungslinien der Integration/Inklusion
In den 1960er Jahren konnte der Auf- und Ausbau
unterschiedliche Sonderschulen für verschiedene Behinderungsarten, die z. T. in
sich nochmals unterteilt waren bzw. immer noch sind, vorangetrieben und
realisiert werden als vierte Ebene eines gegliederten Schulwesens…
die Sonderschulen… waren…. mit Gesetz… mit einem eigenen Bildungsauftrag
ausgestattet und die Schulpflicht für Schüler.. mit einer geistigen Behinderung
legitimiert und durchgesetzt… Damit verbunden war die Qualifizierung von
Sonderschullehrkräften… (vgl. Stern 2995, 334). (a. a. O. S.230) Die Idee einer
gemeinsamen Erziehung , Bildung und Betreuung von Kindern mit und ohne
Behinderung (Stiftung Aktion Sonnenschein o. J.) entstand im Zusammenhang
mit dem Montessori-Kindergarten der Aktion Sonnenschein ab 1968 in München, in
dessen Gefolge eine Schule entstand, die >Kinder mit oder ohne Behinderung
gemeinsam besuchen konnten (ebd.) … offiziell, also von Seiten der
genehmigenden Behörde, … wurde… keine Aufnahme von blinden, gehörslosen und
geistig behinderten Kindern zugelassen (vgl. Hellbrügge1984, 52). Die
Kultusministerkonferenz veröffentliche 1972 die >Empfehlung zur Ordnung des
Sonderschulwesens… Hier wird ein individuumzentriertes Verständnis von
Behinderung formuliert, das den Grund für das Vorliegen einer Behinderung im
jeweiligen Subjekt verankert und dies als Begründung seiner Begabung und
Eigenart betrachtet… Ein Jahr später wurde mit den Empfehlungen der
Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates… ein Kontrastprogramm einer
weitgehend gemeinsamen Erziehung und Bildung von behinderten und
nichtbehinderten Kindern vorgestellt.. (Muth 1988, 18)
Ab 1975 nimmt ein Klassenzug der mehrzügigen Fläming-Grundschule in
Berlin Kinder mit Behinderungen auf. Damit ist diese Schule die erste,
die offiziell genehmigt und dokumentiert Kinder mit geistiger Behinderung
aufnimmt (vgl. Stoellger 1988,11). (a. a. O. S.231,232) …
Zwischen 1980 und 1982 veränderte sich die Uckermark-Grundschule in Berlin in
eine >Schule ohne Aussonderung< mit >wohnortnaher Integration<
(Heyer/Preuss-Lausitz 1990,19) Ziel.. Normalisierung der Arbeitsbedingungen,
Individualisierung der Förderung und soziale Integration über die Schule hinaus
…(Heyer et al. 1993,… vgl. ebd., 15f) <
Die Grundschule in der Robinsbalje in Bremen führte ab 1984 neben den bis dahin
üblichen Maßnahmen der Individualisierung und Differenzierung in integrativen
Klassen das didaktische Prinzip des gemeinsamen Lernens an einem gemeinsamen
Gegensand (Feuser) ein. Dabei geht es >um Realisierung eines Verständnisses
von schulischer Integration, das impliziert, daß
lernen und im Unterricht mitarbeiten< (Feuser/(Meyer
1987,12…)
Bei diesem Konzept kommt explizit ein Behinderungsbegriff zum Tragen, der nicht
personenzentriert ist und den Jantzen mit der Verhältniskategorie der Isolation
beschreibt. Behinderung ist nicht das Wesen einer Person. >Isolation ist
nicht an irgendwelchen inneren Eigenschaften der Individuen festzumachen<
(Jantzen 1980a,70), sondern ist anzusetzen im Verhältnis zwischen Subjekt und
Objekt. >Isolation meint ein Verhältnis und kein Ding< (Jantzen
1980b,132).
Damit wird eine individuumzentrierte Sichtweise von Behinderung überwunden.
Eine feststellbare Beeinträchtigung eines Kindes ist nicht seine Behinderung,
sondern die Bedingung seiner Existenz. Erst die Konsequenzen des sozialen
Ausschlusses behindern das Kind (vgl. Feuser/Meyer 1987, 186). …
Es konnte gezeigt werden, das eine gemeinsame Erziehung und Bildung von unterschiedlichen
Kindern und Jugendlichen realisierbar ist… (a. a. O: S.232)
2.2 Von der Integration zu Inklusion?
… Wesentlich am Inklusionsbegriff ist die Erweiterung des
Personenkreises und damit verbunden die Überwindung des Zwei-gruppen-Ansatzes
Behinderte-Nichtbehindere…. Qualität- und Quantitätsprobleme machen eine
Hinwendung zum Inklusionsbegriff notwendig. In 15Punkten stellt Hinz die Praxis
der Integration, die versucht, >aus sonderpädagogischer Warte
individuumsbezogen die Einbeziehung ihre Klientel mit sonderpädagogischen
Förderbedarf, je nach individueller Schädigung, mit personenbezogener
Ressourcenausstattung, spezieller Förderung und primärer eigener Zuständigkeit
voranzubringen< (Hinz 2002, 359), der Praxis der Inklusion gegenüber, die
>mit schulpädagogischem Ausgangspunkt und systemischem Ansatz alle
Schüler an einer gemeinsamen Schule für alle teilhaben und individuell wie
gemeinsam lernen lassen und dies mit systembezogener Ressourcenausstattung und
allen beteiligten Berufsgruppen vorantreiben will< (ebd. 359f.). …
In der praxisrelevanten Umsetzung der UN-Konvention gehen die Bundesländer
verschiedene Wege, jedoch ohne erkennbar die Vorteile der Praxis der Inklusion
aufzugreifen. In Bayern wurde inzwischen der Begriff der >Integration durch Kooperation<
ersetzt durch >Inklusion durch Kooperation<. Zum Schuljahr 2011/12 wurde
das Kriterium der aktiven Teilnahme –>nicht mehr die Lernziele der
allgemeinen Schule sind ausschlaggebend, sondern schulische Fortschritte, deren
Ausmaß und Qualität nicht weiter definiert sind< (Goschler 2010.16) –
zugunsten eines Elternwahlrechts des Förderorts verändert… (a. a. O. S.233) …
Nach wie vor wird darauf insistiert, dass die Frage des Lernortes eine Frage
der Verfasstheit des Subjekts und nicht eine Frage der Veränderung von Schule
ist…
Damit hat der Inklusionsbegriff eine ähnliche Aufweichung und Inflationierung
genommen wie der Integrationsbegriff aus Sicht der Inklusionsbewegung…
2.3 Gemeinsamer Unterricht und Gemeinsames Lernen in heterogenen Gruppen
Im folgenden Abschnitt wird weder de Begriff de Integration noch der Begriff de Inklusion verwendet. Wesentlich erscheint die didaktische Realisierung eines gemeinsamen Unterrichts in einer Schule für alle. Dieser gemeinsame Unterricht wird sich im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Differenzierung einerseits und einem gemeinsamen Lernen an einem gemeinsamen Gegenstand bewegen. (a. a. O. S.234,235) Markowetz hat dies als Triangulation bezeichnet….
3 Gemeinsamer Unterricht in Lernwerkstätten
…
3.1 Lernwerkstätten und exklusiv-individuelle Lernsituationen
>Exklusiv-individuell mein und akzeptiert ein passageres, nicht durchgängig akzeptables unterrichtliches Vorgehen, das fei von Kooperationszwängen ist und bei dem sich Schüler mit und ohne Behinderung in weitgehender Selbstbestimmung innerhalb oder außerhalb des Klassenzimmers mit pädagogisch-erzieherischer Begleitung oder ohne persönliche Assistenz so verhalten dürfen, das dies den individuellen Fähigkeiten und Lernbedürfnissen in hohem Maße gerecht wird< (Markowetz 2004, 177)…. Damit eine exklusiv-individuelle Lernsituation überhaupt möglich werden kann, wird ein geöffneter Unterricht benötigt, der nicht darauf abzielt, dass der Unterricht in allen Teilen durch die Lehrkraft vorherbestimmt wird. Eine Schülerin oder ein Schüler verfolgt allein ihr/sein Interesse innerhalb eines gemeinsamen ‚Themas oder auch außerhalb. Das Lernwerkstattkonzept kann diese Offenheit akzeptieren, wenngleich angefügt werden muss, dass dies kein durchgängiges Prinzip sein kann und darf, da es sonst zu einer extremen Vereinzelung der Kinder und Jugendlichen führen würde und die Sozialität von Lernprozessen aufgegeben wird. (a. a. O. S.235)
3.2 Lernwerkstätten und gemeinsame Lernsituationen
Lernsituation |
Inhalts- und Beziehungsaspekt |
Bezug zum Lernwerkstattkonzept |
Koexistente |
Überwiegend >individuelle Handlungspläne< |
Individualisierung |
Kommunikative |
>Interaktion pur< |
Gesprächskreise, |
Subsidiäre |
Asymmetrisches Verhältnis |
Offenheit der Lernsituation für andere Kinder |
Kooperative |
Verbindlicher Zusammenhang des gemeinsamen Arbeitens |
Gemeinsames Ziel. Projekt |
Tabelle 1: Lernsituationen nach Woken
3.4 Lernsituationen und das gemeinsame Lernen an einem gemeinsamen Gegenstand.
Zentral für Feusers Allgemeine Pädagogik und
entwicklungslogische Didaktik ist, dass alle Kinder und Schüler in Kooperation
miteinander, auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau, nach Maßgabe ihrer
momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen, in Orientierung auf
die ‚nächste Zone ihrer Entwicklung‘, an und mit einem ‚gemeinsamen Gegenstand‘
spielen, lernen und arbeiten< (Feuser 2005, 168). Der Begriff >alle<
ist umfassend zu verstehen und impliziert, das >alle Kinder und Schüler
alles lernen dürfen, jedes Kind und jeder Schüler auf seine Weise lernen darf
und alle die erforderliche Hilfe bekommen, derer sie bedürfen< (Feuser
2011b, 89). Behinderung wird nicht mehr individuumzentriert, sondern
transnormalistisch im Sinne unbegrenzter Normalitäten gesehen (vgl. Lingenauber
2008, 25). Es muss darauf hingewiesen werden, dass damit keine
Zwei-Gruppen-Einteilung vorliegt…
Während im Lernwerkstattkonzept der Aspekt der Kooperation zwar vorhanden ist,
bleibt er aber dennoch als mögliche Form der Zusammenarbeit eine Sozialform
neben anderen und steht gleichberechtigt zu einem individuellen Lernen… (a. a.
O. S.236)
… Dabei gilt es die Dialektik zwischen Sache und Subjekt zu
berücksichtigen. >Der Mensch erschließt sich die Dinge durch den Menschen
und sich den Menschen über die Dinge – in der gemeinsamen Kooperation<
(Feuser 2004, 147). Damit wird Kooperation zu einem Kernstück gemeinsamen
Lernens und dabei auch für die jeweilige individuelle Entwicklung…
Lernen wird als sozialer Prozess gesehen, der sich in Kooperation verwirklichen
lässt. Damit erfährt die vorwiegend konstruktivistische Sicht von Lernen
im Lernwerkstattkonzept eine Erweiterung dahingehend, dass Lernen als
kooperative Aneignung der Kultur begriffen wird und dabei einen Beitrag zur
Aufrechterhaltung der Gattung Mensch leistet…
Es bleibt zu fragen, inwieweit die.. Allgemeingültigkeit einer Entwicklungslogik
in neueren Ansätzen zur Kulturhistorischen Schule so gesehen wird. Eine
Orientierung hierfür kann Chaiklin geben, wenn er feststellt, dass Vygotskij
>das Kind als integrale Person sieht, die in sozialen Beziehungen zu anderen
Personen steht< (Chaiklin 2010. 81). Hier wird nicht die Entwicklungslogik
in den Vordergrund gestellt, sondern das Kind in (s)einem sozialen System… (a.
a. O. S.237)
Sowohl im Lernwerkstattkonzept wie auch beim Konzept des gemeinsamen
Lernens an einem gemeinsamen Gegenstand ist der Ausgangspunkt didaktischer
Überlegungen das jeweilige Subjekt mit seinen biografischen Lernerfahrungen. In
beiden Konzepten wird Lernen und Entwicklung als ein Prozess gesehen, der
anderer Subjekte bedarf und somit sozial bestimmt ist. Die Auseinandersetzung
mit einem Gegenstand kann zur weiteren Entfaltung bzw. Entwicklung der
Persönlichkeit führen. Im Lernwerkstattkonzept wird Wert auf die
Auseinandersetzung mi dem Lerngegenstand gelegt und nicht auf das Lernen von
operationalisiertem Wissen. Dies eröffnet unterschiedliche Zugangsweisen, die
eine Berücksichtigung verschiedener Entwicklungsniveaus und individueller
Lernbiografien ermöglicht.
Weitere[s]… www.lernwerkstatt.sonderpaedagogik.uni-wuerzburg.de
(a. a. O. S.238)
III Fragen anderer Disziplinen
Andreas Warnke & Regina Taurines
Inklusion – Was kann die Kinder- und Jugendpsychiatrie dazu tun?
1 Inklusion: Die allgemeine Aufgabenstellung und Zielsetzung
Die Zielsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK; United Nation 2006) ..-. betrifft das Aufgenommensein, die Teilhabe von Menschen mi Behinderung in allen gesellschaftlichen Bereichen, so auch im medizinischen Gesundheitssystem. Inklusion soll mehr sein als Integration. Integration zielt auf Nachteilsausgleich und Teilhabebefähigung zur Eingliederung in bestehende gesellschaftliche Lebensverhältnisse und Strukturen. Die Befähigung, die Habilitation und die Heilung einer Behinderung infolge psychischer Erkrankung dienen diesem Ziel. Diese Zielsetzung ist zweifellos Teil des Begriffes Inklusion will aber noch mehr: die Anpassung gesellschaftlicher Haltungen, Lebensgestaltungen und Strukturen an die Teilhabefähigkeiten des Einzelnen mit Beeinträchtigungen. Die Umsetzung von Inklusion wird ein langwieriger gesundheitspolitischer Prozess sein, der wiederum vom Tempo gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen zu Inklusion abhängig sein wird.
Der Begriff der Inklusion
Nun braucht das deutsche Gesundheitssystem grundsätzlich keinen internationalen Vergleich zu scheuen. Dennoch steht außer Frage, dass Menschen mit Behinderung und psychischer Störung Benachteiligungen, Ausgrenzungen und Barrieren erfahren, die sich allgemein oder beim Einzelnen reduzieren oder gänzlich beseitigen lassen. Solche Nachteile sind schon deshalb nicht zu rechtfertigen, da in Deutschland psychische Störungen mit an >erster Stelle bei den Ursachen der durch Behinderung beeinträchtigen Lebensjahre< stehen. Positionspapier Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe, Juli 2011:
www.beb-ev.de und www.bebnet.de, Rubrik >Stellungnahmen< (a. a. O. S.245)
2 Das Verständnis von Behinderung: dem Menschsein zugehörig
Die UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet eine maximale Anforderung, nämlich das Recht, >ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren<. Dass in solcher extremer Formulierung auch eine Gefahr für die Zielsetzung der Inklusion liegt, darauf hat Otto Speck in einer bemerkenswerten Stellungnahme aus seiner Sicht als Sonderpädagoge hingewiesen. Es ist wohl keinem Menschen möglich >volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens< zu haben; so ist dies auch nicht den Menschen mit Behinderung möglich. Jeder solchen extremen Formulierung eines Rechtsanspruchs ließe sich das Gebot der mitmenschlichen Gleichberechtigung, Verantwortlichkeit und der rechtlichen Pflichten entgegenhalten. >Das ideologische Verdikt gegen jede ‚Defizitorientierung‘ geht an heilpädagogischen Erfordernissen vorbei< (Speck 2011. 86). …
3 Die Notwendigkeit von Diagnose: Die Begriffe >Krankheit< und >Behinderung< als Voraussetzung von Inklusion
Seit Jahrzehnten findet sich in pädagogischen Texten immer
wieder der Begriff eines >medizinischen Modells<, für das kennzeichnend
sei, dass es sich vorwiegend auf Feststellungen von ungünstigen Befunden und
Behinderungen stütze (Wollenweber 2011). Die Sicht auf den ganzen Menschen mit
seinem Lebensfeld werde vernachlässigt. (a. a. O. S.246,247) Dass ein solches
Modell tatsächlich in diesem abschätzigen Sinne für die Medizin nicht generell
gegeben war, wird, aus welchen Gründen auch immer, ungern zur Kenntnis
genommen. Für das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie trifft es schon
längst nicht zu, wenn überhaupt jemals (vgl. Blanz et al. 2006;
Herpertz-Dahlmann et al. 2008). Eine >Defizitorientierung< wird im
gleichen Sinne auch der Sonderpädagogik zum Vorwurf gemacht. So als ginge es
noch heute in der Sonderpädagogik oder der Medizin darum, Defizite beim
Menschen zu definieren, um sie auf eine Funktionsstörung zu reduzieren und
irgendeiner Aussonderung zuzuführen…
Medizin versteht sich als Heilkunde. Heilen und Behandeln ist erst dann
möglich, wenn zuvor eine Erkrankung erkannt und möglichst diagnostiziert ist
(im akuten Notfall auch oft nicht möglich). … Die Diagnose Legsthenie ist nicht
Selbstzweck. Die tägliche klinische Erfahrung zeigt, dass eine solche
>Defizitdiagnose< den Schüler mit Legasthenie davor bewahrt, einer
inadäquaten Beschulung zugeführt zu werden…. Die Diagnose einer
>Depression< ist sinnvoll und notwendig, weil mit ihr die
Hilfsbedürftigkeit eines Menschen erkannt wird und dies mit auch rechtlichen
Konsequenzen: Diagnostik und Behandlung sind mittels RVO
(Reichsversicherungsordnung) durch Krankenkassen finanziell gesichert…
Der Begriff der Behinderung ist kein medizinischer, er ist ein pädagogischer
und ein Begriff aus dem Sozialrecht… Einem Nachlassen der Sehschärfe, welche
uns die Fähigkeit zum Lesen nimmt, ist mit Begriffen wie >tiefbegabt<,
>Mensch mit besonderen Bedürfnisse<, >mit besonderer Begabung< oder
>andersfähig< nicht abgeholfen. Speck (2011) nennt solche
realitätsverleugnende Begrifflichkeit >zynisch<. Es kommt vielmehr darauf
an, die Dioptrien genau zu bestimmen, also… die Brillengläser richtig zu
bemessen… (a. a. O. S.247)
Eine Inklusion. Die durch das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie und
–psychotherapie zu verwirklichen ist, hat die Begriffe >psychische
Störung<, >psychische Erkrankung< und >Diagnose< zur
Voraussetzung.
4 Das Aufgabengebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie
>Die Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie umfasst die Erkennung, nicht-operative Behandlung, Prävention und Rehabilitation bei psychischen, psychosomatischen, entwicklungsbedingten und neurologischen Erkrankungen und Störungen sowie bei psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter< (Bundesärztekamme 1992). Das Aufgabenfeld ist also störungsorientiert definiert. Es schließt also Menschen nicht aus, sondern hat die psychiatrische Versorgung alle Kinder und Jugendlichen zur Aufgabe, ob sie nun mit Behinderung leben oder nicht. Alle ärztliche Bemühung des Fachgebietes hat somit definitorisch zum Ziel, eine mögliche Exklusion, verursacht durch psychisches Erkranken, zu verhindern. Einem multifaktoriellen Verständnis der Krankheitsentstehung entspricht das Prinzip multifaktorieller Behandlung. Diagnostik und Behandlung sind notwendig immer ein fachliches (meist interdisziplinäres) Zusammenwirken mit dem Kind mit psychischer Störung, seiner Familie und seinem außerfamiliären gesellschaftlichen Umfeld. >Ambulante (auch mobile), teilstationäre und stationäre Einrichtungen sind die organisatorischen Strukturen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie… Vertretung des Fachgebietes in Lehre und Forschung…. Öffentlichkeitsarbeit und die Interessenvertretung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher und ihrer Angehörigen< (Warnke/Lehmkuhl 2011,1).
5 Psychische Störungen– das multiaxiale Verständnis
Die von einer internationalen Expertenkommission erarbeitete
und durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) autorisierte diagnostische
Klassifikation von psychischen Störungen wurde Grundlage einer transkulturellen
Verständigung … Inzwischen sind [sie] (ICD-10, Kap. V,F Klinisch-diagnostische
Leitlinien; Dilling/Mombour/Schmidt 2008) und das Statistische Manual
psychischer Störungen (DSM IV¸Saß/Wittchen/Zaudig 1996) allgemein anerkannte
Klassifikationssysteme… (a. a. O. S.248,249)
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sic das multiaxiale
Klassifikationsschema nach ICD-10 (MAS) durchgesetzt….
Die[]se] multiaxiale Diagnostik … beinhaltet:
Achse I: das klinisch-psychiatrische Syndrom. Diagnostisch ist die
Aussage zu treffen, inwieweit eine psychische Störung von Krankheitswert
vorliegt: eine Angststörung, Zwangsstörung, Essstörung oder frühkindlicher
Autismus als Beispiele. Mit
Achse II werden Untersuchungen zur Entwicklung der Motorik, der Sprache,
des Lesens, Rechtschreibens und Rechnens durchgeführt ..Mit
Achse III wird das Intelligenzniveau erfasst… Mit der
Achse IV sind die Befunde zur körperlichen Entwicklung erfasst.
Diese sind ebenfalls von großer Entscheidungsrelevanz bei Inklusionsfragen. Mit
der Diagnose von Zerebralparese, schwergradiger und nicht hinreichend
medikamentös beherrschbarer Epilepsie oder progredienter Muskelerkrankung
als Beispiele verbinden sich regelhaft Fragen der Integration oder
Inklusion… Auf der
Achse V werden… die assoziierten aktuellen abnormen psychosozialen Umstände…
erfasst. Die Eingliederungshilfe nach § 27 des Jugendhilfegesetzes setzt erzieherischen
Bedarf voraus…
Für den Inklusionsbedarf ist die die Beurteilung nach
Achse VI , die globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus,
ausschlaggebend… Nachteilausgleich… (a. a. O. S.249) … Vor d…er
Bekanntmachung vom 16.11.1999 des Bayerischen Kultusministeriums…. Wurden
Kinder, die bei den Diktaten über die Noten >mangelhaft< und
>ungenügend< nicht hinauskamen, daran gehindert, eine begabungsadäquate
Schule zu besuchen, also exkludiert…
Die multiaxiale Diagnostik ist, um ein weiteres Beispiel zu nennen,
Voraussetzung für die Diagnose eines Autismus-Syndroms und somit relevant für
die Inklusionsleistungen >Integrationshelfer< (nun wohl besser
>Inklusionshelfer<) und >Schulbegleiter<,
Die Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII, also aufgrund (drohender)
seelischer Behinderung, setzt die Feststellung einer psychischen Störung
voraus…
Die Diagnostik hat sich erweitert um >Operationalisierte Psychodynamische
Diagnostik (OPD; Arbeitskreis OPD-KJ 2007)… für das Säuglings- und
Kleinkindalter… (a. a. O. S.250)
5 UN-Konvention und kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung
Angaben der UN-Konvention in Artikel 9 (Zugänglichkeit,
Barrierefreiheit), Artikel 17 (Schutz der Unversehrtheit der Person), Artikel
19 (unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft), Artikel 23
(Achtung der Wohnung und der Familie), Artikel 25 (Gesundheit) und Artikel 26
(Habilitation und Rehabilitation) sind von besonderer Bedeutung… Die
regionalisierte Verteilung von Facharztpraxen, von Ambulanzen, Tageskliniken
und Kliniken soll auch in ländlichen Gebieten Menschen mit Behinderung einen
gleichberechtigten Zugang zur klinischen Versorgung ermöglichen. Zu
gleichberechtigten Informations- und Kommunikationstechnologien (Artikel 9[?])
gehören etwa die klinische Beschilderung in Braille-Schrift. Gleichberechtigt
soll der Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten, einschließlich der
>persönlichen Assistenz< gegeben sein (Artikel 19)… Gleichberechtigt ist
die Maßgabe, >dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen
getrennt wird, es sei denn, dass die zuständigen Behörden in einer gerichtlich
nachprüfbaren Entscheidung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften und
Verfahren bestimmen, dass diese Trennung zum Wohl des Kindes erforderlich
ist< (Artikel 23)….
Bei der Zielsetzung von Habilitation und Rehabilitation sei anzustreben, dass
gleichberechtigt ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche,
geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten …< angestrebt wird (Artikel
26)…
7 Folgerungen zur strukturellen Versorgung
… die ambulante Versorgung leistet einen wesentlichen
Beitrag zur Inklusion, indem psychische Erkrankungen bei Kindern und
Jugendlichen wirksam behandelt werden, seelische Behinderung vermieden und der
Verbleib im natürlichen Lebensfeld gesichert wird. (a. a. O. S.251,252)
… Die teilstationäre (tagesklinische) Versorgung hat sich im Fachgebiet
vervielfacht, sodass 2008 bundesweit mehr als 170 Tageskliniken bestanden. Ihr
Beitrag zur Inklusion ist herausragend dadurch, dass die Kinder nachts und an
Wochenenden in der Familie verbleiben können…
Auch der stationäre Bereich (2008 gab es 133 vollstationäre Einrichtungen),
leistet einen wesentlichen Beitrag zur Zielsetzung der Inklusion, weil die
wirksame stationäre Behandlung seelischer Erkrankungen eine Chronifizierung und
maligne schwergradige psychische Erkrankung verhindert werden können … massive
Verkürzung der Liegezeiten in den letzten zwei Jahrzehnten…
Ein Beispiel .. ist die Errichtung der Spezialklinik für Kinder und Jugendliche
mit Schwer- und Mehrfachbehinderungen und psychischen Störungen auf dem Gelände
des Blindeninstituts in Würzburg…. Initiiert durch … Einrichtungen der
Behindertenhilfe vor Ort – Gehörlosenzentrum, Blindeninstitut,
Körperbehindertenzentrum, Lebenshilfe – in Kooperation mit der universitären
Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie….
8 Prävention
… Präventiv und eine gleichberechtigen Rehabilitation dien
das Fachgebiet aber auch durch die vielfältige gutachterlichen
Dienstleistungen, nicht zuletzt auch durch landesärztliche Tätigkeiten und die
Mitwirkung in Gesundheitsämtern…
Die Kooperation der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Elternverbänden und
Selbsthilfegruppen ist hinsichtlich der Inklusion besonders wichtig. Vertreter
des Fachgebietes sind in vielen dieser Verbände in wissenschaftlichen Beiräten
tätig. Beispiele sind u. a. die Verbände der Lebenshilfe, die Frühforderung,
Der Bundesverband >Autismus Deutschland e. V.<, der >Bundesverband
Legasthenie und Dyskalkulie<, die >Tourette-Gesellschaft Deutschland e.
V.<, der >Bundesverband ADHS Deutschland e. V.< oder die >Deutsche
Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V.<. (a. a. O. S.253,254)
Eine Vernetzung der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Jugendhilfe, Kindergaren,
schulischen und beruflichen Versorgungsstrukturen, insbesondere mit der
Sonderpädagogik, ist wesentlich für ein Gelingen der
Zielsetzungen… Konsiliardienste … Weiterbildungsprojekte …
Weiterbildungscurriculum für Lehrer im Sonderschulbereich… (a. a. O. S.254)
Günther Fohrer
Inklusive Schule und (Schul-)Psychologe
1 Einleitung
… Im Artikel 2 … der UN-Konvention- wird von den Unterzeichnerstaaten gefordert, dass Menschen mit Behinderung nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen. Dies wird nicht nur auf den Grundschulunterricht bezogen, sondern sogar auf weiterführende Schulen… Eine der wenigen offiziellen Reaktionen war eine Pressemitteilung des Berufsverbandes Deutscher Psychologen (BDP) vom Mai 2009 mit dem Titel >Von Inklusion profitieren alle<, in der letztlich die Beschulung von Kindern mit Behinderung in den Regelschulen gefordert wird (BDP 2009a). es wird kritisiert, dass die Fragestellung auf eine reine Kostenfrage reduziert wird, stattdessen müsse die Grundlage für individualisierte Förderung gelegt werden….
2 Traditionelle Schulpsychologie
Es erscheint durchaus gerechtfertigt von
>traditioneller< Schulpsychologie zu sprechen, da seit der Nachkriegszeit
entsprechende Stellen existieren, in flächendeckendem Maße allerdings erst seit
Ende der 1970er Jahre installiert wurden.(Überblick für Bayern:
Staatsministerium 2007). Für 1973 ging man davon aus, das deutschlandweit ein
Schulpsychologe rund 15.000 Schüler betreut. Als Besonderheit ist dabei
hervorzuheben, dass es sich dabei immer um eine Doppelrolle handelt: zum einen
Lehrkraft, zum anderen Schulpsychologe… in der Regel [unter] Beamtenrecht…. (a.
a. O: S.257)
Nach den ministeriellen Vorgaben bestehen die Aufgaben des Schulpsychologen in
Bayern aus folgendem Katalog (Staatsinstitut 20079:
Fasst man Aufgabenbereiche und Zielgruppen übergreifend in Anlehnung an die Übersichten bei Fleischer/Jörten (2007) zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:
|
Ansatzpunkte |
Zielbereiche |
Maßnahmen |
Schüler |
internalisierende |
Ängste, Rückzug |
|
|
Externalisierende |
Aggression, Gewalt,Mobbing |
|
|
Leistungsprobleme |
Leistungsabfall, Versagen |
|
|
|
Lese-Rechtschreib-schwäche |
Diagnostik, Beratung,Therapie |
|
|
Rechenschwäche |
|
|
Konzentrations-probleme |
AD(H)S |
|
|
Besondere Begabungen |
Hochbegabung |
|
|
|
|
|
Lehrer |
Probleme mit Schülern |
Herausforderndes Verhalten |
|
|
Neue Herausforderungen |
Besondere Auffälligkeiten und Syndrome bei Schülern |
Beratung, Supervision, Coaching, Fortbildung |
|
Entwicklung neuer Strukturen |
Veränderte Schülerschaft |
|
|
|
Schule im Wandel |
|
Schulleitung |
Leitungsaufgaben |
Mitarbeiterführung |
|
|
|
Umgang mit Eltern |
Information, Fortbildung |
Übergeordnete |
Organisations-entwicklung |
|
|
(a. a. O. S.258,259)
Die verwendeten Methoden (wie etwa Verhaltenstherapie, klientenzentrierte
Ansätze) ergeben sich aus dem Methodenkanon der Psychologie sowie aus den
Schulrichtungen und Therapieansätzen der klinischen Psychologie. Hinzu kommt
die Orientierung an berufsständischen Grundsätzen wie:
Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich erkennen, dass
Aufgabenfelder und Stellung des Schulpsychologen nicht unproblematisch sind und
die Gefahr der Marginalisierung des Fachgebietes besteht….
Wie bereits erwähnt betrug die Quote 1973 1 : 15 .000 Schüler, man forderte 1 :
5.000 Schüler. … breit gestreut… auf das gesamte Bundesgebiet bezogen…
Ähnlich breit gestreut verhält es sich mit dem Verhältnis Schulpsychologe zu
Schule, es streut von 1 : 18 (Berlin), 1:26 (Bayern) bis 1 : 111
(Niedersachsen). Das Verhältnis Schulpsychologe zu Lehrer geht von 1 : 340
(Berlin), 1 : 493 (Bayern) bis 1 : 1.853 (Niedersachsen) (BSP 2010)….
Zieht man den internationalen Vergleich in Europa heran, so rangiert
Deutschland in der Statistik des BDP am unrühmlichen letzten Platz bei
der Quote Schüler pro Schulpsychologe. Hier steht Dänemark mit 773 Schülern an
vorderster Stelle, gegenüber Deutschland mit 10.326.. (Dollase 2010)…(a. a. O.
S.259,260)
Fasst man die Kennzeichen derzeitiger traditioneller Schulpsychologie in Deutschland zusammen, so lässt sich feststellen:
3.Psychologie und Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
Sowohl in der Fachwissenschaft als auch in der
berufsständischen Organisation (BDP = Berufsverband Deutscher
Psychologen<) unterscheidet man zwischen einem Fachgebiet Schulpsychologie
<8eigene Sektion im BDP) und einem Fachgebiet Psychologie der geistigen
Behinderung (eigene Fachgruppe in der Sektion Klinische Psychologie im BDP). In
Beschreibungen der Aufgabenfelder für diesen Bereich (u.a. Irblich/Stahl 2003;
Meir-Korell 2003; BDP 2009c) finden sich Aufgabenbereiche, die mit den Aufgaben
der Schulpsychologie identisch sind. Darüberhinausgehend beziehen die
Aufgabenfelder natürlich Bereiche ein, die sich auf die weitere Lebensspanne
beziehen und Felder wie Arbeiten und Wohnen zum Gegenstand haben. (a. a. O.
S.260,261)
Ein wichtiges Thema ist stets die Fragestellung, welche Foren psychologischer
Behandlung können bei der speziellen Klientel eingesetzt werden und inwiefern
müssen allgemeine Methoden spezifisch angepasst werden. Grundsätzlich ist es
nicht die Zielsetzung psychologischer Tätigkeit bei Menschen mit geistiger
‚Behinderung sie vom >Behindert-Sein< zum >Normal-Sein< hin zu
verändern, sondern ihr >Behindert-Sein< als eigene Qualität anzuerkennen
und Verhaltensprobleme unter dieser Prämisse zu verstehen (Meir-Korell 2003).
Aufgabenbereiche, die in diesem Kontext stärker zum Tragen kommen als in der
traditionellen Schulpsychologie sind Bereiche wie:
Wenn neuerdings hier der Fokus stärker auf Familie und
allgemein das Lebensumfeld gerichtet wird, so wird hier auch ein
Paradigmenwechsel sichtbar weg von der reinen Individualorientierung (meist
zusätzlich defizitorientiert) hin zur Miteinbeziehung des gesamten Umfeldes wie
ihm auch in der ICF und neuerdings ICF-CY Rechnung getragen wird….
Im Gegensatz zum staatlichen Schulpsychologen handelt es sich um eine Leistung
der Eingliederungshilfe nach SGB XII (s. auch BDP 2009c) und dient der
Förderung der Teilhabe … Eine Diagnose >Intelligenzminderung< nach ICD-10
(F 70 bis F 79) wird dabei vorausgesetzt. Begründen lässt sich diese wesentlich
bessere Versorgung mit erhöhten Prävalenzraten psychischer Auffälligkeiten bei
Kindern mit Intelligenzminderung…. Emerson (2003 nach Sarimski 2005) fand
eine um das 7,3fache erhöhe Rate an Auffälligkeiten gegenüber nichtbehinderten
Kindern… Externalisierende Symptome (Hyperaktivität, Störungen des
Sozialverhaltens, oppositionell provozierendes Verhalten) treten stärker bei
zunehmender Intelligenzminderung auf, internalisierende Symptome (Ängste,
depressive Störungen, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme, emotionale
Labilität, sozialer Rückzug) treten eher auf je geringer die
Intelligenzminderung ist, Fremd- und Autoaggressionen eher mit stärkerer
Intelligenzminderung… . Wriedt et al. (2010),,, (a. a. O. S.261)
Fasst man den Einsatz von Psychologen im Bereich der Förderzentren mit
Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung zusammen, so ergeben sich folgende
Punkte:
4 Psychologie in der inklusiven ‚Schule
Zielvorstellung sollte sein, Errungenschaften aus der
Beschulung von Kindern mit geistiger Behinderung und anderen Behinderungen in
ein neues inklusiv orientiertes Schulwesen herüber zu retten. Grundsätzlich
darf die Versorgung der angesprochenen Kinder nicht schlechter werden als in
den traditionellen Förderzentren und die Versorgung der Kinder in Regelschulen
erscheint auch verbesserungswürdig – jedenfalls hinsichtlich der Versorgung mit
Schulpsychologen.
Das grundlegende Menschenbild sollte in der Tradition der humanistischen
Psychologie stehen, die sich als dritte Kraft verstand gegenüber Psychoanalyse
und der Lerntheorie. Ähnlich einem ihrer Hauptvertreter Abraham Maslow
(1908-1970) formulierten Charlotte Bühler und Melanie Allen vier grundsätzliche
innere Antriebe, die sowohl für Menschen mit Behinderung als auch für Menschen
ohne Behinderung gelten (Hansen 1992):
(a. a. O. S.262)
Traditionelle Regelschulen orientieren sich kaum an der Befriedigung aller
dieser Bedürfnisse, aber das Förderzentrum mit Förderschwerpunkt Geistige
Entwicklung nahm dies von seiner Konzeption her immer sehr ernst, wenn man
bedenk wie sich der Schultyp definierte, nämlich als:
(Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung
1997)
Hier wird deutlich dass Schule für Kinder mit geistiger Behinderung nicht nur
ein >Lernort< sein soll, wie ihn die traditionelle Schule primär kennt,
sondern viele andere Aspekte hat, die starken Anklang an die Bedürfnisse im
Sinne der humanistischen Psychologie haben, wenngleich von Pädagogen formuliert
(s. auch Speck 2991).
Was könnten nun vor diesem Hintergrund Aufgabenfelder einer inklusiven<
(Schul-)Psychologie sein? Wo wäre ihr Einsatz besonders notwendig?
1. Individuelle Orientierung im Rahmen von Heterogenität
Heterogenität war schon immer Bestandteil schulischer Erziehung, doch im Kontext von Inklusion wird sie natürlich erheblich größer und erfordert ein erheblich stärkeres Maß an Individualisierung der Förderung. Individuelle (Förder-)Diagnostik und Förderplanung gehören zu den traditionellen Aufgaben der Psychologie. Hier ist eine stärkere Inanspruchnahme und Einbeziehung dieser Profession unbedingt notwendig. Eine >inklusive< Psychologie kann sich nicht zum Ziel setzen, eine Diagnostik zu betreiben im Sinne der Zuordnung von Schülern zu Intelligenzkategorien wie sie die Normalverteilung vorgibt (auch im Sinne der ICD-10) , sondern im Sinne einer Kompetenzorientierung mit Ableitung entsprechender Fördermaßnahmen.
2. Keine >Pathologisierung< von Schülern, sondern >Verstehen<
Neben der bereits skizzierten >Intelligenzdiagnostik< geht oft einher eine psychiatrisch orientierte Zuordnung zu >Krankheitsbildern< katalogisiert in der ICD-10 und DSM-IV-TR). Neben der Kategorisierung >Behindert- Nicht-Behindert< wird eine weitere Kategorisierung geschaffen >Behindert plus Psychisch gestört<. Insbesondere bei Schülern mit geistiger Behinderung trägt dieses Vorgehen wenig bei zu eine tragfähigen Förderung., hier ist eine >verstehende< Diagnostik notwendig unter Berücksichtigung der Lebensgeschichte, des Lebensumfeldes, spezifischer Ausdrucksweisen von Menschen mit Behinderungen und Nachvollziehen subjektive Sinnhaftigkeit ihres Verhaltens. (a. a. O. S.263)
3. Sozial-emotionale Entwicklung >aller Schüler<
Der Kernpunkt inklusiver Beschulung sollte die Förderung der sozial-emotionalen Entwicklung und Entwicklung des Selbst bei Schülern bisheriger Förderzentren sein. Bei den Schülern der bisherigen Regelschulen soll die Akzeptanz behinderter Kinder und das soziale Denken gefördert werden. In de inklusiven Schule muss in stärkerem Maße das Beziehungsgefüge zwischen den Schülern und deren sozial-emotionaler Entwicklung ein großes Thema sein. Aufgrund der Heterogenität und sehr differierenden Bedingungen innerhalb der Schülerschaft sind hier besondere Sensibilität und gegebenenfalls Interventionen notwendig.
4. Verständnishilfen für Schüler mit Besonderheiten
Als Teil der Disziplin >Psychologie der geistigen Behinderung< wären hier Erkenntnisse mitzubringen, die für alle Beteiligten am Inklusionsprozess absolut notwendig sind… Erforschung von >Verhaltensphänotypen< …. Verhaltensspezifika für bestimmte Syndrome wie z. B. Down-Syndrom, William-Beuren-Syndrom… (Seidel 2002; Sarimski 2003)…
5. Entwicklung und Kooperation von Pädagogen
Im Bereich der Förderzentren war der Einsatz verschiedener Berufsgruppen schon immer üblich, im Bereich der Regelschulen bisher eher nicht… (a. a. O. S.264)
6. Schule mehr als nur Schule, sondern als Lebensraum
Die inklusive Schule sollte vom Förderzentrum lernen und das erweiterte Konzept übernehmen, den Schülern mehr als nur Wissensvermittlung zu bieten, sondern einen Lebensraum, gemeinsam mit einem Hort oder einer Heilpädagogischen Tagesstätte (bezogen auf bayerische Verhältnisse). Gerade zu einem solchen Konzept könne Psychologie eine wichtige Hilfestellung bieten, um sozial-emotionale Komponenten stärker einzubringen (siehe oben Punkt 3).
7. Stärkere Gewichtung des Fachgebietes Psychologie
Die eschreckend niedrigen Versorgungszahlen des traditionellen Schulbereichs dürfen für eine inklusive Beschulung nicht zum Vorbild genommen werden. Für die Schüler mit Beeinträchtigungen im sozialrechtlichen Sinne wäre dies ein absoluter Rückschritt…
8. Keine Reparaturfunktion, sondern Miteinbeziehung von Beginn an
Der traditionellen Schulpsychologie wurde eingangs vor allem die systemstabilisierende >Repair<-Funktion als Kritik vorgeworfen. In einer neugeschaffenen inklusiven Schule sollen nicht Psychologen die Reparaturinstanz für wenig geglückte Miteinbeziehung von Kindern mit Beeinträchtigung missbraucht werden, sondern sie sollen den Prozess der Annahme der Kinder von beginn an begleiten und gegebenenfalls korrigieren und modifizieren,
… (a. a. O. S.265)
Reinhard Lelgemann
Arbeit muss möglich sein! – Auch in inklusiven Zeiten! Arbeits(un)möglichkeiten
für Menschen mit schweren mehrfachen Behinderungen
Die UN-Erklärung der Rechte behinderter Menschen formuliert
in Artikel 27, Absatz 1 das Recht auf Arbeit in einem inklusiven Arbeitsmarkt
zu Bedingungen, die es ermöglichen den Lebensunterhalt durch Arbeit zu
verdienen. Die Diskussion der UN-Deklaration und anderer aktueller politischer
Dokumente etwa dem Bericht RehaFutur (Deutsche Akademie für Rehabilitation
2009), dem Nationalen Aktionsplan der Bundesrepublik 2011) oder des Fachkonzept
für Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich in Werkstätten für
behinderte Menschen der Bundesagentur für Arbeit (2010), machen gleichzeitig
deutlich, dass zum wiederholten Mal der Personenkreis der Menschen mit sehr
schweren Beeinträchtigungen keine spezifische Beachtung findet. Dies gilt
selbst für den im Jahr 2011 vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen
vorgelegen Entwurf eines neuen Teilhabegesetzes, in dem Menschen mit schwersten
Behinderungen nur am Rande vorkommen…
Damit sollen die Initiativen, z. B. für inklusive Arbeitsmöglichkeiten auf dem
allgemeinen Arbeitsmarkt keineswegs in Frage gestellt werden, doch es soll
gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Forderung der
UN-Konvention für alle Menschen gelten soll und nicht nur für diejenigen, die
eine unmittelbare Chance haben, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein.
1 Zum Personenkreis
Die Gruppe der Menschen mit sehr schweren oder schwersten
Beeinträchtigungen wird oftmals entsprechend der Herkunft des Autors oder des
Angebotsträges unterschiedlich beschrieben… (a. a. O. S.269)
In einer 2011 als Entwurf vorgelegten und 2012 veröffentlichen Erklärung des
Arbeitskreises >Bildung und Arbeit für alle Menschen mit sehr schweren
Behinderungen<< (2011) mit dem Titel >Diskriminierung beenden –
Rechtsanspruch auf berufliche Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen
mit schwerer geistiger und/oder mehrfacher Behinderung sicherstellen<, wird
der Personenkries wie folgt beschrieben:
>Menschen mit schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen meint
Menschen, die aufgrund von schweren Beeinträchtigungen mentaler, sensorischer
Funktionen sowie Stimm- und Sprechfunktionen, oft verbunden mit mehr oder
wenig3er ausgeprägten Schädigungen neuromuskuloskeletaler, bewegungsbezogener
Funktionen einen höheren Unterstützungsbedarf aufweisen, um am
gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.< … Menschen mit komplexem
Unterstützungsbedarf (vgl. Fornefeld 2008)…
Auch wenn zahlreiche weitere Autoren mit einer solchen Beschreibung immer auch
eine geistige Beeinträchtigung verbinden, so muss darauf aufmerksam werden,
dass dies nicht immer angenommen werden kann…. (a. a. O. S.270)
2 Arbeit Tätigkeit und Bildung
Allerdings stellen sich viele Mitarbeiter die Frage, welche
Bedeutung Arbeit oder arbeitsähnliche Angebote für Menschen haben, deren
tägliche Lebensgestaltung bereits ausgesprochen komplex ist und die hierzu in
einem hohen Maß die Hilfe von Assistenten benötigen..
In einer Befragung von 386 Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen
(WfbM) und Tagesförderstätten im Jahre 1996, die sich selbst als Personen
beschrieben, die für mehrere Stunden am Tag auf Hilfe anderer angewiesen waren
und die nur schwer sprachlich kommunizieren konnten, ergab sich, dass der
Wunsch, >einer sinnvollem Arbeit nachgehen zu können< zu den drei
wichtigsten Wünschen gehöre…
Wichtig waren ebenfalls stabile Beziehungen zu akzeptierten Personen, um
Kommunikation und eine angemessene Versorgung in allen Bereichen (auch Hilfe
beim Essen, der Pflege und Hygiene) zu ermöglichen. Mit ihrem in der Werkstatt
… verdienen Entgelt waren sie eher nicht zufrieden, wobei diese Frage
allerdings weniger bedeutsam erschien…(a. a. O. S.271)
3 Zur Geschichte der Angebote für Menschen mit sehr schweren und mehrfachen Behinderungen oder >Ganz lange habe ich nur im Rollstuhl gelegen…
Bis Mitte der 1980er-Jahre hatten sich die damals
sogenannten Werkstätten für Behindere von Beschützenden Einrichtungen zu
Arbeitsstätten entwickelt, die vielfältige wirtschaftliche Angebote
einbrachten. Diese bestanden zu einemgroßen Teil aus sich wiederholenden
Aufgaben, die nach einer längeren Trainingsphase zumeist selbständig ausgeführt
werden konnten. Arbeiten in den Bereichen Montage, Verpackung, einfache
Installationsaufgaben konnten zumeist durch Menschen erbracht werden, die keine
feinmotorischen Probleme hatten, die einer gewissen Anleitung bedurften, danach
aber über längere Phasen produktiv tätig sein konnten. Neben diesen Aufgaben
entwickelten die WfB aber auch zunehmend eigenständige Angebote oder
spezialisieren sich in kleineren Wirtschaftsbereichen, wie der damals
beginnenden ökologischen Landwirtschaft, der Holzverarbeitung im Bereich
Eigenfertigung und mehr. Da die WfB gleichzeitig Einrichtung der sozialen Rehabilitation
und ökonomischer Betrieb war, bestand und besteht ein großes Interesse an einem
guten wirtschaftlichen Ergebnis. So wurden als Gruppenleiter vor allem
produktionsorientiere bzw. handwerklich erfahrene Fachkräfte angeworben, die
pädagogische Qualifikation hatte eher Bedeutung im Sozialen Dienst… Einzig im
Bundesland Nordrhein-Westfalenerhielten die Werkstätten den Auftrag, alle
Menschen mi Behinderung… aufzunehmen. Dies führe dazu, dass viele Werkstätten
für behinderte Menschen (WfbM), so die offizielle derzeitige Bezeichnung,
eigene Gruppen für Menschen mit sehr schweren und mehrfachen Behinderungen
einrichteten….
Auch auf dem Gebiet der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR)
wurden Menschen mit sehr schweren und mehrfachen Behinderungen nicht als
rehabilitationsfähig angesehen…. (a. a. O:. S.274)
Obwohl damit bewiesen war, dass die Nichtbeteiligung an Arbeitsprozessen
weniger an den Problemen der einzelnen Menschen festzumachen war, sondern eher
an der Bereitschaft der einzelnen WfbM hier rehabilitative Aufgaben
verantwortlich zu übernehmen, enthielt auch das novelliere Sozialgesetz IX und
die dazugehörige Werkstättenverordnung im § 136 weiterhin die Möglichkeit,
Menschen aus dem Arbeitsbereich der Werkstäten auszusondern….(a. a. O. S.276)
…Die Fähigkeit zur aktiven Mitarbeit darf keine Voraussetzung einer solchen
sein, sondern muss auch als Ergebnis vielfältiger, durch die Einrichtung zu
organisierender arbeitsweltbezogener Bildungsprozesse begriffen werden.
4 Aktuelle Entwicklungen
In den Jahren 2007 bis 2010 konnten Terfloth und Lamers
weitere Untersuchungen zu Situation der Menschen mit sehr schweren
Behinderungen in Werkstäten und vergleichbaren Einrichtungen im Rahmen des
Forschungsprojekts SITAS (Sinnvolle produktive Tätigkeit fgr Menschen mit
schwerer und mehrfacher Behinderung zur Teilhabe am kulturellen Leben)
realisieren. Erneut zeigten diese Forschungen einen ausgesprochen
unterschiedlichen stand der Entwicklung, machten aber vor allem deutlich, dass
eine arbeitsweltbezogene Bildung bis in die Gegenwart hinein kaum realisiert
wird…. (a. a. O.S.277)
… Als skandalös muss geradezu der Einsatz kurzfristig wechselnder Mitarbeiter,
wie Zivildienstleistende, Mitarbeiter im Sozialen Jahr oder von
400-Euro-Kräften bezeichnet werden. Völlig unbekannt waren Mitarbeiter aus
einem technischen oder handwerklichen Beruf mit entsprechenden
Zusatzqualifikationen… ([vgl.] Lamers und Terfloth) (a. a. O.
S.278)
4 >Ich kann mehr…<
… als viele Kostenträger denken und viele Einrichtungen sehen
wollen.
Diese Aussage steht am Anfang des 2011 erschienen gleichnamigen Buches des
Vereins >Leben mit Behinderung, Hamburg<, in dem das oben beschriebene
Projekt Feinwerk vorgestellt und diskutiert wird….
Persönlich sinnvoll erlebte Arbeit, ausgeübt von Menschen mit sehr schweren Behinderungen, die durch arbeitsweltbezogene Bildungsangebote vorbereitet wird, muss bundesweit auch in Zukunft möglich sein – gerade auch in inklusiven Zeiten! (a. a. O. S.280)
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Heinz Klippert
Heterogenität im Klassenzimmer
Wie Lehrkräfte effektiv und zeitsparend damit umgehen können
Beitz Verlag Weinheim und Basel 2010 ISBN 978-3-407-62683-7
Umschlagtext
Gezeigt wird, wie die Schüler/innen zeitnah und flexibel Unterstützung
erfahren und durch wechselnde Lerntätigkeiten, Lernpartner und Lernmethoden
immer wieder Anschluss finden können. Ohne dass die Lehrkräfte ständig direkt
eingreifen und beraten müssen. Diese indirekte Förder- und Integrationsarbeit
ist machbar und wirksam!
Kernpunkte sind kooperatives Lernen, dosierter Wahlunterricht,
Lernkompetenzförderung, differenzierte Aufgaben und konsequenter
Arbeitsunterricht. Das Grundprinzip: Die Schüler/innen helfen, kontrollieren
und erziehen sich gegenseitig. Das sichert Lehrerentlastung und
Schüleraktivierung…
Vorwort
Ich bin in die heterogenste Schule gegangen, die man sich
wohl vorstellen kann. Acht Jahre lang. Eine einklassige Volksschule in einem
200-Seelen-Dorf in Nordhessen. In einem größeren Raum eines gemeindeeigenen
Gebäudes waren sie alle versammelt: die Jüngeren und die Älteren, die
Leistungsstarken und die Leistungsschwachen, die Armen und die Reichen,
die Motivierten und die Desinteressierten, die Guterzogenen und die
Vernachlässigten, die Braven und die Verhaltensgestörten. Und alle haben von
der >chaotischen Situation< relativ viel profitiert: Die Cleveren haben
ihre Selbständigkeit entwickelt und sich immer wieder als Hilfslehrer und
Miterzieher in der Klasse betätigen müssen und dadurch sowohl in der Sache als
auch in punkto Schlüsselqualifikationen eine Menge lernen können. Und die
Schwächeren? Sie sind nie wirklich allein gelassen worden, sondern konnten auf
das organisierte Miteinander- und Voneinanderlernen im Klassenraum zählen. Das hat
sie gestärkt und ermutigt….
Dieses konzertierte Arbeiten war ein Muss und eine Chance – für die Lehrer- wie
für die Schülerseite . Ein Muss deshalb, weil sich unser Dorfschullehrer
unmöglich persönlich um alle Schüler/innen kümmern konnte… Niemand hat
über die heterogene Schülerpopulation in unserer Dorfschule geklagt – weder die
Eltern noch unser Lehrer noch gar wir Kinder… (a. a. O. S.11)
Heterogenität wirkt produktiv und ist nur so lange ein Problem, wie Lehrkräfte
davon träumen, dass homogene Schülergruppen alles besser und leichter machen…,
Die schulische Realität sieht de facto so aus, dass Heterogenität in den
Klassenzimmern weiter zunehmen wird…. Kein Fluch
… sondern eher ein Segen….
Natürlich setzt diese positive Sicht der Dinge einiges voraus: Zum Ersten muss
sich das Berufs- und Rollenverständnis der Lehrkräfte anpassen. Zum Zweiten
bedarf es einer verstärkten Qualifizierung der Schüler… in puncto selbständiges
und kooperatives Lernen… (a. a. O. S.12)
Einleitung
… Weder die Lehrerausbildung noch die innerschulische Arbeit
leisten den nötigen Beitrag… Die Tatsache, dass in Deutschland Jahr für
Jahr je eine Milliarde Euro für Nachhilfeunterricht sowie für die
>Beschulung< von Sitzenbleibern ausgegeben wird, spricht Bände…
In den meisten OECD-Ländern ist das gemeinsame Lernen seit Langem eine
Selbstverständlichkeit – zumindest bis zur neunten Klasse. Die PISA-Erfolge
dieser Länder machen deutlich, dass der dort praktizierten integrative Ansatz
offenbar weder zu Lasten der Kinder und ihrer Eltern noch zu Lasten des
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs geht…
Finnland z.B. hat bis Ende der 1960er Jahre nahezu das gleiche dreigliedrige
Schulsystem wie Deutschland gehabt… und den Entschluss gefasst, die Grundschule
auf zehn Jahre auszudehnen und verbindlich integrierte Gesamtschulen zu
schaffen.,.. (a. a. O. S.14,15)
Die Erfolge, die das finnische Schul- und Bildungssystem seither erzielt hat,
sprechen für die Richtigkeit und Angemessenheit dieses Weges…
Das beginnt bei der gekonnten Differenzierung der Lernangebote und reicht über
die gezielte Förderung von Lernkompetenzen und Lernberatungen bis hin zum
Ausbau des kooperativen und handlungsorientierten Lernen und Arbeitens in den
Klassen…..
Das gilt nicht zuletzt für die Gymnasien. Gingen z. B. bis in die späten
1960er-Jahre hinein durchschnittlich sechs bis zehn Prozent eines
Schülerjahrgangs ins Gymnasium, so sind es mittlerweile in vielen Städten und
Regionen 40 und mehr Prozent. So gesehen ist das Gymnasium unter der Hand
zur >Haupt<-Schule geworden – mit einem äußerst breiten Spektrum an
Begabungen, Neigungen und familiären Hintergründen der Schüler… Im
Notfall steuern die betreffenden Eltern eben spezielle Privatschulen an.
Die Frage ist nur, wem mit diesen Homogenisierungsbestrebungen tatsächlich
gedient ist. Wie neuere Untersuchungen belegen, ist Heterogenität ein durchaus
belebendes und leistungsförderndes Moment – auch für die >Höherbegabten<
…. (a. a. O. S.15)
… Die Verteilung der Schülerschaft auf >gute<, >mittlere< und
>schlechte< Schüler ist und bleibt ein fragwürdiges Relikt aus
vergangenen, ständestaatlich geprägten Zeiten. Zu einer lebendigen
Demokratie passt sie ebenso wenig wie zur modernen Informations- und
Wissensgesellschaft mit ihrem ausgeprägten Bedarf an anspruchsvollen
Kompetenzen und Kompetenzförderungsmaßnahmen. Wie allseits bekannt ist,
verlangt die moderne Lebens-, Berufs- und Arbeitswelt, dass die Heranwachsenden
möglichst frühzeitig lernen, mit ganz unterschiedlichen Menschen und Talenten
sensibel und konstruktiv umzugehen…
Wenn jeder nur an sich denkt und nur mit seinesgleichen zusammenarbeiten will.
Dann sind der Ab- und Ausgrenzung Tür und Tor geöffnet. Von daher sind äußere
und innere Differenzierungsmaßnahmen im Schulbereich eher mit Vorsicht zu
genießen… Die Motivierten bekommen Futter, die Unmotivierten werden eher links
liegen gelassen…
die schwächeren Lerner… laufen… damit Gefahr…, ihre eigenen
>Minderwertigkeitsgefühle< immer weiter zu kultivieren…
Mit ihren lehrerzentrierten Verfahren, ausgeprägten Einzelarbeiten,
schülerfernen Aufgaben, abstrakten Paukereien, sterilen Klassenräumen,
fragwürdigen Sitzordnungen etc. tragen zahlreiche Lehrkräfte dazu bei, dass
viele Schüler… weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben…
Letzteres gilt vor allem für die zahllosen praktisch-anschaulichen Lerner, die
erwiesenermaßen eher Gruppenarbeit als Einzelarbeit, eher praktisches Tun als
beflissenes Zuhören brauchen, wenn sie motiviert und erfolgreich lernen sollen…
(a. a. O. S16,17)
Viele Lehrkräfte… fühlen sich eher dazu berufen, ihrer Fachwissenschaft und
Fachdidaktik zu folgen, anstatt Schüler… dort abzuholen, wo sie begabungs- und
neigungsmäßig stehen. Die meisten Sekundarstufenlehrkräfte sehen sich
eher als Wissensvermittler denn als >Entwicklungshelfer< ihrer
Schüler…Ihr Kerngeschäft ist und bleibt das Unterrichten und Erziehen, das
Beobachten und Beraten, das Ermutigen und Moderieren, das Integrieren und
Inspirieren von Schülergruppen, die nicht von vornherein interessiert und
gleichgesinnt in Erscheinung treten…. (a. a. O. S.17)
Kaum ein Elternabend, eine Lehrerkonferenz oder ein Lehrerverbandsmeeting
vergeht, ohne dass über unzumutbare Heterogenität in den Klassenzimmern geklagt
wird. Dabei geht es gar nicht allein um Kinder mit klar diagnostizierten
Beeinträchtigungen bzw. Lernproblemen…, für die in der Tat spezielle
Fördermaßnahmen notwendig sind.*) Nein, kritisiert wird meist sehr generell,
dass das gemeinsamen Lernen von Schwächeren und stärkeren, von Ambitionierten
und weniger Interessierten, von Fleißigen und Faulen, von Braven und
Verhaltensschwierigen, von Langsameren und Schnelleren eher unzumutbar sei und
vor allem zu Lasten der clevereren Schüler-… in den Klassen gehe. Die
Fragwürdigkeit dieser Klage wird im vorliegenden Buch noch näher belegt
werden….
*) OECD-Länder wie Finnland, Kanada und Australien machen es vor. Dort stehen
den Klassen- bzw. Fachlehrern… zahlreiche pädagogische Hilfs- und Spezialkräfte
zur Seite, sofern spezieller Betreuungs- und/oder Differenzierungsbedarf
bestehen sollte. Das schließt konkrete Fördermaßnahmen außerhalb des
Klassenverbandes ebenso mit ein wie gezielte Doppelbesetzungen bzw.
Assistenzlehrereinsätze im Unterricht selbst. Dafür wird auch richtig Geld in
die Hand genommen… (a. a. O. S.18,19)
Teil II bildet den Hauptteil des Buches. Auf mehr als 160 Seiten wird
dargelegt, wie Lehrkräfte heterogene Lerngruppen effektiv und zeitsparend
>managen< können. Alltagstauglichkeit ist dabei das Schlüsselwort.
Kernpunkte sind kooperatives Lernen, Lernkompetenzförderung und konsequenter
Arbeitsunterricht in den Klassen… Das sichert Lehrerentlastung und inspiriert
und integriert die unterschi9edlichen Schülertalente… Eine exzessive
Individualisierung und Differenzierung ist weder praktikabel noch pädagogisch
sinnvoll….
(a. a. O: S.19)
Abgestellt wird auf klare Lehrerlenkung und vielfältige Lerntätigkeiten der
Schüler…, auf wechselnde Zufallsgruppen und differenzierte Aufgabenstellungen,
auf gegenseitiges Helfen und regelgebundenes Erziehen, auf kleinschrittiges
Vorgehen und konsequentes Reflektieren…
Teil III … ist den schul- und bildungspolitischen Konsequenzen
gewidmet..
….Wenn einzelne Schüler/innen etwa kaum Deutsch können, dann können ihnen ihre Fachlehrer/innen natürlich auch nicht recht weiterhelfen. Von daher sind z.B. mehr Sprachtraining vor Schuleintritt, zusätzliche Förderkräfte, kleinere Klassen, praxisgerechtere Lehrerausbildung , höhere Sachmitteletats, innovative Evaluationsmaßnahmen [Auswertungs-M. WW] u. a. m. wichtige und hilfreiche flankierende Maßnahmen… (a. a. O. S.20)
1.1 Heterogenität kennt viele Spielarten
Typisch für das gegliederte Schulwesen ist das Bemühen um
eine möglichst ausgeprägte >Homogenisierung< der Schülerschaft. Die
Verschiedenheit der Schüler… wird als Belastung gesehen, die es zu minimieren
gilt… >Heterogenität im Klassenzimmer< kann vieles bedeuten:
Leistungs-, Verhaltens- oder Altersheterogenität ebenso wie
geschlechtsspezifische, sozialkulturelle, sprachliche, gesundheitliche oder
migrationsbedingte Heterogenität (vgl. Wenning 2002, S.25f.) Was also soll
reduziert werden? Die Unterschiedlichkeit von Kindern ist derart facettenreich,
dass das Streben nach Homogenität nachgerade utopisch anmutet. Hinzu kommt,
dass Heterogenität ja nichts Statisches ist, sondern selbst wiederum der
Entwicklung unterliegt…. Außerdem besagen homogene Schülerleistungen noch lange
nicht, dass auch andere Schülermerkmale übereinstimmen. So können kognitiv
starke Schüler… z.B. sehr verhaltensschwierig sein, oder leistungsschwache
Kinder können sich unter Umständen als sehr kreativ und sozial erweisen. So
gesehen ist das gängige Streben nach homogenen Schülergruppe ein höchst
zweifelhaftes Unterfangen. (a. a. O. S.24,25)
… Die Gefahr der >Self-fulfilling Prophecy< ist groß. Will sagen: Wer
z.B. am Ende der vierten Klassenstufe als leistungsfähig eingeschätzt und für
das Gymnasium empfohlen wird, wird in der Regel alles daransetzen, dieses
>Vorurteil< seiner Lehrer (und Eltern) zu bestätigen und gerät fast
zwangsläufig in einen Aufwärtssog. Wer dagegen de Haupt- oder Förderschule
zugeordnet wird, wird in der Regel ebenfalls geneigt sein, die entsprechende
Negativ-Prognose zu bestätigen und gerät eher in einen Abwärtssog. Das sind
fatale Wechselwirkungen…. Unsicherheiten und Ungerechtigkeiten… Heterogenität
ist schlicht und einfach ein Faktum – und eine Herausforderung… Hier muss
umgedacht werden. Heterogene Lerngruppen sind nicht nur normal, sie sind auch
chancenreich… Je bunter das Spektrum der Schülerbegabungen und –interessen ist,
desto größer sind in der Regel auch die daraus erwachsenden Synergieeffekte –
vorausgesetzt, die einzelnen Unterrichtsstunden werden entsprechend anregend,
handlungsbetont und kooperationsfördernd gestaltet… (a. a. O- S.29) … Die
gängigen Leistungsnormen werden in der Regel so stark kognitiv gefasst, dass
Kinder mit anderen Begabungsschwerpunkten über Gebühr abgewertet werden.
Leistungs- und entwicklungsfördernd ist das wohl kaum. Dadurch werden nicht nur
Bildungschancen zerstört, sondern so manche persönlichen und familiären Dramen
ausgelöst… Nach… Bildungsstatistiken …. gilt für die Gruppe der 15-Jährigen,
dass erschreckende 24 Prozent von ihnen während der Schulzeit mindestens einmal
sitzenbleiben. In der Hauptschule gilt das sogar für 42 Prozent der Probanden
(vgl. Krohne/Meier, 2004, S.121). >Damit gehört Deutschland bei den
Klassenwiederholungen zu den internationalen Spitzenreitern< (Tillmann 2004.
S.7; vgl. außerdem PISA 2000, S.473 und S.413)…
Der oft unterstellte Fördereffekt wird durch das Sitzenbleiben in der Regel
nicht erreicht, sondern eher das Gegenteil davon… (vgl. PISA 2000, S.473 ff.)
… Gleichzeitig verleiten die bestehenden >Abschiebemöglichkeiten<
viele Lehrkräfte dazu, etwaige Problemschüler… vorschnell ins Abseits zu
stellen. Die eigentlich notwendigen Fördermaßnahmen werden guten Gewissens
minimiert… Opfer des gegliederten Schulwesens sind aber nicht nur Schüler…,
sondern immer wieder auch ambitionierte Lehrkräfte. Das gilt vor allem für den
Hauptschulbereich, wo vielerorts mittlerweile eine Situation erreicht ist, dass
selbst engagierte Pädagogen resignieren. Ihre pädagogischen Instrumente greifen
kaum noch. Desinteresse, Mobbing, Absentismus, Aggressivität, Gewalt und andere
Lern- und Verhaltensdefizite … (a. a. O. S.27)
… Nahezu ein Viertel der 15-Jährigen gilt heutzutage als nicht ausbildungsreif
(vgl. PISA 2000; Schlotmann/Sprenge 2008, S.19; Bildungsbericht 2006,
S.67). Das ist wahrlich alarmierend! Doch was geschieht? Es wird weiter
selektiert…
1.2 Elternwille und Schülerselektion
Die Beständigkeit des gegliederten Schulwesens ist u. a.
eine Folge des Elternwillens. Das Gros der erziehungsberechtigten neigt
unverändert dazu, die eigenen beruflichen und privaten Erfolge den
Besonderheiten und Angeboten der jeweils besuchten Schulart zuzuschreiben. Da
niemand weiß, was unter anderen Vorzeichen möglich gewesen wäre….
War das Gymnasium bis in die späten 1960er-Jahre hinein noch eine relativ
exklusive Bildungseinrichtung für eine eng begrenzte >Oberschicht<, so
hat sich das seither gravierend verändert. Während seinerzeit durchschnittlich
sechs bis zehn Prozent eines Schülerjahrgangs zum Gymnasium gingen, sind es
heute in vielen Bundesländern zwischen 40 und 50 Prozent… So gesehen ist das
Gymnasium mittlerweile die am häufigsten gewählte Schulart – gefolgt von der
Realschule, für die sich deutschlandweit 2006/2007 immerhin noch 24,8 Prozent
der Eltern entschieden. … (a. a. O. S.28) … Das führt … dazu, dass das
Gymnasium zunehmend zur >Gesamtschule< wird – mit all den damit
verbundenen pädagogischen und methodischen Herausforderungen. Der Trend geht
deutlich hin zur Zweigliedrigkeit, mit dem Gymnasium auf der einen und der
stärker praxisbezogenen >Realschule< auf der anderen Seite. Diese
Entwicklungstrends unterstreichen die wachsende Bedeutung heterogener
Lerngruppen – nicht zuletzt in den Gymnasien. …
Fachwissen allein reicht nicht. Soziale, methodische, sprachliche und andere
Kompetenzen müssen zwingend hinzukommen. Dazu bieten heterogene Schülergruppen
beste Lernchancen. …
1.3 Ernüchternde Forschungsbefunde
Das gegliederte Schulwesen ist alles andere als ein
Erfolgsgarant. Das zeigt die Schul- und Unterrichtsforschung der letzten Jahre.
… (a. a. O. S.29)
… Lernen in heterogenen Gruppen ist… gewiss kein >Leistungskiller<…
… Gerade dort, wo die Schüler… gemeinsam unterrichtet werden – also die
Homogenität misslingt - … sind… die Schulerfolge besonders gut. Begründet liegt
das u. a. darin, dass in heterogenem Gruppen gemeinhin sehr viel gezielter und
konsequente gefördert wird als in vermeintlich homogenen Lerngemeinschaften. In
heterogenen Systemen ist es für die Lehrkräfte beinahe selbstverständlich, dass
sie differenziert fordern und fördern müssen. In gegliederten Systemen dagegen
neigen viele eher dazu, die Förderaufgabe zugunsten der Selektion
zurückzustellen. (a. a. O. S.30) … Die Konsequenz sind mäßige Lernerfolge
(vgl. OECD 2005, S.458).
Ein weiterer ernüchternder Befund ist der, das es das gegliederte Schulwesen
offenbar nicht schafft, für die unterschiedlichen Kinder angemessene
Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. Die soziale Herkunft der Kinder
determiniert nach wie vor in hohem Maße die Schulwahl und den Lernerfolg der
Kinder. >In kaum einem anderen Land bestimmt die soziale Herkunft so sehr
den Schulerfolg wie in Deutschland< (Prenzel 2005, S.81; vgl. außerdem PISA
2000 sowie Ratzki 2007, S.67)
… Bei gleich schwachen Schülerleistungen gelingt es Oberschichteltern
signifikant häufiger, ihren Kindern den Besuch der Hauptschule zu ersparen als
den Eltern aus der Unterschicht (vgl. Bildungsbericht 2006, S.50).
Chancengerechtigkeit sieht anders aus.
Irritierend ist ferner, dass nur 12 Prozent der Arbeiterkinder, aber 70 Prozent
der Beamtenkinder von der Grundschule zum Gymnasium wechseln. Eine ähnliche
Unterrepräsentanz gilt für die Gruppe der Migrantenkinder. Nur neun Prozent von
ihnen besuchen ein Gymnasium, aber 50 Prozent landen in der Hauptschule (vgl.
Tillmann 2004, S.8; vgl. auch PISA 2000, S.373). Die Gruppe der Migrantenkinder
trifft es demnach besonders hart…. Letzteres hängt zwar sicherlich auch damit
zusammen, dass es Sprachbarrieren, Traditionen und bildungsferne Elternhäuser
gibt… eine hinreichende Erklärung für die erwähnten Benachteiligungen ist das
aber nicht. (a. a. O. S.31)
Dass es freilich auch anders geht, zeigen die positiven Erfahrungen mit
sogenannten >Integrationsklassen<, wie sie seit vielen Jahren existieren.
Diese Klassen sind trotz oder wegen ihrer ausgeprägten Heterogenität nicht nur
relativ erfolgreich, sondern sie werden von den Betroffenen auch durchweg gut
bewertet (vgl. Dumke/Schäfer 1993 sowie Ratzki 2007, S.67). Ähnlich positive
Rückmeldungen erfährt der Grundschulbereich. Wie die Schulforschung zeigt,
beweisen die Grundschulen seit Jahr und Tag, das integrierte Systeme
erfolgreich zu arbeiten vermögen. Von ihren Lern- und Leistungsergebnissen her
liegen die deutschen Grundschulen im internationalen Vergleich im obersten
Viertel (vgl. Spiwak 2008, S.27). Das gilt auch für die in den IGLU-Studien
ermittelte Lesefähigkeit. Hinzu kommt, dass es dem Grundschullehrer…n offenbar
recht überzeugend gelingt, Lernfortschritt und soziale Herkunft der Schüler… zu
entkoppeln und die unterschiedlichen Milieus und Kulturen zusammenzuhalten
(vgl. ebenda). So gesehen bedarf die These von der Überlegenheit des
gegliederten Schulwesens dringend der Revision….
Handlungsorientierung, Differenzierung und individuelle Förderung gehören seit
Langem zum Standard im Primärbereich und tragen maßgeblich dazu bei, dass die
Unterschiedlichen Kinder zum Zuge kommen… Den Gipfel der kumulativen
Benachteiligung erlebt man in vielen Hauptschulen, wo es kaum noch Zugpferde
und Vorbilder gibt…
1.5 Die Gesamtschule als Perspektive?
Die Errichtung integrierter Gesamtschulen ist eine
mögliche Antwort auf die skizzierten Problemlagen und Ungerechtigkeiten. Die
erfolgreichen PISA-Länder legen es eigentlich nahe…. (a. a. O. S.32)
… Warum also nicht vollintegrierte Systeme nach skandinavischem Vorbild bis
Klasse neun oder zehn auch in Deutschland einrichten?
Man muss kein Prophet sein, um den Widerstand absehen zu können…
Das beginnt mit der >Einheitsschule< als Aushängeschild der ehemaligen
DDR, die an Drill und Indoktrination denken lässt, und reicht bis hin zum
vermeintlichen Versagen der westdeutschen Gesamtschulen während der letzten
Jahrzehnte… Verwiesen wird auf die mangelhaften Lern- und Leistungsergebnisse
der Gesamtschulen…
Übersehen wird…, dass wir seit den 1970-Jahren im Sekundarbereich eigentlich
nie wirkliche Gesamtschulen hatten, da immer auch andere Schularten zur Auswahl
standen. [Fettdruck durch WW]
Die Gesamtschulen in Westdeutschland waren nie vollintegrierte, sondern immer
nur teilintegrierte Systeme. Dementsprechend fehlten die Leistungsspitzen
aus ambitionierten Elternhäusern in hohem Maße. Die gleichzeitige Existenz von
Realschulen und Gymnasien brachte es mit sich, dass das Gros der
leistungsstarken Schüler… dorthin abwanderte. Das gilt bis heute. So gesehen
finden sich in den betreffenden Gesamtschulen nur eingeschränkte Begabungs-, Leistungs-
und Verhaltensspannen. Die Folge davon ist, dass es vielerorts an den nötigen
Helfer…n und Miterzieher…n mangelt, von denen eine Gesamtschule mit ihrem
erweiterten Integrations- und Förderbedarf unweigerlich zehren muss. Die
Lehrkräfte alleine können die bestehende Heterogenität schwerlich meistern.
Wenn jedoch die nötigen >Schülerassistenten< fehlen, dann gerät die
immanente Balance und Integrationskraft des Systems Gesamtschule beinahe
zwangsläufig ins Wanken. Und genau das ist seit Jahr und Tag der Fall. Von
daher ist es unredlich, die Leistungspotentiale der Gesamtschulen mit denen der
Gymnasien … die Leistungsabschlüsse und –ergebnisse… unmittelbar
gleichzusetzen…
Die Perspektive müsste daher eigentlich die vollintegrierte Gesamtschule
sein. Denn nur diese hat bei PISA, IGLU und anderen Studien aufgrund der ihr
eigenen Förder-, Differenzierungs- und Integrationsmaßnahmen beste Noten
erhalten. Doch ein solcher >Quantensprung< ist hierzulande aufgrund der
bestehenden Traditionen, Denkweisen und Schulstrukturen derzeit eher
illusorisch… (a. a. O. S.33)
1.6 Der Ruf nach neuen Schulstrukturen
Das Ende der Hauptschule naht… … >Kinder brauchen
Lernanreize<, so heißt es in einem Positionspapier de
Baden-Württembergischen Handwerktags. Allerdings sei es > […] mehr als
fragwürdig, ob Selektion hierfür einen positiven Beitrag leistet… <
(Baden-Württembergischer Handwerkstag 2002, S.25)…. Dahinter steht die
berechtigte Einsicht, dass sich die moderne Informations- und
Wissensgesellschaft schwerlich leisen kann, knapp ein Viertel der 15-Jährigen
ohne hinreichende Ausbildungsreife ins Leben u entlassen. Diese
>Risikogruppe< kann nachweislich weder sinnentnehmend lesen noch oberhalb
des Grundschulniveaus rechen (vgl. Prenzel 2005, S.81)… (a. a. O. S.35)
… Die meisten Bundesländer haben die Hauptschulvariante längst zu den Akten
gelegt. Brandenburg hat sie im Jahre 1990 erst gar nicht eingeführt…
Mag sein, dass die radikale Etablierung eines zweigliedrigen Schulsystems
hierzulande noch nicht hinreichend konsensfähig ist…
Schaut man sich die real existierende… bildungspolitisch hoch gehandelte…
Ganztagsschule genauer an, so stellt man ernüchtert fest, dass die meisten von
ihnen eine verbindliche, differenzierte und rhythmisierte Lern- und
Förderarbeit vermissen lassen. Die betreffenden Kinder können zwar ganztags
bleiben, sie müssen es aber nicht. Die Folge ist, dass der Ganztagsbetrieb in
der Regel nur von einem Teil der Schüler… genutzt wird, von denen viele nach
Beginn der Pubertät dann ganz wegbleiben. Diese Unverbindlichkeit führt beinahe
zwangsläufig zu pädagogische und schulorganisatorischer Halbherzigkeit. (a. a.
O. S.36,37) Die Schüler… erhalten ihr Mittagessen in der Schule. Sie erfahren
eine gewisse Betreuung bei den Hausarbeiten und können an der einen oder
anderen Arbeitsgemeinschaft oder Projektarbeit am Nachmittag teilnehmen. Eine
professionell geführte und gestaltete Ganztagsschule sieht freilich anders aus
… verbindliche Schülerteilnahme sowie ein Mehr an professioneller
Differenzierung, Rhythmisierung, Qualifizierung und Förderung im Unterricht…
Das Gymnasium ist und bleibt gesetzt, auch wenn es mittlerweile immer weniger
mit dem zu tun hat, was ursprünglich mal als >elitäre Bildungsstätte für die
deutsche Oberschicht< gedacht war. Das sich abzeichnende
>Zwei-Wege-Modell< mit Gesamtschule bzw. Gemeinschaftsschule auf der
einen und dem Gymnasium auf der anderen Seite dürfte wohl bei den meisten
Lehrerverbänden und Bildungspolitikern als praktikable Kompromisslösung
durchgehen. Mit diesem Kompromiss wird die skizzierte Selektionsproblematik
zwar nicht wirklich behoben, wohl aber in ihrer Wirkung abgemildert. Das ist
mehr als nichts, aber weniger als nötig.
1.7 Die Expansion des Privatschulsektors
Der skizzierte Schulstrukturwandel berührt nicht nur die
Staatsschulen, sondern auch die Privatschulen. Viele Eltern sind irritiert und
suchen nach Alternativen zur >Schule für jedermann<. Die Furcht vor den
unberechenbaren Verhältnissen in den neuen Gemeinschafts-, Gesamt- oder
Regionalschulen sowie das Unbehagen angesichts des Exklusivitätsverlusts vieler
Gymnasien tragen unverkennbar dazu bei, dass eine wachsende Zahl von Eltern
nach Privatschulen Ausschau hält. Zwar liegt der Anteil der privaten an den
allgemeinbildenden Schulen in Deutschland bei gerade mal 7,5 Prozent (in
Österreich sind es 11 Prozent, in Spanien 32 Prozent, in den Niederlanden sogar
70 Prozent), doch die Tendenz ist steigend. Besuchten z. B. 1991 gerade mal 445
000 deutsche Schüler… allgemeinbildende Privatschulen, so waren es 2006 immerhin
schon 656 000 (vgl. Barthel 2007, S.73)… (a. a. O. S.37)
… Da sind zum einen die traditionellen kirchlichen oder reformpädagogisch
ausgerichteten Privatschulen, zum Zweiten einige profilierte Schulneugründungen
von Einzelpersonen oder auch von Privatunternehmen, z.B. die
Phorms-Schulen…<
Die Phorms-Schüler… werden vielseitig und mit modernen Methoden gefordert und
gefördert, ihre unterschiedlichen Talente zu entwickeln und ihre
Erfolgsgewissheit zu stärken. Niemand soll ausgebremst, aber auch niemand
soll durchgeschleift werden … (vgl. Kahl/Otto 2007, S.71) Der Unterricht ist in
der Regel zweisprachig. Die Kinder leben in einer englischsprachigen Umgebung.
Es gibt pädagogische Assistentinnen und vergleichsweise kleine Klassen von ca.
20 Kindern (vgl. Heinemann 2007, S.14) Willkommen sind grundsätzlich Kinder aus
allen Milieus, vorausgesetzt, das Leistungspotential stimmt und das
obligatorische Schulgeld kann bezahlt werden… zwischen 200 und 900 Euro pro
Monat – je nach Einkommen der Eltern (vgl. Kahl/Otto 2007, S.7). … Zur Schule
gehen, wo nicht jeder hingeht, das ist für viele ‚Eltern ein durchaus ernstes
Anliegen. Wenn noch ein innovatives pädagogisches Konzept hinzukommt, umso
besser.
Diese Trends zeigen, dass Konventionen bröckeln und neue Handlungsperspektiven
für ambitionierte und selektionsbedürftige Eltern entstehen … bisher dominieren
die >Idealisten<. Rund 80 Prozent der deutschen Privatschulen sind von
der katholischen oder evangelischen Kirche getragen und verfolgen keinerlei
kommerzielle Interessen… (a. a. O. S.38)
Die Frage ist nur, ob die real existierenden Privatschulen die in sie gesetzten
Erwartungen tatsächlich erfüllen können. Die bis dato vorliegenden
Forschungsbefunde sprechen eher dagegen. Berücksichtigt man die soziale
Herkunft der Privatschüler…, so gibt es offenbar keine großen
Leistungsunterschiede zwischen Kindern in Privatschulen und anderen staatlichen
Schulen… (vgl. Weiß/Preuschoff 2004, S.62; vgl. ferner Barthels 2007, S.73)
Einen moderaten Leistungsvorteil gibt es lediglich für Schülerinnen an reinen
Mädchenrealschulen, die offenbar erfolgreicher lernen, wenn sie unter sich
sind…
Noch problematischer sieht es aus, wenn es um die Chancengerechtigkeit in
Privatschulen geht. Was das staatliche Schulwesen nicht schafft, schafft der
Privatschulsektor erst recht nicht, nämlich die Entkoppelung von sozialer
Herkunft und Bildungschancen der Kinder. Der Degradierungs- und
Ausgrenzungseffekt wird sogar noch größer. Warum? Vor allem wegen des
Schulgeldes, aber auch deshalb. Weil von den betreffenden Eltern ausgeprägte
Mitarbeit und Mitwirkung erwartet werden…
Andererseits attestiert die Schulforschung den Privatschulen durchaus auch
Pluspunkte – insbesondere im pädagogisch-erzieherischen Bereich (vg.
Weiß/Preuschoff 2004, S.59ff.) Diese Pluspunkte betreffen die
Lehrerunterstützung wie die schulinterne Förderkultur, das Schülerverhalten wie
das Lehrerengagement, die Elternarbeit wie die allgemeine Schulzufriedenheit
der Eltern… Diesbezüglich wird einfach mehr getan und investiert… (a. a. O. S.39)
1.8 Der missverstandene Fördergedanke
Das Grundproblem hierzulande ist, die recht einseitige Sicht
des Bildungs- und Förderauftrages. Die Schüler… zu fordern wird vor allem als
Angelegenheit gesehen, der mit institutioneller Selektion zu begegnen ist…
Nur der Schein trügt…. Wenn nämlich alle Schüler…. ähnlich lernschwach sind,
dann werden sie in der Regel nicht viel voneinander profitieren können. Und
wenn alle … Überflieger und/oder fachliche Enthusiasten sind, dann werden sie
vor lauter Einzelarbeit und Spezialistentum in der Regel kaum geneigt sein, die
nötigen sozialen, kommunikativen, kreativen und emotionale Kompetenzen
aufzubauen… Die Opfer dieses Schubladendenkens sind sowohl die
lernstärkeren als auch die lernschwächeren Schüler (vgl. Abschnitt 1.14). (a.
a. O. S40,41)
Vor allem trifft es Letztere…. >Schüler, die unter ungünstigen sozialen oder
kulturellen Bedingungen aufwachsen und dementsprechend häufiger als andere
Schulschwierigkeiten haben, werden noch einmal benachteiligt, wenn sie extrem
ungünstig zusammengesetzten Schülerpopulationen angehören…< (Schürmer 2004,
S.102). Dieses Problem betrifft keineswegs nur die Hauptschulen… Wer
nachhaltige und schülergemäße Förderarbeit leisten will, der muss vor alle,
eines tun, nämlich die unterschiedlichen Potenziale und Talente der Schüler…
positiv aufnehmen und nutzen, ihre Stärken betonen und ihr Miteinander- und
Voneinanderlernen so ausbauen, dass ein Mehr an Selbständigkeit und
Selbstorganisation im Unterricht erreicht wird… (a. a. O. S.41)
… Die Bertelsmann-Stiftung hat diese Option in die Worte gefasst: Eine Förderung aller Kinder und Jugendlichen setze voraus; > […] dass jedes einzelne Kind möglichst frühzeitig und unabhängig von seiner sozialen Herkunft auf vielfältige Art und Weise angeregt und herausgefordert wird. Sie setzt weiterhin voraus, dass jedes Kind die Schule als einen Lern- und Lebensraum erlebt, in dem es sich mit seinen Fähigkeiten angenommen fühlt, in dem es Bestätigung erfährt und in dem ihm die Entwicklung seiner Fähigkeiten zugetraut wird< (Bertelsmann-Stiftung, o. J., S.4)….
2.1 Erinnerungen an die alte Volksschule
Bis in die 1960er-Jahre hinein ging das Gros der Schüler… in
die sogenannte Volksschule. Sie umfasste in der Regel die Jahrgangsstufen eins
bis acht. Daneben gab es ab der vierten Klasse nur noch eine ernsthafte
Alternative: das Gymnasium. Zum Gymnasium gingen meist weniger als zehn Prozent
des Schülerjahrganges. Das waren im ländlichen Bereich häufig sämtliche Kinder
des Dorfes. So gesehen muss die >vollintegrierte Gesamtschule<
hierzulande gar nicht neu erfunden werden; es gab sie bereits – zumindest in
den kleinen Dörfern…
Sinkende Schülerzahlen und drohende Schulschließungen führen zu einer zaghaften
Renaissance ländlicher Zwergschulen und jahrgangsübergreifender Lerngruppen…
(a. a. O. S.42)
… Zwar ist bekannt, dass es unter den damaligen >pädagogischen
Zehnkämpfern< auch so manche gab, die mit höchst autoritären und
unpädagogischen Mitteln zu Werke gingen.. schlicht und einfach Ausdruck eines
tradierten Erziehungsverständnisses, in dem >Zucht und Ordnung< über
alles ging…
Keiner wurde abgeschrieben oder abgeschoben. Dazu gab es glücklicherweise gar
keine ernsthafte Möglichkeit –sieht man einmal von der höchst seltenen Überweisung
zur sogenannten >Hilfs- oder Sonderschule< ab… Sitzenbleiben machte
schließlich keinen besonderen Sinn, das die fraglichen Schüler… meist im selben
Klassenraum verblieben…
Diese anspruchsvolle Integrationsleistung wurde abgestützt durch entsprechende
Formen und Vorleistungen der Lehrerausbildung… (a. a. O: S.43)
… Das alles habe ich selbst acht Jahre lang in unserer kleinen einklassigen
Volksschule in Nordhessen miterleben dürfen (vgl. Vorwort zu diesem Buch). Acht
Jahrgänge mit insgesamt ca. 25 Schüler..n saßen in einem einzigen Raum – heute
kaum noch vorstellbar. (a. a. O. S.44,45) Jeder Schülerlehrgang war in einer
Bankreihe platziert. Die Kleinen ganz vorne, die Älteren weiter hinten.
Sitzenbleiben gab’s nicht, wohl aber ein höchst strenges und fruchtbares
Voneinander- und Miteinanderlernen. Die älteren Jahrgänge bekamen immer wieder
Vorbereitungs- und Helferaufgaben mit Blick auf die Jüngeren zugewiesen. So
verfasste z. B. der sechste Jahrgang ein spezielles Diktat für die Schüler… des
dritten Jahrgangs. Oder der siebte Jahrgang entwickelte einfache Bruchrechen-
oder Prozentaufgaben für die Schüler der dritten bzw. fünfen Stufe.
Wechselseitiges Helfen und erziehen waren selbstverständlich…
Meine heutige Bilanz: Ich habe vielleicht manches an Stoff >versäumt<;
ich habe im Gegenzug aber viele >Schlüsselkompetenzen< erworben, auf die
es i Rahmen meiner weiteren Bildungs- und Berufslaufbahn ganz entscheidend
angekommen ist.
2.2. Auch schwache Schüler haben Stärken
Das entscheidende am skizzierten Bildungsverständnis ist die konsequent
positive Sicht des Schülers. Kinder und Jugendliche werden nicht vorschnell in
irgendwelche Leistungsschubladen gesteckt, sondern ganz grundsätzlich als
entwicklungsfähige und förderungsbedürftige Wesen gesehen – wenn auch mit
unterschiedlichen Entwicklungspotenzialen ausgestattet. Wichtig ist ferner, das
die unterschiedlichen Entwicklungspotentiale … nicht gleich hierarchisiert und
nach wertvollen und weniger wertvollen Begabungen aufgeteilt werden… Lernen ist
entwicklungsoffen und muss daher entsprechend vielschichtig, konsequent und
kleinschrittig angegangen und gefördert werden.
Wer sagt denn, dass jemand, der im logisch-mathematischen Bereich in einer
bestimmten Altersphase Start- und/oder Abstraktionsschwierigkeiten hat, diese
bei entsprechender Förderung nicht überwinden kann? Wer weiß denn zuverlässig
vorauszusagen, dass Kinder, die phasenweise mehr Zeit brauchen und beim Lernen
eher umständlich und eigenwillig vorgehen, am Ende nicht doch besser
abschneiden werden als jene, die windschnittig durch den Lernstoff segeln und
zweckrational vor allem das lernen, was ihnen von Lehrerseite nahegelegt bzw.
vorgekaut wird?... (a. a. O. S.48)
Auffällig ist beispielsweise, dass viele Kinder mit ausgeprägter
Rezeptionsfähigkeit, rasche Auffassungsgabe und untadeligem
logisch-mathematischem Leistungsvermögen in Sachen Teamarbeit, Kommunikation,
Präsentation, Empathie und Kreativität oft eher unambitioniert und daher auch
vergleichsweise schwach sind… (a. a. O. S.46) …. Kaum ein Schüler ist so
universal begabt, dass er keine Schwächen mehr hat. Und kein schwacher Schüler
ist so grottenschlecht, dass er keine Stärken mehr besitzt..
2.3 Wie das Ausland Heterogenität meistert
Wie bereits angedeutet, ist es für die meisten OECD-Länder
selbstverständlich, dass die Kinder und Jugendlichen bis zur 9. Oder 10. Klasse
gemeinsam lernen., Vollintegrierte Systeme sind der Normalfall. Daneben gibt es
in der Regel nur noch einige spezielle Sonderschulen sowie diverse
Privatschulen, die aber wegen ihrer hohen Schulgebühren und ihrer strengen
Eingangsprüfungen de facto nur für einen relativ kleinen Teil der Schülerschaft
infrage kommen. Der ganz überwiegende Teil … geht zur obligatorischen
>Einheitsschule<…
Das vorherrschende Selbst- und Aufgabenverständnis der Lehrkräfte ist sehr viel
stärker als bei uns pädagogisch und entwicklungsbezogen ausgerichtet… (a. a. O.
S.47) dem entspricht eine großzügige Lehrerversorgung mit Doppelbesetzungen und
pädagogischen Zusatzkräften…
Die Unterrichtsmethodik selbst ist dort häufig noch konventionell. In Finnland
wie in Japan stehen Frontalunterricht, Schulbücher und Stilarbeit nach wie vor
recht hoch im Kurs. Da sind zahlreiche deutsche Schulen schon weiter. …
>Kein Kind wird beschämt, jedes erfährt sich wertgeschätzt als
Lernender. Förderung ist Teil des individuellen Lernens. Die Schüler sagen:
>Die Schule sorgt für uns<;>wir haben gute Lehrer.< – das prägt
auch den Umgang zwischen den Lehrkräften.< (Ratzki 2005, S.43) …. >We
celebrate the difference<, so lautet eine der zentralen Maximen in Kanadas
Schulen. Bereits in der Grundschule beginn die syst4ematische Förderarbeit….
Kritische Denker kommen genauso zum Zug wie diejenigen, die gerne und gut in
Gruppen arbeiten (vgl. Ratzki 2005, S.49)
2.4 Der Enrichment-Ansatz als Perspektive
Begabungsförderung wird hierzulande meist sehr
eindimensional verstanden. Wer eine gute Auffassungsgabe besitzt und das
abstrakt-logische Denken beherrscht, der wird oft vorschnell als
Leistungsträger eingestuft und mit entsprechenden Aufgaben und Anforderungen
konfrontiert. Die Folge: die vorhandenen Stärken werden ausgebaut, die latenten
Schwächen eher unter den Teppich gekehrt. Dabei handelt es sich bei den
besagten Fähigkeiten häufig um nichts anderes als um spezielle Teilbegabungen,
die noch wenig darüber aussagen, wie es um die längerfristige
Kompetenzentwicklung der betreffenden Schüler… tatsächlich bestellt sein wird.
Warum? Begabungen sind sowohl in der Zeitachse als auch in der Breite
veränderbar und entwicklungsbedürftig. Wenn ein Kind z.B. mit fünf Jahren
bereits lesen, schreiben und/oder rechnen kann, dann besagt das noch lange
nicht, dass dieses Kind >hochbegabt< ist.. (a. a. O: S.49,50) … Viele von ihnen
sind eher einseitig begabt und weisen in anderen Intelligenzbereichen oftmals
erhebliche Schwächen auf. Das gilt sowohl für die praktisch-künstlerische Ebene
als auch für die sozialen, emotionalen, kommunikativen und musischen
Intelligenzen…
>…. Reine Hochbegabtengruppen oder –klassen nehmen den Kindern wichtige
Sozialisationschancen<, so … Detlef Rost ….(zitiert nach Dietrich 2006,
S.87)…
Der renommierte amerikanische Intelligenzforscher Howard Gardner unterscheidet
sieben menschliche Intelligenzbereiche … Logisch-mathematische /
Sprachlich-linguistische
Interpersonale / intrapersonale
körperlich-praktische / räumlich-visuelle / Musische Intelligenz
Abb.1 [ enttabellarisiert WW ]… (a. a. O. S.50)
… Das aus den USA kommende Schulische Enrichment Modell (SEM) greift diese
Überlegungen auf (vgl. Renzulli u. a. 2001). Im Mittelpunkt dieses Modells
stehen
a) die systematische Entwicklung des Talentpotenzials der Schüler… mittels
gestufter Qualifizierungsmaßnahmen sowie breit gefächerter Aufgaben und
Förderangebote,
b) die Akzeptanz und Nutzung ethnischer und kultureller Diversität nach bester
demokratischer Manier sowie
c) die Schaffung und Pflege einer kooperativen Lern- und Schulkultur, die
Schüler/innen wie Eltern, Lehrkräfte wie Schulleitungen nachdrücklich
Partizipations- und Entscheidungsmöglichkeiten eröffnet.
Wichtig dabei ist: SEM setzt auf vielseitige Aktivierung der Schüler… und kommt
dadurch allen Lernern zugute und nicht nur einigen wenigen Hochbegabten (vgl.
Renzulli 2001, S.11)… (a. a. O. S.51)
… Kognitives Vermögen allein reich also nicht…
2.5 Differenzierte Lernaufgaben und –wege
…. Grundsätzlich gilt: Je breiter die Lernangebote sind, desto größer ist die Chance , dass die unterschiedlichen Schüler… Abschluss finden bzw. Anschluss halten können… (a. a. O. S.52)
Differenzierungsansätze im Überblick |
|
||
Aufgaben |
Methoden |
Lernprodukte |
|
Leseaufgaben etc. |
Einzelarbeit etc. |
Text/Aufsatz |
|
Abb. 2
Je vielseitiger die Schüler… tätig werden können und je unterschiedlicher die
an sie gestellten Anforderungen und Aufgaben anfallen, desto chancenreicher
sind gemeinhin die entsprechenden Lernprozesse für alle Beteiligten…. (a. a. O.
S.53)
2.6 Verstärkte Gewichtung der Lerntätigkeit
… Nach wie vor dominieren Lehrerdarbietungen und
lehrergelenkte Unterrichtsgespräche. Das ist Gift für viele
praktisch-anschauliche Lerner…
Was stattdessen gebraucht wird, ist eine möglichst systematische Umstellung der
schulischen Lehr-und Lernkultur – weg vom lehrerzentrierten und
verbal-abstrakten Unterricht hin zur kräftigen Ausweitung des aktiv-produktiven
Lernens der Schüler…
Lernen statt Belehren, Produktion statt Reproduktion, Kooperation statt
Einzelkämpfertum, Knobelaufgaben statt Schema-F-Arbeit, Prozessorientierung
statt einseitiger Ergebnisfixierung – das sind einige der
Weichenstellungen… (a. a. O. S.54)
.. die Kultusministerkonferenz (KMK) hat diese Betonung des tätigen Lernens in
ihren neuen Veröffentlichungen zu den Bildungsstandards nachdrücklich
herausgestellt….. Je versierter die Schüler.. sind, desto mehr müssen sie
selbst organisieren, recherchieren, konzipieren, entscheiden. planen,
problematisieren, konstruieren, präsentieren, reflektieren, kooperieren oder in
anderer Weise tätig werden…. (a. a. O:S.55)
2.7 Ausweitung des kooperativen Lernens …. (a. a. O. S.56)
… Gedeiliches Miteinander- und Voneinanderlernen bedarf des gezielten Teamtrainings….
2,6 Breit gefächerte Kompetenzförderung … (a. a. O. S.57)
… >Stoffhuberei< ist bereits problematisiert worden. Mittlerweise wird davon aber längst abgerückt. Unter dem Motto >Auf den Output kommt es an<…. (a. a. O. S.58)
Kompetenzstufen im Bereich der Fremdsprachen |
||
Hier: >mündliche Produktion allgemein< |
||
C2 |
Kann klar, flüssig und gut strukturiert sprechen und seinen Beitrag so logisch aufbauen, dass es den Zuhörern erleichtert wird, wichtige Punkte wahrzunehmen und zu behalten. |
|
C1 |
Kann komplizierte Sachverhalte klar und detailliert beschreiben und darstellen und dabei untergeordnete Themen integrieren, bestimmte Punkte genauer ausführen und alles mit einem angemessenen Schluss abrunden. |
|
B2 |
Kann in einer großen Bandbreite von Themen mit seinen/ihren Interessengebieten klare und detaillierte Beschreibungen und Darstellungen geben, Ideen ausführen und durch untergeordnete Punkte und relevante Beispiele abstützen. |
|
B1 |
Knn relativ flüssig eine unkomplizierte, aber zusammenhängende Beschreibung zu Themen aus ihren/seinen Interessengebieten geben, wobei die einzelnen Punkte linear aneinandergereiht werden. |
|
A2 |
Kann eine einfache Beschreibung von Menschen, Lebens- und Arbeitsbedingungen, Alltagsroutinen, Vorlieben und Abneigungen usw. geben, und zwar in kurzen listenhaften Abfolgen aus einfachen Wendungen und Sätzen. |
|
A1 |
Kann sich mit einfachen, überwiegend isolierten Wendungen über Menschen und Orte ausdrücken |
|
(Quelle: Kliene u. a. 2003, S.152)
2.9 Vom trägen zum intelligenten Wissen … (a. a. O. S.59)
3. Heterogenität als Chance und Verpflichtung
….
3.1 Zur anthropologischen Ausgangslage
… Sind Schüler… mit anderen Fähigkeits-, Verhaltens- und/oder Interessenprofilen nicht genauso wertvoll und förderungswürdig wie die >kognitiven Überflieger<, die nur zu oft vom stimulierenden Bildungsniveau in ihren Elternhäusern zehren? … (a. a. O: S.62,63)
3.2 Anregungen zur Gruppenbildung
Seine kern- und integrationsfördernde Wirkung kann
kooperatives Lernen nur dann erfüllen, wenn die Gruppenbildung so erfolgt, dass
eine hinreichende >soziale Balance< hergestellt wird… (a. a. O. S.128)
… Zunächst zu den Neigungsgruppen: Die meisten Schüler… (und Lehrer…) tendieren
zur Gruppenbildung nach Sympathie und Neigung Damit verbinden sie die Hoffnung,
dass auf diese Weise größtmögliche Harmonie und Leistungsfähigkeit gesichert
werden können…
Gruppenbildung in diesem Sinne zementiert nur zu oft das Auseinanderdriften in
einer Klasse… Diese Gruppierungstendenzen sind insofern fatal, als sie …
verhindern, dass etwaige Problemschüler… positiv eingebunden werden… (a. a. O.
S.129) …Neigungsgruppen induzieren immer auch >Randgruppen< … die
en alltäglichen Unterricht empfindlich stören können…
Das Zufallsverfahren stellt sicher, dass in den einzelnen Gruppen tragfähige
Leistungs- und Verhaltensspannen entstehen, die eine relativ wirksame
Unterstützungs- und Erziehungsarbeit der Gruppenmitglieder gewährleisten… (a.
a. O. S.130)
.. Die Vorteile des Zufallsverfahrens sind überzeugend: Die Schüler… lernen
sich vielseitig kennen und nicht selten auch schätzen…
Selbstverständlich kann das Zufallsverfahren auch mit dem sogenannten Setzverfahren
gekoppelt werden… Diese Gruppenbildung kann z.B. so aussehen, dass von
Lehrerseite sechs besonders leistungsfähige Schüler … identifiziert und durch
Verlosen der Ziffernkarten 1 bis 6 den sechs entsprechenden Tischen
zugeordnet werden. Damit wird erreicht, dass die betreffenden
>Leistungsträger< gleichmäßig auf die einzelnen Gruppen verteilt werden
und nicht zufällig geballt in der einen oder anderen Gruppe auftauchen… (a. a.
O: S.131).. Wichtig ist…, dass die zugrundeliegenden Setzkriterien werden
veröffentlicht noch nähe erklärt werden…
Egal, wie das Zufallsverfahren auch immer angelegt wird. Es bedeutet nicht,
dass die erwähnten Neigungs-, Nachbarschafts- und/oder Interessengruppen völlig
in Abrede gestellt werden. Methodenvarianz ist auch bei der Gruppenbildung
vonnöten (vgl. auch Mattes 2002, S.35)….
3.3 Teamentwicklung als Kernaufgabe
… Im Weiteren wird vorrangig auf das Entwickeln tragfähiger
Regularien in der Gesamtklasse abgestellt, da die einzelnen Schülergruppen
aufgrund des Zufallsprinzips doch recht häufig wechseln und bestenfalls für
sechs bis acht Wochen in fester Formation zusammenbleiben…
… Stadien…[der] Teamentwicklung… das Forming, das Storming,
das Norming und das Performing… (a. a. O. S.133)
… Das vierte und letzte Stadium der Teamentwicklung betrifft das Performing.
Damit ist die konkrete Regelumsetzung in den betreffenden Gruppen gemeint… (a.
a. O. S.135)
…
3.6 Defensive Lehrerinnen und Lehrer
Das Gelingen der Gruppenarbeit ist freilich nicht nur eine
Frage der Schülerkompetenzen, sondern auch und nicht zuletzt eine solche des
Lehrerverhaltens… (a. a. O. S.142)
… Indem er sich der ersten Gruppe mit den Worten: >Na, kommt ihr
zurecht?< anbietet, löst er in dieser Gruppe ein höchst fragwürdiges Maß an
Arbeitsverlagerung aus. Die Fangfragen kommen prompt: Die erste Frage;>Was
sollen wir genauer machen?< führt dazu, dass der Lehrer den bereits
vorgestellten Arbeitsauftrag nochmals wiederholt und erläutert. Das Fatale
dabei: Die betreffenden Gruppenmitglieder hören kaum zu, sondern überlegen eher
krampfhaft, was sie denn noch fragen könnten. Der zweite Schüler trifft mit
seiner >Fangfrage< denn auch ins Schwarz. Mit dem Hinweis >Ursachen,
Ursachen – was meinen Sie denn damit?<y, löst er einen höchst detailreichen
Lehrervortrag über all das aus, was die Gruppe eigentlich selbst hätte
recherchieren sollen… Mit ein wenig Distanz hätte … der betreffende Lehrer… die
Fallen… sicherlich erkannt. Nur, diese Distanz erreicht er nicht, da er gleich
zu Beginn Blickkontakt sucht und sich von der ersten Hilfe suchenden Gruppe in
Sekundenschnelle vereinnahmen lässt… (a. a. O. S.143)
.. Drei Varianten haben sich in praxi gut bewährt: erstens der Einsatz von
Rot-Grün-Zeichen, zweitens der demonstrative Rückzug der Lehrkraft nach
Erteilen des Gruppenarbeitsauftrags sowie drittens das Einführen einer klar
gegliederten Verantwortlichkeitskette… Lernpartner… Nachschlagewerke… Rot heißt
keine Sprechstunde… Rückzug kann z.B. so aussehen, dass sich die betreffende
Lehrkraft … mit den Worten in den hinteren Teil des Klassenraumes begibt:
>Ich gehe jetzt nach hinten an meinen Arbeitstisch, damit ich euch nicht
störe.<
3.7 Tipps zum Umgang mit Störungen
Kooperatives Lernen läuft natürlich nicht immer glatt… (a.
a. O. S.144)
… Grundsätzlich lässt sich sagen: Wenn in Gruppenarbeitsphasen ernsthafte
Störungen auftreten, dann ist deren Behebung zunächst einmal Sache der
Gruppenmitglieder selbst…
Was die Häufigkeit der Reflexionsphasen angeht, so lassen sich dazu
schwerlich generelle Ansagen machen. Je nach Klasse und
Gruppenarbeitsfrequenz kann es unter Umständen sinnvoll sein, einmal pro
Woche oder einmal im Monat Bilanz zu ziehen und gruppeninterne Schwachpunkte
lösungsorientiert reflektieren zu lassen….
Das beginnt mit der Analyse und versuchsweisen Lösung akuter Störungen in der
eigenen Gruppe und reicht über >anstößige< Protokolle, Rollenspiele und
Videomitschnitte zu problematischen Gruppensituationen.. gruppenintern
benannte… Regelwächter, Zeitwächter, Fahrplanüberwacher oder Gesprächsleiter…
(a. a. O. S.145)
Lernspirale
Die mehrstufige Erarbeitung eines bestimmten fachlichen Lerngegensandes bzw.
Lehrerimputs durch die Schüler.. Die Lerner bohren sich in den jeweiligen
Fachinhalt hinein. Sie durchlaufen mehrere Arbeitsschritte und praktizieren
dabei unterschiedliche Lerntätigkeiten. Je versierter die Schüler… sind, desto
anspruchsvoller werden die Lernspiralen bzw. Arbeitsschritte konzipiert. Typisch
für die Erarbeitungsprozesse ist der konsequente Wechsel von Einzel-, Partner-,
Gruppen- und Plenararbeit. Eine Lernspirale erstreckt sich in der Regel über
ein bis zwei Unterrichtsstunden. (a. a. O. S.304)
… So gesehen ist der skizzierte Spiralansatz praktische Begabungs- und Kompetenzförderung in einem. Die Schüler… profitieren gleich doppelt: Sie erschließen sich zu einen wichtige methodische Werkzeuge und Strategien; zum anderen entwickeln sie grundlegende Einstellungen und Kompetenzen, die ihnen helfen, ihre unterschiedlichen Begabungen und Affinitäten ins Spiel zu bringen. Das begünstigt das Arbeiten in und mit heterogenen Gruppen… (a. a. O. S.188)
…
6.4 Wer zu viel hilft, ist selber schuld
…
6.5 Lob des >Trial and Error<-Prinzips
Lehren und Lernen werden in Deutschlands Schulen viel zu
sehr daran gemessen, ob ein bestimmter Stoff mit bestimmten Ergebnissen
abgeschlossen wird. Unterricht wird primär ergebnisorientiert aufgefasst und
viel zu wenig prozessorientiert.. (a. a. O. S.228)
… Fehlerbearbeitung und Fehlerbehebung stehen… außer Frage. Was pädagogisch
indes wenig Sinn macht, ist die apodiktische Fehlervermeidung, wie sie viele
Lehrkräfte nach wie vor anstrebt. Fehler vermeiden kann letztlich nur
derjenige, der erst gar keine Fehler zulässt… (a. a. O. S.229)
…
2.1 Mehr Sprachtraining vor Schuleintritt
Viele Lehrkräfte bewegen sich mit ihrer Förder- und Integrationsarbeit allein deshalb auf recht schwankendem Boden, weil nicht wenige Kinder eklatante Defizite in Sachen deutscher Sprache haben… (a. a. O. S.272)
2.3 Kleinere Klassen und mehr Freiraum
Ein weiteres bildungspolitisches Problemfeld ist die Klassengröße in den Schulen. Klassenstärken von 30 und mehr Schüler… sind hierzulande keine Seltenheit. Hinzu kommen relativ kleine Klassenräume, da die geltenden Schulbaurichtlinien entsprechende Limits vorgeben… Wenn aber die Klassenräume klein und die Schülerzahlen groß sind, dann bleibt im Schulalllag oftmals gar nichts anderes übrig, als eine problematische Frontalsitzordnung zu erstellen. Problematisch deshalb, weil die Ausrichtung der Tische und Schüler… zur Tafel hin beinahe zwangsläufig dazu führt, dass die Lerner zur lehrerzentrierten Einzelarbeit veranlasst werden… (a. a. O. S.277)
Karlheinz Barth
Lernschwächen früh erkennen
im Vorschul- und Grundschulalter
6. Durchgesehene Auflage
Ernst Reinhardt Verlag München Basel
ISBN 978-3-497-02328-8 (Print)
ISBN 978-3-497—60073-1 (E-Book)
Vorwort zur 1. Auflage
Der Anteil der Kinder, die an Beratungsstellen,
Frühförderstellen, sozial-pädiatrischen Zentren oder bei Kinderärzten wegen
Entwicklungsauffälligkeiten und schulischen Lernschwierigkeiten vorgestellt
werden, ist beträchtlich. Meist sind diese Kinder bereits wegen der schon
längere Zeit bestehenden Misserfolge frustriert, entmutigt, zeigen
Verhaltensauffälligkeiten oder soziale Anpassungsschwierigkeiten. Je früher man
die besonderen Schwierigkeiten dieser Kinder in ihrer Entwicklung erkennt, desto
effektiver kann man ihnen und ihren Eltern Hilfen bei der Bewältigung ihrer
Schwierigkeiten zuteilwerden lassen und umso geringer sind die negativen
Auswirkungen auf ihre weitere Persönlichkeitsentwicklung.
Viele Kinder, die nach der Einschulung – oft trotz guter Intelligenz –
Lernschwierigkeiten bekommen, fallen bereits in ihrer Kindergartenzeit auf… (a.
a. O: S.5)
Kapitel 1
Vom Kindergarten zur Grundschule
Ein (un-)gelöstes Problem?
1.1. Ist die Schule reif für unsere Kinder?
….
Lassen Sie mich zunächst zwei Thesen aufstellen:
1. Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule hat in Deutschland bisher noch
keine überzeugende Struktur und pädagogische Konzeption gefunden.
2. Viele Kinder versagen in der Grundschule, weil die Ursachen ihrer Lernschwierigkeiten
zu spät erkannt werden.
Nun, knapp zwanzig Jahre, nachdem die Kultusministerkonferenz die Trennung von
Elementar- und Primarbereich mit jeweils eigenständigem Erziehungs- und
Bildungsauftrag beschlossen hat, ist der Übergang des Kindes vom Kindergarten
zur Grundschule erneut in den Brennpunkt vielfältiger Diskussionen und
Kontroversen geraten.. In einigen Ländern wie z. B. Brandenburg, Bremen,
Hessen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen wird
derzeit intensiv über eine konzeptionelle und organisatorische Neugestaltung
des Übergangs nachgedacht und in Modellversuchen bereits erprobt… (a. a. O:
S.11)
1.2.
Die Kooperation Kindergarten – Grundschule:
Wunsch oder Wirklichkeit?
…vorgeschlagen …. Wurden von der Kultusministerkonferenz..:
· Die Bildung von Arbeits- und Gesprächskreisen zwischen Erzieherinnen und Grundschullehen mit dem Ziel, Inhalt und Methoden der jeweils anderen Einrichtung kennenzulernen
· Gemeinsame Durchführung von Elternabenden
· Besuch und Hospitationen der schulpflichtigen Kinder vor der Einschulung in ihrer neuen schule
· Gemeinsame Hospitationen von Erzieherinnen und Lehrern
· Gemeinsame Fortbildungen
… Vergleicht man aber Anspruch und Wirklichkeit, so zeigt
sich vielerorts doch ein eher ernüchterndes und enttäuschendes Bilds
Mader (1989, 189) analysierte …. Die Kooperation… in Nordrein-Westfalen…
spricht gar von einem offenkundigen Misserfolg der Zusammenarbeit… (a. a. O. S.12)
[auch] …mangels institutionelle und pädagogischer Verzahnung…
1.4 Ausleseintensive Einschulungspraxis
Zu den
ungeklärten Problemen des Übergangs Kindergarten – Grundschule gehört ferner,
dass die derzeitigen Einschulungsregelungen sich als sehr ausleseintensiv
erweisen und relativ viele Kinder als >nicht schulfähig< vom Schulbesuch
zurückgestellt werden und eine entsprechende vorschulische Einrichtung besuchen
müssen. Je nach Bundesland und pädagogische Ansatz gibt es z. B. den
Schulkindergarten, die Grundschulförderklasse oder die Vorschule… Die Quote der
als >nicht schulfähig< definierten Kinder schwankt dabei von Bundesland
zu Bundesland erheblich, aber auch von Grundschule zu Grundschule. Der Anteil
zurückgestellter Kinder stagniert bei ca. 8 bis 12 % eines Jahrgangs, wobei
Schleswig-Holstein mit einer Zurückstellungsquote von 17 % (im Schuljahr
1993/94) den höchsten Anteil hat, Bayern mit ca. 4,3 % die geringste
Zurückstellungsquote aufweist.
Die Höhe der Zurückstellungsquote ist auch abhängig vom Vorhandensein bzw.
Nichtvorhandensein einer vorschulischen Einrichtung… An Grundschulen mit
Schulkindergarten werden ca. 16% der Kinder zurückgestellt, ohne
Schulkindergarten nur ca. 7 % …. Jungen sowie ausländische Kinder sind
häufiger von Zurückstellung betroffen. Der Anteil zurückgestellter Jungen an
der Gesamtrückstellungsquote beträgt 60 bis 70 %. Mädchen werden gegenüber
Jungen häufiger und vorzeitig (5 %) und seltener verspätet (4%) eingeschult…
(a. a. O. S.13)
1.5 Überalterung der Schulanfänger
Die Folge
dieser ausleseintensiven Einschulungspraxis ist, dass deutsche Schulanfänger im
Vergleich deutlich später eingeschult werden als ihre Alterskameraden in
anderen europäischen Ländern. Während in verschiedenen europäischen Staaten Kinder
bereits mit fünf Jahren schulpflichtig sind, liegt das durchschnittliche
Einschulungsalter inzwischen in der Bundesrepublik durchschnittlich
bei sechs Jahren und sieben Monaten… Der Anteil der Früheinschuler …[–] Kinder
die in der Zeit vom 01.07 bis 31.12 das sechste Lebensjahr vollenden..
[–ging] von knapp 6 % im Jahre 1971 auf 3 % im Jahre 1990 zurück…
Die Auswirkungen von Früheinschulungen auf den Schulerfolg versuchte eine
Studie der Universität Essen >Bildungsforschung/Bildungsplanung“ (Bellenberg
1996) zu beantworten. Die Ergebnisse sind recht interessant:
a) …. Von den vorzeitig eingeschulten Schüler…n sind bis Abschluss der zehnten
Jahrgangsstufe 30 % mindestens einmal sitzengeblieben. In der Gruppe der
altersgemäß eingeschulten Kinder sind nur 18 % Sitzenbleiber. …
b) Früheingeschulte … wiederholen auch häufiger als regulär Eingeschulte gleich
zwei Schuljahre bis Ende ihrer Schulzeit… (a. a. O. S.14)
1.6 Integration statt Aussonderung
Unser
Erziehungs- und Bildungssystem ist aber auch aufgrund eines veränderten Welt-
und Menschenbildes, einer veränderten Kindheit und sich permanent wandlenden
ökologischen Lebensbedingungen in Bewegung geraten. Eine zunehmende Bedeutung
gewinnen dabei Integrationskonzepte. Diesen liegt die Kernaussage zugrunde,
dass alle Kinder in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen
Entwicklungsniveau spielen und lernen. Die Integrationsbewegung wird als eine
der neuen sozialen Bewegungen – neben Emanzipations- bzw. Frauenbewegung,
Umweltschutz und Friedensbewegung – des letzten Viertels unseres
Jahrhunderts bezeichnet. Charakteristisches Merkmal des
Integrationsgedankens ist das gemeinsame Unterrichten von
behinderten und nichtbehinderten Kindern in Regelschulen, die Öffnung von
Schule und Unterricht für behinderte Kinder….
Auf dem Hintergrund dieses Integrationsgedankens ist es somit nur schwer zu
begründen, warum in ein und derselben Klasse Kinder mit Behinderungen (z.B.
Körperbehinderung, Lernbehinderung) aufgenommen, auf der anderen Seite aber
entwicklungsverzögerte Kinder oder Kinder mit einem begrenzten Förderbedarf als
nicht schulreif abgewiesen werden… Es gibt inzwischen vielerorts
Modellklassen, in die alle schulpflichtigen Kinder ohne Feststellung ihrer
Schulfähigkeit aufgenommen werden. (a. a. O. S.15)
1.6. Schützt eine Zurückstellung vor dem Sitzenbleiben?
… Diese Hoffnung ist aber nur für einen Teil der Kinder berechtigt. Die Einweisung in eine schulvorbereitende Einrichtung kann sich bei den jüngeren der schulpflichtig gewordenen Kinder relativ günstig auswirken… Zurückgestellte [ältere] Kinder weisen die höchste Wiederholungsquote bis ins vierte Schuljahr auf…. Auf jeden Fall aber sollte eine Ausschulung aus dem laufenden ersten Schuljahr (z. B. nach einer sechswöchigen Beobachtungsphase des Kindes) aus pädagogischen und psychologischen Gründen vermieden werden…
1.7. Bessere Lernvoraussetzungen durch vorschulische Einrichtungen?
…
… In
Schulkindergärten und Förderklassen werden häufig nicht nur Kinder mit
Entwicklungsrückständen eingewiesen, sondern auch sozial depravierte Kinder,
verhaltensauffällige Kinder und ausländische Kinder mit meist nur geringen
Deutschkenntnissen. So besteht die Schwierigkeit, dass sich in den
Vorschulklassen schwierige Erziehungsprobleme massieren und die fördernden
Anregungen einer leistungsmäßig heterogenen Lerngruppe nicht zum Tragen kommen…
(a. a. O. S.17)
In welchem Ausmaß die Schulkindergartenförderung die in sie gesetzten
Erwartungen erfüllen kann, ist empirisch nur wenig überprüft. Jansen (1994) …
ging insbesondere der Frage nach, ob durch den Besuch des Schulkinderartens die
Kinder bessere Voraussetzungen für das Lesen- und Schreibenlernen in den
Anfangsunterricht mitbrächten. … Sein Fazit: >Die schulische
Schriftsprachenwicklung … wird… nicht positiv verändert (S.22). Auch für
die Rechenleistungen ergibt sich nach Jansen ein ähnliches Ergebnis….
1.7 Veränderte Kindheit, veränderte Familien- und Gesellschaftsstrukturen
Auch angesichts des Wandels von Familienstrukturen, des Wertewandels und veränderter Kindheitsbedingungen von Familien und eine Zuwanderung aus anderen Ländern sind Überlegungen zur Verbesserung des Schulanfangs dringend erforderlich… (a. a. O: S.18,19)
… Kindheit in der Postmoderne kann charakterisiert werden durch:
Der Handlungsraum, in dem Kinder konkrete Umwelterfahrungen erwerben können, ist deutlich enger geworden…. Vermehrter Lärm, Hektik, Umweltverschmutzung und ungesunde Ernährung, eine zunehmende Konsumorientierung, bei der das Selbstwertgefühlt der Kinder über das Tragen von Kleidungsstücken bestimmter Marken definiert wird…. (a. a. O. S.18)
… All diese Veränderung haben zu einer Vergrößerung der Unterschiede bei den
Entwicklungs-, lern-, und Verhaltensvoraussetzungen von Schulanfängern geführt…
1.8 Schulreife – Schulfähigkeit: Vom Wandel des Begriffs
… Bis in die 60er Jahre hinein vertrat man die Auffassung,
dass die Kinder aus sich heraus >heranreifen<… Korn (1951) sah als
wesentliches Kriterium der Schulreife die >Gliederungsfähigkeit< des
Kindes, die nach seiner Meinung mit ca. 6 Jahren abgeschlossen sei. Unter
>Gliederungsfähigkeit< verstand er den Übergang vom globalen Erfassen
optischer Gestalten zur klar gegliederten Formwahrnehmung… Schulversagen führte
er auf eine verfrühte Einschulung zurück… (a. a. O. S.20,21)
… Im Laufe der 60er Jahre wurde der Begriff der >Schulreife< zunehmend
durch den der >Schulfähigkeit< ersetzt. Maßgeblich dafür war die Ablösung
des reifungsorientierten durch ein lernorientiertes Entwicklungskonzept. Dies
ging davon aus, dass die Entwicklung eines Kindes stark von der Qualität und
Vielfalt seiner Entwicklungsanregungen im vorschulischen Alter
beeinflusst wird…
Die Erwartungen, die in … Frühförderungsprogramme gesetzt wurden, haben sich
aber nicht erfüllt. Stattdessen sind sie in heftige Kritik geraten und
als zu einseitig und zu kognitiv orientiert abgelehnt worden….
Lange Zeit hinweg wurde Schulfähigkeit definiert als Zusammenwirken kognitiver,
motivationaler und sozialer Voraussetzungen des Kindes…
Es zeigt sich aber, dass letztlich die Kriterien… von Eltern, Schulleitern oder
Schulärzten … herangezogen… wenig objektiv sind,,, (a. a. O. S.21)
Die relativ hohen Zurückstellungsquoten nicht schulfähiger Kinder widersprechen
letztlich auch dem Bildungsauftrag der Grundschule, eine Schule für alle Kinder
zu sein….
Die heute oft gängige Praxis, jede Diagnose müsse vermieden werden, das sie zur
>Aussonderung< führe, ist [jedoch] kritisch zu hinterfragen. Gerade
Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten bedürfen besonderer Aufmerksamkeit und
Förderung…
1.9 Lösungsansätze: Konzepte zur Neugestaltung der Schuleingangsphase
…. (a. a. O. S.25)
1.10 Integrativer Unterricht
Ziel ist es, so wenig wie möglich Kinder vom Schulbesuch
zurückzustellen und nach Möglichkeit alle schulpflichtigen Kinder
einzuschulen….
Die Gefahr, dass Kindern gleich zu Beginn ihrer Schulzeit Misserfolge
erleben, würde damit reduziert….
Zukünftig soll auch die Integration behinderter Kinder in die Regelschule
weiter fortgeführt und erweitert werden…
Diese neuen Ansätze der Integration betreffen vor allem auch Lehrer…n, die sich
oft gar nicht auf diese neue Aufgabe vorbereitet fühlen… (a. a. O: S.26)
1.12 Flexible Schulbesuchszeiten
Der integrative Schulanfang erfordert, dass die Verweildauer
Von Kindern im Schuleingangsbereich flexibel geregelt wird. Kinder, die mehr
Zeit zum Lernen brauchen, wird eine verlängerte Verweildauer im ersten und
zweiten Schuljahr ermöglicht … [Die Anfangsphase] ….kann …
bei Bedarf aber auch in drei Jahren, in Einzelfällen in vier Jahren durchlaufen
werden. ..
In Einzelfällen können deshalb leistungsstarke Kinder die beiden ersten
Grundschuljahre in einem Jahr durchlaufen,
In einigen Modellversuchen werden die Klassen jahrgangsübergreifend geführt, d.
h. in der Schulanfängerklasse werden Kinder des ersten und zweiten Schuljahres
gemeinsam unterrichtet…
1.13 Einbindung sozialpädagogischer Fachkräfte in die Grundschule
Durch die Schaffung eines integrativen Schulanfangs, bei dem
auf Rückstellungen und Einweisung in schulvorbereitende Einrichtungen
verzichtet wird, wird eine sozialpädagogische Förderung von Schulanfängern
nicht überflüssig. Im Gegenteil, die Kompetenzen der SozialpädagogInnen und
ErzieherInnen aus den Schulkindergärten und Grundschulförderklassen wird zur
Diagnostik und Förderung entwicklungsbeeinträchtigter Kinder dringend benötigt.
… Vorgesehen ist, dass SozialpädagogInnen des Schulkindergartens
gleichberechtigt und in enger Kooperation mit den LehrerInnen der Grundschule
zusammenarbeiten…
Die Doppelbesetzung erlaubt auch, das die Klassen geteilt werden können, was
für manche Unterrichtsinhalte von Vorteil ist. Durch die Anwesenheit einer
zweiten Lehrkraft haben die Erstklässler einen zusätzlichen Ansprechpartner…
(a. a. O. S.28)
1.14 Veränderungen des Unterrichts
Durch den Verzicht auf Rückstellungen werden die Entwicklungsunterschiede, mit denen der Erstklassenlehrer konfrontiert wird, größer… Die Kinder müssen mehr Möglichkeiten und Gelegenheit zum selbständigen Arbeiten erhalten. Gerade entwicklungsbeeinträchtigte Kinder brauchen veränderte Unterrichtsmethoden, in denen durch konkretes Handeln Lerninhalte erlebbar und damit interessant werden. Dies kann geschehen durch:
a) Arbeitsplanunterricht, bei dem die Kinder Aufträge zum Erforschen und Erkundigungen nach eigenem Tempo und Rhythmus bekommen. Dazu gehört ein vielfältiges Angebot von Materialien und Inhalten, so dass die Kinder Interessenschwerpunkte bilden können.
b) Freiarbeit und Projektarbeit. Lehrerinnen und Kinder wählen gemeinsam ein Thema aus. Die Kinder können innerhalb des von ihnen mitbestimmten Themas Interessenschwerpunkte setzen, ihe Arbeit zunehmend selbständig planen und organisieren und verlässliche und produktive Arbeitsbeziehungen zu ihren Mitschülern aufbauen.
c) Durch Partner/Gruppenarbeit sollen die Kinder am Modell der Klassengemeinschaft die Bedeutung des Miteinander erleben. Einander vorlesen, sich vorrechnen, sich gegenseitig helfen fördert das Sozialverhalten und die soziale Kompetenz der Kinder.
… Der Gleichschritt und die Gleichheit des
Lerninhaltes und der Lernziele sind Unterrichtsformen, die der Komplexität und
der Heterogenität der heutigen Schulanfänger nicht mehr gerecht werden. (a. a.
O. S.29,30)
Kinder lernen effektiver, wenn sie ihr Lernen aktiv mitgestalten können….
a. a. O. S.30)
…. Letztendlich geht es bei allen reformpädagogischen Bemühungen immer auch um die Beantwortung der Fragen:
KAPITEL 2
Früherkennung schulischer Lernstörungen
Geht das und hilft das den Kindern?
2.1 Ein neuer Lebensabschnitt beginnt
… Die Erfahrungen, die Kinder vor und in der Eingangsphase
in der Grundschule machen, prägen ihre weitere persönliche Entwicklung
entscheidend mit (Einsiedler 1988)…. (a. a. O: S.32)
….
2.2. Lernprobleme schon in der Schultüte?
Während sich für die Mehrzahl der Kinder die erhofften Lernerwartungen
erfüllen, gelingt es einigen nicht, mit dem Gros der Klasse Schritt zu halten
und die angestrebten Lernziele zu erreichen. Tietze und Roßbach (1993)
berichten, dass nahezu jedes fünfte Kinde, d. h. 20% der Kinder bis Ende des
vierten Grundschuljahres, mindestens einmal segregiert, d.h. zurückgestellt
wird, eine Klasse wiederholen muss oder auf eine Sonderschule überweisen wird.
Etwa 7 % dieser Kinder werden als >nicht schulfähig< zurückgestellt,
wobei der Prozentsatz dieser Kinder von Bundesland zu Bundesland, aber auch von
Schule zu Schule beträchtlich variiert. 1,8 % der Kinder wiederholen die erste
Klasse und 3,3 % die zweite Klasse. Die Klassen drei und vier wiederholen
weitere 3 % der Kinder. Zwischen 0.5 % und 1 % der Kinder werden auf eine
Sonderschule überwiesen. Diese Zahlen belegen eindrucksvoll, dass der
Schwerpunkt des schulischen Versagens der Kinder eindeutig innerhalb der ersten
beiden Grundschuljahre liegt…
Aus zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir, dass ca. 10 bis
15 % der Kinder isolierte Lese /Rechtschreibschwierigkeiten entwickeln,
wobei ca. 4 bis 6 % der Kinder davon besonders schwer betroffen sind.
Auch Breuer und Weuffen (1994) belegen den hohen Anteill von ca. 1 bis 20
% von Kindern, die im Anfangsunterricht beständige Schwierigkeiten beim Lesen-
und Schreibenlernen aufweisen. Bei ca. 6 % der Kinder (Lorenz 1993)
manifestieren sich ausgeprägte Rechenstörungen. Gaddes (1991)
referiert epidemiologische Studien, denen zufolge in verschiedenen
Ländern übereistimmend nahezu 10 bis 15 % aller Kinder an
behandlungsbedürftigen Lernstörungen leiden. (a. a. O: s.33,34)
2.4 Die langfristige Entwicklung von Kindern mit Lernstörungen
… Studie von Esser und Schmidt (1993) … aus einer repräsentativen Stichprobe achtjähriger Kinder…, deren Entwicklung bis ins Erwachsenenalter verfolgt werden konnte..
Mittendrin e. V. (Hrsg.)
Eine Schule für alle
Inklusion umsetzen in der Sekundarstufe
Verlag an der Ruhr, Müllheim an der Ruhr 2012
ISBN 978-3-8346-0891-8
Geeignet für die Klassen 5 – 13
1 Zu Beginn: Schlüssel zur Inklusion
Vorwort
Deutschlands Schulen stehen vor einem Wandel. Mit der UN-Konvention über die
Rechte von Menschen mit Behinderungen sollen nun auch hierzulande Schüler mit
sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam mit den anderen Schülern lernen…
Wer das Lernen normiert, verschleudert Talente. Diese Erkenntnis hat schon
Jahre vor der aktuellen Inklusionsdebatte dazu geführt, dass z.B. das Land
Nordrhein-Westfalen die >individuelle Förderung< der Schüler im
Schulgesetz verankert hat. Es ist nun an der Zeit, dies in den Schulen
umzusetzen. … (a. a. O. S.8)
Inklusion – das selbstverständliche Zusammensein und –lernen ganz
unterschiedlicher Menschen – ist ein hoher Anspruch…
Dies beginnt damit, dass zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches unter
allen Bundesländern nur Hamburg Schülern mit Behinderung das Recht auf den
Besuch einer allgemeinen Schule zugestanden hat…
… Überall in Deutschland werden Schüler mit Behinderung einem amtlichen
Gutachtenverfahren unterzogen und im Ergebnis dessen mit einem
>Förderschwerpunkt< etikettiert… Auch dies widerspricht jedoch der
Inklusion, weil es Normalität verhindert und den Schüler amtlich zu einem
Sonderfall macht… Die Entwicklung einer inklusiven Pädagogik wird dadurch
massiv behindert. (a. a. O. S.9)
… Nach fünfzig Jahren Ausbau des Systems der Sonderschulen gibt es in den
allermeisten Schulen seit Jahrzehntgen schlichtweg keine Schüler mit
Behinderung… (a. a. O. S.10)
WER WILL DENN SCHON NORMAL SEIN?
Zum Begriff der Behinderung
>So wie der eine blond ist, habe ich eben das Down-Syndrom<
Pablo Pineta, Pädagoge und Schauspieler, Die Presse vom 17.7.2010
Wir werden in diesem Buch den Begriff Behinderung benutzen,
wohl wissend, wie umstritten er ist – ganz einfach, weil es bis heute keinen
unumstrittenen besseren und nicht diskriminierenden Begriff gibt… Auch der
Ersatz … durch den Begriff Beeinträchtigung ist kein wirklicher Quantensprung.
Ebenso wenig die Verwendung von Anglizismen wie Handicap oder Umschreibungen
wie >anders begabt< oder >besonders begabt<. Der Kern des Problems
mit dem Begriff Behinderung liegt an anderer Stelle. Er liegt in der
Unterscheidung von Menschen >mit< und >ohne< und damit in der
Konstruktion von zwei unterschiedlichen Gruppen, von denen die eine als normal
definiert ist und die andere eben als nicht normal….
>Niemals würde ein Mathematiklehrer einen Tierpfleger wegen seiner
wahrscheinlich nicht übermäßig vorhandenen Mathekenntnissen als behindert
bezeichnen… (a. a. O. S.11) … Ich kenne keinen contergangeschädigten Menschen,
der alle anderen, die nicht z. B. mit den Füßen schreiben oder essen
können, als behindert bezeichnet….
Die Bewegung der Menschen mit Lernschwierigkeiten hat dies
auf den Punkt gebracht, indem sie ihre Organisationen >People first<
…hierzulande >Mensch zuerst< genannt hat… (a. a. O: S.12)
Es geht nicht darum, Schüler mit Behinderung so weit zu bringen, dass sie sich
den Bedingungen einer Schule anpassen, die für imaginäre Durchschnittsschüler
konzipiert ist. Es geht darum, dass Schulen ertüchtigt werden, sich auf die
Bedürfnisse jedes einzelnen Schüles einzustellen und Barrieren für seine Teilhabe
einzureißen. …
DAS LEBEN IST VIELFÄLTIG – DIE SCHULE WIRD ES AUCH
Schritte zum pluralistischen Lernen in einer >Schule für alle<
… je nach Bundesland … für sieben amtlich festgestellte Behinderungsformen… um
Gruppen zu erhalten, die dann im Gleichschritt lernen können… Die einen
Schüler langweilen sich, die anderen sind überfordert. Dem Lehrer bleibt die
unbefriedigende Pflicht, dies möglichst >gerecht< mit Noten zu
dokumentieren, und schnell regiert in den Klassenzimmern der Frust. Unnötig zu
erklären, dass unter diesen Bedingungen kein Schüler optimal gefördert wird.
(a. a. O. S.13)
…. Aus dem Lernen im Gleichschritt wird ein pluralistisches Lernen: Individuelle Lernziele, individuelle Lernwege müssen gleichberechtigt miteinander lebbar sein, damit jeder Schüler sich an seinem Ort >richtig< fühlen kann. (a. a. O. S.14)
… Pluralistisches Lernen berücksichtigt die Einmaligkeit jeder Person und basiert auf der Überzeugung des für alle Menschen gleich geltenden Rechts, diese Einmaligkeit auch ausdrücken zu können. Ein Schulsystem, das diese Einmaligkeit nicht berücksichtigt ignoriert die Person mit der es zu tun hat… bestehend aus einem einmaligen multi zellularen Code, ohne auch nur ein einziges humanes Äquivalent (vgl. HECHT 2002, BOBAN & HINZ 2008),,,,
Because
we can change the world< Mario SAPON SHEVIN, Professorin für inclusive Pädagogik
… Die Veränderung der Mikrokosmen hin zu willkommen heißenden,
stärkenden Gemeinschaften ist machbar. Und (nur?) so kann es auch zu
>Großtaten< auf gesellschaftlicher Ebene kommen. Wir müssen entscheiden,
welche Werte und welche Ziele unser Handeln bestimmen sollte – und daraus
Konsequenzen ziehen. (a. a. O. S.15,16)
SCHÜLER MIT BEGABUNG
Das Thema Hochbegabung ist ein sehr komplexes Thema, viele
verschiedene Anzeichen können auf Hochbegabung hindeuten…
… Aufschluss bringt ein Intelligenztest bei einem Psychologen, der Erfahrung
mit Hochbegabung hat. Es gilt natürlich den Hochbegabten zu erkennen, und
seinen individuellen Eigenschaften im Unterricht bestmöglich entgegenzukommen
und die Lernfreude und Motivation durch ständige Herausforderungen zu erhalten.
(a. a. O. S.183)
Christiane Poschlad ist Grundschullehrerin und bietet bei
der DGHK Lehrerfortbildungen zur Begabtenförderung an.
…. Spezifische Schwierigkeiten wie…
… Eltern erhalten z. B. Hilfe bei der Deutschen Gesellschaft
für das hochbegabte Kind. (a. a. O. S.184)
… Prinzipiell unterscheidet man zwischen der so genannten Akzeleration, das
heißt einer Beschleunigung der Schullaufbahn (z.B. durch Überspringen von
Klassen), und der Anreicherung des Unterrichts, dem sogenannten Enrichment… (a.
a. O. S.183)
Drehtürmodell
Beim Drehtürmodell ist es dem Schüler erlaubt, dem stundenplanmäßigen
Unterricht in klar definierten Teilen fernzubleiben. Der Schüler arbeitet dann
nach festen Regeln an einem Thema/Projekt, das nach seinen besonderen
Begabungen angelegt ist… (a. a. O. S.187)
GEHÖRLOSE UND SCHWERHÖRIGE KINDER
Magdalena Grzyb ist Studentin der Sonderpädagogik (auf Lehramt) mit den
Förderschwerpunkten Lernen (LE) und Hören und Kommunikation (HK) und hat an der
Gerricus-Förderschule in Düsseldorf unterrichtet.
Gehörlose Schüler
Ein gehörloses Kind kommt in ihre Klasse?
– Viele dieser Kinder, die zumeist hörende Eltern haben, haben kein
vergleichbar ausgebildetes Sprachsystem, wie es hörende Schüler haben. An der
Lautsprache können sie nicht teilhaben; eine Sprache, die ihren Bedürfnissen
angemessen wäre (Gebärdensprache), beherrschen die Eltern in der Regel nicht.
Somit kann keine adäquate Erstsprache vermittelt werden. Allein die Kinder
gehörloser Eltern haben die Möglichkeit, durch interaktive Kommunikation in der
Familie die Gebärdensprache altersgemäß zu erlernen. Aus der Sprachwissenschaft
ist bekannt, dass Kinder ohne ausgebildete Erstsprache eine weitere Sprache –
hier die deutsche Lautsprache – nur schwer erlernen können.
Oft lernt ein gehörloses Kind >seine< Gebärdensprache erst in der Schule.
Entweder im oder durch den Unterricht, je nachdem, wie das pädagogische Konzept
der Schule aussieht, oder durch Mitschüler auf dem Schulhof.
Auch für die Sekundarstufe gilt deshalb: Ein gehörloser Schüler in Ihrer Klasse
hat einen unbekannten Sprachstand, den Sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht
überprüfen können. Ein einziger Test kann in einem aufwändigen Verfahren die
Gebärdensprachkompetenzen von Kindern erfassen (Aachener Testverfahren zur
Deutschen Gebärdensprache , AFG). …. (a. a. O. S.198) … Fragen Sie die Eltern,
Frühförderer, Erzieher und im besten Fall eine gehörlose
gebärdensprachkompetente Person, wie die (Gebärden-)Sprachkompetenz des Kindes
aussieht.
Ein sehr komfortabler Zustand ist, wenn dem gehörlosen Schüler ein Dolmetscher
zur Verfügung steht, der die Inhalte des Unterrichts und jegliche Kommunikation
und im umgekehrten Fall die Äußerungen des Kindes versprachlichen kann. Falls
dies gewährleistet ist, sollte darauf Acht gegeben werden, dass der Schüler
nicht über den Dolmetscher Kontakt mit den anderen Schülern hat, sondern sie
sollen von sich aus in Kommunikation treten. So erlernen die anderen Schüler,
mit dem gehörlosen Kind zu kommunizieren, und es können sich dauerhafte
Freundschaften bilden. Falls allerdings kein Dolmetscher zu Verfügung stehen
wird, sind einige Dinge zu beachten.
… Gehörlose Menschen sind … immer auf visuelle Reize angewiesen, auch was das
Absehen betrifft. Absehen bedeutet, Lautsprache vom Mund >abzulesen<.
Manche gehörlose Menschen können das sehr gut, andere wiederum nicht so sehr.
Dennoch ist ein deutliches Mundbild immer eine Unterstützung der gesprochenen
Sprache, weshalb man stets Blickkontakt halten sollte.
Auf den Klassenraum bezogen bedeutet dies, dass Sie bitte nicht sprechen, wenn
Sie sich zur Tafel drehen, bzw. beim Tafelschrieb selbst… Auch die anderen
Schüler sollen so sprechen, dass der Gehörlose die sprechende Person sehen
kann. Am besten funktioniert dies, indem Sie die Schüler in einem Halbkreis
anordnen. Falls das nicht möglich ist, wäre ein Drehstuhl nützlich, mit dem der
Schüler schnell reagieren und sich zuwenden kann. Setzen Sie den gehörlosen
Schüler mit dem Rücken zum Fenster. So schaut er nicht ins Licht, und die
anderen Personen können gut gesehen werden. Bitte achten Sie darauf, dass Sie
nicht überartikulieren, denn so wird das Mundbild verzerrt… Benutzen Sie
unterstützend natürliche Gestiken und Mimiken… Um zu überprüfen, ob der Schüler
einen Sachverhalt verstanden hat, lassen Sie ihn wiederholen.
einem Unterricht, in dem nur gesprochen wird, wird er auf Dauer nicht folgen.
Zum einen versteht er nicht, worum es geht und was behandelt wird, zum anderen
ist es immens anstrengend, sechs Stunden oder mehr am Tag von den Lippen zu
lesen ... (a. a. O. S.199,200) Unterricht ohne die Deutsche
Gebärdensprache oder mindestens lautsprachbegleitende Gebärden wird aller
Voraussicht nach nicht erfolgreich funktionieren.
Die Deutsche Gebärdensprache (DGS) ist eine eigene Sprache mit eine
eigenen Grammatik etc.
Viele gehörlose Menschen haben bis ins Erwachsenenalter, durchaus auch ein
Leben lang Schwierigkeiten mit der Schriftsprache. Sie können texte zwar lesen,
doch haben sie oft Schwierigkeiten beim Textverständnis….
Sinnvoll ist ein konstanter und bilingualer Deutschunterricht. Sprachen
miteinander zu vergleichen… Die Empfehlung hierbei ist, dass Sie zwei Lehrer
einsetzen: einen hörenden und sprechenden für den Deutschunterricht und einen
gehörlosen für den Unterricht der Deutschen Gebärdensprache – und als
Vorbild… Wenn Sie Filme zeigen, müssen es Filme mit Untertitel sein..
(a. a. O. S.200) …
Schwerhörige Schüler
Bei schwerhörigen Schülern verhält es sich in vielen bereits
geschilderten Punkten ähnlich. Schwerhörige Kinder / Jugendliche haben
unterschiedlichen Hörstatus, das bedeutet, dass sie unterschiedlich gut (oder
schlecht) hören… Zusätzlich muss darauf geachtet werden, dass
Störgeräusche, so weit wie möglich, ausgeschaltet werden. Nebengeräusche, wie
z. B. Straßen-, Kinder- oder Baustellenlärm, können mehr Aufmerksamkeit
beim Kind erregen als der Unterricht. Um den Nachhall in der Klasse zu
verringern, ist es ratsam, einen Teppich auszulegen. Falls Sie die Möglichkeit
haben, benutzen sie einen Klassenraum, der nicht quadratisch oder rechteckig
ist, damit der Schall nicht immer zwischen zwei Wänden, sondern mehrfach
reflektiert wird, was Nachhall verringert. Ebenso hilft das Anbringen von
Gardinen, Stoffen oder Styropur an der Wand… (a. a. O. S.201) Eigentliche
Voraussetzung zur besseren Ausnutzung der Hörreste des Schülers sollte eine
bewusste Gesprächstaktik innerhalb der gesamten Klasse sein. Hierbei gilt, dass
immer nur eine Person spricht und deutlich wird, welche Person als Nächstes
sprechen wird…
Jedes menschliche Ohr brauch seine Ruhepausen… Diese kann z.B. die Phase der
Einzelarbeit sein…
Fazit
Gehörlose oder schwerhörige Schüler sind kognitiv oft
gleichauf mit ihren hörenden Mitmenschen gleicher Jahrgangsstufe….
www.audiotherapie-blochius.de/downloads/netzwerkbakurz.pdf
[sehr lesenswerter Betroffenenbericht] (a. a. O. S.202)
SCHÜLER MIT SCHWERSTEN EINSCHRÄNKUNGEN
Renate Metzner ist Sonderpädagogin und hat in integrativen Klassen der Sophie-Scholl-Oberschule in Berlin gearbeitet
Sie erfahren: Ihre Klasse wird einen Schüler mit
>Mehrfachbehinderung< haben. Was hat das zu bedeuten?
>Schwer< und auch noch >mehrfach< Vermutlich ist Ihr erstes Gefühl
Angst vor dem Unbekannten…
Genauso ging es vor einigen Jahren den Eltern dieses Kindes. Auch sie waren auf
einmal mit der Tatsache konfrontiert, ein Kind mit mehreren sehr schweren
Behinderungen zu haben. Sie haben es im Laufe der Zeit gelernt, dieses Kind zu
lieben, so wie es ist und so mi ihm umzugehen, dass es sich wohl fühlt und sich
im Rahmen seiner Möglichkeiten entwickeln kann….
Zunächst werden Sie bemerken, was dieser Schüler – immer im Vergleich mit den
anderen – nicht kann… (a. a. O. S.203)
Um… Perspektiven für die Entwicklung und Förderung dieser Kinder und
Jugendlichen zu gewinnen, sprechen wir von >Kindern/Jugendlichen mit
elementaren Lernbedürfnissen<.
Beobachtung einzelner Bereiche
….Hier kommt es auf sorgfältige Beobachtung in den einzelnen Bereichen an:
(a. a. O. S.204) … Die Mitschüler werden bei der Kontaktaufnahme nach und nach sensibler werden. Vielleicht finden sie schneller als die betreuenden Erwachsenen heraus, was ihr Mitschüler gern hat… Sie sind unbefangen und robust im körperlichen Umgang…
BEISPIELE FÜR MÖGLICHE ZIELSETZUNGEN
Aus all diesen Beobachtungen folgt ein individueller Plan für die Förderung in den jeweiligen Bereichen der Motorik, Kommunikation und sozialen Beziehungen, Autonomie und Versorgung usw. Ein paar Beispiele für mögliche Zielsetzungen:
· Der Schüler soll lernen, eindeutig ein „Nein“ zu signalisieren.
· Der Schüler soll lernen, einen Gegenstand abzutasten und ihn von anderen Gegenständen zu unterscheiden.
· Der Schüler soll lernen, beim Ausziehen seine Arme locker zu halten:
· Der Schüler soll lernen, Vibrationen eines Musikinstruments wahrzunehmen.
· Der Schüler soll eine bestimmte Person kennen lernen.
Generelle Ziele sind die Teilhabe an allen Aktivitäten der
Lerngruppe, das permanente Lernen über alle Sinne und das Erhalten sowie geben
von Zuwendung,
…Leitgedanke: Wie kann mein Schüler im Rahmen der gesamten Klasse oder einer
Teilgruppe an der Lernsituation teilhaben und davon profitieren? Die
Möglichkeit variieren je nach Fach und Thema… (a. a. O: S.205) … Befinden sich
mehrere Schüler mit Behinderung in einer Klasse oder n der Schule. So können
Sie zusätzliche Lernangebote im lebenspraktischen Bereich einführen. Bewährt
haben sich die Bereiche Hauswirtschaft (Einkaufen, Kochen, Waschen usw.),
Theater und Rollenspiele, Gartenarbeit, Bewegung im Wasser. Diese Einheiten
können parallel zum regulären Unterricht stattfinden. Dabei sollten ein Schüler
mit elementaren Lernbedürfnissen, Schüler mit anderen Beeinträchtigungen uns
Schüler ohne Behinderung in einer Kleingruppe von sechs bis acht
zusammenarbeiten …
Welche personellen und räumlichen Rahmenbedingungen sind erforderlich?
Es wird ein Pädagogenteam gebraucht.. Für einen Schüler mit
elementaren Lernbedürfnissen muss mindestens ein Mitarbeiter überwiegend
zuständig sein… mindestens eine weitere Person… sollte … dem betroffenen
Schüler nahestehen und ihn gegebenenfalls versorgen können. Dieser Schüler braucht
konstante Beziehungen noch mehr als andere… (s. s. O. S.206) Der Klassenraum
sollte mit Arbeitsecken für verschiedene Tätigkeiten eingerichtet sein…
der Kontakt zwischen Schule und Eltern… muss… unbedingt gepflegt werden…
Kontakte der Eltern untereinander… Tag der offenen Tür… Der Schüler bekommt ein
Zeugnis mit verbaler Beurteilung über seine Aktivitäten und Lernfortschritte….
Sie können Situationen fotografieren und filmen. Aus diesem Material können Sie
zusammen mit einigen Mitschülern Bücher herstellen…
Der Schüler mit elementaren Lernbedürfnissen wird in seiner Klasse einen
abwechslungsreichen Schultag erleben, mit vielen Sinneseindrücken und
persönlichen Kontakten. Er genießt damit eine hohe Lebensqualität. Alle
Pädagogen und Schüler können erfahren, was Leben alles bedeuten kann. Sie
kommen vielleicht zu der Erkenntnis, dass ein Mensch nicht permanent etwas
leisten muss, um anerkannt, wertgeschätzt und geliebt zu werden. So kann das
gemeinsame Leben und Lernen zu einer Bereicherung für alle werden. (a. a. O.
S.207)
NACHTEILAUSGLEICH
…..
BEISPIELE FÜR EINEN NACHTEILAUSGLEICH
…. (a. a. O. S.208)
UNTERRICHTSEINHEIT: WIR SIND ALLE VERSCHIEDEN VERSCHIEDEN …
(a. a. O. S.229)
… Unsere Interpretation: Besonders das letzte Beispiel … Fabian ist 16. Mit
Hilfe eines Computers verständigt er sich mit anderen Menschen…
scheint zu verdeutlichen, dass vor allem junge Schüler durch den Umgang mit den
Besonderheiten ihrer Mitschüler eben diese Besonderheiten als zu einem Menschen
gehörig erleben. Dies eröffnet ihnen die Möglichkeit mit großer Offenheit und
Toleranz anderen zu begegnen… (a. a. O. S.233)
….
EXKURS / SCHWERBEHINDERTES PERSONAL
Anette Kellinghaus-Klingenberg ist Diplom-Sozialpädagogin an der
Gesamtschule Köln-Holwiese
Ich bin schwerbehindert und auf den Rollstuhl angewiesen. …
Ich messe ca. einen Meter, trage Hörgeräte, fahre selbständig Auto, bin
verheiratet und habe im Beruf Arbeitsassistenz und im Haushalt eine Haushilfe…
Das gemeinsame Leben von Menschen mit und ohne Behinderung gewinnt für die
Schüler erheblich an Überzeugungskraft, wenn es auch für die Erwachsenen
selbstverständlich ist… (a. a. O. S.311)
Micha Brumlik, Stephan Ellinger, Oliver Hechler, Klaus Prange
Theorie der praktischen Pädagogik
Grundlagen erzieherischen Sehens, Denkens und Handelns
W. Kohlhammer GmbH + Co. KG., Stuttgart 2013
ISBN 978-3-17-023661-S
1 Einführung
Stephan Ellinger und Oliver Hechler
Die >Pädagogik ist die Wissenschaft, deren der Erzieher für sich bedarf<
(Herbart 1964, 22). So führt Johann Friedrich Herbart 1806 in seine Abhandlung
über >Allgemeine Pädagogik, aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet< ein.
So knapp diese Feststellung daherkommt und so trivial sie sich liest – das, was
Herbart 1806 formulierte, ist bis heute weithin Forderung geblieben… (a. a. O:
S.7)
… Der Überblick zu den aktuellen Werken zur theoretischen Pädagogik bleibt
unvollständig und auch in theoriegeschichtlicher Hinsicht werden viele
>große< Namen und Werke der Pädagogik nicht genannt… (a. a. O. S.8)
… Zum anderen geht es in den folgenden Ausführungen gar nicht um eine weitere
Allgemeine Pädagogik, sondern vielmehr um einen weiteres enzyklopädisches Werk,
sondern vielmehr um einen Tatbestand, den Kühnel 1920 mit Blick auf die
pädagogische Theorie und erzieherische Praxis folgendermaßen umreißt: >Genau
in dem Maße, wie die Wissenschaft der Medizin – in Verbindung mit der Praxis –
den Arzt >macht<, so >macht< die theoretische Pädagogik – in
Verbindung mit der Praxis – den Erzieher (Kühnel 1920, 21)….
Der pädagogische Blick des Erziehers, folgt man sinngemäß Corvisart (1808),
>der so oft über die umgängliche Gelehrsamkeit und die solideste Ausbildung
den Sieg davon trägt. Ist nur das Resultat des häufigen, methodischen und
richtigen Gebrauchs der Sinne…
Und Herbart bringt den angedeuteten Sachverhalt bereits im Jahre 1802 auf den
Punkt, indem er feststellt:>Nun schiebt sich aber bei jedem noch so guten
Theoretiker, wenn er seine Theorie ausübt […], zwischen die Theorie und Praxis
ganz unwillkürlich ein Mittelglied ein, ein gewisser Takt [kursiv im
Original] nämlich, eine schnelle Beurteilung und Entscheidung, die nicht wie
der Schlendrian, ewig gleichförmig verfährt, aber auch nicht, wie eine
vollkommen durchgeführte Theorie wenigstens sein sollte, sich rühmen darf, bei
strenger Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel, zugleich die
wahre Forderung des individuellen Falls ganz und gar zu treffen< (Herbart
1802, 44)…. (a. a. O. S.9)
Taktvolles Handeln der erzieherischen Persönlichkeit äußert sich … Jakob…
Muth zufolge als die Fähigkeit zur Situationssicherheit, als dramaturgische
Fähigkeit, als improvisatorische Gabe und als Wagnis zu freien Handlungsformen.
Ein >taktvoller< Erzieher ist damit in der Lage, eine gelassene Haltung
einzunehmen, die ihn für Unvorhergesehenes offen hält (Muth 1967, 77)… Dann
verweist Muth (ebd.) auf die Bedeutung der Natürlichkeit des Handelns
des Erziehers. Auf der einen Seite muss es dem Erzieher möglich sein, sein
erzieherisches Handeln im Sinne einer >Seins-Autorität< (Fromm 1976) zu
verwirklichen und nicht im Sinne einer >Habens-Autorität< (ebd.)
künstlich zu kultivieren. >Der springende Punkt ist, ob man Autorität hat
oder ob man eine Autorität ist< (Fromm 1976, 298)… Schließlich geht
es um die Vermeidung von Kränkungen im erzieherischen Verhältnis… (a. a. O.
S.10)
… Vom Säugling bis zum alten Menschen ist es unhintergehbar das menschliche
Lernen mit all seinen Schwierigkeiten, auf das es die Pädagogik und die
Erziehung abgesehen haben. In einem zweiten Schritt geht es dann darum,
gewissermaßen in differentialdiagnostischer und differentialindikativer
pädagogischer Absicht, diese Probleme des Lernens auf ihr Wesen hin zu
befragen, um Erkenntnis darüber zu erlangen, welcher Lernbedarf dem
Lernproblem zu Grunde liegt. ..-. Wissen darüber…., was der Mensch im Angesicht
der Anforderungen seiner Lebenspraxis und vor dem Hintergrund seines
Lebenslaufs bisher gelernt hat, was bislang noch nicht gelernt wurde, aber
nötig wäre oder was noch in Zukunft gelernt werden soll,,, (a. a. O. S.11)
… Erst durch die lernende Aneignung von Fertigkeiten, von Wissensbeständen und
von Willenseinstellungen gelingt es dem Menschen, sukzessiv sein Leben, soweit
es möglich ist, in personaler Selbstbestimmung zu gestalten… (a. a. O. S.12)
… Wäre sozialisatorische Interaktion die einzige Antwort auf die
Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, würde der Mensch nicht überleben. Weder
die anlagebedingten noch die umweltbedingten Aktions- und
Reaktionsbereitschaften könnten angemessen auf die Erziehungsbedürftigkeit es
Menschen reagieren. Dies vermag ausschließlich die Erziehung… (a. a. O. S.13)
.. Und somit stellt das erzieherische Verhältnis, in dem Themen mit Blick auf
aneignendes Lernen zeigend vermittelt werden, den zentralen Parameter der
Personwerdung dar, der sich kategorial
von den psychischen Parametern, den biologischen Parametern und den
sozialen Parametern unterscheidet…
Ob nun Mündigkeit begriffen wird als die Fähigkeit zum Eigendenken (Kant), als
herrschaftsfreier Vernunftgebrauch auf der Basis der Selbstreflexion
(Habermas), als die individuelle Bewährung in der Gemeinschaft (Rousseau) oder
als gebildete Individualität (Humboldt), immer geht diesem Zustand ein
Lernprozess voraus…. (a. a. O. S.14)
… Im Zentrum dieser Ausführungen steht zunächst die Darstellung des
pädagogischen Aufbaus der Person als Ensemble von Themen aus den Lernbereichen
des Könnens, Wissens und Wollens. Wirkt der Aufbau der Person zunächst noch
sehr statisch, so wird dieser durch zwei Sachverhalte dynamisiert. Zum einen
bewegt sich der Mensch in einem Kreislauf von Lernen, Lernhemmungen und
Lernhilfen (Loch 1999)… Zum anderen bewegt sich der skizzierte Kreislauf
gewissermaßen über den Lebenslauf und die Lebensalter hinweg. Das heißt, dass
zum Beispiel die (Lern-)Themen des Könnens im Kleinkindalter völlig andere sind
als im Jugend- oder späten Erwachsenenalter…
Schließlich muss noch das >Pädagogische Ethos< (Kapitel 4) oder bessere:
auf das Ethos der Erziehung eingegangen werden… (a. a. O. S.15)
… Auch besteht darüber hinaus unter Fachleuten kein Konsens hinsichtlich der Aufrechterhaltung und Weiterverwendung des Begriffs Pädagogik. Verflüchtigte sich dieser schon im Laufe der 1960er Jahre – aus der >alten< (geisteswissenschaftlichen) Pädagogik wurde die >neue< (sozialwissenschaftlich ausgerichtete) Erziehungswissenschaft –, so geht heute der Trend in Richtung (empirischer) Bildungswissenschaft. Durch Entsorgung des Pädagogischen, nämlich der Erziehung, ist, so scheint es zumindest, der Anschluss an eine sich selbst empirisch-naturwissenschaftlich (miss-)verstehende Humanwissenschaft möglich geworden. Ob diese Entwicklung dem gattungsspezifischen Phänomen der Erziehung gerecht wird oder mit dieser gar nichts mehr zu tun hat und haben will, bleibt abzuwarten. Für dieses Buch gilt aber die begründete Annahme, dass es die Pädagogik in zweierlei Hinsicht gibt. Zum einen als Wissenschaft und zum anderen als professionelle Berufspraxis. Dass ein Großteil der ‚Erziehung‘ von pädagogischen Laien – ganz voran die Eltern – geleistet wird, bleibt von dieser Bestimmung unberührt… (a. a. O. S.16)
2
Pädagogisches Wissen
2.1 Grundlagen einer pädagogischen Anthropologie
Micha Brumlik
2.1.1. Drei Mythen und ihre Kritik
… Die drei Mythen, die … Steven… Pinker …in… >Das unbeschriebene Blatt…
zerstören will, sind die des Menschen als eines leeren Blattes, eines
unbegrenzt lernfähigen und konditionierbaren Wesens, des >Dualismus von
Geist und Körper<, also der Mythos vom >Geist in der Maschine<, sowie
schließlich des >Edlen Wilden< …. So stehe der Empirismus John Lockes für
die Überzeugung des menschlichen Geistes als einer tabula rasa, der Mentalismus
des René Descartes für einen Leib/Geist Dualismus und Jean Jacques Rousseau für
den Glauben an einen von Natur aus guten, von keinerlei angeborenen aggressiven
Impulsen getriebenen Menschen…. (a. a. O. S.19,20)
… David Rowe (1997) … konnte… in seiner bahnbrechenden Studie über >Genetik
und Sozialisation (1997) nachweisen, dass die meisten
sozialisationstheoretischen Studien bezüglich des Einflusses des Elternhauses
wenn schon nicht falsch, so doch zumindest wertlos sind, da sie in den
allermeisten Fällen den möglichen genetischen Einfluss nicht überhaupt
mitkontrolliert haben. Demgegenüber können Zwillings- und Adoptionsstudien den
erheblichen Einfluss genetischer Faktoren in wesentlichen Dimensionen beweisen…
Der von Pinker kritisierte zweite Mythos, der Geist/Körper ‚Dualismus, …., ist
in den letzten Jahren nicht zuletzt durch die experimentell verfahrende
neurobiologische Hirnforschung widerlegt worden, die die relative Spezifität
von Kompetenzen und Dispositionen in Bezug auf bestimmte Hirnareale nachweisen
konnte Damit sei – so Pinkers weitergehende Schlussfolgerung – die
Hoffnung, im menschlichen Gehirn ein besonders leistungsfähiges, sich im Lauf
der Sozialisation ständig flexibel weiterentwickelndes Lernorgan sehen zu
können, widerlegt. (a. a. O. S.20,21) … Schließlich – was den dritten Mythos
vom guten Wilden im Sinne des Rouseauismus betrifft – können sowohl Zwillings-
als auch Adoptionsforschung, vor allem aber evolutionstheoretische und
evolutionspsychologische Annahmen Folgendes plausibel machen: dass
Aggressivität – also zumal bei männlichen Gattungsangehörigen angelegte
Dispositionen zur Erweiterung ihres Territoriums, zum aktiven Werben um
Weibchen und zum Kampf gegen Konkurrenten – eine nicht nur für die Gattung homo
sapiens und ihre Mitglieder sinnvolle Verhaltensdisposition ist… (Plomin 1999;
Pinker 2003, 425f.)
Pinkers naturwissenschaftlich gestützter Abschied von der Traditionslinie
Locke, Descartes und Rousseau lenkt den Blick auf deren Antipoden, nämlich auf
Leibniz, Spinoza und Hobbes, also auf jene Philosophen des Rationalismus, die
auf der relativen, durch Lernen nicht modifizierbaren Undurchdringlichkeit
jeder Individualität, ihrer strikten Zugehörigkeit zur Natur sowie ihrer
unausrottbaren, allenfalls einschränkbaren Aggressivität bestehen. Dem sind
neuere Trends in der Sozialwissenschaft gefolgt…(Luhmann/Schorr 1982; Luhmann
2002¸Radtke 2003)… (a. a. O. S.21)
2.1.2 Hermeneutik der Naturgeschichte
… in Kants Vorlesungen über Pädagogik … heißt [es]: >Der
Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß […]<. Disziplin oder
Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um… Der Mensch braucht… eigene
Vernunft. Er hat keinen Instinkt… Die Menschengattung… >soll die ganze
Naturanlage der Menschheit, durch ihre eigene Bemühung, nach und nach von
selbst herausbringen.< (Kant 1970, 697) … der Mensch… >… ist nichts, als
was die Erziehung aus ihm macht< … Wäre im Sinn dieser Wissenschaften … von
Soziobiologie, Zwillingsforschung, neurobiologischer Gehirnforschung… nicht
viel eher zu behaupten, dass der Mensch das ist, was die Evolution aus ihm
gemacht hat?... (a. a. O. S.22)
Diese Frage zu beantworten , bedarf es einer >Hermeneutik der menschlichen
Naturgeschichte, wie Jürgen Habermas diese Thematik genannte hat.. (Habermas
1999,30) Dem Spannungsverhältnis von >Natur< und >Kultur< galten
schon die Reflexionen der klassischen antiken Philosophie…. Diese Überlegung
verdichtet sich bei Platon und Aristoteles in dem Gedanken, dass insbesondere
menschliche Gewohnheiten zu Natur werden, mehr noch, dass am Ende – so der
hellenistisch-jüdische Philosoph Philo – andauernde Gewohnheit stärker sei als
Natur… bei Cicero (1989, V.25, 74) wird dann der Begriff einer anderen,
einer zweiten Natur explizit artikuliert… (a. a. O. S.23)
Rousseaus Rede von der Mithilfe der menschlichen Freiheit bei der
Aufrechterhaltung der menschlichen Maschine, d.h. des biologischen Substrats,
bezieht sich systematisch auf jenen Übergang von Natur zu Kultur, von der
ersten zur Zweiten Natur, der sich nicht nur vor Millionen Jahren
phylogenetisch ereignet hat, sondern sich in menschlichen Lebensläufen in der
Ontogenese bei jeder Geburt mehr oder minder gelungen vollzieht… (a. a. O.
S.25) Während die natürliche Evolution nichts anderes darstellt als einen
außerordentlich langsam verlaufenden, zufallsgesteuerten … auf Selektion
beruhenden Prozess, verläuft die kulturelle Evolution nicht nur schneller,
sondern bedient sich auch anderer Mechanismen. Betrachtet man den
Hominisationsprozess insgesamt und damit die Tatsache, dass sich die
Gattung>Homo< vor sechs Millionen Jahren von anderen, artverwandten Affen
abspaltete und das es wiederum 250 000 Jahre her ist, dass der >Homo
sapiens< entstanden ist, muss es verwundern, dass es diese Gattung in nur 15
000 Jahren gelungen ist, vom Hersteller einfacher Pfeilspitzen zur Konstruktion
von Weltraumfahrzeugen… von irgendwie regelhaft beigesetzten Gebeinen zu
hochkomplexen, wohlstrukturierten symbolischen Ordnungen wie wissenschaftlichen
Theorien zu gelangen. (a. a. O. S.26)
… Freilich – und das kompliziert den Fall – wissen wir inzwischen, dass
die Gattung >Homosapiens< keineswegs die einzige biologische Art ist, die
Verhaltensweisen und die ihnen zugrundeliegenden kognitiven und affektiven
Dispositionen kulturell, d. h. über Imitationslernen überträgt…
Im evolutionären vergleich ist freilich der Vergleich mit den Menschenaffen,
mit denen die Gattung >Homosapiens< mehr als 99% des Erbguts teilt,
deswegen besonders aufschlussreich, weil sich hier… entsprechend höherstufige
kulturelle Artefakte nicht herausgebildet haben… Allen Formen aber liegt eine
besondere Form sozialer Kognition zugrunde, die in der neurobiologischen
Forschung inzwischen als naive >theory of mind< bezeichnet wird, d.h. als
nun in der Tat angeborene Disposition, andere Angehörige der Gattung als Wesen
seinesgleichen zu schematisieren, d.h. sie als Wesen zu verstehen, die
ebenfalls Intensionen haben, die nachvollziehbar sind und in die man sich
hineinversetzen kann… (a. a. O. S.27) Die Fähigkeit, Verhaltensweisen
kulturell,, d.h. durch <lernen zu tradieren, impliziert also bei Angehörigen
der Gattung >Homo sapiens< die Disposition zur Ausbildung von
Sinnverstehen, wenn wir denn >Verweisungszusammenhänge<, die als solche
wahrgenommen werden,, als >Sinn< bestimmen wollen…
Laut Sigmund Freud und seinen Nachfolgern, bis hin zu Theoretikern, die einen
nicht missbräuchlich konnotierten Begriff der Verführung als Basisoperation
aller Erziehung und aller Sozialisation ansehen (Laplanche 1988)… Ebenso
sehr ist es endlich doch die der Gattung eigene menschliche Fähigkeit, Symbole
zu verwenden und sich dabei tentativ in die Erwartungen, das Wissen und die Gefühle
anderer hineinzuversetzen, die das Thema pädagogischer Anthropologie ist…. (a.
a. O. S.28)
Der Mensch stellt ein animal symbolicum (Ernst Cassirer) dar, das … über die
Ontogenese geführt…, ein nicht nur imitatorisches, sondern ein kreativ-distanziertes
Weltverhältnis hat…. Wenn es zutrifft, dass jene Dispositionen, die
symbolisches Handeln und Sinnverstehen ermöglichen, einschließlich der
Fähigkeit, Sprachkompetenz auszubilden und Sprachperformanz zu entfalten, nur
und ausschließlich durch Interaktionen in der Ontogenese aktiviert werden
können, dann sind Erziehung und Sozialisation –ganz im Sinne Kants – für die
Menschwerdung des Menschen tatsächlich unverzichtbar… (a. a. O. S.29)
Dass der Mensch von Natur aus gut ist und ihn lediglich die Zivilisation
verdorben habe, dieser Auffassung können wir … eine modifizierte … Lesart
geben: dass nämlich die kulturelle Evolution die sozialen und technischen
Destruktivkräfte in einem ebenfalls exponentiellen Ausmaß gestiegen ist. Somit
wäre die Menschheit also besser beraten, die ja ebenfalls genetisch angelegten
und evolutionär ja ebenfalls außerordentlich erfolgreichen sorgenden und
zuwenden Verhaltensdispositionen im privaten und öffentlichen Leben durch
Erziehung und Bildung zu kultivieren…
2.1.3 Menschen: Leiblichkeit und Generation
… Jede Reform erzieherischer Praxis setzt – spätestens seit Rousseau – eine zwar normativ bestimmte, aber doch auch aufs biologische Substrat bezogene Perspektive voraus Diese Perspektive muss normativ sein, sonst könnte sie ihrem kritischen Anspruch nicht gerecht werden, sie muss aber auch biologisch gerichtet sein, da sie sonst ihre Phänomene verlöre… (a. a. O. S.31) … Das genealogische Generationenverhältnis ist allen anderen Generationsverhältnissen vorgelagert. Es ist unlösbar verknüpf mit der körperlichen Zweigeschlechtigkeit des Menschen. >Geschlechterdifferenz ist Voraussetzung für Generativität und Generation< (Winterhager-Schmidt 2000, 26)
2.1.4 Sinn und Funktion generationeller, sexueller Fortpflanzung
Die Replikation des Erbguts durch zwei unterschiedlich
spezialisierte, eingeschlechtliche Exemplare einer Gattung hat sich im Zuge der
Evolution aus zwei Gründen… durchgesetzt: Erstens ermöglicht die
Zweigeschlechtlichkeit eine größere Variation des Erbguts. Zweitens räumt die
Spezialisierung auf die alleinige Produktion von Eizellen hier und Spermien
dort den jeweiligen Exemplaren größere Replikationschancen ein, als wenn sie
zwittrig wären. Spermienproduzenten – Männchen – können hinfort die Verbreitung
ihres Erbguts nicht mehr nur durch Begattung, sondern auch durch Kampf und
Ausschaltung des Nachwuchses anderer befördern, ohne sich um Aufzucht und
Pflege kümmern zu müssen…
Unter Bedingungen riskanter, das Überleben unwahrscheinlich lassender Umwelten
erscheint die schnelle und häufige Zeugung von Nachwuchs unter Inkaufnahme
einer nicht intensiven Brutpflege optimal. Hingegen prämieren stabile Umwelten
seltener auftretende und langsamer verlaufende Zeugungs- und Gebärstrategien…
(a. a. O. S.33)
Dem entspricht die evolutionäre Bedeutung jener bei der Gattung ebenfalls
besonders langen Lebensphase vor dem reifungsbedingten Einsetzen des
Fortpflanzungsapparats, der hier als >biologische Kindheit< bezeichnet
wird. Deren Sinn besteht darin, eine lange Lehrzeit für das erfolgreiche
Funktionieren als Erwachsener zu ermöglichen.
[Hierzu…] resümiert Asthanasios Chasiotis … >… Die kindliche
Pflegebedürftigkeit wird daher als Voraussetzung gesehen, mit der der Mensch
seine Nachkommen zu >besseren, reproduktiv überdurchschnittlich erfolgreichen
Erwachsenen großzuziehen in der Lage ist . Um dieses Ziel zu erreichen, ist in
den ersten ungefähr fünf Lebensjahren von einer sensitiven Periode auszugehen,
in der das Kind die Fortpflanzungsstrategien der erwachsenen
Familienmitglieder übernehmen lernt […]< (Chaniotis 1999, 14; vgl. auch
Blasffer-Hrdy 2000)
… die relevanten Bezugspersonen Neugeborener – in der überwiegenden Mehrheit
die Mutter– …verhalten… sich… ihren neugeborenen Kindern gegenüber in einer
eigentümlichen Mischung von vorbewussten Selektionsstrategien, moralischen
Imperativen und partnerschaftsbezogenen Lebensentwürfen… (a. a. O. S.34,35)
Entsprechend lautet das Fazit der evolutionspsychologisch arbeitenden
Anthropologin und Evolutionspsychologin Sarah Blaffer-Hrdy zum Rätsel der
Adoption ausgesprochen schwächlicher Kinder
>Im Gegensatz zu anderen Tieren sind Menschen in der Lage, bewusst
Entscheidungen zu treffen, die ihren Eigeninteressen zuwider laufen…<
…
2.1.5 Grundbegriffe: Interaktion und Kommunikation
… Unter >Interaktionismus< wird… eine Theorie der
Wechselbeziehungen von Personen verstanden, die allemal auf einer bestimmten
Kommunikation beruht… (a. a. O. S.35)
… Die Beziehung der Gattungsgenossen untereinander, ihre dem eigenen Überleben
geschuldete dienliche Kooperation, wird nach… George Herbert Mead
(1863-1931)… [in] >Mind, Self and Society<… vor allem durch
>Gesten< gesteuert, die einem zunächst angeborenen Repertoire entstammen.
Bei Angehörigen der biologischen Gattung Mensch wird die Koordination von
Handlungen und Verhaltensweisen indes vor allem durch auditive, durch vokale
Gesten gesteuert…. Durch genau diesen Mechanismus verfügt die Gattung nach Mead
über die Fähigkeit zur Antizipation und das heißt zur Übernahme der
Perspektiven Anderer… (a. a. O. S.36) .. Entscheidend ist, dass jedes
>Selbst< immer auch auf künftige Reaktionen anderer eingestellt ist, dass
Selbstbewusstsein, Identität Und intersubjektive Handlungen unauflöslich, aber
analysierbar miteinander verflochten sind. Der Mensch als jenes Wesen also, das
sich selbst in symbolischer Interaktion bildet, erfährt unter den genannten
Bedingungen den Prozess seines Heranwachsens als einen Prozess der immer
differenzierteren Übernahme von Rollen, d.h. von antizipierten Erwartungen,
genauer noch von Erwartungserwartungen… aus einer Beobachter-und einer
Teilnehmerperspektive… (a. a. O. S.37)
… Von besonderer erziehungswissenschaftlicher Bedeutung sind dann die
sozialisatorischen Interaktionen in Peergroups verschiedenen Alters, in
Eltern-Kind sowie Lehrer-Schüler Interaktionen, wobei die Eltern-Kind
Interaktion jedenfalls gemäß der Theorie von Mead schon deshalb Vorrang hat,
weil sie in aller Regel, im statistischen Normalfall, am häufigsten vorkommt…
(a. a. O. S.38)
… Die Aufgabe dieser Annahmen [des Integrationstheorems , des
Identitätstheorems und des Konformitätstheorems gemäß der Einwände Jürgen
Habermas‘] führt dann zu der schon im Interaktionismus angelegten
interpretativen Rollentheorie, demgemäß alle Interaktionen zwischen Menschen –
auch und sogar in eingespielten, routinierten und institutionellen Kontexten –
eine von unterschiedlichen Ressourcen gestützte Aushandlung sind, die, soll sie
erfolgreich sein, den Interaktionsteilnehmern vier bestimmte
>Grundqualifikationen des Rollenhandelns< (Krappmann 1971) abverlangt:
>Rollendistanz< als individuell erkannte Differenz zwischen dem
Individuum und der je situativ von ihm geforderten Rolle;
>Ambiguitätstoleranz< als Fähigkeit, bei zwei gleichzeitig erfahrenen, in
der Sache einander entgegengesetzten Rollenerwartungen, eine eigene Perspektive
beibehalten zu können; >Empathie< als die Fähigkeit, sich in die
Situation und Perspektive anderer so weit wie möglich hineinzuversetzen, d.h.
sie tendativ zu übernehmen, sowie schließlich die Fähigkeit, die als >Darstellungskompetenz<
bezeichnet wird, d.h. die Fähigkeit, den jeweiligen Interaktionspartnern
mitzuteilen bzw. sie zu informieren, das man über Rollendistanz,
Ambiguitätstoleranz und Empathie verfügt. (a. a. O. S.39,40)
Wenn es jedoch um Mitteilungen bzw. das Geben von Informationen geht, ist man
auch beim Begriff der >Kommunikation< und damit bei der Frage dem
Verhältnis der Begriffe >Interaktion< und >Kommunikation<….
beim Philosophen Karl Jaspers als durch Mitteilung erwirkte >Gemeinschaft
gegenseitigen bewussten Verständlichwerdens< (Jaspers 1960,72) …(a. a.
O. S.40) … seit 1971 als >Habermas-Luhmann< (Habermas/Luhmann 1971)
Kontroverse bekannt geworden… [ist] die Frage, ob >Sinn< … prinzipiell
auch einem einsamen Individuum zur Verfügung stehende Intentionalität, oder ob
sich der Begriff des Sinns grundsätzlich überhaupt nur vor dem Hintergrund
einer intersubjektiv möglichen Sprechsprache erläutern lässt. Tatsächlich
unterscheidet die neuere Philosophie zwischen >Sinn< und
>Bedeutung<: >Bedeutung< bezeichnet dabei Objekte oder Zustände,
auf die sprachliche Ausdrücke verweisen. Der Begriff >Sinn< hingegen
umfasst die Regeln, nach denen sprachliche Ausdrücke verwendet werden…
Der Prozess der Kommunikation aber fasst drei Selektionsmodi sozialer Systeme
zusammen, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen. Das
>Verstehen<wird hierbei als vorrangige oder doch mindestens erste
Leistung eines sozialen Systems aufgefasst… (a. a. O. S.41)
Unwahrscheinlich ist gelingende Kommunikation zwischen Menschen deshalb, weil
Menschen und ihr Bewusstsein – ihr psychisches System – wie alle Systeme in
sich operational geschlossen sind und ihre wechselseitige Beobachtung
hochgradig kontingent ist. Das heiß, dass es letztlich auf Zufällen beruht,
ob eine subjektiv vermeinte Intention eine andere Person (alter) mit
demselben Sinngehalt tatsächlich erreicht. Dass es dennoch möglich ist,
gelingend zu kommunizieren, liegt an der evolutionären Herausbildung
symbolischer generalisierender Kommunikationsmedien, also zunächst der Sprech-
und Schriftsprache, dann aber auch der Kommunikationsmedien >Macht<,
>Liebe<, >Wahrheit<, >Geld< und >Kunst<….. (a. a. O.
S.42)
… Damit bleibt freilich noch immer die erziehungs- und
sozialisationstheoretische Frage offen, wie Angehörige der Gattung >Homo
sapiens< ontogenetisch individuell die Fähigkeit zur Teilnahme an derartigen
Sprachspielen erwerben und welches die dazu gattungsspezifischen, biologischen
Voraussetzungen sind. Die neuesten Ergebnisse der Humananthropologie
(namentlich die Forschungen von Michael Tomasello) gehen nicht nur davon aus,
das die je einzelnen Exemplare der biologischen Gattung Mensch im Unterschied
zu allen anderen höheren Primaten über das verfügen, was die Hirnforschung als
>theory of mind< bezeichnet, also ein Bewusstsein davon, dass alle
anderen Angehörigen derselben Gattung ebenfalls über Wissen und Bewusstsein
verfügen. Stattdessen wird angenommen, dass Individuen dieser Gattung
prinzipiell auf die Inanspruchnahme und Gewährung von Hilfe durch andere
Exemplare der Gattung angelegt sind (Tomasello 2010a)… Andererseits … kann
Tomasello theoretisch und empirisch gestützt nachweisen, dass es die
vorsprachliche Fähigkeit zu gestischem Zeigen und Verstehen des Gezeigten ist,
die der menschlichen Kommunikationsfähigkeit zugrunde liegt… (a. a. O. S.43)
Eine pädagogische Anthropologie, die die Ergebnisse der Psychoanalyse – ohne
sie in allen Aspekten übernehmen zu müssen – vernachlässigte, wäre eine
Anthropologie, die wesentliche Elemente der Leiblichkeit, allemal das Begehren,
die Triebhaftigkeit sowie kulturell nicht zugelassene Wünsche überginge und
damit halbiert bliebe. Ein Überblick auf Sigmund Freuds eigene Überlegungen zur
Pädagogik soo dieses Theorieelement zumindest in Erinnerung bringen.
2.1.6 Leiblichkeit und Psychoanalyse
Am Ende seiner berühmt gewordenen Darstellung der
>Analyse eines fünfjährigen Knaben<, des >Kleinen Hans<, muss
Sigmund Freud einräumen, dass sie mäandernde Darstellung des Falles >dem
Leser einigermaßen undurchsichtig geworden< sei und er sich deshalb gehalten
sieht, Deutung und Darstellung schon zu straffen, um endlich doch >allgemein
Wertvolles für Kinderleben und Kindererziehung< (Freud 1999a,372) mitteilen
zu können…
>Dass die Erziehung des Kindes einen mächtigen Einfluss machen kann,
zugunsten oder zuungunsten der bei dieser >Summation< in Betracht
kommenden Krankheitsdisposition, ist zum mindesten sehr wahrscheinlich, aber
was die Erziehung anzustreben und wo sie einzugreifen hat, das erscheint noch
durchaus fragwürdig. Sie hat sich bisher immer nur die Beherrschung, oft
richtiger Unterdrückung der Triebe zur Aufgabe gestellt; der Erfolg war kein
befriedigender und dort, wo es gelang, geschah es zum Vorteil einer kleinen
Anzahl bevorzugter Menschen, von denen Triebunterdrückung nicht gefordert
wird.< (Freud 1999a, 376) Damit scheint Freud, jedenfalls der des
Jahres 1909 – seinem ihm immer wieder nachgesagten Konservatismus und Realismus
zum Trotz – >Erziehung< als eine durchgängig repressive, in ihrer ihm in
diesem Fall keineswegs notwendig kulturbildende Praxis angesehen zu haben.
Freud will daher auch gar nicht erst danach fragen, >auf welchem Wege und
mit welchen Opfern die Unterdrückung der unbequemen Triebe erreicht wurde.
Substituiert man dieser Aufgabe eine andere, das Individuum mit geringsten
Einbußen an seiner Aktivität kulturfähig und sozial verwertbar zu machen, so
haben die durch die Psychoanalyse gewonnen Aufklärungen über die Herkunft der
pathogenen Komplexe und über den Kern einer jeden Neurose eigentlich den
Anspruch, vom Erzieher als unschätzbare Winke für sein Benehmen gegen das Kind
gewürdigt zu werden. (Freud 1999a, 377)
Wenn überhaupt, so wird hier allenfalls von einer Art negativer Erziehung
gehandelt, freilich nicht im Sinnen Rousseaus, sondern eher im Sinne eines
Falsifikationsprinzips, d. h. einer gesteigerten Aufmerksamkeit für das, was
auf jeden Fall zu unterbleiben hat. (a. a. O. S.45,46)…
… Auf der Linie Rousseaus, dessen Werk und Leben Freud ebenso kannte wie das
Schleiermachers (Freud 1999b, 29), plädiert Freud für einen Pädagogie der
Verschonung, deren praktische Ausarbeitung indessen seiner psychoanalytischen
Theorie nicht unmittelbar zu entnehmen ist, denn: >Welche praktischen
Schlüsse sich hieraus ergeben, und inwieweit die Erfahrung die Anwendung
derselben [nämlich der Triebunterdrückung als Erziehungsideal oder der
psychoanalytischen Theorie?] innerhalb unserer sozialen Verhältnisse
rechtfertigen kann, dies überlasse ich anderen zur Erprobung und
Entscheidung< (Freud 1999a,377)…
Tatsächlich – so Freud – kommt es bei Kindern gelegentlich zu sexuellen
Äußerungen, die sich der Sublimierung entzogen hätten; gelegentlich fänden sich
sogar bei vorpubertären Kindern regelmäßige Formen sexueller Betätigung… (a. a.
O. S.46) … Aber was ist
>Sexualität< und vor allem: Was unterscheidet die Sexualität Erwachsener
von der Sexualität vorpubertärer Kinder (Quindeau/Brumlik 2012)?...
Die kindliche Sexualäußerung weist – untersucht man sie am Beispiel des
>Lutschens< drei wesentliche Merkmale auf: Sexualität entsteht nach Freud
im Kindesalter in Anlehnung an eine >lebenswichtige (!) Körperfunktion<,
kennt kein (externes) Sexualobjekt und steht unter der >Herrschaft< einer
erogenen Zone. Die kindliche Sexualität ist demnach wesentlich
>autoerotisch< und äußert sich in späteren Phasen sowohl in analer wie
auch in genitaler Masturbation, einschließlich einer frühen
>Säuglingsonanie<, von der Freud meint, dass ich >kaum ein
Individuum< (Quindeau/Brumlik 2012, 89) entgeht. (a. a. O: S.47,48) …
Verführung und Erziehung
.. das heute so genannte Problem des >sexuellen Kindermissbrauchs<, also
der sexuellen Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern… Für eine pädagogische
Theorie… wie sie Freud vorschwebte, wäre dann von Anfang an festzuhalten, das
auch die >Verführung< lediglich tiefer >ausprägen< kann, was
bereits angelegt ist.. Freud ist spätestens 1905 von der endogenen Kraft der
kindlichen Sexualität überzeugt: >Es ist selbstverständlich, dass es der
Verführung nicht bedarf, um das Sexualleben des Kindes zu wecken, dass solche
Erweckung auch spontan aus inneren Ursachen vor sich gehen kann (Masson 1984,
91). (a. a. O. S.48)
…die Ausführung findet darum geringe Widerstände, weil die seelischen Dämme
gegen sexuelle Ausschreitungen, Scham, Ekel und Moral, je nach Alter des Kindes
noch nicht ausgeführt oder erst in Bildung begriffen sind. Das Kind> – so
nun die bemerkenswerte Schlussfolgerung – >verhält sich hierin nicht anders
als etwa das unkultivierte Durchschnittsweib, bei dem die nämliche polymorph
perverse Veranlagung erhalten bleibt< (Masson 1984, 92). .. Zu Kultur
und Zivilisation , gleich in welchem Lebensalter und für welches Geschlecht,
gehört für Freud ein gerüttelt Maß an Scham, Ekel und Moral… (a. a. O. S.49)
>Während dieser Periode totaler oder bloß partieller Latenz werden die seelischen
Mächte aufgebaut, die später dem Sexualtrieb als Hemmnisse in den Weg treten
und gleich wie Dämme seine Richtung beengen werden. (der Ekel, das Schamgefühl,
die ästhetischen und moralischen Idealanforderungen). Man gewinnt beim
Kulturkind den Eindruck, dass der Aufbau dieser Dämme ein Werk der Erziehung
ist. In Wirklichkeit ist diese Erziehung eine organisch bedingte, hereditär
fixierte und kann sich gelegentlich ganz ohne Mithilfe der Erziehung
herstellen. Die Erziehung verbleibt durchaus in dem ihr angewiesenen
Machtbereich, wenn sie sich darauf beschränk, das organisch Vorgezeichnete
nachzuvollziehen< (Freund 1999c, 78)… (a. a. O. S. 50)
2.1.7 Das Ende des Menschen – Ende der Pädagogik?
Die historischen Wissenschaften schienen bisher einzulösen, was Michel Foucault
in seiner Ordnung der Dinge 1966 postuliert hatte: dass nämlich ein
undurchschaut normativer Begriff des >Menschen< eine neuzeitliche
Erfindung sei und ebenso verschwinden werde wie ein menschliches Antlitz, das
am Meeresufer in den Sand gezeichnet wurde. (a. a. O. S.54,55) Foucaults Absage
an Sartre, in der er 1966 begründete, warum gerade um der einzelnen Menschen
willen der Begriff des >Menschen< und mit ihm der >Humanismus< als
Ideologie destruiert werden müsse, endet mit einem programmatischen
Aufruf:
>Der Versuch, der gegenwärtig von einigen unserer Generation unternommen
wird, besteht daher nicht darin, sich für den Menschen gegen die Wissenschaft
und gegen die Technik einzusetzen, sondern deutlich zu zeigen, dass unser
Denken, unser Leben, unsere Seinsweise bis hin zu unserem alltäglichsten
Verhalten Teil des gleichen Organisationsschemas sind und also von den gleichen
Kategorien ab hängen wie die wissenschaftliche und technische Welt.<
(Foucault 1969, 207) … Foucault proklamierte bekanntlich im Rückgriff auf die
antike, griechische Philosophie eine >Ethik der Selbstsorge<, in dem der
Andere, die anderen eben nicht vorkamen… Es steht außer Frage, dass Foucault
diese –jüdisch-christlichen – Grundhaltungen für ein zu überwindendes Dispositiv
der Disziplinierung hält.
>Für die Griechen ist sie nicht deshalb ethisch, weil sie Sorge um die
anderen ist. Die Sorge um sich ist ethisch in sich selbst, aber sie impliziert
komplexe Beziehungen zu anderen in dem Maße, in dem dieses Ethos der
Freiheit auch eine Weise darstellt, sich um andere zu sorgen… (a. a. O.
S.54,55) … indem die Sorge um sich dazu befähigt, in der Polis, in der
Gemeinschaft oder in den Beziehungen zwischen den Individuen den gebührenden
Platz einzunehmen…< (Foucault 2005, 281f.)
Wenn das aber so ist, folgt aus diesem Umstand zwingend, … dass auch die Ethik
der Selbstsorge letzten Endes nichts weiter darstellt, als eine weitere
Spielart von letztlich unterdrückerischen Formen der (Selbst)disziplin…
2.1.8 Anthropologie des Idealismus und Pädagogik der Anerkennung
Schließlich zeigt sich: Weder auf den ersten Blick rein
rationale Moralen, die ihre Imperative nicht durch starke Annahmen einer
vorgegebenen menschlichen Natur oder einer verbindlichen Güterlehre bestimmen,
noch eine negative Anthropologie im Sinne Foucaults kommen ohne einen minimalen
Begriff des Menschen und einer aus diesem Begriff folgenden Moral aus. Die
Pädagogik des Idealismus ging dabei von Kants praktischer Philosophie aus:
>Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist:< – so Kant in der
>Metaphysik der Sitten< – >handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu
haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. - Nach diesem Prinzip ist
der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, dass er
weder sich selbst noch andere als bloße Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er
doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen. (a. a. O.
S.55,56) Überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen
Pflicht < (Kant 1968, 526). … Das von Kant artikulierte moralische
Achtungsgebot steht unter der Bedingung, dass die Angehörigen dieser
biologischen Gattung zu autonomen Individuen gebildet werden, und das dem
Umstand zum Trotz, dass sie dies über eine nicht ganz geringe Spanne ihrer
Lebenszeit noch nicht sind oder einmal nicht mehr sein werden. (a. a. O.
S.56,57)
… Das grundsätzliche erkenntnistheoretische Spannungsverhältnis von naivem
Realismus und radikalem Konstruktivismus schlägt sich in den Sozial- und
Erziehungswissenschaften als Spannungsverhältnis von Beschreibungen und
Zuschreibungen nieder…
Eine bildungstheoretisch informierte Theorie der Anerkennung wird sich… zu
Recht vor allem auf die von Hegel in der >Phänomenologie des Geistes<
entfaltete Theorie des Kampfes um Anerkennung sowie die von ihr geprägte
Theorie der Bildung beziehen (Siep 2000. 101f. und 189ff.)… (a. a. O. S.58)
… Vor Hegel … hat sich bereits Johann Gottlieb Fichte in seiner
>Grundlage des Naturrechts nach Principien der Sittenlehre< im
Jahre 1796 dieser Frage zugewendet. Fichtes Überlegungen sind für eine
pädagogische Theorie in mehrfacher Hinsicht von Interesse:
1. Fichte hat –klarer als Hegel – seine Anerkennungstheorie unmittelbar auf die
Intersubjektivität hin angelegt und darauf verzichtet, seine Theorie … zugleich
religionstheoretisch und gesellschaftsgeschichtlich einzubetten…
4. Fichtes intersubjektivistische Theorie der Freiheit und der Selbstbestimmung
ist von Anfang an im weitesten Sinne >pädagogisch<. Menschliche Wesen,
die gar nicht anders können, als sich wechselseitig die Befähigung zum freien
Handeln zuzuschreiben, kommen auch nicht umhin, sich zur freien Selbsttätigkeit
aufzufordern… (a. a. O. S.58)
Schließlich erweist sich Fichte als Theoretiker einer Pädagogik der Anerkennung
und Freiheit im Anschluss an Kant… (a. a. O. S.59)
.. die zentralen Begriffe von Fichtes Denken: Ich, ursprüngliche
Selbsttätigkeit, Selbsterschaffung, Trieb, Realität, Selbstbewusstsein,
Freiheit, Unendlichkeit. Freilich scheint Fichte in dieser Passage [sie wurde
von mir ausgelassen WW] auch eine Borniertheit auf diese Größen
anzudeuten; dass ein Bewusstsein also in der Täuschung lebt, das sich zunächst
absolute Ich, das ursprünglich selbsttätig ist und sich als solches selbst
erschafft und gleichsam von Natur aus dazu getrieben wird, sich als frei,
absolut und eben selbst erschaffen anzusehen. So sehr also Fichte der Philosoph
der Selbsterschaffung des Bewusstseins, der absoluten Freiheit und Autonomie
des Bewusstseins ist, so wenig war er mindestens in seinem späteren Denken der
Au8ffassung, dass das Bewusstsein diesen Glauben an sich selbst zu erschaffen
sich selbst verdankt. Erst die Einsicht, dass in und durch diese Tätigkeiten an
einem allgemeinen göttlichen Grund teil hat, wird ihm Beruhigung – ein seliges
Leben in der Wahrheit – bescheren. … – im Zeitalter der Sozialwissenschaften …
eigentümlich unzeitgemäß. Aber sofern man an die Stelle des >göttlichen
Grundes< das Ensemble menschlicher, gesellschaftlicher Interaktionsweisen
setzt, gewinnt das Argument seinen guten Sinn… (a. a. O. S.60)
2.2 Erziehung als pädagogischer Grundbegriff
Stephan Ellinger und Oliver Hechler (a. a. O. S.64)
2.2.3 Erziehung in metaphorischer Hinsicht (a. a. O. S.71)
… Orientierung an heilenden Motiven
Der >Erzieher als Arzt der Seele ist ein … altes Motiv …so kann festgestellt
werden, dass in vielen Kulturen, auch in Europa, den Heilkundigen nicht
selten auch die Aufgabe zukommt zu erziehen. Dies verwundert auch nicht weiter,
eignet sich der Arzt doch mit seinem Wissen über den Menschen und seinem
interventionspraktischen Können gerade dazu, Hinweise auf eine gesunde
Lebensführung zu geben. Etwas anders verhält es sich mit der Entfaltung des
Motivs in Richtung erzieherischer Tätigkeit…
Als aktuelles Beispiel …In Anlehnung an Paul Moors heilpädagogische Maxime
Nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende (Moor 1974, 317ff.) hat Miriam
Stiehler (2007a¸2007b) die Symptome der ADHS als Hinweis für einen Lernbedarf
im Bereich der Aufmerksamkeit gedeutet und entsprechend auf die Notwendigkeit
einer Aufmerksamkeitserziehung hingewiesen. Stiehler kritisiert die zunehmende
Delegation erzieherischer Aufgaben und Anforderungen an die Medizin und
Ärzteschaft…. (a. a. O: S.74,75) … Es ist ein Konzept der Diätetik, das die
pädagogische Dimension ärztlichen Handelns und die medizinische Dimension
erzieherischen Handelns ausmacht. In theoriegeschichtlicher Hinsicht kann für
die Medizin der Anspruch ausgemacht werden, >alle Lebensumstände und die
gesamte Lebenseise (diaita) des Menschen zu beurteilen und im Interesse seiner
individuellen Gesundheit nach Regeln zu ordnen< (Sünkel 1994, 29). Und für
die Pädagogik und die Erziehung gilt, >dass die Pädagogik nie etwas anderes
war als Anleitung zur Lebenskunst< (Zirfas 2007, 165)… (a. a. O. S.75)
Zeigen als die didaktische Seite der Erziehung (a. a. O: S.78)
Lernen als die anthropologische Seite der Erziehung (a. a. O.
S.81)
Modalitäten
des Lernens … (Göhlich/Zifas 2007)
Dimensionen
des Lernens …vier Dimensionen… Erstens das Wissen-Lernen, zweitens
das Können-Lernen, drittens das Leben-Lernen und viertens schließlich das
Lernen-Lernen… (a. a. O. S.83,84)
Lernen als Prozess… (a. a. O: S.85)
… Prozessmodell des Lernens … (Roth 1966) …
1. Lernschritt: >Stufe der Motivation<…
2. Lernschritt: >Stufen der Schwierigkeiten< … (a. a. O. S.86)
3. Lernschritt: >Stufe der Lösung< .. .
4. Lernschritt¨>Stufe des Tuns und Ausführens< … (a. a. O. S.87)
5. Lernschritt<. >Stufe des Behaltens und Einübens< ….
6. Lernstufe: >Stufe des Bereitstellens, der Übertragung und de
Integration des Gelernten< … (a. a. O. S.88) … Bildung oder
Selbstbildung meint im Grunde nichts anderes als die Versubjektivierung von
Lerninhalten.. das, was das Phänomen Erziehung also hervorbringt, ist das
Zusammenspiel von Zeigen und Lernen im Hinblick auf ein Thema. Über das
didaktische Dreieck hinaus, müssen also nich nur der Erzieher, der Zögling und
ein Thema gegeben sein, um von einer erzieherischen Situation zu sprechen.
Vielmehr muss der Erzieher… dem Zögling ein Thema so zeigen, dass dieser
potentiell in der Lage ist, sich die Inhalte des Themas lernend anzueignen…
2.2.6 Räume der Erziehung (a. a. O. S.89)
… Familie
Erziehung beginnt zunächst und zu allererst in und durch die Familie… (a. a. O.
S.90)
Schule
… Das, was den Eintritt in die Schule aus entwicklungspädagogischer Sicht so
bedeutsam macht, ist, dass hier der Übergang von der Familie zur Gesellschaft
prototypisch und institutionalisiert stattfindet… dass sich die Welt in
großem Stile zur Darstellung bringen lässt… (a. a. O. S.91)
Selbsterziehung
… Der Mensch ist .. aufgefordert, seinem Leben in Auseinandersetzung mit den
Anderen, der Welt und sich selbst eine individuelle Form zu geben…. (a. a. O.
S.92)
4
Pädagogisches Ethos
Klaus Prange
4.3 Moral – Ethik – Ethos
Das Moralische versteht sich keineswegs von selbst, wie
Ernst Theodor Vischer gemeint hat. Im Gegenteil: An der Moral entzünden sich
Konflikte und Streitpunkte. Offenbar gerade deshalb, weil wir bei Moralfragen
mit dem Bewusstsein völliger Gewissheit auftreten. Das gehört sich nicht!
Warum nicht? Weil es sich einfach nicht gehört. Das sagen wir auch den Kindern:
Das tut man nicht, das gehört sich nicht usw. Und tatsächlich behandeln wir
dann auch Heranwachsende und unsere erwachsenen Partner in Wahrheit wie Kinder,
wenn wir mit moralischer Gewissheit argumentieren. Mit anderen Worten: Moral
ist polemogen (vgl. Luhmann 2009, 280). >Moral […] hat eine Tendenz, Streit
zu erzeugen oder aus Streit zu entstehen und den Streit dann zu verschärfen<
(ebd.).Sie eignet sich dazu, Gegner zu identifizieren und sich Feinde zu
machen, um eben dadurch auch die eigenen Reihen zu schließen oder sich
überhaupt erst eine Gefolgschaft zu schaffen. (a. a. O. S.117,118) So ist der
politische Rivale eben nicht nur im Irrtum, er macht nicht nur Fehler, sondern
er taugt nichts, von vornherein und ganz unabhängig davon, was er an Gründen
und Belegen für seine Sache vorbringen mag.
Darin liegt zugleich ein weiterer Vorteil. Man kann Sachgründen bequemer
ausweichen, wenn man erst mal den Kontrahenten moralisch disqualifiziert. Und
im Übrigen haben moralische Urteile den großen Vorzug, die reichlich
unübersichtliche Welt in eine gute und eine schlechte, wenn nicht gleich böse
Seite aufzuteilen. Moral vereinfacht Sachlagen und ermöglicht Entscheidungen
auch bei mangelnder oder gänzlich fehlender Sachkenntnis. Die Guten haben eben
deshalb recht, weil sie gut sind, und die Bösen können nicht recht haben, sie
sind ja niederträchtig und verlogen, herzlos und was noch alles. Insofern ist der
moralisch getönte Diskurs ein beliebtes Übungsfeld für Unterstellungen und
Verleumdungen…
Deshalb Vorsicht, wenn Moral in Diskurse eingeführt wird, und Vorsicht, wenn
das Moralisieren an die Stelle ethischer Begründungen tritt….
Die Berufung auf Moral sichert Konsens, wo Instabilität und Ungewissheit an der
Tagesordnung sind…. Was die Erziehung angeht, ergibt sich die
Intransparenz aus dem, was in der modernen Diktion als >Technologiedefizit
der Pädagogik< beschrieben worden ist (vgl. Luhmann/Schorr 1982). Die Pointe
ist: Das Erziehen ist zwar eine Technologie, und zwar in dem Sinne, dass es ein
Verfahren zur Veränderung von Personen darstellt, aber eben ein solches, das
leider oder Gott sei Dank nicht ergebnissicher ist. (a. a. O. S.118,119) Wir
erklären etwas, aber die Schüler hören nicht zu oder verstehen das Gemeinte
anders, als wir es meinen. Unsere Mahnworte sind in den Wind gesprochen…
Unter >Ethik< soll hier nach einer heute üblichen und nützlichen
Unterscheidung die Theorie der Moral verstanden werden (vgl. dazu und zum
Folgenden Prange 2010). In der Ethik geht es darum, die normativen Grundlagen
des moralisch vertretbaren Handelns zu erkennen und zu bestimmen… Und
>Ethos<? Was soll gemeint sein, wenn wir allgemein von einem Ethos und
in unserem Fall speziell vom Ethos der Erziehung sprechen? … Die Antwort ergibt
sich aus der Abstraktheit allgemeiner Normen. Sie bedürfen einer Ergänzung
derart, dass die Umstände und Kontexte berücksichtigt und in den Blick gebracht
werden, in denen sie zur Geltung gebracht werden. (a. a. O. S.119,120)
Tatsächlich finden sich im alltäglichen Sprachgebrauch vielfältige Wendungen,
in denen dieses Dimension des Verhaltens zum Ausdruck kommt und die das zur
Sprache bringen, was hier mit >Ethos< gemeint sein soll. So sprechen wir
von Arbeitsmoral oder auch von Zahlungsmoral, um damit die Haltung oder
Gesinnung zu kennzeichnen, die sich in einem Verhalten zeigt. Oder die Rede ist
von der Kampfmoral einer Fußballtruppe… In der Tradition des
ethisch-moralischen Diskurses firmieren diese Formen eines Ethos unter dem
Titel der Tugenden, sowohl allgemein als das Viergespann der Kardinaltugenden:
Klugheit (prudentia), Maßhalten (temperantia), Tapferkeit (fortitudo)
und Gerechtigkeit (iustitia) wie auch speziell als die Tugenden eines
Standes, des Geschlechts, des Lebensalters, eines bestimmten Berufs … (a. a. O.
S.120) … Es ist nicht anzunehmen, dass damals oder heute oder überhaupt jemals
ein einzelner all das verkörpern könnte, was sich hier zusammengestellt findet.
Lässt man die Ehrfurcht gebietenden Namen beiseite und hält sich an die
Eigenschafen, für die sie stehen, dann bleiben Gesundheit und Kraft, Scharfsinn
und Gemüt, Begeisterung und Klarheit, Beredsamkeit, Kenntnisse, Weisheit und schließlich
in letzter Steigerung die Liebe. Das ist viel, allzu viel des Guten…. Schon vor
Diesterweg hatte Gotthilf Salzmann in seiner >Anweisung zu einer
vernünftigen Erziehung der Erzieher<, dem >Ameisenbüchlein< von 1806,
seinen Überlegungen das so genannte >Symbolum< vorangestellt. … >… Von
allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in sich
selber suchen<… (a. a. O. S.121) .. Das braucht nicht wirklich zuzutreffen;
denn, so Salzmann, >meine Meinung ist gar nicht, als wenn der Grund von
allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge in dem Erzieher wirklich läge:
sondern ich will nur, daß er ihn in sich suchen soll<.
Die Pointe dieser Bestimmung des pädagogischen Ethos liegt in Folgendem: Im
erzieherischen Verhältnis ist zugleich auch das Verhältnis des Erziehenden zu
sich selbst eine Komponente…
Es gibt auf der einen Seite beobachtbare Fakten des Umgangs miteinander
in erzieherischen Konstellationen und auf der anderen Normen und Werte, die der
Faktenlage teils entsprechen, teils opponieren. (a. a. O. S.122,123) Insgesamt
stellt sich dann das Erziehungsgeschehen als ein Aggregat von disparaten
Faktoren dar: für die eine Seite ist die empirische Forschung zuständig, für
die andere eine von Meinungen, Interessen und Ideologien geprägte Programmatik
… (a. a. O. S.123) …
4.2. Erziehung als Gewissens- und als Rechtspflicht
Vor dem Ethos komm die Ethik, in der es um die
Verbindlichkeit von Aufgaben, Vorschriften und normativen Erwartungen geht…
Ohne Ethik kein Ethos, wenn das Ethos mehr sein soll als die Behauptung
persönlicher Einstellungen und Überzeugungen…. Das Ethos ist diskursfähig und
auch diskursbedürftig…
In jüngster Zeit haben die bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in renommieren
Erziehungseinrichtungen einen Anlass der allgemeinen Empörung über
pädagogisches Fehlverhalten geboten. (a. a. O. S.124,125) wenn man… den Blick
auf das pädagogische Problem richtet, das sich in den aktuellen Fällen zeigt,
so ist unabweisbar, dass die Frage nach der Eigenart und den ethischen
Implikationen des pädagogischen Verhältnisses oder wie auch vielfach formuliert
wird: die Frage nach dem pädagogischen Bezug neu zu überdenken ist. Sie
betrifft die Stellung der Eltern zu ihren Kindern, der Lehrerinnen und Lehrer
zu ihren Schülerinnen und Schülern, der Heimerzieher zu ihren
Schutzempfohlenen, der Ausbilder und Übungsleiter, Trainer und Meister zu ihren
jeweiligen Lerngruppen; in einer weiteren Perspektive auch das Verhältnis der
Dozenten zu den Studierenden. Diese unvollständige Aufzählung mag
verdeutlichen, dass es den pädagogischen Bezug in einer einfachen und
schlichten Form nicht gibt; er zeigt sich vielmehr in vielfältigen Facetten und
durchaus verschieden in unterschiedlichen Kontexten. Gemeinsam ist diesen
Varianten, dass es in ethischer Hinsicht dabei immer auch darum geht, was die
Erziehenden dürfen, was sie sollen und was sie gerade nicht dürfen… [wenn] es
sich ja zuerst einmal um Unmündige handelt. Das allein ist schon ein Sonderfall
des Rechts und der Moral. Üblicherweise behandelt die Ethik als Theorie der
Moral die Beziehungen zwischen Erwachsenen… (a. a. O. S.125) …Fangen wir also
mit den Pflichten gegenüber den Kindern an. Da sind es zuerst die Eltern, die
wir ins Auge fassen müssen, und zwar ausdrücklich die natürlichen, leiblichen
Eltern, Vater und Mutter… Elternschaft ist weder eine Rolle noch ein Beruf,
sondern gewissermaßen ein Naturereignis mit moralischen Implikationen…
was man auch sonst noch an psychologischen oder wirtschaftlichen Gründen
anführen mag, ist noch gar keine normative Begründung.
Wie eine solche Begründung aussehen kann, können wir von Kant lernen. Er hat in
der Tat in seiner >Metaphysik der Sitten< von 1796 eine normative Antwort
vorgelegt; sie besteht kurz gefasst darin, das die Eltern >eine Person ohne
deren Einwilligung in die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herübergebracht
haben< (Kant 1966b, 394). Sie haften gewissermaßen für ihre Kinder und sind
deshalb verpflichtet,>sie so viel in ihren Kräften steht, mit diesem
Zustande zufrieden zu machen< (ebd.). … (a. a. O. S.126) …diese Grundnormen
der elterlichen Erziehung …sind … zu beachten. Der aktuelle Titel für diesen
normativen Grundkatalog lautet: Menschenrechte. Es sind vorgesetzliche,
vorstaatliche Gebote der Vernunft; sie gelten überall und unter allen Himmeln,
auch wenn sie nicht eigens formulier sind. Das Übliche ist inzwischen, dass man
sich ausdrücklich verpflichten kann, sie zu beachten; sie müssen artikuliert
und positiviert werden; aber man kann sie eigentlich nicht erfinden…(a. a. O.
S.127) Ganz anders verhält es sich mit den Pflichten, die sich nicht direkt und
indirekt aus dem Eltern-Kind-Verhältnis ergeben. Hier haben wir es mit
vertraglichen Vorgaben und Vereinbarungen zu tun, die ihren Ursprung nicht in
der Gewissenspflicht der Eltern haben, sondern in der staatlich verbürgten
Rechtsordnung.. In Artikel 7, Absatz 1 heißt es lapidar: >Das gesamte
Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates<… Es gibt deshalb auch
keine natürlichen Pflichten wie im Falle der Eltern gegenüber ihren Kindern,
vielmehr ergeben sich die Pflichten des Erziehungspersonals, wie jeder weiß,
aus den Vorgaben und Anweisungen der Erziehungseinrichtungen… (a. a. O. S,128)
… Wir haben es mi einer doppelten Legitimation zu tun, mit zwei Formen der
Erziehungsbefugnis, einmal das natürliche Recht der Eltern und zum anderen als
gesellschaftlich gesetztes Vertragsrecht… Solange Elternhaus und Schule in ich
ihren pädagogischen Vorstellungen übereinstimmen, ist alles schön und gut Was
aber… wenn zum Beispiel in der Schule die Evolutionslehre vertreten wird, die
Eltern dagegen am Schöpferglauben… festhalten…? Als Musterfall kann die
Entscheidung in der Frage der sexuellen Aufklärung angesehen werden. In den
siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben Hamburger Eltern gegen die
Schulbehörde geklagt und für sich die Aufgabe der Sexualerziehung reklamiert…
(a. a. O. S.129)… Das Gericht hat salomonisch, wenn auch nicht besonders
logisch entschieden (vgl. Maskus 1979). Die Schule darf über den
Geschlechtsakt, auch über Verhütungspraktiken und sexuelle Sonderwege
informieren, doch ohne Empfehlungen zu geben oder gar moralische Direktiven mit
der Instruktion zu verbinden. Die bleiben Elternsache… De facto behauptet der
Staat als rechtlich verfasste Form der Gesellschaft den Primat in der
Erziehung, mit der Folge, dass inzwischen auch den Eltern Vorschriften gemacht
werden, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Sie werden gewissermaßen Zug um
Zug pädagogisch enteignet und das vorstaatlich Naturrecht außer Kraft gesetzt….
Als Pädagogen sollen wir darauf aufmerksam machen, dass die Vergesellschaftung
der Familien zu quasi-staatlichen Einrichtungen und Vollzugsorganen der
untersten Organisationsebene der Erziehung eine Stütze entzieht, ohne die sie
nur schwer vorzustellen ist
4.3 Die Moral des Zeigens als Kern pädagogischer Beziehung
Mit der Angabe der Erziehungspflichten ist der erste Schritt
getan, um das Ethos der Erziehung zu erfassen… (a. a. O. S.130)
…Der Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist: Ohne etwas zu zeigen,
keine pädagogischen Operationen (vgl. Prange/Strobel-Eisele 2006)…. Welches
sind die Maßstäbe für das Zeigen? … aus der Verfahrensweise des Zeigens..
[]heraus?] … (a. a. O. S.131)
… Gibt es viele oder womöglich eine unabsehbare Mannigfaltigkeit von Maßstäben?
… Das Minimum für moralisch vertretbares Zeigen besteht in drei Maßgaben. Was
immer wir zeigen, damit es gelernt werden kann, sollte erstens verständlich,
zweitens zumutbar und drittens anschlussfähig sein. Mehr nicht… (a. a. O.
S.132) … Damit soll zunächst einmal wieder etwas sehr Einfaches gemeint sein:
Was immer wir zeigen, es sollte etwas sein, womit die Lernenden etwas
anfangen können, und zwar nicht nur im Moment, sondern vor allem für die
nächsten Lernschritte und überhaupt für die Zukunft… (a. a. O. S.135)
4.4 Ethos im Kontext: Gesichtspunkte der Pädagogischen Ethik
Grundsätze und Maßstäbe des Erziehens allein genügen nicht,
um es inhaltlich in einer vertretbaren Weise zu gestalten… Tatsächlich handelt
es sich bei den angegebenen Maßstäben für das Zeigen eher um Grenzsetzungen,
gleichsam rote Linien, die wir nicht überschreiten sollen… Es bedarf noch eines
>Mittelgliedes<,
wie Kant sagt, das zwischen den allgemeinen Maßstäben und dem steht, was hier
und jetzt gelernt werden sollte. Das hierfür erforderliche Können bezeichnet
Kant als Urteilskraft, wie wir sie auch in der Ausübung des ärztlichen Handelns
und der Anwendung rechtlichen Wissens benötigen… (a. a. O. S.138)
… Das Problem, das sich hier stellt, besteht darin, dass es beim Übergang von
den Begriffen zur Anschauung einer Orientierung durch geeigneter Gesichtspunkte
bedarf, gleichsam einer Übersetzungshilfe, die dazu dient, dass die Ansprüche
der Theorie auch wirklich eingelöst werden …. Tatsächlich gibt es auch immer
schon und oft durch unvordenkliche Traditionen gefestigt solche Orientierungen;
wir finden sie in Redewendungen wie; „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans
nimmermehr“… Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Oder auch altgriechisch: Wer
nicht geschunden wird, wird nicht erzogen… (a. a. O. S.139)
.. Dem korrekten wissenschaftlichen Bewusstsein sind [solche] Slogans ein
Graus. Sie verwischen … die Unterscheidung von Beschreibung und Bewertung, von
Norm und Tatsache… Dennoch sind solche Slogans nicht von vornherein zu verwerfen…
Man kann sich sogar fragen, ob sie überhaupt zu vermeiden sind… ergibt sich
daraus, dass wir im Ernst gar nicht beschreiben können, ohne dabei Prädikate zu
benutzen, die eben auch eine bewertende Perspektive enthalten... (a. a. O.
S.140) … Hier ist ein wichtiger Unterschied festzuhalten: der Unterschied
zwischen Norm und Wert… Normen sind Vorschriften… Werte dagegen sind
Sachverhalte, die mehr oder weniger gegeben sind und die man mehr oder minder
genau beschreiben kann. Gesundheit ist so gesehen ein Wert, Ansehen und
Eigentum; aber keineswegs für alle. In der Geschichte des Christentums hat es
immer wieder Einzelne und Gemeinschaften gegeben, für die Armut und
Bedürfnislosigkeit ein Wert darstellten und die den Ruhm der Welt verachteten…
(a. a. O. S.11)
… Normierung ist zu verstehen als ein Verfahren der Stabilisierung und
Legitimierung von Werten, damit sie für alle oder einen bestimmten Lebenskreis
gelten. (a. a. O. S.141,142) … Das moralische Pendant zu solchen Werten ist in
der Tradition als Tugend gefasst worden. Bei Tugenden handelt es sich um
diejenigen Haltungen, durch die Werte realisiert werden. Tugend- und Wertethik
gehören zusammen. Dass sie in der Moderne ihre hervorragende Bedeutung verloren
haben, ist der Korrosion einst unbefragter Institutionen zuzuschreiben…. (a. a.
O. S.142)
… Der Anlass für die Schrift… „Führen oder Wachsenlassen“ … Theodor Litt… 1927…
Litts Intervention auf einem Pädagogischen Kongress in Weimar, mit der er sich
gegen die Einseitigkeit und den Überschwang reformpädagogischer Aspirationen
wandte… Wachsenlassen hat einen Wert, aber Führen ebenso, je nach Lage der
Dinge. Dabei handelt es sich eigentlich nicht um unverrückbare Prinzipien,
sondern eher um Klugheitsregeln nach Gesichtspunkten, in denen jeweils die
konkrete Lage berücksichtigt wird…. So haben wir nach Schleiermacher zwischen
>Unterstützen< und >Gegenwirken< abzuwägen, gemäß neuerer Einsicht
zwischen >Fördern< und >Fordern< … (a. a. O. S.143)
4.8 Deformationen des pädagogischen Ethos
…>.. Daher die Warnung; nicht zu viel zu erziehen< (Herbart … 1806… 1989a,Bd.2,25) … (a. a. O. S.164) … Wie im Vorangehenden dargestellt, gibt es in pädagogischer Hinsicht nicht >das< pädagogische ‚Ethos, sozusagen absolut und abgelöst von den Kontexten des familiären Umgangs, der organisatorisch vermittelten sozialen Umwelten und der je besonderen Lebensgeschichte… (a. a. O. S.165)
5
Ausblick: Pädagogik zwischen Selbstbewahrung und Entwicklung
Klaus Prange
Wir wissen, dass wir nicht wissen, was wir wissen werden…
(a. a. O. S.170) … So gesehen bewegen wir uns wie selbstverständlich in dem
Spannungsfeld zwischen Fortschritt und Tradition, und pädagogisch gesprochen
zwischen Selbstbewahrung und Entwicklung… (a. a. O. S.171)
… Ob zu Recht oder zu Unrecht, sei hier dahingestellt; auf jeden Fall kann man
sehen, dass Reform dem pädagogischen Bewusstsein eingeschrieben erscheint…
So gesehen geht mit der Reform der Erziehung der Anspruch einher, der
Zukunft eine erwünschte Gestalt zu geben, ihr Dunkel aufzuhellen und sie gewissermaßen
im pädagogischen Raum vorwegzunehmen… Das geschieht zumeist in der Weise, das
die Gegenwart unter rational begründete Imperative gestellt wird, deren
Einlösung den Menschen den großen Schritt in ein allgemein menschengerechtes
Dasein verschafft. (a. a. O. S.172,173)
Moderne ist dann nicht nur etwas, das sich ergeben hat, sondern ausdrücklich
gewollt wird, gar als >Projekt< (Habermas), das in der Aufklärung
angelaufen und jetzt mit der gehörigen moralischen Energie weiterzuführen ist.
Es ist üblich, um nicht zu sagen: Mode geworden, diese Prozesse, ob als
Entwicklungen oder ausdrückliche Projekte, mit dem Begriff des Lernens zusammen
zu bringen. So ist die Rede von >Geschichte als Lernprozess< (vgl. Eder
1991) und von der >lernenden Gesellschaft< vgl. Schon 1971), desgleichen
von >lernenden Organisationen< wie der >lernenden Kirche< oder der
>lernenden Schule<. Selbst Regionen werden zu >lernenden Regionen<,
wenn es lediglich darum geht, mehr Geld für Verbesserungen im Schulwesen in die
öffentlichen Haushalte zu erwirken. ..
Das mutet in der Tat reichlich überspannt und sachlich verfehlt an, wenn man
sich vor Augen hält, was sich tatsächlich in der Wirklichkeit der Erziehung
abspielt und womit auch in Zukunft zu rechnen ist. Denn was sich wirklich
beobachten lässt, sind Anpassungen an Wandlungen, die im Wesentlichen woanders
ihre Ursachen und ihren Ursprung haben. Betrachtet man diese Wandlungsprozesse
unter dem Gesichtspunkt der Modernisierung, dann wird man sagen dürfen, dass
die Erziehung eher unter dem Druck von Modernisierungen steht als diese aktiv
zu betreiben… weil der Erziehung… eine eher bewahrende Aufgabe zufällt. Das
Lernen gehört auf die Seite der retardierenden, konservativen Elemente der
sozialen Systeme, das den Trends und große Tendenzen mit einem gewissen Abstand
folgt, ehe es sich darauf einstellt. (a. a. O. S.173)
Wenn man die Pädagogik als Bewusstsein, das die Erziehung begleitet, mit
anderen Disziplinen vergleicht, zum Beispiel de Physik und der Biologie, sieht
man wesentliche Unterschiede. Dor haben in den letzten 150 Jahren tief
eingreifende Veränderungen und Neuorientierungen bis in den Bereich der
Grundbegriffe stattgefunden und zu ganz neuen Einsichten geführt, ohne … als
>Reform-Physik< oder >Reform-Biologie< aufzutreten…
Die Aufgabe der Pädagogik besteht darin, Lebensprobleme in Lernaufgaben zu
transformieren, um sie einer erzieherischen Behandlung zuzuführen… [wobei] das
Erziehen eine Weise ist, auf das Lernen zu reagieren. Und das Lernen und die
Bedürfnisse des Lernens sind allemal weniger beweglich als die Aspirationen des
Erziehens… Das Erziehen lässt sich leichter reformieren als das Lernen… (a. a.
O. S.174)
Wenn es überhaupt eine wirkliche Revolution in der Geschichte der Erziehung
gegeben hat, dann besteht sie darin, dass Schule zur Bürgerpflicht für alle
geworden ist…
Dabei hat das Tempo der Änderungen sich rasant beschleunigt… Wir altern nicht
mehr nur, sondern wir veralten wie die Produkte des industriellen Fortschritts
und werden wenigstens partiell zu Auslaufmodellen… (a. a. O. S.175)
diese Skizze wäre allerdings unvollständig, wenn unbeachtet bliebe, was wir
alles nicht mehr zu lernen und zu können brauchen, weil uns technisches Gerät
zur Verfügung steht, sozusagen als mechanische Sklaven und Dienstboten unserer
Lebensführung. Der Taschenrechner ersetzt das Kopfrechnen oder mit Papier und
Bleistift; das Navigationsgerät tritt für die Ortskenntnis und die Fähigkeit
ein, Karten lesen zu können; das Orthographieprogramm des PC entlastet von der
buchstäblichen Genauigkeit und erlaubt >kreatives< Schreiben, wie denn
überhaupt die alten Tugenden der Korrektheit und individuellen Gedächtnis- und
Könnensleistungen angesichts des immensen Datenanfalls ihre Funktion verlieren
und überboten werden von der Speicherkapazität mehr oder minder großen
Rechner… Schon jetzt lässt sich erkennen, dass an die Stelle
gründlich-dauerhaften Lernens eine Art flüchtigen Lernens tritt, die
vorübergehende Kenntnisnahme von Mal zu Mal aktueller Information, von der man
weiß, das sie alsbald und durch neue Informationen abgelöst sein wird… (a. a.
O. S.176)
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Stephan Ellinger
Förderung bei sozialer Benachteiligung
Reihe: Fördern lernen/Intervention, Band 1
Verlag W. Kohlhammer Stuttgart
ISBN 978-3-17-0211806-2
Einführung…
Das Problem
>Soziale Benachteiligung< stellt keine eigene sonderpädagogische Fachrichtung dar. Genau genommen könnten unter bestimmten Umständen wahllos alle Kinder davon betroffen werden – egal wie begabt, kräftig und gutaussehend sie sind. Die gute Nachricht: Es gibt selbst im differenzierten Schulsystem Deutschlands keine eigene – separierende – Institution für diese Problemklientel. Sozial benachteiligte Kinder sind mit keiner einschlägigen sonderpädagogischen Diagnostik zu bestimmen und zu fördern… (a. a. O. S.9)
1 Soziale Benachteiligung
1.1 Grundmuster sozialer Benachteiligung
…soziale Benachteiligung.. entsteht und stabilisiert sich…
durch die Prioritätensetzung derjenigen, die mehr oder weniger zufällig
wohlhabend sind. Soziale Benachteiligung ist die Kehrseite sozialer Bevorzugung
in einer Gesellschaft oder Weltgemeinschaft. Sie ist in einigen Fällen leicht
zu erkennen, weil Glaubensgemeinschaften, ethnische Gruppen oder ein einzelnes
Geschlecht bevorzugt werden… in jeder wohlhabenden Gesellschaft mehr oder
weniger häufig. (a. a. O. S.14)
Der geneigte Leser ist deshalb im Folgenden eingeladen, über Beispiele eines
zweifelhaften Umgangs der industrialisierten westlichen Welt mit Mensch, Tier
und Natur nachzudenken…
a) Wie unsere Handys und Computer die Menschen in Afrika quälen
Weltweit besitzen mehr als 5 Milliarden Menschen ein
Mobiltelefon (Obert 2011). Der Journalist Frank Poulsen (2011) berichtet, dass
potentiell jeder Handy-Besitzer mit dem Erwerb seines Mobiltelefons den Krieg
im Kongo angeheizt hat, der in den letzten 10[?] Jahren 5 Millionen
Menschenleben kostete (Oert 2011). Für einen Lohn von wenigen Cents graben und
leben die Kinder oft tagelang in dunkeln Tunneln tief unter dem Tageslicht. Für
die Produktion von Handys werden spezielle Mineralien benötigt, unter ihnen
Coltan. .. 80 % Weltvorkommnisse liegen … im Kongo… (a. a. O. S.15) Das
berühmteste Symbol der geplanten Obsoleszenz ist die Glühbirne. Nach der
Erfindung der Glühbirne 1879 erreichten die industriell produzierten Glühbirnen
schon bald eine Lebensdauer von über 2500 Stunden… An Weihnachten 1924 …
beschloss…. Ein Kartell der damals führenden Glühbirnenhersteller der Welt.. in
einer Geheimsitzung in Genf, die Lebensdauer der Glühbirne einheitlich auf 1000
Stunden zu begrenzen (Dannowitzer 2011)…. Viel freiwilliger fügt sich der
moderne Mensch allerdings in die geplante ästhetische Obsolesvenz. Auch hier
reichen die Wurzeln in die 1920er Jahre zurück. Henry Ford steht in dieser Zeit
für die Entwicklung der Massenproduktion durch das Fließband. Sein Ford T wurde
in legendär hoher Stückzahl gefertigt und galt als außerordentlich
robust… General Motors… führte als Mittel gegen den unverwüstlichen
Ford T das Konzept der Jahresmodelle ein… Im Jahr 1927 wurde das Modell
mit dem 15-millionsten Ford T vom Markt genommen und auch Ford stieg auf das
Jahresmodellkonzept um. (a. a. O. S.19)
.. Der Chemiker Michael Baumgart entwickelt das Alternativkonzept >Cradle to
Cradle<, was so viel heißt wie >Von der Wiege bis zur Bahre<. Sein
Konzept sieht vor, dass alle hergestellten Produkte wiederverwendet werden… (a.
a. O. S.20) … Während früher soziale Werte im Mittelpunkt standen – eine
Selbstdefinition also über die Freunde und Familie stattfand -, scheint heute
der Konsum identitätsstiftend zu sein. Die Menschen glauben irrtümlich daran,
dass materieller Besitz über die Qualität des Lebens entscheidet….
b) Warum in Amerika die Elektroautos sterben mussten
…Merkwürdig…, das es vor 100 Jahren einmal mehr Elektroautos
auf den Straßen gab, als solche mit Benzinmotoren. Seit 1888 sind Elektroautos
nachgewiesen (Schrader 2002)… (a. a. O. S.21)
… Di eindrucksvolle Dokumentation von Chris Paine (2006) über den Aufstieg und
Niedergang der Elektroautos in Kalifornien berichtet davon, dass 1996 überall
auf Kaliforniens Straßen Elektroautos fuhren… Zu diesem Zeitpunkt begann eine
beispiellose Intrige der Ölkonzerne gegen die Elektroautos und gegen das
Emissionsgesetz (Paine 2006)…. (a.
a. O: S.22)… GM hatte zwischenzeitlich dem Erfinder und Entwickler
Stanford R. Ovshinsky den Prototyp einer produktionsreifen
Hochleistungsbatterie abgekauft und die Technik… an Texaco
verkauft, wo sie in der Versenkung verschwand (Paine 2006)… (a. a. O.
S.22)
… die Welternährungsorganisation (FAO) … geht … davon aus, dass weltweit
täglich mindestens 25.000 Erwachsene und 10.000 Kinder verhungern. Von den weit
über 15 Millionen Menschen, die jährlich durch armutsbedinge Ursachen sterben,
könnte ein Großteil ohne hohen finanziellen Aufwand gerettet werden… (a. a . O.
S.23)
Unabhängig von der weltweiten Hungerproblematik klafften auch in unserem Land
Armut und Reichtum noch nie so weit auseinander wie heute. Während die einen
mehr Bildung, mehr Technik, mehr Wohlstand und mehr Rechte genießen, sehen sich
zunehmend viele Menschen existentiell bedroht, weil soziale Standardrisiken wie
Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit privatisiert werden
und der Staat zunehmend versucht ist, dich zugunsten einer geforderten >Eigenverantwortung<
zurückzuziehen. Eigenverantwortung in einem geschlossenen System unter
Herrschaft der Finanzen wird allerdings schnell zur Farce.
Zum Grundmuster sozialer Benachteiligung in einer Gesellschaft lassen sich
folgende Leitlinien festhalten:
a) Soziale Benachteiligung wächst im Klima geduldet Einflussnahme und
zunehmender Gleichgültigkeit
Besitz und Einflussnahme bilden wesentliche Strukturelemente westlicher
Gesellschaften. Interessenverbände hebeln zentrale gesellschaftliche Werte wie
Mitmenschlichkeit, Anerkennung, Zuverlässigkeit und materielle Langlebigkeit
aus und verhindern offen und nahezu ungehindert Umweltschutz und Fortschritt.
(a. a. O. S.24,25) … Von stabilen Verhältnissen durch freie
Marktwirtschaft kann … nicht die Rede sein.
b) An sozialer Benachteiligung sind mächtige Nutznießer beteiligt
Nicht Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, Gleichheit und Naturverbundenheit scheinen die Politik der demokratischen Staaten zu bestimmen, sondern in weiten Teilen Gewinnmaximierung einzelner Interessengruppen, die sich die Politik gefügig gemacht haben… Selbst der Bildungssektor und das Gesundheitswesen werden mittlerweile verbreitet wie Wirtschaftsunternehmen behandelt, die monetäre Gewinne (Drittmittel) erwirtschaften müssen…
c) Soziale Benachteiligung erfolgt im gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Wirtschaftswachstum von zentraler Bedeutung sei
d) Wirtschaftliches Wachstum wird zum entscheidenden Faktor zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit erklärt… (a. a. O. S.25) …
e) Soziale Benachteiligung wird von den Zuschauern mit innerer Distanz zu den Betroffenen hingenommen …
f) Soziale Benachteiligung geht einher mit öffentlich vorgetragenen Erklärungen über die Mitschuld der Betroffenen an ihrer Situation … Besitz und Milieuzugehörigkeit werden in unserem Staat zu großen Teilen unverdient vererbt… (a. a. O. S.26)
g) Grundlage der sozialen Benachteiligung ist die Überzeugung Einzelner, dass die eigene Wahrnehmung objektive Wirklichkeit und einzig richtige Sichtweise sei
h) Im Großen wie im Kleinen entspringt die Beurteilung von Soziallagen und gesellschaftlichen Bedingungen individuellen Weltanschauungen und Weltbildern… Während den eigenen Erfahrungen häufig umfassende Gültigkeit zugesprochen wird, sind Durchschnittsbürgern oft gesellschaftliche oder weltpolitische Entwicklungen unbekannt ….
i) Soziale Benachteiligung und soziale Bevorzugung stehen in einem Verhältnis komplementärer Schismogenese [Buchstabenreihung geändert]
… Schismogenetische Systeme haben die Neigung, in eine
Entwicklungsrichtung außer Kontrolle zu geraten…. Während die symmetrische
Schismogenese eine endlose Auseinandersetzung zwischen grundsätzlich gleich
starken Parteien beschreibt, führt die komplementäre Schismogenese zur
fortschreitenden Unterwerfung der schwächeren Partei… Vermögen vermehrt sich
und Armut wird ärmer… (a. a. O. S.27)
… Bereits die Annahme, dass zu einer sozialen Benachteiligung logisch
auch eine soziale Bevorzugung gehört, kann uns vor einem zu engen
Blick auf vermeintliche Versagenskinder bewahren… (a. a. O: S.28)
1.2 Soziale Benachteiligung in Deutschland
1.2.1. die soziale Spaltung in Deutschland ist beschreibbar
Steigen wir ein mit einem konkreten Beispiel, auf das
Joachim Schroeder (2007d) hinweist: Untersuchungen zur Sozialstruktur Hamburgs
zeigen, dass in der Hansestadt nicht mehr als acht von 179 Ortsteilen sozial
und ethnisch „durchmischt“ sind, also verschiedene Schichten und Lebenslagen
miteinander in einem Viertel leben. Ansonsten gibt es entweder bürgerliche Viertel
mit einer Konzentration vermögender und sehr vermögender Bevölkerungsgruppen
oder Armutsquartiere, in denen vorwiegend die Deklassierten leben. Es gibt 26
Ortsteile, in denen jeweils unter 5 % der Anwohner Hartz-IV beziehen und wo
zudem der Ausländeranteil überwiegend weniger als 3% beträgt. Andererseits gibt
es 15 Stadtteile mit 40-80% Hartz-IV-Beziehern und einem Migrantenanteil etwa
in derselben Höhe…. Unter 31 entwickelten Ländern der OECD (Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) belegt Deutschland hinsichtlich
der sozialen Gerechtigkeit einen Platz im Mittelfeld hinter Großbritannien und
Tschechien… (Henning 2011) ...
… soziale Ungleichheit und Verarmung in Deutschland als Folge einer verfehlten
Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik… (a. a. O. S.29) … Längst
reichen viele regulären Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr aus, um ein
zeitgemäßes altersentsprechendes Leben zu führen, so dass vollbeschäftigte
Familienväter und –mütter Nebenjobs annehmen müssen, um ausreichend Einkommen
zu erwirtschaften (vgl. Strengmann-Kuhn 2003)… (a. a. O. S.30) .. Statt aber z.
B. die rund 200 Milliarden vererbten Euro jährlich (!) angemessen zu besteuern,
wird Lohnerwerb- und Mehrwertsteuer erhoben, die der arbeitende oder auch nicht
(mehr) arbeitende Mensch zu zahlen hat… (a. a. O: S.31)
… Hier soll selbstverständlich auch nicht einer Enteignung oder deinem
kommunistischen Gesellschaftssystem das Wort geredet werden…
Der renommierte Verwaltungswissenschaftler Herbert von Arnim (2009) …
beschreibt, dass sich auch die Willensbildung in Deutschland verändert habe.
(a. a. O. S.32,33) Während grundsätzlich das Volk fachkundige Vertreter
einzelner Bereiche und konstruktiver Strategien wählen solle, entscheiden die
Parteien längst völlig eigenmächtig und offensichtlich im Einvernehmen mit den
großen Wirtschaftsverbänden und Finanzinstituten, wer welche Entscheidungen
treffen darf und welche Subventionen wohin fließen sollen…
3.2.2 Die Armut in Deutschland hat Gesichter (a. a. O. S.33)
… Dabei wird deutlich, in welchem Ausmaß der Faktor
>Kinderhaben< in Deutschland zum Armutsrisiko geworden ist. Kinder führen
in den meisten Fällen nicht zu einem höheren Einkommen, benötigen aber sowohl
Zeit der Erziehungsberechtigten als auch Geld für ihren Lebensunterhalt… (a. a.
O. S.38)
… Durch eine rein formale vertikale Darstellung ist es nicht möglich,
Unterschiede zwischen den Lebensentwürfen und Lebensvorstellungen zu erfassen,
die nicht in erster Linie etwas mit Geld, Formalbildung oder Arbeit zu tun
haben, sondern z. B. mit Gewohnheiten, Vorlieben, Prioritäten und den Geschmack
der Menschen einschließen. Insbesondere als Grundlage für pädagogische
Überlegungen interessiert uns, welche Dinge Menschen in bestimmten
Lebensgruppen wichtig, angenehm oder völlig unmöglich finden. Es interessiert
uns sogar mehr, wie sie eingerichtet sind, als dass wir wissen wollten, ob ihr
Vater auch schon Metzger war. (a. a. O. S.42) Wenn wir etwas pädagogisch
Nennenswertes über das Leben der Menschen erfahren wollen, brauchen wir einen
anderen Zugang… (a. a. O. S.43)
Nachdem Jörg Ueltzhöffer und Berthold Flaig gemeinsam den Begriff der
>sozialen Milieus< entwickelt hatten (… 1992), setzt Gerhard Schulze im
Jahr 1992 mit seinem Buch Die Erlebnisgesellschaft… bei der Betrachtung der
Lebensweisen einen sehr pragmatischen Schwerpunkt… (a. a. O. S.43)
Konservative (4 % der Bürgerinnen und Bürger)
Sie stellen das deutsche Bildungsbürgertum dar und verstehen sich selbst als
moralische und gesellschaftliche Autorität. Gepflegte Umgangsformen, klare
Vorstellungen vom richtigen und falschen Leben und leidenschaftliches
Interesse an der moralischen und funktionalen Zukunftsfähigkeit unserer
Gesellschaft zeichnen das Milieu aus. (a. a. O. S.45,46) Zentrale Werte sind
Pflichterfüllung, Disziplin, Erfolg und gute Vernetzung. Für Konservative
gibt es mit dem jungen Erwachsenenalter eine klar benennbare Lebensspanne, in
der wichtige Entscheidungen getroffen werden. Sie betreffen die persönlichen
Lebenswerte und insbesondere die Wahl des Berufes und des Partners. Ein Wechsel
in diesen Formalia ist nahezu undenkbar.
Etablierte (5 % der Bürgerinnen und Bürger)
Sich selbst verstehen sie als professionelle und kreative Querdenker. Die
besonders gegen traditionalistische Unbeweglichkeit vorgehen. Das Mileu legt
großen Wert auf Stil und gute Kleidung. Im Beruf liegt die Betonung auf
Eigenverantwortung und den Führungsanspruch. Eine Führungsrolle wird allerdings
unkonventionell z.B mit >Lockerheit< gefüllt. Die Etablierten
arbeiten an sich und ihren Meinungen über verschiedene Aspekt des Lebens und
schätzen sich beruflich als äußerst diszipliniert und fokussiert ein.
Postmaterielle (9 % der Bürgerinnen und Bürger)
Aufgeklärte Bildungselite mit individualistischer und liberaler Grundhaltung.
Die Alltagsphilosophie gründet in der Kritik und der Entschlossenheit, dem
Schein der Masse nicht zu trauen. Die kritische Auseinandersetzung mit
aktuellen Zeitströmungen und eine beständige Suche nach neuen Lösungen, nach
sozialer Gerechtigkeit, Weltverbesserung und kognitiver Auseinandersetzung mit
Zuständen und Meinungen prägen das Leben der Postmateriellen. Dabei suchen sie
immer eine optimale Form der Selbstverwirklichung, sprich: der Umsetzung ihrer
Fähigkeiten und Neigungen.
Performer (14 % der Bürgerinnen und Bürger)
Das Selbstwertgefühl speist sich im Wesentlichen aus dem, was man noch zu
leisten plant. Mit stets aktuellem Wissen auf höchstem Niveau und technischer Perfektion
sollen die hohen beruflichen Positionen und Verantwortungen zu neuen
internationalen Allianzen verbunden werden. (a. a. O. S46,47)
Kompetenzerweiterung, Fortbildung und Vernetzung sind zentrale Elemente des
Lebens. Eine Selbstdefinition findet auch über den vollen Terminkalender und
den ausgefallenen un hochwertigen Lebensstandard statt. Dabei stehen die eigene
Welterfahrung, die Flexibilität, die Mobilität und das geforderte
Selbstmanagement in diesem Leben im Mittelpunkt der Wahrnehmung.
Expeditve (8 % der Bürgerinnen und Bürger)
Sie sind nicht bereit, mit dem Mainstream zu leben – aber haben auch keine
Ambitionen, die Welt zu verbessern (anders als die Postmateriellen). Expeditive
konstruieren sich mehr als andere Milieus ihre eigene Welt. Sie sind
Lebenskünstler und wollen ihre eigenen Grenzen kennenlernen und ggf. erweitern.
Ihre hohe Bildung und gehobene Positionen ermöglichen es ihnen jedoch zugleich,
ein >normales< – und in gewissem Rahmen stabiles Leben zu führen und
damit trotz ihrer unkonventionellen Einstellung feste Lebensbezüge zu erstellen
(Heirat, Familie, eigenes Haus etc.). Diese festen Lebensbezüge sind allerdings
dann häufiger einem Wechsel unterzogen, als dies in anderen Milieus der Fall
ist.
Traditionelle (15 % der Bürgerinnen und Bürger)
Das Milieu erstreckt sich in vertikaler Hinsicht über drei Schichten und
vereint drei Submilieus. Zum einen ist mit den Traditionsverhafteten die
Sicherheit und Ordnung liebende Nachkriegsgeneration zu beschreiben, die lokal
in einer Art kleinbürgerlicher Welt verwurzelt ist. Sie identifizieren sich mit
der Region, mit der Kirche, mit den Vereinen und wollen, dass alles so bleibt,
wie es ist. Die zweite Gruppe bilden die jungen Traditionellen, die
einerseits traditionsbewusst leben (auch eine klassische Rollenverteilung
pflegen) und lokal verortet sind, sich aber andererseits von den
Moralvorstellungen ihrer Eltern lösen wollen. Sie erben von den Eltern (z.B.
einen Bauplatz), sind fleißig, haben enge Bindungen zu ihren Arbeitgebern und
schätzen die eigene Familie sehr. Ihre einzige Sorge: Die Region verlassen zu
müssen, um beispielsweise eine andere Arbeitsstelle einzunehmen. Zum dritten
Submilieu der zurückgezogenen Traditionellen gehören alte
Menschen. Sie warten im Wesentlichen auf die Abfolge der Tagespunkte im festen
Rhythmus des Alltags – wie etwa auf die Mahlzeiten, die Spaziergänge, eventuell
den Besuch, einen Anruf oder die Verabredung zum Kaffee. Zurückgezogene
Traditionelle fühlen sich >jetzt übrig< und leben häufig räumlich
entfernt von ihren Kindern und Eltern.
Bürgerliche Mitte (18 % der Bürgerinnen und Bürger)
Das statusorientierte Bürgertum stellt ein Submilieu dar, das sich mit
Gütern, Bildung und Prestige gut ausgestattet sieht und insgesamt in beruflich
und familiär stabilen Verhältnissen lebt. Ihr Grundstreben gilt dem Erhalt
dieser Situation. Anzeichen dafür sind ihre Statussymbole: der dargestellte
materielle Wohlstand. Ihr Engagement bringen sie in die regionale Gemeindearbeit
ein und sind in den verschiedenen Bezügen meistens Wortführer. Ihre Kinder
werden nach Kräften in Schule und Ausbildung oder Studium gefördert und
unterstützt. Das moderne Harmoniemilieu als zweites Submilieu der Bürgerlichen
Mitte stellt eher die kleinbürgerliche Welt qualifizierter Handwerker,
Angestellter und kleiner Selbständiger mit ihrer modernen Form des
genügsamen Lebensstils dar. Ihr Motto ist „Anschluss halten“ durch
Streben nach Modernität – aber kein Risiko eingehen, und nichts übertreiben.
Obwohl ein stiller Begleiter die stille Sorge ist, den Arbeitsplatz zu
verlieren und sozial abzustürzen, hat sich im modernen Harmoniemilieu
Zufriedenheit breit gemacht. Sie schätzen sich fortschrittlicher und moderner
ein als die ähnlich situierten jungen Traditionellen. Insgesamt ist
allerdings in der Bürgerlichen Mitte der Gesellschaft ein zunehmendes
Absetzen von allzu kritischen, kompetenzerweiternden und nach Weiterentwicklung
strebenden Gruppierungen zu beobachten. Damit zeigen sich Distinktionslinien
zwischen der Bürgerlichen Mitte und etwa den Postmateriellen und
den Performern. Es wird deutlich, das „die Mitte der Gesellschaft“
zugunsten einerseits aufstrebenden und andererseits zunehmend randständiger
Milieus in Auflösung begriffen ist. (a. a. O. S.48)
Benachteiligte (16 % der Bürgerinnen und Bürger)
Die stark materialistisch geprägten Konsum-Materialisten verfolgen das Ziel,
von den „normalen“ Bürgern Anerkennung zu erfahren und an der lokalen
Gesellschaft teilzuhaben. Grundgefühl ist die Jagd nach Normalität und
demonstrativem Konsum, um zu zeigen, das man noch nicht ganz unten angekommen
ist. Hierzu zählen (günstige) Reisen, demonstrative Anschaffungen (z.B. von
Kleidung und Konsumgütern)und Besuch von Freizeitparks und öffentlichen Events.
Das Rollenverständnis ist klassisch und tendenziell machohaft. Die Mitglieder
des defensiv-prekären Submilieus sind dagegen in der Öffentlichkeit kaum
wahrzunehmen. Sie empfinden sich von der Gesellschaft ausgeschlossen und weisen
einen hohen Anteil von Langzeitarbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern auf.
Dominantes Gefühl im Submilieu der Defensiv-Prekären: >Ich bin nichts
wert<. Zur Erinnerung: Im Submilieu der zurückgezogenen Traditionellen:
>Ich bin jetzt übrig<. Sie meiden jede Situation, in denen sie anderen
Menschen oder fordernden Situationen ausgesetzt sind.
Hedonisten (11 % der Bürgerinnen und Bürger)
Die Lifestyle-Hedonisten suchen nach aufregenden Erlebnissen, nach neuen
Medien und nach ununterbrochener Kommunikation mit Freunden und der Welt.
Beruflich leben sie diese Neigung ebenfalls aus: Sie tendieren zu Jobs mit
Erlebnischarakter und befristete Beschäftigungsverhältnissen. Dadurch können
sie Lebendigkeit und erotische Ausstrahlung demonstrieren. Allerdings sind
Lifestyle-Hedonisten jederzeit mit der bürgerlichen Gesellschaft in Kontakt.
Anders das zweite Submilieu der Hedonisten; Die Subkulturellen
Hedonisten leben bewusst am Rand der Gesellschaft. Sie leben radikal die
eigene Freiheit und riskieren Extremes und Tabubrüche. Im Alltag wollen sie
sich dem Leistungsdruck und den Erwartungen der Bürgerlichen nicht beugen.
Durch biografische Interviews konnte in begrenztem Umfang der Frage
nachgegangen werden, inwiefern im Lebenslauf Milieuwanderungen einzelner
Personen oder Milieugruppen nachvollzogen werden können… (a. a. O. S.49) …
Wippermann (2011, 87) [Die Abbildungen über Milieumobilität und Dominante
Milieupfade und Milieuaffinitäten wurden weggelassen (a. a. O. S.50]
… Migranten in Deutschland sind in vielen Fällen einem der im Delta-Modell beschriebenen Milieu zuzuordnen. Das Sinus-Institut (Beck & Perry 2007) … kam zu folgenden Ergebnissen:
Ein problematischer Teilhabe-Status ergibt sich ganz parallel
zu den deutschen Milieus in den Bereichen der Unterschicht im religiös
verwurzelten Milieu, im entwurzelten Flüchtlingsmilieu und im hedonistisch
subkulturellen Milieu. (a. a. O. S.51)
1.2.4 Traumatisierende Biographien inmitten einer Wohlstandsgesellschaft
(a. a. O. S.52)
… Bis zum Juli 2012 wurden in Deutschland insgesamt 33 457
Asylanträge gestellt. Die Quote der Antragsstellung ist stark rückläufig. 1995
baten noch 166 951 Menschen um Aufnahmegenehmigung (Statista 2012c).
Die Flüchtlinge kommen in der Mehrzahl aus Afghanistan, Serbien, Iran und
Syrien – Länder, in denen Krieg und Not herrschen. Die Hälfte der Antragsteller
ist jünger als 16 Jahre. In Deutschland haben in den letzten Jahren allein 250
000 ehemalige Kindersoldaten Zuflucht gesucht… (Rister 2003) (a. a. O. S.53)
1.2.5 Risikofamilien und bindungsbenachteiligte Kinder
… In Deutschland werden derzeit mehr als 7 % der Haushalte von
alleinerziehenden Frauen und rund 2 % von alleinerziehenden Männern bestritten.
Im Jahr 1010 lebten rund 1,6 Millionen Alleinerziehende im Bundesgebiet (BMFSF
1011), davon 5,8 % Mütter und 0,4 % Väter mit drei oder mehr Kindern, 23 %
Mütter und 1,9% Väter mit zwei Kindern… (a. a. O. S.57)
1.3 Soziale Benachteiligung im deutschen Schulsystem
3.31 Die zunehmende soziale Spaltung in Deutschland
… Die Ergebnisse dieser Studie … IfS… unterstreichen die Erkenntnis, dass Kinder armer und sozial marginalisierter Eltern nach wie vor in allen Bundesländern deutlich geringere schulische Chancen haben als Kinder von deutschen Akademikern. Auch Kinder mit Migrationshintergrund…. (a. a. O. S.60)
1.3.2 Kinder aus armen Verhältnissen werden abgehängt
In der Schule ist Armut … die permanente Erfahrung von Ausgrenzung und
Missachtung… Äußerlichkeiten … der Kleidung, der Musik, des Hobbys, der
elektronischen Ausstattung… führen u. U. zu mangelnder Akzeptanz in einer
Gemeinschaft oder seitens der Kinder zu scheuem Rückzug aus der Gruppe…. (a. a.
O. S.61)
1.3.3 Soziale Milieus unterscheiden Lehrer und Schüler
Sozialer Milieus. Migrationshintergrund und Lebensstilgruppen beschreiben Wahrnehmungsmuster und Wertorientierungen, die sozial benachteiligte Kinder aus den unterschiedlichen Milieus maßgeblich von den Lehrkräften unterscheiden…. (a. a. O. S.63)
.. Wenn die Nachkommen von Bürgern aus der gesellschaftlichen Mitte bereits auf dem „ersten Bildungsweg“ gefördert werden und begabte Kinder aus bildungsfernen Familien auf aufwändigere Schullaufbahnen und den „zweiten Bildungsweg“ angewiesen sind, darf diese Notlösung nicht als Chancengleichheit dargestellt werden…. Initiative http://www.arbeiterkind.de/http://www.arbeiterkind.de/
… rund 4000 ehrenamtliche Tutoren….
… Noch dramatischer stellt sich die Lage im Blick auf Personen mit
Migrationshintergrund dar. 11,6 % der Bürger… mit Migrationshintergrund
erreichen keinen allgemeinbildenden Schulabschluss und 46,8 % schließen keine
Berufsausbildung ab (zum Vergleich: 1, 6 % und 20.1 % ohne
Migrationshintergrund.) Im Jahr 2008 lebten 15,6 Millionen .. mit
Migrationshintergrund … in Deutschland… (a. a . O. S.64)
… in der europäischen Sozialcharta Artikel 17 Satz 2 … ist… die Pflicht des Staates festgeschrieben: „Kindern und Jugendlichen eine unentgeltliche Schulbildung in der Primar- und Sekundarstufe zu gewährleisten… (a. a. O. S.66)
1.3.5 Risikokinder haben schlechte Rahmenbedingungen für die Schule
2 Pädagogische Förderung als Beruf … (a. a. O. S.70)
… Selbst die Forderungen nach gebundenen Ganztagsschulen und sinnvollen Konzepten für inklusive Schulen haben nicht zu wesentlichen Veränderungen in der Schullandschaft geführt, weil offensichtlich doch nicht so viel Geld ausgegeben werden soll. Es wird bei der Förderung also auf die Lehrkräfte und ihre ganz individuelle Arbeit ankommen… (a. a. O. S.71)
2.2 Berufsfeld zwischen Familienerziehung und Selbsterziehung … (a. a. O. S.67)
2 Pädagogische Förderung als Beruf
2.1 Zur Beschaffenheit von Nährböden für soziale
Benachteiligung … (a. a. O. S.70)
Lehrerinnen und Lehrer sind Profis… (a. a. O. S.72)
Wer im Rahmen seiner
beruflichen Aufgaben handelt, tut dies demnach dann professionell, wenn er
seine besondere Handlungskompetenz durch Formalbildung, durch reflektierte
Berufserfahrung und durch die Kenntnis aktueller Theorien und neuerer
Forschungsergebnisse erworben hat u nd ständig erwirbt…
Ein guter und professionell arbeitender Pädagoge ist also in dieser Auffassung
ein effektiver Erklärer bzw. Unterrichter… (Hermann Giesecke, 1993; Jochen
Kade, 1997)… Klaus Prange und Gabriele Strobel-Eisele (2006) wollen
allerdings den Begriff des pädagogischen Handelns erweitert wissen. Sie
verwenden >pädagogisches Handeln< und >Erziehen< synonym. Die
verschiedenen Formen pädagogischen Handelns lassen sich dann sowohl in schulischer
Lehre als auch in der Verhandlung über Lebenswandel und ethische Grundsätze –
und sogar im Einüben von Tugenden. (a. a. O. S.73,74) Unter >Erziehung<
verstehen wir konsensfähig all diejenigen Maßnahmen, die einem Menschen helfen,
Mündigkeit und Autonomie zu erlangen (vgl. Böhm 2000)
… Andererseits reagiert Erziehung aber auch auf Missstände. Sie interveniert,
wenn Verhalten auffällig ist, und sie wird aktiv, wenn im sozialen Miteinander
oder in der individuellen Verarbeitung von Erlebtem etwas schief läuft… Dazu
gehören dann Lernstrategien ebenso wie norm- und wertorientierte
Entscheidungen, Gewohnheiten und Vorlieben… (a. a. O. S.74) … Die einzelne
Person folgt der inneren Logik ihres Sinnsystems, welche unterschiedliche
Kausalitäten, die Beziehung der einzelnen Elemente untereinander sowie
Weltdeutung vorgibt bzw. ermöglicht. … Die in der Kindheit und Jugend
entstehenden Verarbeitungs-, Bewertungs- und Motivationsmechanismen werden in
den weiteren Jahren kontinuierlich ausgebaut, verfeinert und auch umgebaut.
Verbunden mit der Entwicklung einer solchen Plausibilitätsstruktur ist die
Transzendierung einzelner Werte, die damit in die Sphäre der Undiskutierbarkeit
rücken und nicht neu überdacht werden müssen (vgl. Berger 1991). Das bedeutet:
Ein „transzendierter Wert“ wird als >gesetzt“ behandelt und muss nicht mehr
rational begründet werden. Wir sollten sogar zuspitzen: er darf nicht
mehr rationale begründet werden. Wenn in einer Gesellschaft z. B.
Menschlichkeit und Gleichwertigkeit gültige Werte sind, werden in der
jeweiligen Erziehung entsprechende Normen abgeleitet. Normen setzen Werte im
Alltag um. Das heißt: Der Wert Gleichwertigkeit aller Menschen wird in der
Erziehung und im Alltag – wenn alles gut läuft – durch die Norm Hans und
Anton dürfen nicht vor Anna und Christine bevorzugt werden umgesetzt. Sie
müssen genau so oft mit dem Tafeldienst an der Reihe sind wie Anna und
Christine. (a. a. O. S.75,76) Und das, obwohl sie selbst Jungs, und zudem ihre
Väter vielleicht Schulleiter oder Bürgermeister sind. Der
Gleichberechtigungsgedanke, der ja zudem auch in der Normensammlung namens
Grundgesetz festgelegt ist, darf nicht diskutiert werden. Er ist auf diese
Weise transzendiert – aus unserer unmittelbaren Immanenz der
Diskussionsmöglichkeit genommen Die Norm – also die Festlegung dessen, wie der
Wert im Alltag umgesetzt wird – kann allerdings diskutiert werden. Sie ist
nicht absolut, sie ist gewissermaßen relativ… (a. a. O. S.76)
… Der Prozess der Transzendierung von Werten hat nun für die Erziehung im Kontext sozialer Benachteiligung insofern Bedeutung, als neben den gesellschaftsübergreifenden auch milieuspezifische Werte und Prägungen transzendiert werden. (a. a. O. S.76,77) Sie werden ebenso wenig offen diskutiert wie die gesellschaftsübergreifenden und sind deshalb für einen Teil der Mitmenschen aus anderen Lebensstilgruppen nicht gleichermaßen erkennbar und nachvollziehbar. Auf der Handlungsebene ist allenfalls die Umsetzung von Normen erkennbar… (a. a. O. S.77) …
1. These: Schulerziehung tritt als feinfühlige, aufmerksame, demütige
Haltung und nicht als spezifische Tätigkeit auf… Öffentliche Abfragen,
kommentierte Rückgaben von Schulaufgaben vor der gesamten Klasse und spitze
Bemerkungen nehmen den betroffenen Schülern ihre Würde und demütigen sie
nachhaltig… (a. a. O. S.78)
2. These: Schulerziehung stellt ein gegenseitiges Aushandeln von
Handlungsmöglichkeiten und kein einseitiges Durchsetzen von Machtansprüchen
dar. …
4. These: Schulerziehung stellt grundsätzlich einen themenzentrierten
Diskurs und keine gegenstandbezogene Produktion dar. …
Persönliche Autorität wird einer Person freiwillig
zugesprochen. Sie verdient Respekt und wird aufgrund ihrer persönlichen
Ausstrahlung und Vertrauenswürdigkeit als Autoritätsperson anerkannt. Diese
Beschreibung deckt sich weitgehend mit dem Begriff der auctoritas…. (a.
a. O. S.82)
… Schulerziehung – wenn sie den Maßstäben der Professionalität entsprechen soll
– verlangt Vertrauen und persönlichen Respekt…
Als Fortsetzung der Familienerziehung und zur Vorbereitung auf die Phase der
Selbsterziehung zielt die Schulerziehung im Wesentlichen auf spezifische
Inhalte des Wollens, z. B. der Lerndisziplin, auf spezifisches Wissen, nämlich
Inhalte unterschiedlicher Fächer und drittens auf spezifische Inhalte des
Könnens, wie z.B. den Erwerb grundsätzlicher Problemlösungskompetenzen und
später der selbstgesteuerten Wahrnehmungsveränderung… (a. a. O. S.83)
… In der Schulerziehung geht es nun darum, dass sich das Kind ein Sachwissen
über die Welt aneignet… (a. a. O. S.84)
… Wer erziehen will, muss verstehen. Wer erziehen will, muss anerkennen… (a. a.
O. S.85)
2.3 Pädagogisches Handeln zwischen Theorie und Praxis
Kommen wir zu einem zweiten denkbaren Nährboden für soziale
Benachteiligung. In der öffentlichen Anerkennung des Lehrerberufs scheint – wie
auch im Falle anderer Berufe – ein denkwürdiger Entwertungsprozess im Gang zu
sein Obwohl die sehr verantwortungsvolle und gesellschaftlich zentrale Rolle
der Lehrer und der Bildungsinstitutionen unbestritten ist …. Das jeweilige
Laienwissen erlebt in unseren Tagen quasi exponentielles Wachstum… [etwa durch
das] Internet... (a. a. O. S.86)
Weil Erziehungskompetenz und pädagogisches Deutungswissen in der Einschätzung
vieler Menschen offensichtlich auf wundersame Weise irgendwie im Zeugungsakt erworben
werden, treten viele Eltern gegenüber den professionellen Pädagogen in der
Schule relativ respektlos auf… (a. a. O. S.88) … Die beste Praxis ist eine gute
Theorie. Professionell arbeitende Pädagogen kennen sich hinsichtlich zentraler
erziehungswissenschaftlicher Theorien und Konzepte aus und gestalten ihr
Engagement und die Entscheidungen in diesem Sinne theoriegeleitet… (a. a. O.
S.91) … Das intuitive Handeln rückt … ins Zentrum der gelungenen Verknüpfung
von Theorie und Praxis – und gewinnt damit auch große Bedeutung für den
Lehr-Lernprozess und die Förderung bei sozialer Benachteiligung… Der
Mensch findet in sich das, was über ein rationales Erkennen hinaus reicht. Er,
der in der Gefahr steht, seine Gefühle lediglich zu denken, statt sie zu empfinden,
erlebt Intuition und Bewusstseinserweiterung, indem er aufhört, Gefühle nur zu
denken… (a. a. O. S.97)
2.3 Pädagogische Grundsätze für die Arbeit in der Schule … a. a. O. S.100)
1. Anerkennung und Achtung haben etwas mit Interesse füreinander zu tun
… Tipp: Ein behutsames Öffnen kann über die Einladung erfolgen, in ein vom Lehrer für jedes Kind angeschafftes hübsches Tagebuch jeden Tag in der Schule eine Eintragung zu machen. Hierfür werden jeden Tag im Rahmen des Unterrichts stille Zeiten eingeräumt, die die Schüler nutzen sollen, um ein paar Sätze zum vergangenen Wochenende, zum gestrigen Tag oder auch über die Ferien, die Zeit von der Einschulung oder ein Erlebnis in der Familie zu schreiben. Es muss jeden Tag etwas sein. Der Anfang wird möglicherweise nicht einfach und die zugesagte Diskretion, dass die Tagebücher nach der jeweiligen Schreibzeit in einem abgeschlossenen Fach für andere Schüler unerreichbar aufbewahrt werden, muss in jedem Fall eingehalten werden. (a. a. O. S.103,104) Selbstverständlich ist vereinbart,, das der Lehrer der einzige Mensch sein wird, der die Tagebücher liest… (a. a. O. S.104)
2 Schulische Förderung bei sozialer Benachteiligung
Herbert Goetze (1991a; 1991b) stellt in einer ausführlichen
Literaturanalyse die amerikanischen Untersuchungen zu Unterrichtssituationen
mit förderbedürftigen Kindern zusammen. Die Befunde wirken ernüchternd… Im
Blick auf die Förderung sozial benachteiligter Schüler werden wir im Folgenden
davon ausgehen, dass es sich bei dieser [negativen] Einstellung …
förderbedürftigen…. Schülern gegenüber… um ein spezifisch amerikanisches
Phänomen handelt, das in einem inklusiven deutschen Schulsystem nur in wenigen
Ausnahmen anzutreffen sein wird… (a. a. O. S.108)
… Es geht bei aller sozialer Förderung und der Betonung der lebensweltlichen
Bezüge im Endziel um Bildung, schulische Leistung und das Erreichen konkreter
Bildungsziele… (a. a. O. S.109) …
a) Martin Seligman (2011) beschreibt mit dem Phänomen der
erlernten Hilflosigkeit einen Motivationszustand, in dem Kinder nicht
(mehr) erwarten, dass ihr persönliches Erleben von eigenen Aktivitäten abhängig
ist… (a. a. O. S.114) … Jede Form der Gruppenarbeit ist für Kinder, die unter
erlernter Hilflosigkeit leiden kontraindiziert… Die individuelle Bezugsnorm …
gibt Raum für kindbezogene positive Würdigung des persönlichen Fortschritts…
Die b) Motivationslabilität (Kobi 1980,28) beschreibt einen Zustand, der
zeitweise überschießende Motivation und geradezu überbordende Aktivität
beinhaltet – und kurz darauf in Motivationsschwäche verfällt, die einem
Zusammenbruch gleicht… (a. a. O. S.115)
Tipp: Kinder mit Motivationslabilität sind verzweifelte und
verunsicherte Kinder, die sich gegen ihr Versinken in der Handlungsunfähigkeit
auflehnen. Sie brauche Hilfe in der Strukturierung ihrer Aufmerksamkeit und
hinsichtlich ihrer Arbeitsstrategien…
Die c) Motivationsaberrationen … Die betreffenden Kinder sind motiviert.
Eventuell sind sie sogar hochmotiviert.. Der Lehrer bringt einen Gegenstand mit
und erläutert kurz die Aufgabenstellung… Aber er tut dies eventuell an der
aktuellen Lebensgeschichte und Lebensproblematik seines Schülers oder sogar
verschiedener Schüler vorbei, weil er nicht ermessen kann, welche Entwicklung
im Leben der Schüler welche Assoziationen in welche Richtung auslösen (vgl.
hierzu Heckhausen & Heckhausen 2010).… (a. a. O. S.116)
Die d) Motivationsgebundenheit stellt eine >extreme bzw. nicht mehr
altersgemäße soziale Gebundenheit der Leistungsmotivation an bestimmte
Personen“ dar (Kobi 1980, 29) … Motivationsgebundenheit kann sich auch
hinsichtlich eines Raumes, einer Uhrzeit oder einer Schülergruppe entwickeln…
(a. a. O. S.117)
Tipp: Motivationsgebundenheit gründet in dem Wunsch nach
Sicherheit durch menschliche Nähe… erleben, dass es sichere Bindung gibt…
Einen weiteren Schritt stellt die Doppelbesetzung der Arbeitssituation durch
zwei Lehrkräfte dar… (a. a. O. S.117,118)
… Eine fünfte Form der Motivationsbeeinträchtigung ergibt sich aus dem
negativen Selbstbild, das viele sozial benachteiligte Schüler entwickelt haben.
Fortan bauen sie grundsätzlich auf e) Risikovermeidung und beziehen dies auch
auf jede Form des Lernens… (a. a. O. S.118)
2. Beeinträchtigungen des idealtypischen Lernprozesses im Bereich des Widerstanderlebens
3.2 „Sozial benachteiligt“ ist keine homogene Gruppe
3.2.1 Soziale Spaltung entsteht außerhalb der Schule …
Sozial benachteiligte Kinder… wurden von unserem selektiven Schul- und Betreuungssystem bisher in keiner eigenen Sonderschule oder sonstigen Institution >aufgefangen<… (a. a. O. S.125)
3.2.2 Förderung armer Kinder … (a. a. O. S.127)
3.2.3 Förderung von Kindern aus unterschiedlichen Milieus … (a. a. O. S.129)
Die Erziehungsstile unterscheiden sich stark nach dem Bildungsniveau der Eltern. Mit steigender Bildung werden die Praktiken weniger autoritär (Koch 20078a, 112). So stellen z.B. offene Lernformen allgemein anerkannte und entwicklungsfördernde Alternativen zu den eher direktiv und autoritär scheinenden frontalen Unterrichtsformen dar, bergen aber für Kinder aus instruktionslastig erziehenden Elternhäusern erhebliche Schwierigkeiten. Sie lernen u. U. unkonzentrierter, weil sie nicht ad hoc mit viel Freiheit und Selbstorganisation im Lernprozess umgehen können… (a. a. O. S.131) …
3.2.4 Förderung traumatisierter Kinder … (a. a. O: S.232)
3.2.5 Förderung von Flüchtlingen und Kindern mit Migrationsintergrund
… (a. a. O. S.136)
…Jüngere Flüchtlinge benötigen eigene bilinguale
Schulangebote, die von der Primarstufe bis zum Schulabschluss auch mit der
Unterstützung einer Muttersprachenlehrkraft einen Schulabschluss ermöglichen
(Schroeder 2007d). Kinder und Jugendliche, die ohne
gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, bedürfen wiederum
Bildungsangebote, in denen die erzwungene oder freiwillige Rückkehr mitbedacht
wird… sowohl als Integration in die deutsche Gesellschaft wie auch als
Reintagration in die Herkunftsgesellschaft und als Vorbereitung für
Weiterwanderung… (a. a. O. S.137)
… 2. Phase interkultureller Pädagogik: Vom Beginn der 1980er Jahre an wird auf
breiter Ebene und in verschiedenen Fachdisziplinen das Modell einer
>multikulturellen< Gesellschaft diskutiert. … Nicht die Betroffenen
müssen sich dem Bildungssystem anpassen, sondern die real existierende
Schule muss sich in der Gestaltung ihrer Konzepte und der Angebote an den
Lebenslagen und kulturellen Identitäten orientieren. Das Augenmerk der
Unterrichtsgestaltung liegt also auf dem Merkmal der >Differenz< und das
Grundverständnis auf Mehrperspektivität und Anerkennung verschiedener
kultureller Prägungen und körperlich/kognitiven Fähigkeiten. Für das
gleichberechtigte Miteinander in einer multikulturellen Gesellschaft sind
Toleranz und die Bereitschaft, sich auf das Verständnis anderer Plausibilitäten
einzulassen, von zentraler Bedeutung. Interkulturelle Pädagogik rechnet mit dem
dauerhaften Zusammenleben unterschiedlicher kultureller Prägungen in der
deutschen Gesellschaft…. Fremdsprachigkeit muss nicht ausschließlich ein
Problem darstellen, es birgt in einer global zusammenwachsenden Welt
unschätzbare Potenziale… Schulische Integration darf nicht vorwiegend auf dem
Niveau der Förder- und Hauptschule angestrebt werden, sondern muss auch Zugang
zu höheren Lern- und Qualifikationsniveaus ermöglichen… (a. a. O. S.140)
… Auf schulischer Ebene fordert Ulf Preuss-Lausitz (2003, zit. Nach Holzbrecher
2004,64f.): a) die stärkere Einbeziehung von Lehrern aus zentralen
Herkunftsländern, b) Einbeziehung von Künstlern, Geschäftsleuten, Sportlern und
sozialen Aktivisten aus Herkunftsgruppen, c) mehrspektivische Curricula, d)
Kooperationsprojekte mit Migranten-Vereinen, e) Nachhilfekurse durch
qualifizierte Migranten für Migranten, f) regelmäßige regionale
Auswertungskonferenzen. (a. a. O. S.141,142) …
3.2.6 Förderung von Risikokindern … (a. a. O. S.242)
… Speziell
für diese Schülergruppe und vor dem Hintergrund der angestrebten Inklusion
benachteiligter und behinderter Kinder in die Regelschule ist der konsequente
Ausbau von inklusiven gebundenen Ganztagsschulen notwendig (Ellinger et al.
2007). Es liegen eine Reihe empirischer Befunde vor, die nachweisen, dass
gebundene Ganztagsschulen einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Entwicklung
auffälliger Kinder, zur Verbesserung der Schulleistungen und zur Entwicklung
eines positiven Selbstbildes leisten (Ellinger et al. 2009, Fischer et al.
2011). In einer gebundenen Ganztagsschule erhalten Risikokinder die
Möglichkeit, nicht nur als Schulversager aufzutreten –, sondern in anderen
Fähigkeitsbereichen auch Stärken zu zeigen… (a. a. O. S.143) …
Da die gebundene Ganztagsschule weder Kinder aus armen Verhältnissen noch
Risikokinder aus ihren Familien lösen will, gehört eine intensive Elternarbeit
fest zum Aufgabenbereich des Teams…
3.3 Milieusensible Ganztagsschulen als Vision inklusiver Schulentwicklung
Die vorgestellten schul- und unterrichtsorganisatorischen
Konzepte können allerdings nur in einem allgemeinen Rahmen Förderung und
Bildung ermöglichen. In vielen Fällen werden solche didaktischen Hilfen den
tatsächlichen Bedarfen sozial benachteiligter Schüler nicht völlig gerecht.
Joachim Schroeder plädiert deshalb in seiner Stellungnahme zur Frage nach
inklusiver Schulentwicklung für den Aufbau >milieusensibler kommunaler
Bildungslandschaften< (Schroder 2007d). Auch Gotthilf Hiller fordert eine
Schullandschaft, die aus einem Netz aufeinander abgestimmter Schulen besteht.
Diese Institutionen folgen in ihrer inneren Differenzierung, die an den
Bildungslagen der Kinder orientiert sind. (a. a. O. S.147,148)
… Ausgehend von den Bedarfen und von den Potenzialen der verschiedenen Gruppen
sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher kann einen gesellschaftliche
Inklusion nur im Rahmen einer gebundenen Ganztagsschule gelingen (Ellinger et
al, 2007). Diese Ganztagsschulen arbeiten dann effektiv im Sinne der Förderung
und Unterstützung der Schüler, wenn sie jeweils einen bedarf- und zugleich
potentialorientierten Schwerpunkt ausgebildet haben. Gebundene Ganztagsschulen
in einer kommunalen milieusensiblen Bildungslandschaft können jeweilige
lebenslagenorientierte Curricula entwickeln und zugleich Netzwerke ausbilden,
die eine Integration der sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen in die
deutsche Gesellschaft unterstützen. Ulrich Heimlich (2012) weist in seinen
Überlegungen zu schulischen Organisationsformen sonderpädagogische Förderung
auf dem Weg zur Inklusion auf die Bedeutung von Netzwerkstrukturen hin.
Insbesondere die bereits seit etlichen Jahren bestehenden Förderzentren können
als Beispiel für die angedachten neuen Ganztagsschulen innerhalb
sozialraumbezogener Netzwerke gelten.
Die Netzwerke können aus Einzeleinrichtungen bestehen, die unterschiedliche
Schwerpunkte bilden und mit diesen bei Bedarf die übrigen Ganztagsschulen
unterstützen, z. B.
Die einzelne schwerpunktmäßig ausgerichtete gebundene
Ganztagsschule sollte grundsätzlich für Schulbesuch aller Kinder offen stehen…
Die gesellschaftlich angestrebte Integration von Schülergruppen, die ohne
körperliche Einschränkung und ohne Intelligenzmangel aufgrund weltweiter und
innerdeutscher Benachteiligungsmuster zu den Verlieren zählen, bedarf
möglicherwiese für eine bestimmte Zeit eines Schonraumes, der sich an
Sozialräumen orientiert. Eine Integration in die Kreise derjenigen, durch deren
Lebensstile, Prioritäten und Wertesysteme sie erst benachteiligt wurden, ist im
Blick auf viele Schicksale ein zu ehrgeiziges Ziel. Ohne strukturelle
Veränderungen wird die Integration sozial Benachteiligter nicht erfolgreich
sein.
>Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, sagte Theodor W. Adorno. (a. a.
O. S.149)
Verlagsinformationen W. Kohlhammer GmbH. zur Reihe Fördern lernen:
Roland Stein
Förderung bei Ängstlichkeit und Angststörungen
2012, 180 Seiten, ISBN 978-3-17-021978-6
Hannah Schott
Förderung bei Sucht und Abhängigkeiten
2011, 116 Seiten, ISBN 978-3-17-021558-0
Ulrich Heimlich
Gemeinsam von Anfang an
Inklusion für unsere Kinder mit und ohne Behinderung
Ernst Reinhardt Verlag München Basel
ISBN 978-3-497-02294-6 (Print) ISBN 978-3-497-60074-8 (E-Booki)
ISSN 0720-8707
Inklusion hat positive Auswirkungen für alle Beteiligten
Liebe Leserin, lieber Leser!
Inklusion ist in aller Munde. Manche sprechen sogar von einem Megathema der
Bildung. Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Behinderung sollen von
Anfang an gemeinsam spielen, lernen und leben.
Von der Kindergrippe bis zum Abitur – und darüber hinaus im Beruf, im
Wohnviertel und in der Freizeit. Seit vielen Jahren wird dieses Modell bereits
in Deutschland praktisch erprobt. Die praktischen Erfahrungen und die
wissenschaftliche Forschung seit den 190er-Jahren haben in Deutschland und in
vielen anderen Ländern gezeigt, dass mit der Inklusion ein sehr erfolgreiches
Modell mit vielen positiven Wirkungen für alle Beteiligten entstanden ist.
Aber immer noch ist nur knapp ein Fünftel der Kinder und
Jugendlichen mit Behinderung in Regeleinrichtungen. …
Inklusion hat positive Auswirkungen auf alle Beteiligen (a. a. O. S.7)
Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder mit Behinderung möglichst intensiv mit
anderen Kindern zusammen sind. Und das am liebsten so früh wie möglich. Aber es
gibt auch viele Eltern, die daran zweifeln, ob es sinnvoll ist, dass Kinder und
Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Macht mein Kind auch
genug Lernfortschritte, wenn es mit Kindern mit Behinderung zusammen in die
Schule geht? Leidet es nicht darunter, wenn es tagtäglich im Kindergarten oder
in der Schule mit einer Behinderung konfrontiert wird? Ist es nicht viel
besser, wenn Kinder mit möglichst gleichen Fähigkeiten zusammen lernen? Wird
mein Kind nicht vernachlässigt, wenn sich die Erzieherinnen oder die Lehrkräfte
mehr um Kinder mit Behinderung kümmern müssen? … Von diesen Fragen und
möglichen Antworten handelt der vorliegende Ratgeber…
Inklusion betrifft alle Bildungseinrichtungen
…Auch Eltern von Kindern ohne Behinderung haben deshalb ein berechtigtes
Interesse daran zu erfahren, wie eine inklusive Bildungseinrichtung aussehen
sollte, welche Vorteile das für ihre Kinder bringt und was sie zum
Gelingen dieser Idee beitragen können… (a. a. O. S.8,9)
„Unterschiede zwischen Menschen sind interessant. Wir freuen uns an ihnen“
(Hartmut von Hentig 2001, 77)
Bislang geht in Deutschland die überwiegende
Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung in Förderschulen* und andere Sondereinrichtungen.
Viele Eltern von Kindern mit Behinderung fragen sich nun, warum ihre Kinder mi
anderen gemeinsam spielen und lernen sollen. Ist es nicht besser, wenn sie in
eine beschützende Einrichtung gehen und dort unter sich sind? Manche Eltern befürchten,
dass ihre Kinder mit Behinderung im Regelkindergarten oder in der Schule von
anderen gehänselt werden. Aber es hat sich in den Jahren seit 1970 auch in
Deutschland gezeigt, dass sich Kinder mit Behinderung ebenso gut im
Regelkindergarten oder in der allgemeinen Schule entwickeln und dort n einigen
Bereichen sogar besser lernen können.
Noch zu häufig werden Menschen mit Behinderungen ausgesondert und an den Rand
gedrängt… (a. a. O. S.12… Sogar berühmte Philosophen wie Platon (428-3489 v.
Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) fanden es gerechtfertigt, behinderte
Säuglinge zu töten…
Wir mussten leider draußen bleiben.. Exklusion: Kinder mit
Behinderung waren im 18. Jh. Aus Bildungseinrichtungen ausgeschlossen
Im Jahre 1825 erfand der damals 16-jährige, selbst durch
einen Unfall erblindete Louis Braille (1809-1852) die Blindenschrift… (a. a. O.
S.14)
Bereits 1771 hatte ebenfalls in Paris der Abbé de l’Épee (1712-1789) die erste
Schule für taube Kinder eingerichtet und dort mittels Zeichensprache unterrichtet…
Die Idee der .. der >Separation< … war…, dass Kinder und Jugendliche mit
Behinderung einen >Schonraum< benötigen, in dem sie intensiv gefördert
werden…. Alle Menschen benötigen auch Schonräume!... (a. a. O. S.15) … Zu
Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden erste Nachhilfeklassen, die jene Kinder
fördern sollten, die in der Volksschule nicht mithalten konnten. Ziel war hier
noch die Rückführung dieser Kinder in die Volksschule… Erst ab 1881 setzte die
Gründung eigenständiger Hilfsschulen, z. B. durch Heinrich Kielhorn (1847-1913)
in Braunschweig ein… (a. a. O. S.16) … Die … sogenannten
>Lernbehinderten< machen bis heute die größte Gruppe unter den Schülern
mit Behinderung aus. Kinder mit Sprachbehinderungen wurden ab 1880 zunächst in
Sprachheilkursen an Volksschulen gefördert, die sich allerdings später
ebenfalls über Sprachheilklasse zur eigenständigen Sprachheilschule
weiterentwickelten… (a. a. O. S.17)
Mittendrin von Anfang an
Im Jahre 2006 verabschiedeten die Vereinten Nationen nun die „Konvention über
die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (VN BRK). Die Bundesregierung hat
diese Konvention 2008 unterzeichnet und im März 2010 bei den Vereinten Nationen
in New York hinterlegt…
„1. Die Vertragsstaaten erkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen
auf Bildung und Erziehung an. Mit Blick auf Realisierung dieses Rechts ohne
Diskriminierung und auf der Basis von Chancengleichheit stellen die
Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und
lebenslängliches Lernen sicher mit dem Ziel. Die menschlichen
Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des
Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den
Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken.
Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre
Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur
Entfaltungen zu lassen.
Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft
zu befähigen.“ (Vereinte Nationen 2009. Übersetzung von mir, U. H.). …(a. a. O:
S.21)
Während wir bei der Integration dafür sorgen mussten, dass Kinder mit und
ohne Behinderung , die getrennt gefördert wurden, wieder zusammen kommen
können, sollen in inklusiven Bildungseinrichtungen Kinder mit und ohne
Behinderung erst gar nicht getrennt werden… Die Unterschiedlichkeit der Kinder
soll in inklusiven Einrichtungen nicht eine Belastung sein. Die
Unterschiedlichkeit … ist vielmehr der Reichtum der Einrichtung und die
Grundlage des gemeinsamen Spielens und Lernens….
Jedes Kind hat Fähigkeiten, eigene Interessen und Bedürfnisse (a. a. O: S.22) … Der entscheidende Kern der
Inklusion bleibt das Voneinander-Lernen und das Gemeinsam-Spielen… Der Motor
dieser Entwicklungsanregung ist der Wunsch aller Kinder – auch Kinder mit
Behinderung – neben den Eltern ebenso mit anderen Kindern zusammen sein zu
können.. Sie müssen täglich zusammen sein können, um das Potential der
Beziehungen zu Gleichaltrigen (sog. Peergroup) auszuschöpfen (Cloerkes 1997)…
(a. a. O. S.23) Auf diesem Weg der Inklusion im Bildungssystem – so die
Hoffnung – soll letztlich auch mehr Inklusion in der Gesellschaft entstehen…
(a. a. O. S.24) … Viele Eltern von Kindern ohne Behinderung würden
ihre Kinder jederzeit wieder in eine inklusive Kindertagesstätte oder Schule
geben, weil sie erlebt haben, welche Bereicherung das Miteinander für alle
Beteiligten sein kann.
Tipp Eltern die unsicher sind, ob die Inklusion der richtige Weg für ihr Kind
mit Behinderung ist, sollten einmal einen inklusiven Kindergarten oder eine
inklusive schule besuchen… Gleichwohl sollte auch der Wunsch der
Eltern respektiert werden, die sich für eine Heilpädagogische Tagesstätte oder
ein Sonderpädagogisches Förderzentrum entscheiden. Deshalb
werden wir dem >Geist der VN-BKR auch am ehesten gerecht, wenn wir die
Wahlmöglichkeiten der Eltern bezogen auf den Förderort entsprechend gesetzlich
absichern. Aber ebenso gilt, dass Eltern, die eine inklusive
Bildungseinrichtung für ihre Kinder wünschen, in gleicher #Weise Unterstützung
erfahren müssen. (a. a. O. S.25)
Checkliste Wie Eltern die Entscheidung für die Inklusion
vorbereiten können:
Behinderung oder Förderbedarf? – Was Etiketten bewirken
Heutzutage haben Menschen mit Behinderung in der Regel gelernt, mit ihrer
Behinderung zu leben. Deshalb wird heute auch nicht mehr davon gesprochen, wie
behindert ein Mensch ist, sondern davon, wie er behindert wird. (a. a. O. S.29)
… Wenn Kinder mit und ohne Behinderung im Kindergarten oder in der Schule
zusammenkommen, steht zu Anfang meist die Behinderung im Vordergrund. Es ist
interessant zu beobachten, wie Kinder im Kindergarten damit umgehen. (a. a. O.
S.30)
Beispiel In der integrativen Kindergruppe eine Kindergartens in
Nordrhein-Westfalen ist das gleitende Frühstück langsam von allen Kindern
wahrgenommen. Yannis hat schwer zu kämpfen mit seinem klein geschnittenen
Frühstück, das er nur mit Mühe aus der bunten Plastikdose heraus zum Mund
führen kann. Aber er will das unbedingt selbst können… Da im Gruppenraum vieles
auf dem Teppich stattfindet, fällt es gar nicht weiter auf, dass Yannis fast
immer auf dem Boden spielt. Aber er möchte unbedingt aufstehen und laufen
können, wie die anderen auch. Auch heute zieht er sich wieder mühsam am Regal
hoch… Annika hat das aus der Entfernung beobachtet… Sie stellt sich im Abstand
von etwa zwei Metern gegenüber Yannis auf und fängt seinen Blick auf. Nun winkt
sie ihm mit beiden Händen zu und fordert ihnen auf zu kommen. Mit großer Mühe
zieht Yannis das linke Bein nach vorn. Seine Arme fuchteln dabei wild herum,
weil er Mühe hat das Gleichgewicht zu halten… Nach dem dritten Schritt ist erst
einmal Schluss für heute und Annika kann ihm gerade noch ihre Hände reichen,
damit er nicht umfällt… (a. a. O. S.31)
Tipp Beobachten Sie einmal, wie Kinder mit und Ohne
Behinderung zusammen spielen. Besonders bei Kindern im Alter vor der Schule
geht es dabei meist um die Ideen aller Kinder für das gemeinsame Spiel.
Nicht die Schwäche oder die mangelnden Fähigkeiten stehen für sie im
Vordergrund, sondern das, was der andere kann… (a. a. O. S.32)
Kinder mit Behinderung sind in erster Linie Kinder – wie alle anderen auch
(a. a. O. S.33)
Außenstehende – besonders andere Eltern – fragen meist erst nach dem
Schweregrad der Behinderung. … versuchen Sie, sich nicht zurückzuziehen, fangen
Sie ein Gespräch an. Reden Sie über die Behinderung, aber auch über all das,
was ihr Kind schon gelernt hat….
Es hat … den Anschein, als sei Behinderung eine Krankheit.. Es gibt aber viele
Kinder mit Behinderung, die kerngesund sind… Wir gehen heute davon aus, dass
die Behinderung keine Eigenschaft des Menschen ist. Auch seine soziale Umgebung
hat Anteil an der Behinderung. (a. a. O. S.34)
Wer behindert wen? Behinderung ist keine Eigenschaft des Menschen, sondern die
Aussonderung aus der Gesellschaft … so die
WHO.
Die WHO empfiehlt letztlich, die gesamte Lebenssituation eines Menschen mit
Behinderung unter die Lupe zu nehmen und neben der unleugbar vorhandenen
Schädigung auch seine aktiven Handlungsmöglichkeiten und seine
Teilhabechancen zu berücksichtigen… (a. a. O. S.35,36)
Ein Mensch wird dann behindert, wenn er sozial ausgegrenzt ist (a. a. O. S.37) … Betroffene lehnen es ab, als
Behinderte bezeichnet zu werden…
Ist das Etikett Behinderung erst einmal „aufgeklebt“, so folgt daraus meist die
Überweisung in eine spezielle Einrichtung …. (a. a. O. S.38)
Der Begriff Behinderung steht in der Kritik
Wenn sich der >Teufelskreis Behinderung< geschlossen hat, dann ist
die abwertende Haltung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit
Behinderung zu einem Bestandteil der Persönlichkeit geworden…(a. a. O.
S.39)
Tipp: Wenn der Förderbedarf Ihres Kindes
festgestellt werden soll, dann fragen Sie gezielt nach den Fördermaßnahmen, die
für Ihr Kind ergriffen werden sollen. Lassen Sie sich diese Fördermaßnahmen
genau erklären.
Eltern und Kinder sind kompetente Ansprechpartner im förderdiagnostischen Prozess
… Die individuelle Förderung sollte genau geplant und überprüft werden
mithilfe des sog. Sonderpädagogischen Förderplans (Popp/ Melzer Methner 2011)…
(a. a. O. S.41)
… Ein Kind mit Lern- und Entwicklungsproblemen hat … in der Regel mehrere
Schwerpunkte, in denen es gefördert werden muss, insofern stehen auch
Sonderpädagogen immer mehr unter dem Problem, dass sie ihre unterschiedlichen
fachlichen Fähigkeiten in einen Prozess der Kooperation einbringen müssen.. (a.
a. O. S.44)
… Seit den 1970er Jahren haben in Deutschland zahlreiche
Kindertageseinrichtungen gute Erfahrungen mit der gemeinsamen Erziehung
gemacht. Denn diese individuelle pädagogische Arbeit kommt allen Kindern
zugute. Zu Beginn ist es besonders wichtig, dass die Eltern stark mit einbezogen
werden…
Kinder brauchen in der Eingewöhnungsphase in die Kita unterschiedlich viel Zeit
(a. a. O. S.49)
Der Fokus soll nicht auf die Schwächen des Kindes gerichtet sein, sondern auf
die Stärken … (a. a. O. S.50)
… In jüngster Zeit wird zwar der Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen
wieder stärker betont und durch entsprechende Bildungs- und Erziehungspläne
abgesichert. Noch immer gilt allerding, dass das Spiel die zentrale
Lebensäußerung von Kindern in den ersten … sechs …Lebensjahren ist… (a. a. O. S.51)
Im Spiel sind Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam aktiv (a. a. O. S.52) …
Es hilft den Kindern beim gemeinsamen Spielen, wenn im Gruppenraum
Spielmaterialien in offenen Regalen … für alle Kinder… frei zugänglich sind…
(a. a. O. S.53) … Spielmaterialien für viele Sinne… Spezielle therapeutische
Spielmaterialen sprechen oft alle Kinder an … (a. a. O. S.54) … Auch andere
Kinder haben Spaß daran, mit großen Gymnastikbällen zu hüpfen… (a. a. O. S.54)
An einem Strang ziehen Die pädagogische Arbeit in inklusiven
Kindertagesstätten sollte von einem Team getragen werden… (a. a. O. S.56)
Beispiel: Melanie ist 3 Jahre alt und gerade in den Kindergarten
aufgenommen worden. Sie hat das Downsyndrom und wurde von den Kindern in der
Gruppe nach Vorgesprächen freundlich aufgenommen… Sie ist immer gut gelaunt und
schnell bei allen beliebt… Aber sie spricht bislang kein Wort… Besonders
erstaunt sind alle darüber, dass die Eltern bereits nach wenigen Wochen…
berichten können, wie Melanie zu Hause jetzt häufiger versucht, sich mit Lauten
und Gesten verständlich zu machen… (a. a. O. S.57)
Beispiel So sind Torben und seine Mutter von der offenen Haltung der
Kindergartenleitung überrascht worden… Nun muss noch der Träger des
Kindergartens überzeugt werden, weil mit Torben zusammen eine inklusive Gruppe
gegründet werden kann und dann auf jeden Fall eine Heilpädagogin mit halber
Stundenzahl (also ca. 20 Wochenstunden) in die Gruppe kommen muss… (a. a. O.
S.61)
Inklusion ist schon im Krippenalter möglich …bis zu drei Jahren …
(a. a. O. S.63)
Für viele Eltern von Kindern mit Behinderung ist die
Vereinbarkeit von Familie und Beruf wichtig. (a. a. O. S.65)
Groß angelegte internationale Untersuchungen haben… gezeigt, dass Kinder vom
Besuch einer Kindergrippe und eines Kindergartens im gesamten weiteren Verlauf
ihres Bildungsweges profitieren (Largo 2010). Das gilt sowohl für ihre sozialen
Fähigkeiten als auch für die Vorbereitung auf den Schuleintritt… (a. a.
O. S.65)
Sich helfen lassen… Inklusive Kindertageseinrichtungen können dieses
anspruchsvolle Entwicklungsprogramm nicht nur aus eigener Kraft bewältigen…(a.
a. O. S.66)
Schulen für alle? Oder: Vielfältige Bildungswege?
Inklusive Schulen heißen alle Schüler willkommen und stellen ihren gesamten
Unterricht auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten von Schülern
ein. Am besten gelingt das, wenn sich die ganze Schule an dieser Aufgabe
beteiligt. Das gilt sowohl für Grundschulen als auch für die weiterführenden
Schulen (a. a. O. S.71)
Lehrer müssen heute auf unterschiedliche Schüler individuell eingehen
In inklusiven Schulen lernen Kinder nicht nur von Lehrern, sondern voneinander.
Eltern erwarten… von den Lehrkräften, das sie nicht nur ihr Lehrpensum laut
Lehrplan herunterspulen, sondern Kinder unterrichten, Kinder müssen in der
Schule von heute nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen lernen und sich ein
möglichst vielseitiges Weltwissen aneignen. Sie müssen ebenso lernen, wie man
lernt, wie man mit anderen zusammenarbeitet und wie man für ein Problem
möglichst selbständig und kreativ eigene Lösungen entwickelt… (a. a. O. S.73)
Grundschule als „Einheitsschule“?
Fragt man Eltern, ob sie eine „Einheitsschule“ wollen, so antwortet die
Mehrheit ablehnend. Würde man jedoch weiterfragen, was eine Einheitsschule
tatsächlich ist, so würden sich in der Regel große Informationslücken
offenbaren… es ist die vierjährige (in Berlin und Brandenburg
sechsjährige) Grundschule als Schule für alle Kinder…
In der Reichsschulkonferenz von 1920 war das ein Ergebnis der mehrtägigen
Beratungen über die sog. Einheitsschule als Schule für alle von der Vorschule
bis zur 9. Bzw. 10. Klasse. Wenigsten in den ersten vier Schuljahren sollten
die Kinder alle zusammenbleiben, so lautete der Kompromiss… im
Reichsgrundschulgesetzt… (a. a. O. S.75)… Die Grundschule war die erste
Schulform, die … in den 1970er Jahren… ihre Unterrichtskonzepte und
Kooperationsformen so veränderte, dass auch Kinder mit Behinderung aufgenommen
werden konnten… (a. a. O. S.75)
Hilfe! Die Kinder werden immer unterschiedlicher.
… Die Antwort liegt in einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel
In den letzten 30 Jahren… Noch in den 1950er-Jahren
konnten Kinder auch in städtischen Wohngebieten einfach so zum Spielen auf die
Straße gehen und fanden dort ausreichend Spielpartner… und waren häufig ganze
Nachmittage unbeaufsichtigt… Heute findet die Kindheit häufig in der
elterlichen Wohnung statt… Die Kinder sind ständig unter Aufsicht. In
Ermangelung von Spielmöglichkeiten außerhalb der Wohnung erhalten die neuen
elektronischen Medien wie Fernsehen, Computer und Handy einen hohen
Reiz…. Nur noch Erfahrungen aus „zweiter Hand“… Die Zahl der Scheidungen
ist seither rapid geschieden. Immer mehr Kinder wachsen allein ohne
Geschwister auf oder nur mi einem Elternteil… (a. a. O. S.77)
Tipp
Eltern müssen in allen Phasen der Feststellung des sonderpädagogischen
Förderbedarfs mit einbezogen und informiert werden…
Der Erfolg der Fördermaßnahmen soll überprüft werden …
(a. a. O. S.81)
Vom „Lernen im Gleichschritt zur Öffnung des Unterrichts“
Viele Grundschulen sind bereits seit geraumer Zeit darin erprobt, ihren
Unterricht auf die veränderten Bedürfnisse von Schülern einzustellen. Sie haben
den „7G-Unterricht“, in dem jeder Schüler zur verlassen gleichen
Zeit, den gleichen Lerninhalt, dem gleichen Lernmaterial, dem gleichen
Lernergebnis und der gleichen Lernhilfe bewältigen mussten. Es lässt
sich schlicht in der heutigen Schule nicht mehr realisieren… Zu kurz sind die
Aufmerksamkeitsspannen der Schüler, zu unterschiedlich ihr Lerntempo, zu individuell
ihre jeweiligen Lernstile… (a. a. O. S.82)
… Joachim … passt auf, dass Michael nicht zu lange herumtrödelt, bis er mi
seinem Arbeitsblatt endlich anfängt. Michael hat gelernt, dass man mit Michael
manchmal etwas streng sein muss. Michele träumt gern einfach so herum…
(a. a. O. S.83)
Tipp
Wenn sie herausfinden wollen, ob eine Schule auch inklusiv arbeitet, lassen Sie
sich auch einmal einen Klassenraum zeigen und achten Sie darauf, dass es
vielfältiges Lernmaterial gibt und diese in unterschiedlichen Ecken des
Klassenraums für alle Schüler zugänglich sind…
Im inklusiven Unterricht sollte ein Sonderpädagoge mit der Lehrkraft
zusammenarbeiten …
Manchmal ist aufgrund eines besonders hohen Förderbedarfs auch ein
Integrationshelfer (bzw. Schulbegleiter) zusätzlich erforderlich…
(a. a. O. S.84)
Alle Schüler sollen lernen, ihr Lernen mit Unterstützung der Lehrkraft selbst
zu planen.
… Hier sollte sich die Lehrkraft nicht scheuen, zum Einstieg auch einmal ein
bis zwei Schulwochen damit zu verbringen, ausschließlich Lernmethoden zu
üben. (a. a. O. S.85,86)
Kein Feld für Einzelkämpfer
Die zusammenarbeitenden Lehrkräfte stimmen die Unterrichtsplanung miteinander
ab. Regelmäßige Teamsitzungen der Lehrkräfte sind hilfreich.
(a. a. O. S.87)
… Tipp
Gerade in Bezug auf das Schulleben gibt es vielfältige Möglichkeiten für Eltern
sich aktiv einzubringen. Häufig hilft ein Förderverein… mit Spenden… (a.
a. O. S.92)
Freunde suchen / Inklusive Schulen öffnen sich nach außen und lassen sich von
ihrem Umfeld anregen…
Selten gewordene Berufe wie Imker und Schmied werden z.B. in der Schule
vorgestellt. Oder Schulklassen verlassen das Schulgebäude, um Väter und Mütter
an ihrem Arbeitsplatz aufzusuchen… (a. a. O. S.94)
Was erwartet uns ab Klasse 5?
… Müsste nicht vielmehr das dreigliedrige System abgeschafft werden, so wie in
Finnland? Dort gehen alle Schüler in eine gemeinsame Schule von der ersten bis
zur achten Klasse. Noten sind abgeschafft. Auch das Sitzenbleiben gibt es
nicht. Und dann erreichen finnische Schüler in den PISA-Studien auch noch
regelmäßig internationale Spitzenleistungen? Warum also nicht auch so bei uns
in Deutschland? … Viele Eltern wollen unbedingt am Gymnasium mit der
Möglichkeit des Abiturs und des Hochschulzugangs festhalten. Die Zahl der
Eltern, die ihre Kinder zum Gymnasium schicken wollen, steigt sogar weiter an…
(a. a. O. S.98)
Ob inklusive Schule oder Förderzentrum – das sollten die Eltern selbst
bestimmen können…. (a. a . O. S.99)
Durch den Vergleich mit anderen lernen Kinder mit Behinderung, ihre Fähigkeiten
einzuschätzen. …
Selbstverständlich haben nicht alle Schüler mit Behinderung die Möglichkeit die
Schulabschlüsse der jeweiligen Schule zu erreichen… (a. a. O. S.100)
Inklusiver Unterricht im Gymnasium
Schüler übernehmen die Rolle des Tutors für Schüler mit Behinderung .. Beispiel
In der Klasse 5 des Gymnasiums in G. ist heute das Stundenthema „Entdecke
den Zusammenhang von Herzschlag und Atemfrequenz“…. Die Schüler mit dem
Förderschwerpunk geistige Entwicklung sollen die Stationen 1 und 2
bearbeiten und dabei die Organe des Herz-Kreis-Lauf-Systems erkennen und
benennen können sowie die Kernbegriffe lesen und schreiben können… (a. a. O.
S.103)
Und das sagt die Forschung!
… es hat sich gezeigt, dass Schüler ohne Behinderung im inklusiven Unterricht
keine Nachteile bei den Schulleistungen haben – auch im Vergleich zu
gymnasialen Anforderungen nicht. Sie erweitern aber zusätzlich ihre soziale
Kompetenz. Darüber hinaus lassen sich auch solche hochgesteckten Ziele wie
Toleranz im Umgang mit anderen, Verantwortung für Mitmenschen in inklusiven
Schulen erreichen… (a. a. O. S.107)
Es folgen in diesem Ratgeber Hinweise für die berufliche Eingliederung, für
Wohnen in einem Behindertenwohnheim oder im Eigenheim zusammen mit
anderen behinderten Mietern, ausgewählte Rechtsgrundlagen,
Kontaktadressen wie „Bundesarbeitsgemeinschaft Unterstützte Beschäftigung“
sowie Literatur- und Filmempfehlungen.(a. a. O. S.111-156)
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Klaus Metzger/Erich Weigl (Hrsg.)
Inklusion – eine Schule für alle
Modelle . Positionen . Erfahrungen
Lehrerbücherei Grundschule Kompakt
Cornelsen Scriptor GmbH & Co KG, Berlin, 2010
Vorwort
… Bewusst exponiert am Anfang des Bandes steht ein Gespräch zwischen Mutter und
behinderter Tochter: PETRONILLA und VERONIKA RAILA geben einen aufwühlenden
Einblick in „Zeiten voller Schmerz“ und „Zeienb des puren Glücks“… (a. a. O.
S.7)
1 Bin ich schon drin?
Petronilla und Veronika Raila
… Wir mussten uns in Sack und Asche hüllen; standen dann aber im grellen
Scheinwerferlicht. Die Ursache dafür liegt weniger in der Behinderung
meiner Tochter (sie hat Autismus mit einer sehr schweren Körperbehinderung) als
in der teils sehr schmerzhaften Auseinandersetzung der Gesellschaft mit
ihr.
Früher wollte ich stets den Normen der Gesellschaft, die festlegt, wie
ein Mensch im Äußeren und im Inneren zu sein hat, entsprechen. Mit dem Tag der
Geburt meiner Tochter wurde diese Werthaltung bis ins Mark erschüttert, meine
Tochter entsprach keiner Norm…
Das kleine Bündel, das mich so schmerzte und dennoch so freute, entwickelte
sich im Lauf der Zeit zu einem Energiepaket. Anfänglich brauchte sie mich, wie
jedes Kind eine Mutter braucht, ich nahm sie bei der Hand. Später nahm sie mich
an die Hand und führte mich kraft ihres Willens durch viele Institutionen, zu
vielen Terminen und Gesprächen. Gespräche vor denen ich oft Angst hatte, die
ich aber dennoch durchstand, weil eine enorm starke Eigenständigkeit hinter mir
stand oder mich zog. Durch die wurde ich auch animiert, die rein
naturwissenschaftliche Art und Weise meines Denkens – ich hatte Chemie und
Ökotrophologie studiert – aufzugeben und mich der Pädagogik zuzuwenden.
Inzwischen bin ich mit diesem Studium fast fertig und Veronika [?] wird
18 Jahre alt… (a. a . O. S.9)
Die schlimmsten Erlebnisse waren für mich, dass man mich anders behandelte.
… Weißt du, Mama, das ging bereits los, als du mich im
Kindergarten anmelden wolltest. Kannst du dich an die Frau erinnern, die mich
einfach übersehen hatte, so als ob ich Luft wäre? ....
Das nächste Erlebnis, das für mich noch präsent ist, fand im integrativen
Kindergarten statt. Dort hatte man mich letztlich gezwungen aufgenommen und
wollte mich auf die Abteilung abschieben, in der die Kinder nur noch auf die
Grundbedürfnisse hin versorgt werden….
Kannst du dich noch an die Sonderpädagogin erinnern, die mich kurz in der
Gruppe angeschaut hat? … die fast gar nichts von mir wusste, außer dass ich
nicht sprechen und keinen Stift in der Hand halten konnte. Die sagte über mich,
dass ich eine Intelligenz von null habe, das hat mich sehr getroffen. Da habe
ich zum ersten Mal Angst bekommen. (a. a. O. S.10)
Angst warum?
Angst, dass es nie mehr aufhört, dass Menschen über mich urteilen. Angst, mich
dessen nicht mehr wehren zu können, und letztlich Angst um dich.
Angst um mich? Das verstehe ich jetzt nicht, bitte erkläre es mir.
Ich habe geschehen, wie deine Augen auf einmal ins Leere blickten, wenn sie
mich ansahen. Ich sah auf dem Grund deiner Augen die Angst schreien…
Was war dann das auslösende Ereignis, dass du gemerkt hast, dass ich mich
nicht auf die andere Seite ziehen lasse?
Weißt du noch, wie du mit deiner Freundin telefoniert hast und sie von einem
anderen Kind erzählte, das nur durch die Eltern lesen gelernt hat. Darauf hast
du gesagt, ich bringe Veronika das Schreiben und Lesen bei und wenn es 100
Jahre dauert und ich dafür barfuß nach China laufen muss…
Von da an ging es mir und dir wieder gut…(a. a. O. A.11)
Ich freute mich so auf die Schule.. Ich war so stolz… Im Kindergarten war ich
die Einzige, die nicht sprechen … nicht laufen konnte. Ich freue mich darauf,
neue Freunde zu finden…
Ich konnte niemand zum Freund gewinnen, aber dies war noch nicht das
Schlimmste. Bald merkte ich, dass man uns behandele, als wären wir nicht da…
… damals war ich aber gezwungen, dich dorthin zu schicken, weil die
Sonderpädagogin dich so eingestuft hat.
… Außerdem lernte ich viel zu wenig, ich wollte immer mehr wissen, aber man
traute es mir nicht zu… Von dieser Schule habe ich mich nach ein paar Monaten
innerlich verabschiedet, ich zog mich in meinen Kokon zurück. Dass dies keine
Lösung war, wurde mir schnell klar. Ich beschloss zu kämpfen.
Ich merkte damals nur, dass du sehr oft krank warst, teilweise warst du
wochenlang bettlägerig. (a. a. O. S.12)
Ich wollte unter normalen Kindern sein, als Mensch angesprochen werden und
möglichst viel lernen…
Das Tolle war, dass du einen Schulpsychologen zu Rate gezogen hat, der sehr
lange mit mir arbeitete und zur Feststellung kam, dass ich auch auf eine
Regelschule gehen kann. Das gab mir neuen Mut. In keiner schönen Erinnerung
blieb mir aber das ganze Prozedere bei de Montessori-Schule…
Aber diesen seltsamen Elternabend werde ich nie vergessen , als eine andere
Mama sagte. >Wenn so ein Kind (damit meinte sie mich) in die Klasse komm,
schafft meines dann noch das Abitur?<
… Ich bin dann zum Schulrat gegangen.
Ja, und du hast durchgesetzt, dass ich in die Regelschule komme, gleich hier
am Ort, man konnte zu Fuß hinlaufen bzw. hinrollen. Hier habe ich Freunde
finden können, die mich so nahmen, wie ich war. Freunde, die mich zu Hause
besuchten… Ich lernte viel über die „Normalen“ und im Vergleich dazu auch viel
über mich. Am meisten lernte ich, wenn ich die anderen über Ereignisse
sprechen hörte, bei denen ich auch anwesend war. Ich musste feststellen,
welcher Unterschied in der Wahrnehmung bestand –das war zunächst ein Schock für
mich…. (a. a. O. S13)
Ja, das weiß ich schon noch, weil dieses souveräne Selbst mir dann den Auftrag
gegeben hat, ein Gymnasium zu suchen, das dich aufnimmt.
Obwohl die letzte Zeit in der Grundschule stark vom Einfluss der
Sonderschule getrübt war.
… Gott sei Dank stand uns in diesen schweren Zeiten immer Dr. Thoma vom
FISS-Seminar zur Seite…
Wie war es dann auf dem Gymnasium bei Maria Stern?
Spitzenmäßig! Hier waren wir Mädchen unter uns Die Lehrer haben sich
unglaublich für mich eingesetzt… (a. a. O. S.14)
… Wie war es dann, als dir die Zeitverlängerung bei den Prüfungen nicht mehr
reichte und du aus dem Notensystem ausgeschert bist?
Auch das haben viele Lehrer einfach mitgetragen, das war für mich so
entlastend, denn die Zeitverlängerung um 25 Prozent reichte mir einfach
nicht aus. Durch diesen Zeitstress ist mein ganzes Nervensystem
zusammengebrochen…
… Wie fühlst du dich jetzt an der Uni?
Du kannst es dir nicht vorstellen. Es ist unglaublich gut. Hier fühle ich
mich am besten angenommen, respektiert, ja besonders geachtet wegen der
Fähigkeiten, die ich aufgrund meiner Behinderung entwickelt habe. Hier kann ich
meine Art, Dinge zu betrachten und zu interpretieren, ausleben. Hier werde ich
nicht mehr in ein Kästchen gesteckt… Der einzige Wermutstropfen ist, dass die
jetzigen Statuten der Universität nicht erlauben, mir einen Abschluss zu geben…
was müsste deiner Meinung nach getan werden…?
… Es müsste das Leistungssystem an jedes Kind angepasst werden, und nicht die
Kinder an das System. (a. a. O. S.15)
Oft wird das Leben unterschätzt, ebenso die Kreativität im Umgang mit
Problemen. An dieser Schnittstellte zwischen den sogenannten Normalen und den
„Nichtnormalen“ kann viel Neues durch gegenseitige Befruchtung entstehen… Ich
wünsche mir, das wir alle in einer Gesellschaft leben, in der die Menschen ob
ihrer Besonderheiten geschätzt werden. (a. a. O. S.16)
2 Die UN-Konvention, Artikel 24: ein Kommentar
Georg Theunissen
…[Das] Konzept der Institutionalisierung bedeutete soziale Segregation, Isolation und Fremdbestimmung behinderter Menschen und… zugleich eine soziale Benachteiligung, die mi Diskriminierung einherging.
Daher kam es vor etwa 40 Jahren in führenden westlichen
Industrienationen zu Protestbewegungen, indem Menschen mit Behinderungen,
Eltern behinderter Kinder, Bürgerrechtler und Fachleute aus dem
fortschrittlichen Lager der Behindertenarbeit das bisherige Verständnis von
Behinderung als Krankheitskategorie sowie die institutionsbezogene,
aussondernde Praxis scharf kritisierten (vgl. Theunissen 2009) … Die
Leitprinzipien lauteten Normalisierung und gesellschaftliche
Integration… (a. a. O. S.21) … nach wie vor dominieren Interessen von
mächtigen Organisationen, Trägern und Einrichtungen der Behindertenhilfe,
Kostenträger und Berufsverbände der Heil- und Sonderpädagogik, die die
Behindertenpolitik durch ihre institutionsbezogenen (nicht selten konservierenden)
Vorstellungen zu bestimmen suchten…
Rechtliche Änderungen
Die … Empowerment-Initiativen führten zum Schulterschluss mit Fachverbänden
1994 zur Aufnahme eines Benachteiligungsverbots aufgrund von Behinderung im
deutschen Grundgesetz (Artikel 3), im Jahre 2001 zum Neunten Sozialgesetzbuch
(SGB IX), welches für eine selbstbestimmte Teilnahme behinderter Menschen am
gesellschaftlichen Leben die rechtliche Basis liefert, 2002 zu einem eigenen
Behindertengleichstellungsgesetz und schließlich im August 2006z zu einem
Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz mit weitreichendem Diskriminierungsschutz
am Arbeitsplatz und im Bereich des privaten Geschäftsverkehrs.. Die meisten
Bundesländer… aber… ließen z. B. das Schulrecht… weiterhin unangetastet…
In Anbetracht solcher Unzulänglichkeiten konnte sowohl national als auch
international >die Stimmer der Betroffenen“ als „Experten in eigner Sache
nicht mehr übergangen werden. (a. a. O. S.23,24) Genau an dieser Stelle hat die
von den Vereinten Nationen am 13. Dezember 2006 verabschiedete Konvention
über die Rechte behinderter Menschen ihren Platz, die hierzulande seit dem
26. März 2009 verbindlich ist….
… ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit …“ (vgl.
Artikel 24, Abs.2) Als menschenrechtswidrig gelten z. B. ein
unfreiwilliger Ausschluss eines behinderten Kindes vom Unterricht mit
nichtbehinderten Kindern einer allgemeinen Schule, eine unfreiwillige
Beschulung behinderter Kinder in Sonderschulen, eine Verweigerung einer
unterstützten Beschäftigung eines jungen Erwachsenen mit Behinderung auf dem
ersten Arbeitsmarkt zugunsten einer Unterbringung in einer Behindertenwerkstatt
(vgl. Artikel 27) oder die Verweigerung eines unterstützten, häuslichen Wohnens
in einer eigenen Wohnung mit dem Verweis auf freie Plätze in einem Wohnheim
(vgl. Artikel 19). (a. a. O. S.23) … Ein solches im Bewusstsein der
Menschenwürde rechtlich kodifiziertes Gesellschaftsprinzip verträgt sich nicht
mit dem traditionellen Bild eines behinderten Menschen als anleitungs-, versorgungs-
oder behandlungsbedürftigen Defizitwesens. Demgegenüber geht die UN-Konvention
von einem „Diversity-Ansatz“ aus, der Behinderung als Bestandteil menschlicher
Normalität, wie es in jüngster Zeit z.B. Autisten deutlich zum Ausdruck bringen
(vgl. THEUNISSEN/PAETZ 2010)…
Umsetzung kritisch prüfen
Angesichts der hohen Staatsverschuldung könnte einigen Bundesländern und
Kommunen die dilettantische Übersetzung und Auslegung von Inklusion als
Einbeziehung statt Nicht-Aussonderung und unmittelbare Zugehörigkeit willkommen
sein, um ein Festhalten an ihrer bisherigen segregierenden Schulpolitik zu
legitimieren. Gestattet sei die kritische Rückfrage, ob dies womöglich
politisch gewollt ist… (a. a. O. S.26)
In Anbetracht dieser Sichtweise, die eine Abkehr vom traditionellen
psychiatrisch-medizinischen (Rehabilitations-)Modell und eine Hinwendung zu
sozialwissenschaftlich orientierten Erkenntnissen bedeutet, ist es konsequent,
wenn die UN-Konvention die Förderung und Entfaltung eines „Bewusstseins der
Würde und des Selbstwertgefühls“ nicht nur zum Programm für Personen mit
Behinderungen erklärt, sondern davon ausgeht, dass eine „inklusive
Gesellschaft“ nur dann gedeihen kann, wenn ebenso alle anderen Bürgerinnen und
Bürger ein entsprechendes Bewusstsein, eine positive innere Einstellung
behinderten Menschen gegenüber entwickeln. (a. a. O. S.24,25)
4 Der bayerische Weg der Inklusion durch Kooperation
Erich Wiegl
..Klang des Diskurses… ein Werk der Vielstimmigkeit.
Inklusion – ein Kind der Aufklärung erlangt seine Identität
.. Die Französische Revolution markiert die politische Dimension des Beginns der sogenannten Moderne, die einen Zeitraum von 200 Jahren umschreibt. Die Aufklärung als geisteswissenschaftliche Dimension der Moderne hat bis heute großen Einfluss auf den postmodernen Bildungsdiskurs des 21. Jahrhunderts…. Oft genannte.. Vorläufer (Salamanca-Erklärung 199, Erklärung der Weltkonferenz „Bildung für alle“ 1990, UN-Kinderrechtskonvention 1989 bis hin zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 198) hinaus… (a. a. O. S.29)
Inklusion – von der modernen Idee zur postmodernen Einlösung in Deutschland (a. a. O. S.30)
Anspruch auf individuelle Bildung, Förderung und
Unterstützung
Zielsetzungen sind eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung und der Erwerb
eines Schulabschlusses entsprechend den individuellen Möglichkeiten. Gemäß Art.
2 soll der Förderort die allgemeine Schule sein… (a. a. O. S.31)
„Vielfalt ist Bereicherung, nicht eine Bürde“. Die Bildungssysteme sowie die
jeweiligen Schulsysteme in den Ländern sind im Sinne der bereichernden Vielfalt
der Kinder zum Wohle aller zu gestalten.
.. Dabei ist die Kompetenz der sonderpädagogischen Förderung von grundlegender Bedeutung. Das Zentrum sonderpädagogischer Professionalität is die Förderschule. Ihr besonderer Auftrag ist es, mit hoher Diagnose-Kompetenz, qualifizierten Förderangeboten und professionellem Unterricht dem Förderbedarf jedes einzelnen Kindes oder Jugendlichen auf sehr individuelle Weise gerecht zu werden…. (a. a. O. S.36) Ziel und Aufgabe der Sonderpädagogik ist es, eine möglichst weitgehende soziale, berufliche und gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisen. Dies kann sowohl an der Förderschule als auch mit Unterstützung durch die Förderschule an der allgemeinen Schule geschehen…
Geöffnete Klassen – Kinder ohne sonderpädagogischen
Förderbedarf an Förderschulen
Förderschulen, die nach den Lehrplänen für die allgemeine Schulen unterrichten,
nehmen auch Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf auf. Diese Form des
gemeinsamen Unterrichts gibt es derzeit an Förderzentren für die Schwerpunkte
Hören, Sehen sowie körperliche und motorische Entwicklung. (a. a. O. S.37,38)
Einzelintegration und Unterstützung durch die Mobilen Sonderpädagogischen Dienste (a. a. O. S.38)
Außen Klassen
Außenklassen sind vor allem Klassen der Förderschule an einer allgemeinen
Schule, die Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf besuchen. Hier arbeiten
eine Klasse der Förderschule und eine Klasse der allgemeinen Schule zusammen.
Art und Umfang des gemeinsamen Unterrichts stimmen die Lehrkräfte miteinander
ab… (a. a. O. S.39)
Kooperationsklassen
Kooperationsklassen sind Klassen der allgemeinen Schule, die Kinder mit und
ohne sonderpädagogischen Föarderbedarf besuchen. Eine Lehrkraft der
Förderschule bereut die Kooperationsklasse mit mehreren Stunden pro Woche (im
Rahmen des MSD [Mobiler Sonderpädagogischen Dienstes]) … mehrere Möglichkeiten
…:
5 Inklusiver
Unterricht – (wie) geht das?
Cornelia Rehde
„Beim Recht auf inklusive Bildung darf niemand
zurückgelassen werden“ –so die Offenbacher Erklärung der Bundesvereinigung
Lebenshilfe e. V“ (in: Grundschule aktuell. Heft 109, 25)
Unterricht in dem Bemühen um Inklusion rechnet vorab mit großen Unterschieden
der Schüler in der Klasse. Die Bandbreit e r eicht von den „Hochbegabten“ bis
zu Kindern „mit Förderbedarf“…
Viele Gemeinsamkeiten … zeigen sich vor allem hinsichtlich ihrer elementaren
Bedürfnisse und Fähigkeiten. Dazu gehören die Bedürfnisse:
Unterricht, der die Heterogenität der Kinder im Unterricht produktiv zu nutzen versucht, bewegt sich demnach im Spannungsfeld von Gemeinschaft und Individualität, d. h.: Neben allen Unterschieden ist zunächst von diesen Gemeinsamkeiten auszugehen … (a. a. O. S.42)
A ist ein Junge mit Downsyndrom. Seine Eltern wollen,
dass er mit den Kindern zusammen in die Schule geht, die er aus seinem
(integrativen) Kindergarten und aus der Nachbarschaft kennt….
Jeden Morgen wird A. von einigen Kindern seiner Klasse abgeholt, die auch in
seiner Straße wohnen. Mit ihnen bewältigt er selbständig den Schulweg und
trifft sich mit ihnen auch nachmittags zum Spielen. In der Schule erwartet ihn
seine Integrationshelferin. AS. Beginnt – wie die anderen Kinder auch mit
Tätigkeiten der freien Arbeit: Er richtet seine Hausarbeiten ein, setzt sich zu
einigen Kindern in die Leseecke, heute lässt er sich etwas vorlesen. In der
Wochenplanarbeit, die für alle Kinder thematisch mit „Zeit und Kalender“
zusammenhängt, hilft ihm seine Schulbegleiterin… Nach der Pause, die A.
selbstverständlich mit den anderen Kindern verbringt, werden in Gruppenarbeit
Sanduhren hergestellt und geeicht. Die Kinder experimentieren mit
unterschiedlichen Größen und Durchmessern und stoppen die Zeit, die der Sand
braucht. A arbeitet eine Weile mit… wirkt konzentriert und interessiert, auch
dann noch, als die Gruppen im Kreis ihre Ergebnisse vorstellen. Dann aber
scheint es ihm zu viel zu werden, er verlässt kurz den Raum mit seiner
Integrationshelferin, die mit ihm draußen ein wenig Ball spielt. A. kommt
erholt wieder herein und ist bereit, im Singspiel um die großen und kleinen
Uhren die Glocke zu schlagen. Stolz macht er mit und freut sich über die
Anerkennung der anderen. (Dieser Schultag wurde im Unterricht von Frau IRIS
SCHÄFFLER erlebt..) (a. a. O. S.43)
Neben A. lernen in dieser Klasse weitere zwanzig Kinder….
Entwicklungsorientierter
Unterricht
(Grund-)Schule hat den Auftrag das Lernen jedes Kindes >in Obhut zu
nehmen<, d. h. seine Lernfähigkeit zu unterstützen und sein Lernen hilfreich
zu begleiten. Dazu baucht es – neben der täglichen Lernbeobachtung –passende
Instrumente und geeignete Aufgabenstellungen… Lernstandanalyse – ILeA – unter:
www.wirtschaft.brandenburg.de/sixcms/detail.php/bb2.c.426294.de
(a.a. O. S.44)
… Beispiel 1: Arbeitsbogen zur Selbstevaluation
Ich kann Buchstaben abschreiben/schreiben
|
Druckschrift |
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Schreibschrift |
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einige |
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|
|
|
die meisten |
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|
|
alle |
|
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|
|
Ich kann diese Buchstaben nach Diktat schreiben:
A |
B |
C |
D |
E |
F |
G |
H |
I |
J |
K |
L |
M |
N |
O |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
P |
Q |
R |
S |
T |
U |
V |
W |
X |
Y |
Z |
Ö |
Ü |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
a |
b |
c |
d |
e |
f |
g |
h |
i |
j |
k |
l |
m |
n |
o |
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
|
p |
q |
r |
s |
t |
u |
v |
w |
x |
y |
z |
ä |
ö |
ü |
ß |
|
|
|
|
|
|
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Ich kann von einem Wort schreiben, was ich höre
Den ersten |
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einzelne |
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Die meisten |
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Alle Laute, |
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Die freien Kästchen sind für das jeweilige Datum vorgesehen (a. a. O: S.47)
Ich kann, wie ich höre, schreiben:
Sätze |
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Briefe |
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Geschichten |
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Diese Wörter kann ich schon schreiben:
meinen |
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andere |
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Was ich noch schreiben kann:
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Ich kann diese Regeln beim Schreiben anwenden:
REGEL |
manchmal |
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(a. a. O. S.48)
…Kooperatives Lernen vollzieht sich überwiegend an gemeinsamen Themen oder Aufgabenstellungen, wozu jeder Schüler seinen Beitrag nach seinem Vermögen leistet … sogenannte „gute“ Aufgaben sind komplex, anspruchsvoll und bieten immer mehrere Lösungsmöglichkeiten.. (a. a. O. S.31)
6
Inklusive Regelschule – ein Beispiel aus Rheinland-Pfalz
Christian Donie
… Ivan kann zu Beginn der ersten Klasse kein Wort
Deutsch sprechen… und zählt in … Russisch … bis fünf…
Jens stammt aus einer bildungsnahen Familie, liest einfache Texte bereits
sinnverstehend und rechnet im Zahlenraum bis 100 erstaunlich flexibel. Diese
Kenntnisse hat er wohlgemerkt mit in die Schule gebracht. (a. a. O. S.54)
Pädagogische Grundhaltung
Der Klassenlehrer und die Sonderpädagogin vertreten eine gemeinsame inklusive
Überzeugung abseits der „Differenzlinie Gesundheit“ (Kopp 2009)unter dem Motto
„Jedes Kind braucht spezifische Förderung!“…
Ein Tag im gemeinsamen Leben einer ersten Klasse
… orientiert an einer Videoaufnahme, die in der vorletzten Schulwoche als
Erinnerung für die Kinder gedreht wurde…
Offener Anfang
Die ersten Kinder betreten den Klassenraum um 3.50 Uhr. Einige schalten ihren
eigenen PC an, manche machen es sich mit einem buch auf einem luftgefüllten
Fußballsitzkissen gemütlich. Nicole und zwei ihrer Freundinnen mikroskopieren.
Sie untersuchen vorgefertigte Objektträger mit einem Fliegenbei, einem
Holzquerschnitt und Stofffasern. Anschließend bereiten sie selbst Objektträger
vor und nehmen eigene Haare, Spucke und ein kleines Blatt.. (a. a. O. S.55)
Jens schraubt konzentriert – er baut am Werktisch den Lüfter aus einem PC aus,
den er anschließend Vanessa übergibt, die damit beschäftigt ist den sechsten
kleinen Ventilator mit einer Batterie zu verbinden, und sich an dem zunehmenden
Luftstrom erfreut. Michael spielt gemeinsam mit zwei Freunden an seinem PC ein
Schachlernprogramm für Kinder. Sie diskutieren jeden weiteren Schritt
heftig…. Zwei Kinder zeigen dem Klassenlehrer stolz, was sie gestern in ihren
Deutsch- und Mathemappen zu Hause gemacht haben.
Ein Kind hält den beiden Wüstenrennmäusen im Klassenraum Körner hin… Claudia
und ihre Freundin spülen Geschirr, das am Vortag im Spülbecken liegen blieb.
Peter sitzt an einem PC und arbeitet mit Audiolog (Programm zur Förderung der
auditativen Wahrnehmung und zentralen Sprachverarbeitung) und wird dabei von
der Sonderpädagogin beobachtet… Ben, Kirthi und Eva sortieren kleine silberne
Kaffeepäckchen, die der Klassenlehrer soeben geöffnet hat.. Beim letzten Mal
waren 103 Stück in der Packung, auf der ein Inhalt von nur 100 angegeben war.
Nebenan wirkt Nils sehr konzentriert, als sie einen Holzturm aufstellt… Roland
schaut von seinem Comic, in dem er seit zwei Tagen liest, und lächelt seine
Mitschüler an, erfreut über das Ergebnis ihrer Bemühungen….
Michael sitzt unbeeindruckt vom lebhaften geschehen an einem der vier „stillen
Arbeitsplätze“ im Flur vor dem Klassenraum und arbeitet an seiner Schreibmappe…
(a. a. O. S.56)
Blitzlicht
Um 8.15 Uhr ruft der Klassenlehrer die Kinder zusammen. Nach zwei Minuten sitzt
die gesamte Klasse im Kreis und der Lehrer begrüßt nochmals alle. Dann beginnt
„Blitzlicht“. Jedes Kind darf sagen, wie es ihm geht und was es sich für
den heutigen Tag vorgenommen hat. Manche Kinder haben Gegenstände in den Sitzkreis
mitgebracht und unter ihrem Stuhl plaziert… Nicht alle möchten sich an diesem
Morgen laut äußern; manche schweigen und berühren den Nachbarn am Arm, was
diesem signalisiert, dass er an der Reihe ist.
Gerade Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen, nutzen diese Zeit, um andern
zuzuhören und Sätze nachzusprechen…
Schüler 1: „Ich habe einen Vorschlag“
Lehrer: „Was möchtest Du denn machen?“
Täglich schlagen die Schüler eine Vielzahl von Ideen für sich selbst … oder die
ganze Klasse vor wie z.B. gemeinsames Schachspielen, Ziele für Wandertage,
Durchführung einer Lesenacht. Jeder Vorschlag wird dabei als wertvoll erachtet,
ernst genommen und nach Möglichkeit umgesetzt.
Schüler 2: „Ich möchte ein Experiment machen.“
Lehrer: „Hast du dir schon ein Experiment herausgesucht?“
Anschließend erklären die Kinder Bilder aus den Experimentierbüchern und
beschreiben, welche Gegenstände sie …brauchen. Oftmals fragen sie auch in die
Runde. „Wer möchte mi mir ein Experiment machen?“ oder fragen den Lehrer, ob er
etwas “vorzaubern“ könne… z.B. einen Zaubermagneten, den er nur aufgrund einer
Zugkraft von 30 kg lösen kann..
Schüler 3: „Darf ich vor der Tür arbeiten?“
Lehrer: „Damit ist der erste von vier Arbeitsplätzen draußen belegt“……
im Flur… darf … nur geflüstert werden. (a. a. O. s.57)
Schüler 4: „Darf ich ans Keyboard?“
Lehrer: Sehr gerne. Du darfst als Erster für 15 Minuten ans Keyboard.“… ermöglich
den Kindern das Nachspielen einzelner Melodien mittels leuchtender Tasten…
Schüler 5: „Darf ich den Tierpflegedienst übernehmen?“
Lehrer: „Sehr gerne. Möchtest du dir einen Helfer auswählen?“
Schüler 5: „Wer möchte mit mir den Tierpflegedienst übernehmen?“
Schüler 6: „Kannst du mir den Torso vom Regal runter holen?“… (a. a. O.
S.58) … Der obere Teil des Mathematikregals ist dem Thema „Mensch“ gewidmet.
Ein naturgroßer Torso mit herausnehmbaren Organen… neben dem 65cm hohen
Skelett… daneben findet sich ein Herz, das geöffnet werden kann, und die
Nachbildung eines Auges samt angrenzenden Muskelsträngen… (a. a. O. S.66)
[Fotos illustrieren die Raumverhältnisse: Fünf
Kinder um einen u-förmig zusammengestellte kleine Tische, auf dem noch eine
große Topfpflanze steht; einliegendes Kind auf dem Bodenteppich; Kinder beim
Bau und Einsatz eines Luftkissenfahrzeugs aus Holzplatte mit Löchern,
aufgetackerter Plane und dem Laubgebläse des Hausmeisters, Neun auf Stühlen in
einer Reihe nebeneinander sitzende Kinder vor je eigenem Bildschirm.]
Kindernachrichten „Logo“ des ZDF … bringt auch viele Impulse in den
Klassenraum. So kam z.B. in einer Sendung ein Hovercraft vor …gemeinsam mit dem
Lehrer … wurden.. auf www.youtube.de
Luftkissenboote gesucht.. So entstand eines der größeren Projekte im Rahmen des
letzten Schuljahres…. (a. a. O: S.62)
Schüler 78: „Druckst du mir eine Flagge aus? Ich möchte etwas zu meinem Land
schreiben.“ Die Kinder bringen regelmäßig Eindrücke und Vorstellungen aus ihren
Heimatländern ein…
Schüler 8: „Dürfen wir den Storchenfilm sehen?“… (a. a. O. S.58) Dieses Kind
darf den Storchenfilm, den die ganze Klasse schon in Ausschnitten gesehen hat,
an seinem PC ansehen, wo es ihn immer wieder anhalten kann, um ein Storchenbild
auf das eben durchflogene Land zu kleben.
Schüler 9: „Können wir ‚Logo‘ gucken?“ Die ZDF-Kindernachrichten „Logo“ sieht
die Klasse seit der ersten Schulwoche jeden Tag…
Arbeitsphase 1
.. Sie gehen vor die Tür zu ihren Schulranzen, nehmen sich das benötigte
Material, suchen sich einen Platz im Klassenraum und beginnen mit ihren
individuellen Arbeiten… (a. a. O. S.59)
… Die Ergebnisse lassen sich die Schüler vom Klassenlehrer oder der
Sonderpädagogin abzeichnen. Unklare Stellen (z.B. fehlerhafte Antworten) werden
markiert und von den Kindern nochmals überdacht… Es gibt zuweilen
Aufgaben.. die einzelnen Kindern nicht logisch erscheinen oder ihr Können in
dem Moment noch übersteigen. Diese Aufgaben werden aussortiert. Ist die „Zone
der nächsten Entwicklung“ (VYGOTSKU 1987) noch nicht erreichbar, wird dies auf
die Aufgabe zurückgeführt, jedenfalls dem Kind gegenüber: „Diese Aufgabe
erscheint mir auch komisch. Lass sie mal weg!“ Dadurch wird Druck genommen…
Im Laufe des Schuljahres haben die Kinder gemeinsam mit dem Lehrer vereinbart,
das jeder täglich mindestens eine Seite rechnet und eine Seite schreibt. Viele
Kinder arbeiten wesentlich mehr….
Wenn sich ein Kind … aus der Arbeitsphase herauszieht und sich z.B. in eine
Ecke verkriecht, fällt das direkt auf und signalisiert dem Lehrer, dass etwas
nicht stimmt…. (a. a. O: S.60)
Falls ein Kind die anderen während der Arbeitsphase stört und dies trotz
Aufforderung seines Mitschülers nicht unterlässt, weist der Lehrer den
Störenden an, sich einen neuen Platz zu suchen…
Frühstückspause
Sobald der Klassenlehrer beginnt, auf seinem elektrischen Klavier zu spielen,
wissen die Kinder, dass es Zeit für das Frühstück ist…. Bis zur Hofpause von
ca. 9.40 Uhr bis 10.00 Uhr …
Pause
In der Pause können jene Kinder, die Dienste übernommen haben, unter Aufsicht
des Klassenlehrers im Klassenraum bleiben.. (a. a. O. S.61)
„Logo“
Die Kindernachrichten.. kostenlos als Podcast zu beziehen… wird mittels Beamer
an das … Whiteboard projiziert. Sobald die Wetterkarte erscheint, melden sich
die Kinder, die den Heimatort anzeichnen wollen…. (a. a. O. S.60)
Arbeitsphase 2
Nach den Nachrichten starten die Kinder in die zweite Arbeitsphase… In dieser
Phase wird besonders intensiv geforscht, erfahren, gerätselt, gebastelt,
gemalt, gespielt, geschrieben, gerechnet und gelesen…
Reflexion
In einem abschließenden Sitzkreis darf jedes Kind vorstellen, was es am Morgen
geschafft hat… (a. a. O. S.64)
7
Fallbeispiel „P“ aus Sicht einer Sonderpädagogin
Heidi Scholz-Weber … (a. a. O. S.68,69)
8
Integration durch Kooperation –ein Erfahrungsbericht
Anne Fischer-Kautzsch/Sabine Herrmann (a. a. O. S.70-74)
9
Die Chancen des Miteinanders
Gabriele Wolff/Björn O. Stuber
… Bernd versucht gerade, aus einem mi Wasser gefüllten Glas die Hälfte in ein
anderes Glas umzufüllen (Abb.1). Vorsichtig nimmt er das Glas – schwupp ist das
ganze Wasser im anderen Glas…. Da nimmt Thomas das volle Gals…“Schau, Bernd, du
musst rechtzeitig aufhören!“, erklärt er und zeigt ihm die beiden halbgefüllten
Gläser… (a. a. O. S.70,71) Bernd besucht die G2, die zweite Klasse der
Notkerschule Memmingen, eines Förderzentrums für Kinder mit Schwerpunkt
geistige Entwicklung. Seine beiden Partner Robin und Thomas sind Schüler der
2k, der Kooperationsklasse, und gehören eigentlich zur Elsbethenschule, einer
Memminger Grundschule. Aber wenn man die beiden fragt, dann ist „ihre Schule“
die Notkerschule. Dort haben sie ihren ersten Schultag erlebt und dort gehen
sie täglich zur Schule…. Dazwischenliegender[r] gemeinsamer Gruppenraum…
„Täglich eine gemeinsame Aktivität!“, das haben wir Lehrkräfte uns vorgenommen
und die Stundenpläne der beiden Klassen aufeinander abgestimmt… Sport- und
Kunsterziehung (Ab.3) oder… Musikunterricht… teils gemeinsam, teils in
zwei gemischten Gruppen… (die Hälfte… aus der Förderklasse, die andere Hälfte
aus der Grundschulklasse)… (a. a. O. S.71)
10
Die Chancen im Miteinander
Gabriele Wolff/Björn O. Stuber (a. a. O. S.75-81)
.. Unterrichtssequenz als Beispiel
… Beispiel Lernumgebung „Grundrisse und Seitenansichten“ anhand des Spiels
„Schauen und Bauen“… (a. a. O. S.72)
…Im Hinblick auf die inklusive Schule wäre es denkbar und wünschenswert, dass
alle Schüler dieselbe Klasse besuchen.. (a. a. O. S.81)
10 Erfahrungen einer Grundschullehrerin mit Inklusion
Barbara Adleff (a. a. O. S.82-85)
Für jedes Kind die beste individuelle Förderung (a. a. O. S.84
…… Dieser Anspruch gilt aber in gleichem Maße auch für Kinder mit Handicap.
Ihnen darf die Möglichkeit nicht verwehrt werden, an der Regelschule lernen zu
können. Dies kann meines Erachtens aufgrund der breiten Unterschiedlichkeit der
individuellen Lern- und Leistungsdispositionen der Kinder in der Regelklasse
unter Umständen besser gelingen als in einer Klasse an einem
sonderpädagogischen Förderzentrum… (a. a. O. S.85)
11
Gelungene Inklusion –vom ersten bis zum vierten Schuljahr
Iris Schäffler (a. a. O. S.86-92)
Im September 2006 schulten wir einen Jungen mit Down-Syndrom in die erste
Klasse unserer Grundschule ein – inzwischen besucht er die vierte Klasse. In
früheren Jahren hatten wir bereits mehrere Kinder mit körperlichen Handicaps an
unserer Schule, deren besondere Bedürfnisse ohne großen Aufwand berücksichtigt
werden konnten… (a. a. O. S.86) …
Zielformulierung
Die soziale Integration des Kindes in der Regelschule durch die gemeinsame
Teilnahme am täglichen Schulleben sowohl vormittags in der Schule als auch
nachmittags in der Freizeit zusammen mit den Mitschüler..n aus dem Wohngebiet
wurde als oberstes Ziel definiert. Außerdem beschlossen wir die Erarbeitung
eine vorläufigen Lösung für die Schuleingangsphase… (a. a. O. S.87)
Rahmenbedingungen
Noch vor Aufnahme des Kindes wurden die Rahmenbedingungen durch Schulamt und
Regierung verbindlich festgelegt:
· Die Inklusionsklasse des Kindes dürfe maximal 21 Schulanfänger bekommen
· Die wöchentliche Förderung des Kindes und die Beratung der Lehrkraftdurch den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) müsse gewährleistet sein.
· Die Eltern seien verantwortlich für die Bereitstellung eines Integrationshelfers, der die pflegerischen Aufgaben zu übernehmen habe. … (a. a. O. S.88)
Entwicklung bis zur vierten Klasse
Bereits im Laufe des zweiten, besonders aber in der dritten und vierten Klasse
unterschied sich der Lernfortschritt der meisten Kinder zunehmend von Martins
Entwicklung. Dies war vor allem in den Kernfächern der Fall…
Martin arbeitet … auf einem ganz anderen Niveau, benötigt viel Ruhe, längere
und häufigere sich wiederholende Übungssequenzen in abwechslungsreichen
Organisationsformen. Die wöchentliche Stunde mit der Kollegin vom MSD ist
wertvoll, aber nicht ausreichend…. Es ist zwingend notwendig, dass Martin mit
der äußerst engagieren Integrationshelferin mehrmals für zeitlich begrenzte
Phasen in den Gruppenraum ausweicht. Dort kann seinen besonderen Bedürfnissen
entsprochen werden. (a. a. O. S.90) .. Ein längerfristiges Planen ist
nicht möglich.. Meine am wenigsten erwartete und immer wieder faszinierende
Erfahrung ist die positive soziale Eigendynamik innerhalb der Gruppe. Die
Kinder einer Inklusionsklasse erleben sich selbst und ihre Beziehungen zueinander
sehr intensiv und bewusst. Alle Kinder lernen, mit ihren eigenen Schwächen
umzugehen, eigene Fähigkeiten für sich und die Gemeinschaft gewinnbringend
einzusetzen und die Bedürftigen zu respektieren und zu unterstützen. (a. a. O.
S.91)
12
Inklusion ein sperriger Begriff – und geht doch mitten ins
Herz
Peter Zickgraf/Farah Lenser
… Inklusion erscheint als sperriger Begriff: includere
Präposition in und dem Verb claudere (deutsch: schließen), hat
die Bedeutung von „einschließen, einfügen“ und „hemmen, zurückhalten“ ….
Jemanden in eine Umarmung einschließen oder in eine Gemeinschaft einfügen
bedeutet Anerkennung, Anteilnahme, Schutz und Sicherheit. Doch da ist auch
schon die zweite Konnotation der Hemmung und Zurückhaltung angelegt. Wir spüren
den Druck der Anpassung an eine Norm, eine Umarmung kann auch als Fessel
wahrgenommen werden…(a. a. O. S.91)
Menschen sind immer anders als die Norm
Hinter dem Begriff und der Absicht zur Inklusion , wie er in
Artikel 24 der (N-Konvention formuliert iwrd, steht ein bestimmtes
Menschenbild, das die Unterschiedlichkeit der Menschen würdigt und anerkennt,
dass „Menschsein“ sich gerade auszeichnet, dass es nicht in eine bestimmte Norm
oder in ein vorhersagbares Verhaltensmuster gepresst werden kann… (a. a. O.
S.94)
„Man muss nur eine Kleinigkeit ändern: alles!“
… der UN-Sonderberichterstatter, VERNOR MUN=Z VILLALOBOS::: erklärte auf dem
Kongress:.. 2010 in Köln, dass nicht einmal jedes fünfte Kind gemeinsam mit
nicht behinderten Kindern zur Schule geht…
Kein Schubladendenken
„In der Reformpädagogik“, sagte OTTO HERZ, einer der Reformpädagogen der ersten
Stunde, … im Deutschlandfunk, „gibt es natürlich weniger Diktate. Wenn wir
zusammen Theater spielen… kann sich… jeder … mit seinen Fähigkeiten und
Begabungen einbringen und zum Schluss sagen dann alle: ‚Gemeinsam haben wir
eine tolle Aufgabe vollbracht‘ – das ist Reformpädagogik.“ Und eine Lehrerin
ruft beim Sender an…: „Früher gab es in der DDR gemeinsames Lernen bis zur 10.
Klasse. Davon haben auch die Leistungsstarken einen Gewinn, ich habe die
‚Einser‘ neben die ‚Dreier‘ gesetzt, damit sie gemeinsam ihre Arbeiten
korrigieren. So haben beide mehr gelernt. (a. a. O. S.95) Außerdem sind die
‚Einser‘ in Deutsch und Mathe nicht unbedingt die ‚Einser‘ in Sport – da gibt es
doch ein ständiges Geben und Nehmen.“
Schule sieht heute anders aus
Die Vision einer Ganztagsschule als logistisches Zentrum, das organisiert, wo
Menschen hingehen, um zu lernen, ist vielleicht gar nicht mehr fern…
Kulturelle Diversität an Ganztagsschulen und die Einbeziehung von Kunst sind
wesentliche Bestandteile von Inklusion… (a. a. O. S.96)
„Amaro Kher“, was in der Sprache der Roma so viel bedeutet wie „unser Haus“,
erwies sich als zentrale Station auf der zehntägigen Deutschlandreise des
UN-Gesandten… im Jahr 2006. Das Kölner Projekt zur Integration und Förderung de
Kinde von Roma und Sinti , das im Juli 2004 initiiert wurde, hinterließ…
nachhaltigen Eindruck… (a. a. O. S.98)
Vier Jahre später: „Amaro Kher“ revised‘
… Die Kinder werden am frühen Morgen aus den Flüchtlingsheimen abgeholt und
pünktlich zur Schule gebracht. Dort werden die Schülerinnen und Schüler in zwei
jahrgangsgemischten, extrem heterogenen Gruppen unterrichtet… (a. a. O. S.99)
.. die Kinder der jüngeren, altersgemischten Gruppe sind schwer zu bändigen,
reagieren impulsiv, können sich nicht lange auf den Bänken halten. Es herrscht
ein produktives Chaos… (a. a. O. S.100)
13
Der „Vorkurs“ als Wegbereiter einer inklusiven Schulpädagogik
Ramona Häberleln-Klumpner (a. a. O. S.106-111)
Der Vorkurs dient in Bayern der
Sprachförderung und ist vor allem für Kindergartenkinder mit
Migrationshintergrund oder mi verzögerter Sprachentwicklung vorgesehen. Ein
Teil der Fördermaßnahmen findet ab dem letzten Jahr vor der Einschulung statt
und wird von einer Grundschullehrkraft … im Rahmen von drei Wochenstunden in
einer kleingruppe von ca. acht Kindern abgehalten… (a. a. O. S.107)
… Allerdings sei angemerkt, dass die Förderdiagnose auch eine Gefahr des
Manipulierens in sich birgt, denn sie kann allgemein sehr unterschiedlichen
Zwecken dienen. Man spricht im Rahmen einer meist defizitorientierten Sicht von
einem „besonderen Förderbedarf“ und damit einhergehend von einer Einweisung in
eine „Sonderschule“. Im Rahmen einer ressourcenorientierten Feststellung
dagegen werden Könnensstrukturen fokusiert, um die Förderung an den
Lernentwicklungsstand anzupassen. Es macht einen großen Unterschied, ob
Festschreibungen von Defiziten oder ob Ressourcen im Mittelpunkt stehen…
Die Annahme der Lernfähigkeit aller Kinder ist dem Verständnis der inklusiven
Pädagogik implizit… (a. a. O. S.108)
Das kindliche Denken und Wahrnehmen berücksichtigen
Beobachtet man das kindliche Denken und Wahrnehmen – besonders im Vorschulalter
–, so stellt man fest, dass es bei Kindern kaum rational-logisch stattfindet.
Lernprozesse geschehen im Sinne des Konstruktivismus durch innere Filterung und
Verarbeitung von Informationen aus der Umwelt: z.B. körperliche, gefühlsmäßige
und atmosphärische, um in Anlehnung an SCHÄFER (vgl. SCHÄFER 2003,15) die
wichtigsten zu nennen… (a. a. O. S.111)
14 Schulbegleitung als Inklusionshilfe
Timm Hasselmeyer (a. a. O. S.114-121)
… Während die Sozialgesetzgebung die Grundlagen für die Notwendigkeit und
Finanzierung der Schulbegleiter legt, findet ihr Einsatz im schulischen Umfeld
statt und damit im Zuständigkeitsbereich schulrechtlicher Gegebenheiten…. (a.
a. O. S.114) [Es] sollen einige denkbare Konflikte angegeben werden. Ein
Schulbegleiter… soll den Schüler von den eigenen Leistungen unabhängig machen. Sein
Ziel wäre es entsprechend, sich selbst überflüssig zu machen und sich damit …
eventuell sogar den eigenen Lebensunterhalt zu entziehen. Häufig wird der
Schulbegleiter als der letzte Ausweg gesehen, um den Schüler in der Regelschule
belassen zu können… Die inklusive Unterrichtung eines Schülers mit
sonderpädagogischem Förderbedarf in einem System, das noch nicht als inklusiv
bezeichnet werden kann, ist für die Lehrkräfte sehr belastend…. Viel Zeit für
den Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf bedeutet weniger Zeit für das
Gros der Schüler… Und: Der Schulbegleiter ist da und hätte vielleicht sogar
Zeit. Ihm vor diesem Hintergrund keine schulischen Aufgaben zu übertragen [was
ja rechtlich nicht sein darf], mag für den Schüler mit Förderbedarf richtig und
wichtig sein, ist zunächst aber nicht im Interesse der ganzen Klasse. … (a. a.
O. s.116) Viele der oben genannten Aufgaben eines Schulbegleiters erfordern ein
sonderpädagogisches Knowhow… (a. a. O. S.117) …
Erziehungsberechtigte können in vielen Regionen Deutschlands Schulbegleiter
direkt einstellen, die dann über den Sozialhilfeträger refinanziert werden.
Eine Einstellung durch einen größeren Träger (etwa durch eine karitative
Einrichtung oder eine Förderschule) bietet demgegenüber jedoch Vorteile. Für
einen größeren Träger ist eine kompetente und angemessene Fort- und
Weiterbildung der Schulbegleiter leichter zu bewerkstelligen… (a. a. O. S.118)
… Der Schulbegleiter muss nicht zwingend neben dem Schüler sitzen…
Besonders bei Schülern, die eine pflegerische Begleitung benötigen, ist die
Einstellung eines Schulbegleiters entsprechend des Geschlechts der Schüler zu
empfehlen… Nahe Verwandte kommen als Schulbegleiter grundsätzlich nicht in
Frage…
Begleitschreiben für Schulbegleiter [mit Aufstellung der rechtlichen, der
Verantwortungsaspekte und Aufgabenbereiche] (a. a. O: S.120,121)
15 Sonderpädagogische Förderung in Kleingruppen
… Bewährt hat sich, Schüler mit ähnlichem Förderbedarf zu Kleingruppen
zusammenzufassen und diese gezielt zu fördern … pro Woche eine Schulstunde…
Eine Kleingruppe läuft meist für 10 Wochen; anschließend wird gemeinsam mit der
Klassenleitung die Entwicklung besprochen… Manchmal löst sich eine Kleingruppe
nach 10 Stunden auf, manchmal ändert sich auch die Zusammensetzung… (a. a. O. S.122)
Förderung der Selbststeuerung (ADHS-Schüler)
Zahlenmäßig an den Grundschulen stark vertreten… Förderstunden für diese
Kinder… (a. a. O: S.12)
Adäquater Umgang mit Aggressionen … (s. s. O. S.124)
Förderung sozial unsicherer Kinder … (a. a. O. S.125)
16 das „Forum für inklusive Strukturen an Schulen in
der Region“ (FISS)
Pius Thomas
Integrative, wohnortnahe Beschulung von Kindern mit Behinderung – dieser Wunsch
von Eltern wird zunehmend häufiger und dringender geäußert… die
Bildungspolitiker… handeln… (vor allen die der konservativ regierten
Bundesländer) in die Gegenrichtung. Sie sehen in einem differenziert
gegliederten und konsequent separierenden Schulsystem die günstigeren
Voraussetzungen für erfolgreiche Bildungskonzepte. Dabei gehen sie von zwei
Fiktionen aus:
Beide Annahmen sind nicht haltbar und empirisch widerlegt (vgl.
ROSSBACH 2001; PREUSS-LAUSITZ 2002; WOCKEN 2005)…
… zu wenig Fortschritte bei der Integration behinderter Kinder an allgemeinen
Schulen… (a. a. O. S.130) Dieser … Aufforderung an die Zivilgesellschaft
verpflichten wir uns im FISS (für Interessierte und Ratsuchende: www.fiss-inklusion.de ) (a. a. O.
S.131) … Augsburg…
Aus der Kooperation des Lehrstuhls mit dem Verein elwela wuchs nach einigen
Jahren die Idee der Gründung eines Kompetenz- und interesssenbündelnden
Gremiums… (a. a. O. S.132)
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Otto Speck
Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht
Rhetorik und Realität
2. Auflage 2011 Ernst Reinhardt Verlag München Basel
ISBN 978-3-497-02229-8
Vorwort
Der auf Menschen mit Behinderung oder mit besonderen Bedürfnissen bezogene
Begriff Inklusion hat es gegenwärtig zu einer auffallenden Geltung auch
in der allgemeinen Öffentlichkeit gebracht… Wiederum andere, vor allem solche,
die sich bisher schon um mehr Gemeinsamkeit bemüht hatten und dabei den
Leitbegriff der Integration verwendet hatten, fragen, was eigentlich neu
sei am Begriff „Inklusion“.
Es ist ein ausgesprochen heißes Thema, d. h. es ist hoch
aufgeladen mit z. T. gegensätzlichen Emotionen…. An sich ist die
allgemeine Schule der eigentliche Adressat des neuen Gesetzes. Bis jetzt bewegt
sich diese aber relativ wenig… Es muss zu denken geben, wenn es nach wie vor
fast ausschließlich Sonderpädagogen sind, die sich für ein inklusives
Schulsystem einsetzen. (a. a. O. S.7)
… Aus heilpädagogischer Sicht geht es vor allem darum, dass der nun beginnende
inklusive oder integrative Umbauprozess des Bildungssystems in einer Weise
erfolgt, dass Kinder und Jugendliche mit erheblichen Lernproblemen wirklich zu
ihrem Recht kommen und nicht samt ihren Eltern und Lehrern zu Opfern einer
Illusion werden, indem man die Schulen mit ihren Aufgaben und Problemen allein
lässt. Schließlich sind die Rahmenbedingungen der Schule weiterhin von den Prioritäten
abhängig, die von der Gesellschaft gesetzt werden…
Tragbare Lösungen für die Schule der Vielfalt (II) lassen sich eher finden,
wenn dabei die Vielfalt der Einstellungen auch in der Weise beachtet wird, das
man das Eine tut, ohne das Andere lassen zu müssen. (a. a. O. S.8)
Einleitung: Schulische Integration/Inklusion
Der pädagogischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lernhindernissen
stellt sich seit jeher eine Doppelaufgabe: Zum einen geht es um die Förderung
der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, also um das Erlernen von Kompetenz
und Selbstbestimmung trotz der gegebenen Lernhindernisse, und zum anderen
um das Ermöglichen und Sichern sozialer Teilhabe, mit anderen Worten, um
personale und soziale Integration (Speck 1974)…
In diesem Sinne wurden seit den 1970er Jahren Begriffe wie Integration, soziale
Eingliederung und Kooperation zu neuen Leitbegriffen in der heilpädagogischen
und öffentlichen Diskussion. Sie zielte darauf ab, die institutionelle
Separation abzubauen und Kinder und Jugendliche mit Behinderungen möglichst in
die allgemeinen und normalen Institutionen einzugliedern… (a. a. O. S.9)
Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Integrationsbewegung in Deutschland
vergleichsweise spät in Gang gekommen. Dies hing u. a. mit der
Unterbrechung der heilpädagogischen Entwicklung in der Zeit des
Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit zusammen… (a. a. O. S.10)
I Der lange Weg zum gemeinsamen Lernen
1 Erste Ideen und Versuche
Als erster Protagonist einer „Schule für alle“ wird häufig der große Pädagoge
…, Johann Amos Comenius, aus seinem Werk „Große Didaktik“ (entstanden 1627-132)
.. zitiert: „Wir versprechen, die Schulen so einzurichten, das die gesamte
Jugend […] dort gebildet wird --- mit Ausnahme höchstens derer, denen Gott den
Verstand versagt hat“ (zit. nach Flitner 198,66). ..zwar abgestuft nach
Graden der Erkenntnis, aber für alle gemeinsam als Ziel, „dass der Mensch
wirklich Mensch werde“. (a. a. O. S.11,12) … Schulen sollten sich als
„Werkstätten der Menschlichkeit“ verstehen… Johann Jakob Guggenbühl, …
fasste seine Beobachtungen von der anregenden Wirkung fähigerer, besser
entwickelter Kinder auf Kinder mit geistiger Behinderung in seiner Anstalt auf
dem Abendberg bei Interlaken wie folgt zusammen (1853, 109): „Die Behauptung,
als sei der Aufenthalt von gesunden und unentwickelten Kindern beieinander
nachteilig, gehört zu den vielen Vorurteilen, welche der Sache Unkundige
aufgebracht haben.“ … Die gemeinsame Erziehung der „körper- und
geistesschwachen‘“ Kinder zusammen mit „gesunden, kräftigen und vollsinnigen“
Kindern gehörte … auch.. zu[m] pädagogischen Programm… [der] Begründer
der „Heilpädagogik“ .. Georgens und Deinhardt … (Georgens 1858, 3 und 36).. (a.
a. O. S.12)
… derartige integrative Gedankengänge wurden Ende des 19. Jahrhunderts durch
das Vordringen sozialdarwinistischer Ideologien immer mehr zurückgedrängt. Sie
führen nach dem ersten Weltkrieg u. a. zum Programm einer „Vernichtung
lebensunwerten Lebens“ und schließlich zur Katastrophe in der Zeit des
Nationalsozialismus…
Engagierte Volksschulpädagogen sprachen sich [beim] sich ausbreitenden
Ausbau des segregierenden Hilfsschulwesens seit der Wende zum 20. Jahrhundert…
„gegen jedes Sortieren der Kinder“ und gegen „besondere Klassen“ aus
(Ellger-Rüttgardt 2008, 170)
… preußischer Kreisschulinspektor und außerplanmäßiger Professor an der
Universität Bonn Johann-Heinrich Witte … (1901) [schrieb]…
Es sei wenig menschenfreundlich, „den schwachen Schüler von dem begabteren Mitschüler
zu trennen, ihn nur mit seines Gleichen zusammenzubringen, den Schwachen an den
Schwachen zu koppeln und solche Schüler dem belebenden Einflusse sowie der
anregenden Beispiele des befähigten Mitschülers und gelenkeren Geistes, mithin
auch dem anspornenden Wetteifer mit ihm zu entziehen“ (Witte, 1921, 7) … (a. a.
O. S.13)
2 Soziale Eingliederung als Ziel separierter Bildung
Unter dem Druck gesellschaftlicher Distanz und Nötigung zur
Separation konnte soziale Eingliederung lange Zeit nur als Ziel der
sonderpädagogischen Spezialschulen praktiziert werden… (a. a. O. S.14)
Das Ziel der Hilfsschulpädagogik in den 1920er Jahren sah u. a. der Berliner
Schulrat Arno Fuchs in der Ausbildung „für das Leben und die Arbeit in der
Gesellschaft“ bzw. in „Gesellschaftsfähigkeit und Erwerbsfähigkeit“ (1022, 30)
… b(a. a. O. S.15)
Soziale Eingliederung durch Normalisierung
… das Programm der „Normalisierung“ stammt aus Skandinavien (Bank-Mikkelsen
1976; Nirje 1974) … Das dänische Fürsorgegesetz von 1959 hatte „ […] ein Leben
so nahe an normalen Lebensbedingungen als möglich gefordert“ (Bank-Mikkelsen
1976)… Konkret war Normalisierung darauf gerichtet, behinderte Menschen
aus ihren Sonderrollen herauszuholen und sie am normalen Zusammenleben mit
anderen Menschen teilhaben zu lassen… Normalisierung ist als Prinzip und
zugleich als allgemeiner moralischer, politischer und pädagogische Imperativ
verstanden worden… das Normalisierungsprinzip war grundsätzlich auch
gefährdet, es konnte in Frage gestellt und unwirksam gemacht werden, z. B.
durch ökonomische-utilitaristische Normen der Gesellschaft. (a. a. O. S.16)
… Soziale Zugehörigkeit ist ein natürliches Grundbedürfnis jedes Menschen,
unabhängig von der Ausprägung seiner psycho-physischen Individualität.
Integration kann nur gelingen, wenn sich beide Teile aufeinander zubewegen, um
ein neues Ganzes zu bilden. Das Verbindende lässt sich u. a. aus den
Grundwerten und den allgemeinen Menschenrechten ableiten, insbesondere aus der
im Grundgesetz verankerten Achtung der Menschenwürde jedes Menschen… (a. a. O.
S.19)
Die Integrationsbewegung war sich von Anfang darüber im Klaren, dass vor allem
„die Gesellschaft“ als ein grundlegend wichtiger Bedingungsfaktor in Frage
kommt. … Nun ist die Gesellschaft als soziales System ein höchst komplexes
Phänomen, dessen Differenzierung und Komplexität durch Veränderungen ständig
zunimmt. Es steigert sich damit die Diversität, d. h. die Vielfalt der
Einzelsysteme und damit auch die Verschiedenheit der dabei wirksamen
Wertsysteme; diese sind in der postmodernen Gesellschaft weitgehend
individualisiert…. (Luhmann 1987, 435)… (a. a. O. S.25)
3. Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung …
Die Ergebnisse von Untersuchungen über die Einstellungen gegenüber behinderten ergeben kein klares Bild (Cloerkes 185; 2001) … (a. a. O. S.26) … Da mit einer Verbesserung der sozialen Reaktionen gegenüber behinderten Menschen kurz- oder mittelfristig nicht zu rechnen ist, gelte es in erster Linie, die Handlungskompetenz dieser Personen zu stärken… Gesellschaft und Politik zeigen sich hilflos angesichts schrumpfender Ressourcen und wachsende Armut. …(a. a. O. S.27,28) … So wurde u.a. aus Schweden berichtet, besorgte Eltern ließen angesichts der kritischen wirtschaftlichen Entwicklung (Arbeitslosigkeit) und des damit verbundenen erhöhten Leistungs- und Wettbewerbsdrucks ihre nichtbehinderten Kinder in zunehmendem Maße in Privatschulen unterrichten, die nicht integrativ organisiert sind…. (Kriwer 1996) .. (a. a. O. S.28) … Die Dynamik seiner Umsetzung [gemeint ist das Integrationsprinzip] hat sich zwar etwas abgeschwächt: zugleich aber hat sich auch die Solidarisierung um das normative Prinzip der Integration/Inklusion weltweit deutlich verstärkt…
4. Soziale Integration als pädagogische Aufgabe
… Möglich werden solche sozialen Anpassungen an veränderte
gesellschaftliche Bedingungen im Besonderen dann, wenn sie durch Erziehung
angebahnt und unterstützt werden…. Auch ein gut vorbereiteter und überlegt
angesetzter Unterricht bringt nicht bei allen Schülern unbedingt bessere
Lernerfolge und persönliche Befriedigung hervor… (a. a. O. S.29) Integration
setzt ein entsprechende soziales Klima in der Lernumgebung voraus… Zumindest
dürfen die Hindernisse für mehr integrative Verständigung nicht zu groß sein.
Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn das Leistungsprinzip
überbetont wird, sodass in der Lerngruppe konkurrierende Einstellungen und
Intentionen beherrschend werden.
5 Schulische Integration – eine kritische Zwischenbilanz
… Die bisherigen Versuche und Ansätze [für] ein klares und verallgemeinerbares
Bild von der Realität schulischer Integration… unterscheiden sich allzu sehr
aufgrund der im Einzelfall gegebenen Bedingungsvariablen, z.B.
Behindertenarten, Lehrerpersönlichkeiten, Lehrerkollegin, äußere schulische
Ausstattung, Unterstützung durch die Schulbehörde, durch die Eltern etc.
(Prell/Link 1974; Muth et al. 1976¸1982; Feuser 1995; Feuser/(Meyer 1987;
Reiser et al. 1986; Speck 1976¸Speck et al. 1978¸Wocken/Anto 1987; Bleidick
1988; Eberwein 1995; Heimlich 1999). … (a. a. O. S.31)
a) Unbefriedigende Zahlen (a. a. O. S.32-42)
… Zum einen sind es Probleme der Klassifizierung als „behindert“, und zwar
speziell im Sinne einer damit verbundenen Notwendigkeit, eine Förderschule zu
besuchen. Dies zeigen schon die enormen Unterschiede der
Förderschulbesuchsquoten zwischen alten und neuen Bundesländern…
… Was die Schulen für „geistig Behinderte“ („Förderschwerpunkt geistige
Entwicklung“) betrifft, so ist bereits darauf hingewiesen worden, das sie in
Deutschland auch von schwerst- und mehrfachbehinderten Kindern besucht werden,
die in anderen Ländern nicht in der Schulstatistik auftauchen, weil sie in
Heimen untergebracht sind… [Auch] wäre anzumerken, dass es die deutsche Klassifikation
als „lernbehindert“ und damit die entsprechenden Schulen für
„Lernbehinderte“ („Förderschwerpunkt Lernen“) i anderen Ländern überhaupt
nicht gibt…
Zweitens ist festzustellen, das die allgemeinen Schulen – jedenfalls in
Deutschland und bis zum Jahr 2010 – nur in begrenztem Maße in der Lage sind
integrativen Unterrichte „für alle“ einzuführen. Die Gründe dafür sind
vielfältig. Sie dürften weniger an eine Mangel an integrativer Mentalität
liegen als vielmehr daran, dass das Ausmaß der alltäglichen Anforderungen an
allen Schulen groß ist… (a. a. O. S.42)
.. Die Statistik verzeichnet Bundesländer mit relativ hohen I-Quoten aber
gleichzeitig hohen F-Quoten (Tab.3). … Dieser Widerspruch… hängt zunächst damit
zusammen, dass der unklare Begriff „sonderpädagogischer Förderbedarf“ auch für
Schüler gilt, die Förderschulen besuchen…. Demnach müsste die
Förderschulbesuchsquote umso niedriger sein, je höher die Integrationsquote
liegt. In Wirklichkeit weisen Länder mit einer hohen Integrationsquote zugleich
eine hohe Förderschulbesuchsquote auf… Beispiel…. Hansestadt Bremen,
[die] die höchste I-Quote aller Bundesländer … fast 45% … erreicht… [Doch] in
Bremen… besuchen… prozentual ebenso viele Schüler Förderschulen wie
beispielweise in Bayern, obwohl hier die I-Quote wesentlich niedriger ist…. (a.
a. O. S.43,44) … sind alle „besonderen Lernbedürfnisse“ „sonderpädagogische“,
d. h. fallen sie alle nur in den Kompetenzbereich der Sonderpädagogen?..
Hat es die allgemeine Schule nicht auch mit [anderen] besonderen Lernbedürfnissen
zu tun?... Außerdem dürfte sich durch die UN- Behindertenrechtskonvention
(2006) eine neue Situation ergeben… Auch in den Fällen, in denen dann bei
einzelnen Kindern eine Aufnahme in eine Förderschule doch angezeigt ist, fiele
die dazu nötige Entscheidung nicht primär und einzig in die Zuständigkeit der
Förderschule, wie etwa früher die Feststellung einer „Sonderschulbedürftigkeit“
allein Sache der Sonderschule war. (a. a. O. S.44,45) Vielmehr hätte die
allgemeine Schule als „integratives Bildungssystem“ nachzuweisen, das
eine Ausnahme von der Regel inklusiver Schulbildung vorliegt…
b) Unzureichende Bedingungen
… eine Untersuchung von Sharon Vaughn und Jeanne Shay Schumm (1995) von der
University of Miami über „Responsible Inclusion for Students with Learning
Disabilities“. Die beiden Autorinnen werteten bisher vorliegende empirische
Befunde zur „Inclusion“-Diskussion in den USA aus… Auf der einen Seite habe man
es mit unqualifiziertem Enthusiasmus für eine vollständige inclusion und
mit einer großen Begeisterung für die philosophy of inclusion zusammen
mit persönlichen Glaubensüberzeugungen, beruhend auf moralischen und
menschenrechtlichen Verantwortlichleiten (Gerechtigkeit und Gleichheit), zu tun
und auf der anderen Seite mit einem geringen empirisch dokumentierten Nachweis
der Effekte einer vollen schulischen Eingliederung. Was an Befunden
vorliege, lasse vielmehr darauf schließen, dass Schüler mit Lernschwierigkeiten
(learning disabilities) in Regelklassen unterrichtlich nicht gut vorankommen,
dass hier ein undifferenzierter Groß-Gruppenunterricht die Norm sei. Trotz
dieses eindeutigen Dissenses fänden aber Vorteile und Erfolge von inclusion
vor allem bei Eltern und Professionellen Anklang, die es mit schwerer
geschädigten Kindern zu tun haben. (a. a. O. S.45)
[geforderte Bedingungen:]
1) Die individuelle Beurteilung der Förderlichkeit gemeinsamen Unterrichts hat Priorität vor dem Prinzip der bloßen Platzierung in einer Regelklasse.
2) Die Lehrer entscheiden sich selbst für integrativen Unterricht, werden also nicht verpflichtet.
3) Die entsprechend nötigen Ressourcen für gemeinsamen Unterricht müssen vor der Platzierung verfügbar sei, dürfen also nicht erst nachträglich beschafft werden.
4) Es muss von vornherein Klarheit herrschen, dass gemeinsamer Unterricht erhebliche Ressourcen an Personal und Lernmaterial beansprucht, wenn er erfolgreich sein soll. (a. a. O. S.46)
5) Modelle gemeinsamen Unterrichts werden nicht von oben vorgegeben, sondern von der schulischen Basis entwickelt.
6) Es müssen zusätzliche Förderungsangebote, wie sie individuell angemessen sind, zur Verfügung stehen, eine bloße Platzierung in der Regelklasse wäre unverantwortlich.
7) Die getroffenen Maßnahmen und Modelle werden fortlaufend bzgl. ihrer Wirksamkeit und Angemessenheit evaluiert…
8) Notwendig ist eine kontinuierliche Weiterqualifizierung der Mitarbeiter.
9) Das Integrationskonzept muss integrierter Bestandteil de Schulkonzepts sein, damit genügend Akzeptanz unter allen Schülern gesichert ist.
10) Das Inklusionskonzept muss den Lernbedürfnissen aller Schüler, auch der durchschnittlich und überdurchschnittlich lernenden, gerecht werden.
11)
[von den 11 Punkten als „wichtige Bedingungen und allseits dienliche
Gemeinsamkeit des Lernen“ zitiere ich: WW]
3) eine Schülerschaft pro Klasse, deren nichtbehinderter Teil hinreichend
akzeptanz- und unterstützungsbereit ist bzw. dies lernen kann und für deren im
Lernen behinderter Teil das curriculare Fortschreiten der Klasse nicht zum
frustrierenden Problem wird… (a. a. O. S.47)
Fehlende finanzielle Ressourcen
Die Einsparungen durch den Wegfall der Kosten für das Sonderschulsystem würden
nicht einmal ein Drittel des neuen Kostenumfangs für ein inklusives Schulsystem
ausmachen. (a. a. O. S.48,49)… Dies geht u. a. aus einer Untersuchungen des
Forschungsinstitutes für Bildungs- und Sozialökonomie (Fibs) 2009 in Berlin
hervor… (a. a. O. S.48) Das Gutachten war im Auftrag der Partei Bündnis90/Die
Grünen im Bundestag in Auftrag gegeben worden. Sie tritt für die Abschaffung
der Förderschulen ein.
Gesamtkosten für ein inklusives Schulsystem |
49 Mrd. € |
In der von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie von Klaus Klemm „Sonderweg Förderschulen: Hoher Einsatz, wenig Perspektiven“ (2009) … werden für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems niedrigere Kosten… angesetzt. Diese würden im Anfang 2,6 Milliarden Euro betragen. Diese Summe ergibt sich jedoch allein aus der damit verbundenen Einsparung von Personalkosten für die Schulen für Lernbehinderte. Der pädagogische Ertrag wären 2,4 Wochenstunden mehr pro Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der „inklusiven“ Schule. Bedeutet aber eine Verlagerung des Dienstortes und der Tätigkeit der Förderschullehrer mit zwei bis drei Wochenstunden pro Klasse an verschiedenen Schulen schon einen „integrativen“ oder „inklusiven“ Unterricht? … Das Thema Bildungsreform ist an sich ein Dauerthema der föderalen Schulpolitik in der Bundesrepublik. Dabei hatte sich diese die längste Zeit nicht gerade auf die Integration behinderter Schüler fokussiert. Im Vordergrund standen und stehen vielmehr Fragen der Schulleistungssteigerung, und diese ist ohne Zweifel im Zusammenhang mit der erklären politischen Absicht einer „Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ zu sehen und genießt, durch den Druck des globalen Wettbewerbs bedingt, Priorität… (a. a. O. S.49)
Personalmangel
Schulische Integration erfordert mehr und differenzierter qualifiziertes
Personal. Diese Notwendigkeit ergibt sich zum einen aus der Vermehrung der
Klassen, in denen behinderte Kinder unterrichtet werden, und zum anderen aus
der Vielfalt besonderer und individueller Förderbedürfnisse… (a. a. O. S.50)
… In der Propagierung einer pädagogisch wichtigen Vielfalt kann man eine
pädagogisch verständliche Reaktion auf das überzogene Selektions- oder
Sortierungsprinzip im Schulwesen sehen. Es hatte zu der verführerischen Maxime
geführt: Je homogener eine Lerngruppe, umso besser die Lernerfolge!...
Pädagogisch vernachlässigt wurde dabei die jeder Schule, zumal jeder
Pflichtschule, zukommende Aufgabe, auch die im Lernen schwächeren Schüler
gezielt zu unterstützen und das soziale Lernen zu pflegen. In den Hintergrund
trat die Einsicht und Chance, dass individuelle Lernerfolge auch wesentlich von
der Lernumwelt abhängig sin, vor allem von den emotionalen Beziehungen zueinander und der gegenseitigen Akzeptanz. Die
Frage ist nun, ob wirklich alle Kinder gemeint sind, wenn von einer
willkommenen, d.h. grenzenlosen Heterogenität die Rede ist (Wember 2009,
90f.).. Vielfalt an sich ist noch kein Wertbegriff. Dem Prinzip der Gleichheit,
das der Pädagogik der Vielfalt zugrunde lieg, entsprechen zu wollen („alle
Kinder haben gleiche Rechte“), heißt noch nicht, dass alle Ungleichheiten
unwirksam und unwichtig werden, wenn Vielfalt erzeugt wird. Nicht jede Vielfalt
lässt sich in erfolgreicheres Lernen umsetzen.
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen in integrativen Klassen erbringen
differente Ergebnisse. Vielfalt erzeugt naturgemäß mehr Reibungen… (a. a. O.
S.73)
Dass wachsende Heterogenität in den Schulklassen den Beruf des Lehrers nicht
gerade attraktiver macht, geht u.a. aus einem Bericht über die am 5. Oktober
2009 abgehaltene Internationale Tagung der „Teacher Education for Inclusion“ in
Dublin hervor (Schäfer 2010) In den USA hätten fast 50% der Junglehrer die
Schule nach fünf Jahren verlassen und sich einem anderen Beruf zugewandt…
In welchem Maße Überforderungen der Lehrenden zu Erkrankungen aufgrund von
Hilflosigkeit, Resignation und Erschöpfung führen können, ergab eine Studie in
der Universitätsklinik Freiburg i. B. (Leitung Prof. J. Bauer und Th.
UnterbrinK; Pressemittteilung v. 10.07.2008). Das Spektrum der ermittelten
Belastungen reichte von provozierende Lernunlust, schweren Beleidigungen und
offener Feindseligkeit auf der Basis von Beziehungslosigkeit bis zu kaum
erträglicher Aggressivität und Mobbing. Es ist also generell schwierig, eine Schulklasse
als wert- und sinngebundene Einheit zu gestalten und zu unterrichten, vor allem
dann, wenn die Lehrer mit diesen gesteigerten Problemen allein gelassen werden…
Laut KMK-Statistik [Kultus-Minister-Konferenz-Statistik] hat sich der
Anteil von Kindern und Jugendlichen in Förderschulen mit dem „Förderschwerpunkt
emotionale und soziale Entwicklung“ von 1998 bis 2006 mehr als verdoppelt… (a.
a. O. S.74)
In einer jüngst erschienen Studie über „Belastung und Bewältigung in
integrativen Klasse“ (Hedderich/Hecker 2009) wird bestätigt, dass die
integrative Arbeit mit höheren Anforderungen an die Lehrer und Lehrerinnen, mit
einer hohen Verausgabungsbereitschaft , also mit einem höheren
Belastungspotenzial, verbunden ist, wobei diese Faktoren vor allem auf unzulängliche
und extern bedingten Rahmenbedingungen zurückgeführt werden, weniger auf
Verhaltensstörungen der Schüler…
die genannte Untersuchung… wurde … zumeist an privaten Schulen durchgeführt..
Diese verfügen im Allgemeinen über bessere Bedingungen… (a. a. O. S.75) Unter
pädagogischem Aspekt ist zu fragen, worin angesichts des hohen
Ausprägungsgrades individualistischer und geradezu gemeinschaftsfremder
Werthaltungen und Verhaltensweisen in der pluralistischen Gesellschaft eine
solche „Sinn stiftende Klammer“ gesehen werden und wieweit sie im Alltag
praktiziert werden kann…
Der italienische Inklusionspädagoge Dario Ianes (2009) sieht in bestimmten
Lehr- und Lernstrategien und –techniken eine Möglichkeit um der Probleme Herr
zu werden. Task Analysis, Prompting und Fading. Modeling. Positive Verstärkung und extrinsische Motivation,
Shaping und Chailing bzw. Selbstregulierung des Verhaltens. Die Frage ist, wie
weit solche Techniken auch im Alltag einer Schulklasse praktikabel sind…
Verwiesen wird auf einzelne beispielhaft Belege… Bei näherem Hinsehen handelt
es sich um Musterschulen…
Die Vorstellung, für alle Lehrer seien lediglich kurzgefasste
heilpädagogische Propädeutiken innerhalb des allgemeinen Lehrerstudiums
ausreichend, dürfte nach bisherigen Erfahrungen irreal sein… (a. a. O. S.76)
… Nicht nur das gesamte Schulsystem müsste neu geordnet werden, sondern auch
die gesamte Gesellschaft! … wenn Inklusion wirklich gelingen soll; eine
geradezu paradiesische Vorstellung! ....
Gegenwärtig sperrt sich die stark ausgeprägte Individualisierung und normative
Pluralität in der Gesellschaft gegen vereinheitlichende Veränderungen….
(a. a. O. S.81)
…Es gibt zwar auch Gleichheit aller vor Gott, aber nicht Gleichheit aller in
ihrer Identität und in der interindividuellen und komplexen Wirklichkeit….
Schule ist auch insofern ein Sonderfall für Inklusion, als sie primär keine soziale
Einrichtung ist, wie z.B. der
Kindergarten, sondern ganz bestimmten
Bildungsaufgaben und Lernanforderungen (Curricula) unterworfen… Allzu groß
scheint auch die Vielfalt der Interessen innerhalb der verschiedenen Gruppen zu
sein. (a. a. O. S.82)
4 Inklusion als sozialpolitischer Kampfbegriff
.. Wissenschaftlich-rationale Erwägungen haben weniger Chancen.. Dominant
werden mehr universale, normativ-allgemeine Forderungen, z.B. der Bezug auf die
allgemeinen Menschenrechte. … Die Widerstände können sich versteifen, wenn die
ideologischen Begriffe, z.B Inklusion und Exklusion , moralisierend und aggressiv
in die Diskussion eingebracht werden, wenn die Unterschiede zwischen real
Möglichem und Realitätsfremdem verdeckt werden. Wenn Gegenargumente
ausgeblendet oder diffamiert werden und wenn man den Eindruck erhält, es lasse
sich alles Gewünschte eins zu eins in nächster Zukunft („unverzüglich“)
umsetzen, womöglich mit der Brechstange des Gesetzes.. Auf jeden
Fall kann auf diese Weise, d. h. durch die Medien, Inklusion zu einem Trendwort
werden, dem eine geradezu „selbstverständliche“ allgemeine Geltung zu komme…
(a. a. O. S.67)
5 Inklusion als Menschenrecht – zur UN-Behindertenrechtskonvention (a. a. O. S.83-93)
Zunächst ist festzustellen, dass Inhalt und Zweck dieser
Behindertenkonvention … nicht nur auf die schulische Bildung abgestellt sind,
sondern auch über sie hinauseichen, nämlich ganz allgemein darauf, „die volle
und gleichberechtigte Ausübung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch
alle behinderten Menschen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die
Achtung ihrer angeborenen Würde zu fördern“ (Art.1) …
Artikel 24 (Bundesgesetzblatt Jg. 2008 Teil II r.35, 31. Dezember 2008)
…(a. a. O. S.83)
5. Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne
Diskriminierung und gleichberechtigt mit Anderen Zugang zu allgemeiner
Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen
haben…
Der offizielle englische Begriff … ist „inclusive education
system“. Diese Formulierung ist ins Deutsche offiziell mit „integratives
Bildungssystem“ übersetzt worden. Die gab Anlass zu Verschwörungstheorien.. (a.
a. O. S..85) … Es ist sicherlich ein großer Fortschritt, wenn
integrative/inklusive Bildung und Teilhabe nun als Rechtsnorm
verbindlich gelten, also nicht mehr von administrativen Interessen des Staates
abhängig sind… Die Eltern brauchten nicht mehr als Bittsteller aufzutreten… Sie sind nun mit einem
Rechtsanspruch ausgestattet.. (Wocken 2009)… „Das Ethos eines sozialen
Humanismus wird nun ersetzt durch die rechtlich kodifizierte Gleichwertigkeit
aller Menschen“ (13). (a. a. O. S.88)
Verlieren damit humanistische oder karitative Einstellungen an Geltung? Wird
damit nicht auch der Begriff der Hilfe, der immer auch persönlich
bestimmt ist, obsolet? … Müssten die persönlichen Motivationen zum Helfen nicht
aus der Übung und aus der Mode kommen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden?...
Inklusion wird letztlich nicht durch Rechtsansprüche gestaltet und gesichert,
sondern durch Menschen, die immer wieder neu das Mitmenschliche in der Praxis
gegensätzlicher Wertnormen und Motive selbstbestimmt zu verwirklichen suchen….
(a. a. O. S.89) ..l.
Die UN-Konvention schreibt… keine Zwangsaufnahme aller behinderten Kinde
in allgemeinen Schulen vor, sondern sichert dem Kinde bzw. seinen Eltern das
Recht auf Zugang zum allgemeinen Schulsystem, wenn sie eine solche Aufnahme
wünschen (Bielefeldt 2010). Sie können auch die Aufnahme in eine Förderschule
beantragen…. Aus der Praxis wird immer wieder berichtet, dass ein Kind mit
ausgeprägten Lernhindernissen aufgrund eine Entscheidung seiner Eltern
jahrelang eine allgemeine Schule besuchen und dort eine Minderung seiner
mentalen, sozialen und psychischen Entwicklung erlegen musste, d.h. gehindert
war, seine Fähigkeiten zu entfalten… (a. a. O. S.90)
… Bei aller Notwendigkeit, das Schulsystem integrativ/inklusiv umzubauen, wäre
es sozial ungerecht, Sonder- und Förderschulen auf Kosten ihrer Schüler und
Lehrer finanziell schlechter zu stellen, und z.. durch personelle Einsparungen
deren Klassenstärken zu erhöhen… (a. a. O. S.91)
„Nicht nur jene besonders intensiv und aufwendig zu fördernden Kinder (in
Sonderschulen) unterstreichen, dass es eigene Einrichtungen weiter geben soll,
sondern auch die professionelle Kompetenz der Sonderpädagogen wird durch die
Arbeit dieser Einrichtungen und die mit ihnen verbundene Ausbildung und
Forschung gestützt“… (Krappmann et al. 2003, 7811) … Diese spezialisierte
Kompetenz zum Wohle ganz bestimmter Menschen samt ihrer Institutionen ist ein
Kulturgut, um das uns andere Länder beneiden.. (a. a. O. S.92)
7 Internationale Praxiserfahrungen mit Inklusion/Integration
… Ob Deutschland in Sachen Inklusion gegenüber anderen Ländern wirklich und in jeder Beziehung weit zurückliegt, wie man in den Medien immer wieder lesen kann, ist durchaus die Frage.
.. Immerhin
hat beispielsweise Großbritannien zwar die UN-Konvention generell angenommen;
sie hat jedoch in einem Zusatzprotokoll den Art.24 ausdrücklich ausgenommen:“… The
United Kingdom reserves the right for disabled children to be educated outside
their local community where more appropriate education provision is available
elsewhere. Nevertheless, parents of disabled children have the same opportunity
as other parents to state a preference for the school at which they wish their
child to be educated.” Deklariert
wird (UN Enable 2009). … (a. a. O. S.93)
Total ablehnend hat sich die Regierung von El Salvador gegen eine Änderung der
eigenen Gesetze und Vorschriften ausgesprochen (UN Enable 2009)…. Bei den
europäischen Staaten fehlen u. a. Frankreich, Griechenland, Russland, Ukraine
oder Weißrussland. Bedenkt man vor welchen Komplikationen und finanziellen
Problemen die Umsetzung der UN-Konvention in unserem relativ reichen Land
steht, dann verwundert es, wenn scheinbar selbstverständlich andere Staaten …
auffällig viele sogenannten Entwicklungsländer… mit weitaus weniger
finanziellen Potenzen zugestimmt haben… (a. a. O. S.94)
Die Begriffe „Integration“ und „Inklusion“ sind weder klar definiert, noch
werden sie inhaltlich einheitlich verwendet (Bürli et al- 2009).
Man hat vielmehr von einem ganzen Spektrum von Verständnissen zu rechnen… In
einigen Ländern bezeichnen sich Schulen als „Schulen für alle“ bereits dann,
wenn dort Sonderklassen unter einem Dach zusammen mit Regelschulen
untergebracht sind, ohne dass ein gemeinsamer Unterricht stattfindet (Dorn
2009, 205)… (a. a. O. S.96) … Eigene Sonderschulen bestehen in allen
vergleichbaren Ländern, also etwa in Skandinavien, Island, den Niederlanden,
der Schweiz, in Österreich,.., Spanien. Frankreich oder Osteuropa… Großbritannien…
Aktuell fällt auf, dass die Zahl der in Sonderschulen [G]eförderten … in den
letzten Jahren auch in anderen Ländern gestiegen ist… (a. a. O. S.99)… Kinder
und Jugendliche mit schwersten und mehrfachen Behinderungen werden – wie
selbstverständlich – den Sonderschulen oder Heimen zugeordnet…
…auf dem 6. Internationalen Symposion „Menschen mit Down-Syndrom“ in Palma de Mallorca (2005).. wurde… u.a. von deutlichen Gegensätzen zwischen den Wünschen der Eltern von Kindern mit Down-Syndrom und denen „der anderen“ Eltern berichtet (Randel 2005). Nach Studien von Laura Lota (Padua) hätten sich folgende Differenzen ergeben, die insofern von besonderem Interesse sind, als Down Kinder nach allgemeiner Auffassung am ehesten mit sozialer Akzeptanz rechnen können:
· „Eltern von Regelschülern, die Gelegenheit hatten, Integration zu erleben, standen ihr ablehnend gegenüber, auch wenn sie auf Grund sozialer Überlegungen die Integration befürworten.
· Lehrer, die die Vorteile einer Inklusion für die geistige und soziale Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom erkannten, ließen sich dennoch nicht dafür gewinnen, selbst eine Inklusionsklasse zu übernehmen.
· Regelschüler versuchten, ihre Klassenkameraden mit Down-Syndrom eher zu meiden. Diese Tendenz nahm mit der Dauer der Integration noch zu. Sie waren eher bereit, Kindern mit geistiger Behinderung zu helfen, als ihnen ihre Freundschaft zu geben. Dabei stellte eine körperliche Behinderung eine viel geringere Barriere dar.
· Kinder mit einer Behinderung nannten häufig Klassenkameraden als ihre Freunde, die dies ihrerseits nicht so empfanden…
.. Es wird – vor allem auch aus Ländern mit längerer Integrationserfahrung z.B. Skandinavien – berichtet, dass es in den inklusiven Klassenzimmern zu ganz spezifischen Spannungen bzw. Dilemmata kommen kann. Susan Tetler, Dozentin an der Universität Aarhus, Dänemark, nennt vier Bereiche (2009,191f.):
· Individuen und Klassengemeinschaft
· Sonderpädagogen und Allgemeinpädagogen
Wertschätzung
der Vielfalt und Streben nach einem standardisierten Curriculum sowie
schulisch-fachlicher Dimension und sozialer Dimension (191f.)
So komme es als Folge der priorisierten Individualisierung und damit
verbundenen Berücksichtigung der besonderen Erziehungsbedürfnisse behinderter
Kinder dazu, dass ein spezielles curriculares Programm parallel zum
Regelcurriculum durchgeführt wird („Sonderpädagogik in der Regelklasse“!) Die
Teilung der Verantwortung zwischen den beiden Lehrkräften könne zu neuen Formen
der Segregation und zu einer Isolierung der behinderten Kinder führen. Es
werden Kinder beobachtet, die sich einsam, ausgeschlossen und minderwertig
erleben (Tetler 2009,188) Der von der Öffentlichkeit zunehmend ausgeübte
Druck auf die Einführung von Bildungsstandards erschwere die Praxis
eines wirklich gemeinsamen Lernens . … Unter dem Druck der verschlechterten
wirtschaftlichen Situation werden in jüngster Zeit sogar mehr denn je
behinderte Kinder aus dem normalen Unterricht ausgegliedert (Kreuzer 1999). Die
Zahl der Kinder, die „umfassenden Sonderunterricht“ erhalten, sei in Dänemark
seit 1985 um 75% gestiegen. Für Jugendliche mit Verhaltensstörungen würden
wieder vermehrt spezielle Einrichtungen geschaffen. Aus Finnland, dem Land,
dessen Schüler… in der PISA-Studie 2000 am besten abschnitten, wurde berichtet,
das sich inzwischen der Staat genötigt sehe, seine finanziellen Aufwendungen zu
reduzieren und den integrativen Förderunterricht für lernschwache Kinder
einzustellen (Süddeutsche Zeitung v. 28.05.0)…
Die Vorrangigkeit des Prinzips der sozialen Partizipation rückt die
Aufgabe der speziellen Förderung bei relativ ausgeprägten individuellen
Lernhindernissen in den Hintergrund… (Biewer 2009,172f). Möglicherweise liege
dieser verminderten Zuwendung zu „behinderten“ Kindern ein
Inklusionsverständnis zugrunde, nachwelchem das sogenannte „medizinische
Modell“ zugunsten eines sozialwissenschaftlich begründeten Ansatzes überwunden
werden soll … (a, a, O. S.101) … (173) …
Das Recht auf Bildung, in diesem Falle auf notwendige spezielle Förderung „darf
nicht dem Recht auf Teilhabe geopfert werden!...“ (Wocken 2009,15)
… Es wurde geltend gemacht , dass es für die Lernentwicklung eines behinderten
Kindes wichtig sei, vorzubeugen und es nicht erst belastende und schädigende Schulerfahrungen
machen zu lassen. Ein umstrittenes Argument, da der Begriff der Vorbeugung
unzureichend definierbar und ein Missbrauch nicht ausgeschlossen ist… [Es] ist
neben einer sorgfältigen Beobachtung der Lernfortschritte des Kindes auch eine
professionelle Beratung der Eltern erforderlich… (BVerfGE24.144) Es fehlt an
empirischen Längsschnittuntersuchungen über die tatsächliche ablaufenden
Prozesse und die Effekte und Bedingungen integrativer bzw. inklusiver
Schulsysteme. Dazu gehörten u.a. auch Befunde über gesundheitliche
Belastungen für die Lehrer. So zeigten sich bei Sonderschullehrern, die im
mobilen sonderpädagogischen Dienst an Regelschulen arbeiten, beachtlich höhere
Risikowerte, die bis zum Burnout-Syndrom reichen (Schmid 2009)…. (Schaarschmidt
2005)…
(a. a. O. S.102)
… Eine zunehmend sperrige Rolle bei der inklusiven Praxis spielen Kinder und
Jugendliche mit intensiven Verhaltensstörungen, also emotionalen und sozialen
Entwicklungsproblemen. Es ist auffallend und widerspricht der Idee, dass in der
allgemeinen Inklusionsdebatte die quantitativ zunehmende Exklusion dieser
Kinder und Jugendlichen mehr oder weniger ausgeklammert wird. Stehen sie der
Inklusion der anderen Schüler in besonderem Maße im Wege? Werden sie damit
deren Opfer? In diesem Zusammenhang wäre anzumerken, dass es aus Sicht der
Neurobiologie Verhaltensstörungen gibt, die nicht korrigierbar sind und auf die
man deshalb nur mit „Wegsperren“ reagieren sollte, also mit Exklusion (kritisch
dazu Speck 2009).
Angesichts der nun in der Alltagspraxis auftretenden Schwierigkeiten und
Probleme stellen sich bei Lehrern und Eltern Ernüchterungen ein.
Inklusion sei „eher ein Ideal als eine Praxis“, und diese Praxis verfehle oft
ihr Ziel (Tetler 2009,188)… Aus den USA wird berichtet, dass die Sonderpädagogik
dort aufgrund der aufgrund der aufgetretenen Unzulänglichkeiten eine neue
Richtung suche. … (Reynolds/(Fletcher-Janzen, zit. In Biewer 2009, 175). Damit
dürfte impliziert sein, was man hierzulande als Kosten-Nutzen-Rechnung
bezeichnet. (a. a. O. S.103)
8 Diskussion der bisherigen Entwicklung
… Generell stellt das normative Prinzip von Integration/Inklusion eine
grundlegende, wichtige und rechtlich bindende Herausforderung des gesamten
Schulsystems einschließlich der Förderschule dar. Inklusion kann von der Idee
her als eine weiterentwickelte Integration verstanden werden. Sie beinhaltet
das Recht behinderter Kinder und Jugendlicher auf Zugang zur allgemeinen
Schule. Wie weit sich die normative Zielvorstellung einer „Schule für alle“ und
damit ein grundlegend verändertes Schulsystem verwirklichen lassen, bleibt
offen.
Die hier berichteten internationalen Erfahrungen mit der Praxis von
Integration/Inklusion, zumal aus Ländern mit einer längeren Integrations- bzw.
Inklusionserfahrung lassen erkennen, dass der Verwirklichung… gewichtige
Hindernisse im Wege sehen, dass es zwischen der proklamieren Idee und der
Wirklichkeit echte Probleme gibt… (a. a. O. S.104) … Fünfzehn Jahre nach
der Verabschiedung der Salamanca-Erklärung fand am gleichen Ort eine
globale Konferenz zum Thema „<Inklusion“ statt. Das Fazit fiel ernüchternd
aus… (a. a. O. S.105)
… Da das System nur voll funktionsfähig ist, wenn es seine Systemkohärenz
erhalten und sein Agieren gemäß seinen legitimierten Aufgaben selber regeln und
bewältigen kann, kann es sinnvollerweise von der Umwelt her nicht genötigt
werden, eine Änderung vorzunehmen, die sich mit der eigenen Funktion und
Organisation unter gegebenen Umständen nicht vereinbaren lässt. Solange es
keine Möglichkeit sieht, der externen Veränderungsabsicht zu entsprechen, wird
es einen Strukturen zu erhalten versuchen; es muss sie in der
Auseinandersetzung mit der Umwelt selbst erarbeiten, um sie auch verantworten
zu können; es verliert sonst seine Systemautonomie…. Die Kompatibilität von Leistungssicherung
und sozialer Erziehung wird zu einem schwierigen Spagat. Die entstehende
Zunahme von Komplexität oder Verflochtenheit der verschiedenen Strukturelemente
ist nur schwer zu reduzieren, da alles mit allem zusammenhängt. Zirkuläre
Verflechtungen erschweren Veränderungen…. Es ist irreführend … den
gravierenden Unterschied der Bedingungen in Modellschulen und den üblichen
Schulen eines Landes zu ignorieren oder zu bagatellisieren. …(a. a. O.
S.106,107)
Das Prinzip der sozialen Partizipation stößt… durchaus nicht auf bloße
Zustimmung … Skepsis ist angezeigt und legitim, wenn als Bedingung für eine
künftige Realisierung von Inklusion eine inklusive Gesellschaft gefordert
wird. Eine solche umfassende Vision ist eine verständliche und wichtige Vision;
sie ist aber zugleich auch Ausdruck des Leidens an einer Gesellschaft, die sich
immer mehr in Gewinner und Verlierer aufspaltet, in der dominante Egoismen das
Rivalisieren gegeneinander fördern und Werte und Normen des Miteinanders und
Füreinanders in den Hintergrund drängen. Darunter leidet auch die
Gemeinwohlorientiertheit, sodass die Idee „einer Schule für alle“ im
Wesentlichen als Antithese zu kritischen gesellschaftlichen Entwicklungen zur
Geltung gebracht werden kann…
Die schulische Inklusion behinderter Kinder wird nur von einem Teil der
Gesellschaft eingefordert… Darüber hinaus mehren sich auch Anzeichen dafür,
dass sich innerhalb der Gesellschaft ein Trend zu mehr pragmatischen Normen und
Einstellungen ausbildet, für den organisatorische und technische
Praktikabilität sowie ein Abbau von kompliziertem und kostspieligem personellen
Aufwand zugunsten konkreter Nützlichkeit für den Einzelnen wichtiger sind… (a.
a. O. S.107)
… „Je größer das Leiden an der Gegenwart, desto höher der Utopiebedarf“ (Graf
2007,176). … Wenn beide pädagogische Aspekte [es werden hier im Buch
tabellarisch multiple Kriterien auf S. 111 zusammengestellt] im Sinne der
individuellen und besonderen Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen sollen, dann
kommt als Weg nur ein ausgewogenes Lösungsmodell von Integration/Inklusion in
Frage. Aus dem Englischen wurde dafür in verschiedenen Wissenschaften der
Terminus „balanced approach“ übernommen. Gemeint ist ein Ansatz oder Modell,
bei dem kein Teilaspekt auf Kosten eines anderen dominant wird… (a. a. O:
S.110)
9 Desiderate und offene Fragen (a. a. O. S.111)
a) Primäre Verantwortlichkeit der allgemeinen Schule
.. Falls die Zahl der in förderschulische Einrichtungen
aufzunehmenden Kinder sinkt, es also weniger entsprechende Schulen gibt, wird
sich die Entfernung dorthin vergrößern. Die Folge wären längere Schulwege als
bisher bzw. die Wiederbelebung der Internate. Was die ambulant tätigen
Sonderpädagogen betrifft, so werden sie längere Zeit auf den Straßen
verbringen. Die primäre Verantwortlichkeit der allgemeinen Schule würde
untergraben, wenn in erster Linie das System der Förderschulen ins Visier
genommen und deren Ressourcen abgebaut würden…. (a. a. O. S.112)
.. Fragwürdig erscheint u. a. der Pauschalbefund gegen Förderschulen, dass 77,2%
der Förderschüler… keinen Hauptschulabschluss erreichten, zumal sich diese Zahl
nur auf Schüler der Schule für Lernbehinderte bezieht und die gemeinten Schüler
wegen unzureichender Schulleistungen und sonstiger Schulprobleme an der
Hauptschule gescheitert waren (Klemm 2009) Nahezu jeder Arbeiter in der
WdB („Werkstatt für Behinderte“) gilt als „nicht vermittelbar“ für den
allgemeinen Arbeitsmarkt. Was nützte Jugendlichen mit einer geistigen
Behinderung ein formaler „Schulabschluss“ an einer allgemeinen Schule? ..… (a.
a. O. S.113) … Der Masse der Eltern geistig behinderter Kinder ist die …
Argumentation mit den größeren Chancen ohne Sonderschulen für ihre
Kinder nicht zu vermitteln. Sie haben diese Schulen zum Teil selbst aufgebaut
und wissen aus unmittelbarer Erfahrung um deren Notwendigkeit (Pertringer
1989)…. [Das] Münchener „Integrationszentrum für Cerebralparesen (ICP)“ … hatte
18 Grundschulen angeschrieben und gefragt, ob sie bereit wären, ein
körperbehindertes Kind aufzunehmen. Alle sahen sich dazu außerstande. Die
Einrichtung wird nun selbst eine hauseigene integrative Grundschule errichten.
– Die gleiche negative Erfahrung hatte eine andere Münchener Einrichtung für
körperbehinderte Kinder und Jugendliche machen müssen… (a. a. O. S.115) Hans Wocken,
mit dessen Namen die Etablierung des seit mehr als zwei Jahrzehnen bestehenden
und weithin anerkannten Systems „integrativer Regelklassen“ in Hamburger
Grundschulen verbunden ist, muss feststellen, eine Diskussion um Inklusion
„findet in der allgemeinen Pädagogik schlechtweg nicht statt“ (2009,8). Der
inklusionspädagogische Diskurs beschränke sich bislang auf
behindertenpädagogische Zirkel…
b) Die subsidiäre Funktion der Heil- oder Sonderschulpolitik
Gegen die pauschale Unterstellung einer Bremser-Funktion der
Heil- und Sonderpädagogik spricht die Tatsache, dass es in erster Linie
Sonderpädagogen waren, die das Integrationsmodell in die pädagogische
Diskussion eingebracht haben und die auch heute als die stärksten
Befürworter des Integrations/Inklusionsansatzes fungieren…(a. a. O. S.115) Dass
diese Integrationsdebatte vor allem von Sonderpädagogen in Gang gesetzt wurde
und bis heute auch gehalten wird, dürfte damit zusammenhängen, das die
Sonderschulpädagogik immer schon in der Spannung zwischen ihrer
strukturell bedingten Sonderrolle und einem „schlechten Gewissen“ bezüglich der
Separierungszwänge zu agieren hatte… Ihre konstitutionelle Grundbedingung,
nämlich der separierte Unterricht, ist stets ihr schwacher und wunder Punkt
gewesen… (a. a. O. S.116) … In der soziologischen Terminologie gibt es
längst einen Begriff für Menschen, die heute in steigender Zahl ohne
Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind, und zwar gleichgültig, ob sie einen
qualifizierenden Schulabschluss haben oder nicht: Sie gelten (wirtschaftlich)
als „Überflüssige“ oder „Nutzlose“ (Castel 2000) … (a. a. O. S.117)
… Gegen eine formalistische Pauschalierung der Begriffe 2Inklusion“ und
„Exklusion“ im Sinne eines Schwarz-Weiß-Verhältnisses spricht nicht nur
die Tatsache, dass jede Regel ihre Ausnahme hat, sondern auch die
soziologische und psychologisch Einsicht, dass nicht jede Nicht-Zugehörigkeit
zu bestimmen sozialen Gruppen als eine Verletzung des Inklusionsprinzips
empfunden wird. Jeder Mensch hat seine ganz persönlichen Inklusionsbedürfnisse…
c) Flexible Schuleingangsstufe – Grundschule oder Förderschule?
Seit Jahren ist die Einführung einer flexiblen
Schuleingangsstufe ein Hauptthema in der Grundschulpädagogik (Speck-Hamdan
2010). Es geht u die optimale Nutzung der Schulpflichtzeit, d. h. um die
Vermeidung von Zurückstellungen und Wiederholungen einerseits und um die
Flexibilisierung des Schuleintrittsalters und der Verweildauer andererseits.
(a. a. O. S.118,119) … Es kann sich dabei auch um jahrgangsübergreifende
Lerngruppen handeln… In den meisten Bundesländern sind diese
Eingangsklassen oder Lerngruppen doppelt mit Lehrern besetzt und verfügen auch
über sozialpädagogisches Personal wie Kindergärtnerinnen. Dieses flexible
Eingangsstufensystem schließt unter dem Aspekt des nun aufzubauenden
„integrativen Bildungssystems“ auch die Möglichkeit ein, lernbeeinträchtigte
Kinder, die sonst die Schule für Lernbehinderte besuchen müssen, in der
Grundschule behalten zu können. Die längsten Erfahrungen mit dem FLEX-Modell
hat das Land Brandenburg. Die dortigen FLEX-Lerngruppen oder –Klassen sind hier
doppelt mit Lehrern besetzt und werden mit fünf Wochenstunden auch durch
Sonderpädagogen unterstützt… (Speck-Hamdan 2010). In Bayern gibt es seit dem
Schuljahr 1984/85 sogenannte sonderpädagogische Diagnose- und Förderklassen…
Sie sind… den Förderschulen zugeordnet und insofern ein Unikum in den
Bundesländern. Sie sehen ebenfalls eine Verlängerung der Verweildauer um ein
Jahr vor… (a. a. O. S.119)
… Im Schuljahr 2003/2004 existierten in Bayern 995 derartige Klassen mit
insgesamt 11.601 Schülern… Sie werden von Sonderschullehrern geleitet… Die
Attraktivität der damals neuen Sonderpädagogischen Diagnose- und Förderklassen
stützte sich u. a. auf eine bessere personelle Ausstattung und eine durch den wissenschaftlich
klingenden Namen verringerte Stigmatisierung…. Ihre Ressourcen an Lehrerstunden
wurden inzwischen derart reduziert, das die ursprünglich zugeteilten speziellen
Aufgaben nicht im vollen Umfang erfüllt werden können…. (a. a. O. S.120)
Derartige De-facto-Förderschulklassen wären nicht mit mi dem Inklusionsauftrag
des neuen Gesetzes vereinbar, das festlegt, dass jedes Kind in der Regel die
allgemeine Schule zu besuchen hat… (a. a. O. S.122)
d) Institutionelle Exklusionen und Inklusionshilfen
Das Integrations/Inklusionsprinzip schließt temporäre
„Exklusionen“ nicht aus…. Sind Wohnheime für geistig behinderte oder psychisch
kranke Menschen schlechthin exkludierende Einrichtungen? Wo sollen sie sonst
wohnen, wenn sie nicht selbständig für sich sorgen können, oder im Falle von
Heimen für behinderte Kinder, wenn es die Eltern zu Hause nicht mehr
schaffen?... (a. a. O. S.123) … Heime, psychiatrische Einrichtungen oder
Förderschulen bilden als Ausnahmen von der Regel der offenen Integration
an sich noch keinen Widerspruch zum Prinzip der Integration/Inklusion. Sie sind
für viele Menschen dieser Gesellschaft der einzige Ort, wo sie ein
menschenwürdiges Leben führen bzw. sozial geschützt und geachtet ein
Fähigkeiten gemäß lernen können….
Immer beliebter werden private Schulen, übrigens auch für behinderte Kinder… in
den USA schon seit längerem zu beobachten.. . (a. a. O: S.124)
e) Chancen auf eine inklusive Gesellschaft?
… Im Sinne einer möglichst ungehinderten Teilhabe an der Gesellschaft ergeben sich u. a. Konsequenzen für eine Neugestaltung der „Eingliederungshilfe“ (SGBIX), und zwar in der Weise, dass diese sich konsequent als Beitrag zum Aufbau einer „inklusiven Bürgergesellschaft“ versteht (Haas/Treber 2009). Damit werden Aufgabe und Ziel inklusiver Bildung erweitert und unterstützt durch eine systematische Befähigung der Gemeinwesen (enabling communities) und seiner Bürger zur Verantwortlichkeit und zur Sicherstellung menschenrechtlicher Ansprüche von Menschen mit Behinderungen…. (a. a. O. S.125) … Man sollte allerdings auch beachten, dass zu viel staatliche Steuerung auch mehr Verwaltung und Bürokratie bedingt, was zur Folge haben könnte, dass die Selbstbestimmung weniger Chancen hat.
f) Diskriminierung nicht ausgeschlossen
… Art.3 Abs.3 … im Grundgesetz…: “Niemand darf wegen seiner
Behinderung diskriminiert werden“…. Diskriminieren wörtlich “Unterscheiden, um
zu trennen“. Als strukturelle Diskriminierung kann allein die Tatsache gelten,
dass ein Kind die Förderschule besucht („Abstempelung“), also schulisch
abgesondert wird. Sowohl das Kind als auch die Eltern können sich diskriminiert
fühlen bzw. von anderen diskriminiert werden… [Aber:] Die Annahme,
dass ein behinderter Schüler nicht mehr diskriminiert wird, wenn er eine allgemeine
Schule besucht, dürfte irrig sein. (a. a. O. S.12 6)
… An sich kann man auch als nichtbehindertes Kind, sogar wegen einer
Kleinigkeit im „Outfit“ distanziert, isoliert oder gar gemobbt werden. Manche
Kinder sind geradezu Meister im Herausfinden von Schwächen anderer Schüler, um
sie diesen gelegentlich vorzuhalten…
In integrativen Klassen ist (nachmündlicher Mitteilung einer Kollegin, die
soziale Eingliederungsprozesse von Jugendlichen mit Down-Syndrom untersucht)
durchaus auch ausgeprägtes Mobbing gegen diese zu beobachten. Sie sind hier
jeweils die Schwächeren und können sich niht wirksam wehren. .. Verbale und
sonstige Aggressionen können innerhalb und außerhalb des Schulzimmers erfolgen,
z. B. auf dem Schulhof oder auf dem Schulweg… (a. a. O. S.127)
… Soll und kann jeder Lehrer auch die Gebärdensprache erlernen? …
Soll es Kombinationslehrämter (Sonderpädagogik als Zweitfach oder als
Masterschwerpunkt) geben? Lässt sich überhaupt ein „Lehramt an Sonderschulen“
in der bisherigen Form neben dem übrigen Lehramtsstudium noch aufrechterhalten?
… (a. a . O. S.130)
Vom Versuch einer Kombination ist seitens der Universität Bielefeld
berichtet worden… Es entsteht eine „Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt
Heterogenität“. Was hat man sich darunter vorzustellen?...:
Pädagogische Spezialisierung und heilpädagogische Professionalität sind aber
auc fü Lehrämter der Sonderpädagogik notwendig. Andernfalls müsste wertvolles
Fachwissen verlorengehen… (a. a. O: S.131)
Auf die auch kritisch zu beurteilende Umwandlung der inklusiv tätigen
Sonderpädagogen in Beratungslehrer ist bereits hingewiesen worden…
10 Allgemeine Schlussfolgerungen (a. a. O: S.132-141)
… d) Gleichberechtigung für alle Schulsysteme: Eine
generelle Priorisierung oder ein „Vorrang“ von Inklusion/(Integration
bedeutet keine höhere Wertigkeit und keine Privilegierung inklusiver
Schulformen…
Eine Marginalisierung der besonderen Bedürfnisse zumeist schwerer behinderter
Kinder und Jugendlicher gegenüber integrativ geförderten Kindern und
Jugendlichen wäre einfach nicht vertretbar… (a. a. O: S.133,134) e) Die
Förderschulbesuchsquote ist auf ein Minimum des pädagogisch Notwendigen zu
beschränken….
f) den Eltern steht … fachlich beraten… ein bedingtes Wahlrecht bezüglich der
Schulart oder des Lernortes für ihr behindertes Kind zu. Sie können in
Ausnahmefällen auch eine Förderschule wählen. Als Regelfall aber gilt das Recht
auf eine Aufnahme in die allgemeine Schule…
g) Die Heil- oder Sonderpädagogik hat eine normative und eine wissenschaftliche
Funktion. Sie vertritt nicht nur die normative Idee, sondern hat als
wissenschaftliches Fach auch die Aufgabe, die praktische Umsetzbarkeit von
Integration/Inklusion in der schulischen Wirklichkeit samt ihren Hindernissen
und besonderen Chancen zu analysieren und zu begleiten…
d) Das Programm Integration/Inklusion ist nicht kurzfristig erreichbar…
(a. a. O. S.134)
… Der heutige inflationäre und emphatische Gebrauch der Metapher „Inklusion“
lässt eher darauf schließen, dass ihm eine Realitätsflucht zugrunde liegt, eine
Flucht vor dem Faktum der wachsenden Ungleichheit und sozialen Ungerechtigkeit,
die der aufgeklärte Mensch zu beseitigen versprochen hatte, deren Beseitigung
ihm aber nun doch zu schwer erscheint, wenn er gleichzeitig seinen
Lebensstandard erhalten will. Er nimmt deshalb Zuflucht zu den „Sternen“, zu
einem (durchaus verständlichen) Idealismus, der im Wollen steckenbleibt, dort
aber wenigstens die Befriedigung findet, sich mit dem „Elend der Welt“ nicht
abfinden u müssen… (a. a. O. S.135)
IV Frühkindliche Bildung für alle
Eine hochwertige Bildung ist wesentlich von der
frühkindlichen Erziehung und Bildung abhängig…
1 Erste Modelle integrativer Elementarerziehung
a) Einer der frühesten Integrationsversuche war der von einer Mental
Health-Forschungsgruppe unter Leitung des Psychologen Hellmut Strasser in
München ins Leben gerufene gemischte Kindergarten für gliedmaßenfehlgebildete
Kinder (Strasser et al. 1968). Die Erfahrungen in diesem gemischten
Contergan-Kindegarten in den Jahren 1962/(64 waren im Ganzen positiv. Man
konnte beobachten:
…Die Kompensationsfähigkeit kann
ein erstaunlich hohes Maß erreichen, wenn sie auf eine natürliche Weise heraus
gefordert wird, also nicht durch eine behütende Erziehung .. [etwa] in der
eigenen häuslichen Umwelt.. behindert wird. (a. a. O. S.136)
b) Der Montessori Kindergarten der „Aktion Sonnenschein“ in München (Hellbrügge
1977)… Der Montessori-Kindergarten genießt als private Einrichtung eine
Sonderstellung [und] ist auf übliche Verhältnisse nicht übertragbar…
c) Ein weiteres Unternehmen in München war der „Kindergarten Pasing e. V.“
(Sasse et al. 1980) Er wurde von 32 nichtbehinderten und 48 behinderten Kindern
im Alter von zwei bis zehn Jahren besucht, war also mit der Form der
Kindertagesstätte für Schulkinder kombiniert.
… verteilt… auf sechs kleine heilpädagogische Gruppen mit vier bis sechs
behinderten Kindern und drei Integrationsgruppen mit sieben bis 13
nichtbehinderten und ein bis vier behinderten Kindern. Alle Gruppen waren
gegenseitig offen, d.h. die Kinder konnten nach eigenen Bedürfnissen und
Fähigkeiten am Spielen und Arbeiten anderer Gruppen teilnehmen, wenn dadurch
keiner überfordert oder eingeschränkt wurde… durch gezielte pädagogische
Aktivitäten verstärkt. .. Fachkräfte (Psychologen, Heilpädagoginnen, eine
Kinder-und Jugendpsychotherapeutin, eine Logopädin, eine Rhythmiklehrerin).
s) Differenzierte Berichte … aus den USA… u.a.1978 von Guralnick und
Mitarbeitern v9n der Ohio State University … das Integrationskonzept… nicht
einfach ein Schmelztiegel-Konzept… vielmehr … eine variable. Differenzierte und
auf die speziellen individuellen Bedürfnisse der Kinder abgestimmte
Organisation.. (a. a. O. S.137)
.. Die damals gemachten Erfahrungen wurden als insgesamt positiv und
ermutigend eingeschätzt… Nach wie vor werden behinderte Kleinkinder auch in
Sonderkindergärten oder „schulvorbereitenden Einrichtungen“ gefördert. Davon
gab es im Schuljahr 2003/03 in Bayern insgesamt 377 mit 8.710 behinderten
Kindern in 950 Gruppen (Bayer. Staatsministerium f. Unterricht und Kultus
2004). Wie aus dem von dem KMK herausgegebenen „Zweiten Nationalen
Bildungsbericht“ (2008b) hervorgeht, ist die Zahl der Sonderkindergären für
behinderte Kinder von 691 im Jahr 1998 auf 307 im Jahr 2002 zurückgegangen ,
hat sich aber seitdem bis 2007 wieder auf 346 Einrichtungen geringfügig erhöht…
… (a. a. O: S.138)
2. Inklusion – ein Kindergarten für alle
Die unbefriedigenden Resultate integrativer
Kindergartenintegration haben, ähnlich wie im Schulbereich, zur
Schlussfolgerung geführt, dass es eine wirkliche Weiterentwicklung des
gemeinsamen Lernens im Vorschulbereich nur geben könne, wenn das Gesamtkonzept
der Kindertagesstätten … grundlegend geändert wird….. (Kreuzer/Ytterhus 2011).
Die Realität hierzulande ist von diesem Ziel weit entfernt.
Besonders motivierend in dieser Richtung wirken Anstöße aus dem Ausland. … In
Norwegen beispielsweise haben Kinder mit Funktionsbeeinträchtigungen sogar ein
Vorrecht, im nächstgelegenen Kindergarten aufgenommen und gefördert zu werden…
(a. a. O. S.139)
… Erst kürzlich wurde… Norwegen… als das Land mit dem höchsten Lebensstandard
auf der Welt eingestuft. .…
Aus einer jüngsten Elternbefragung an der Pädagogischen
Hochschule Heidelberg (Burghart et al. 2010) geht hervor, das die soziale
Integration und die sozialen Kontakte seh- und hörgeschädigter Kinder in
integrativen Kindertagesstätten mit Risiken sozialer Isolation behaftet sind.
60% der Eltern sehgeschädigter Kinder in Einzelintegration berichteten, das ihr
Kind außerhalb des Kindergarens keinen Kontakt zu anderen Kindern der Gruppe
habe; für sehgeschädigte Kinder in integrativen Gruppen traf dies für 40% zu
… (a. a. O. S.140)
In Australien, wo man seit Jahrhunderten genötigt ist, multikulturell zu denken
und zu organisieren… existieren in den Universitäten vierjährige
Bachelor-Studiengänge, deren erfolgreicher Abschluss nicht nur zur Tätigkeit in
einem Kindergarten, sondern auch in den beiden ersten Jahrgangsstufen einer
Grundschule berechtigt. (a. a. O. S.140,.141)
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Tanja Sturm
Lehrbuch Heterogenität in der Schule
Ernst Reinhardt Verlag. München. Basel 2013
ISBN 978-38252-3893-3 UTB–Band Nr.: 3893
Einleitung
… Die Diskussion um Heterogenität wird in der Bildungspolitik und
Erziehungswissenschaft mit der Erwartung verknüpft, die aktuell bestehenden
Ungleichheiten in der Beteiligung an schulischen Bildungsgängen zwischen
sozialen Gruppen zu überwinden. Die bestehende Chancengleichheit im Zugang zu
Bildungsgängen ist lediglich formal, was sich beispielsweise darin zeigt, dass
Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomisch nicht privilegierten Familien im
Vergleich zu privilegierten Gleichaltrigen seltener das Gymnasium besuchen. Von
der Realisierung des demokratischen Anspruchs , einen von der familiären
Sozialisation unabhängigen Zugang zu Bildung zu ermöglichen, ist die Schule in
Deutschland, Österreich und der Schweiz weit entfernt. Benachteiligung besteht
über den Zugang zu Bildungsgängen hinaus auch hinsichtlich des fachlichen
Kompetenzerwerbs. So weisen Schüler / -innen mit Migrationshintergrund niedrigere
Kompetenzwerte im Lesen auf als ihre Peers ohne diesen Hintergrund. Die Schule
nimmt bei der Reproduktion sozialer Ungleichheiten in struktureller und
kultureller Hinsicht eine Schlüsselstellung ein, da sie die Legitimation für
berufliche Perspektiven schafft. Dies bezieht sich auf alle Schulformen und
Schulstufen der Bildungsorganisation Schule… (a. a. O. S.9)
… Dass Schule und Unterricht dabei selbst als Produzierende von Heterogenität
bzw. Differenzen agieren, ist eine zentrale Linie dieses Buches. Die Akzeptanz
des Beteiligtseins an Prozessen von Differenzerzeugung und Benachteiligung ist
die Grundlage für einen reflektierten Umgang mit den widersprüchlichen An- und
Herausforderungen in Schule und Unterricht. Dies erfolgt mithilfe der wissenssoziologisch
fundierten Begriffe der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ (Nohl 2010,
145ff.).. orientiert… am Abbau besehender Bildungsungleichheiten als
Voraussetzung und Notwendigkeit für ein demokratisches Miteinander in einer
pluralen Gesellschaft…. (a. a. O: S.10)
2 Differenzen in Schule und Unterricht
„Heterogenität“ ist etwa seit dem Jahr 2000 zu einem zentralen Begriff geworden, wenn es um die Beschreibung schulischer und unterrichtlicher Realität geht (Budde 2012).
2.1 Heterogenität in der Schule – eine Definition
… Die Definition orientiert sich an einem
sozial-konstruktivistischen Verständnis und unterscheidet sich folglich von
Perspektiven, die aus anderen theoretischen Positionen heraus Heterogenität
definieren. So verweist diese Definition, im Gegensatz zu
kognitionspsychologischen Überlegungen darauf, dass Differenzen nicht aufgrund
von Dispositionen bestehen, die sich in verschiedenen Merkmalen verdichten,
sondern in sozialen Interaktionen hergestellt und bearbeitet werden (Trautmann/Wischer
2011.42f.).Sozial-konstruktivistische Überlegungen definieren Heterogenität
mehrheitlich, z. T. auch mithilfe anderer Begriffe, anhand folgender vier
Punkte: relativ, sozial-kulturell eingebunden, sozial konstruiert und partial
(Lang et al. 2010, 315f.; Prengel 2006, 30ff.; Wenning 2007). (a. a. O.
S.14,15) Sie werden nachfolgend für die Definition herangezogen. Die Kriterien
werden hier zwar analytisch voneinander getrennt, sind jedoch aufeinander
bezogen und erlangen im Zusammenspiel einen definitorischen Charakter.
„Heterogenität“ kommt aus dem Griechischen, bedeutet übersetzt
„Ungleichartigkeit“ und bezeichnet somit Unterschiede oder Differenzen. Diese
können dann beschrieben werden, wenn mindestens zwei Aspekte oder Eigenschafen
miteinander in Beziehung gesetzt, also verglichen werden. Dies erfolgt mithilfe
eines Maßstabes, der an die zu vergleichenden Aspekte angelegt wird und
so ihre Relation zueinander beschreibbar macht. Das Ergebnis dieses Vergleiches
lautet gleich oder ungleich respektive homogen oder heterogen. … Das Resultat
des Vergleiches ist relativ, das an den jeweils angesetzten Maßstab gebunden
ist, über den der Vergleich vorgenommen wird. Verschiedenheit und Gleichheit
sind also maßstabgebunden (Lang et al. 2010.31).
Ein Aspekt wie die schulische Leistung kann folglich nicht heterogen sein. Erst
die Angabe des Maßstabes konkretisiert, auf welchen Aspekt schulischer Leistung
genau Bezug genommen wird und worin die Verschiedenartigkeit besteht. In der
Schule wird die Relation häufig zwischen den Leistungen eines Schülers zu
unterschiedlichen Zeitpunkten gesehen, gegenüber der Klasse oder Lerngruppe,
gegenüber einer konkreten Bezugsnorm und ihren Ergebnissen oder auch gegenüber
von außen und extern festgelegten Kriterien (Schuck 2004, 353f.). Letzteres
wird in Bildungsstandards und / oder Klassenzielen festgeschrieben… (a.
a. O. S.15)
Wechselspiel von Gleichheit und Verschiedenheit
Vergleiche setzen ihrerseits Gleichheit voraus. Heterogenität und Differenzen sind nur zu bestimmen und zu erkennen, wenn Homogenität, also Gleichheit, auf einer abstrakteren Ebene vorhanden ist. … Folglich kann nur Gleiches mit Gleichem verglichen werden. Eigenschaften oder Dinge, die auf abstrakterer Ebene gleich sind, können zueinander in Relation gesetzt werden, die dann als gleich / ungleich beschrieben wird. Homogenität und Heterogenität sind folglich dialektisch aufeinander bezogen und miteinander verbunden, da sich das eine nicht ohne das andere beschreiben lässt. Ein solcher vergleichsinterner und zu bestimmender Maßstab wird auch „tertium comparationis“ genannt (Prengel 2009, 141). Im schulischen Kontext besteht Homogenität, also die Vergleichsgrundlage. Zunächst darin, dass alle Kinder und Jugendliche als Schüler / -innen gesehen werden (Wenning 2008, 6)…
Soziale und kulturelle Rahmungen
Vergleiche, deren Ergebnis Gleichheit oder
Unterschiedlichkeit darstellt, finden immer in sozialen und kulturellen
Rahmungen statt. Als solche sind sie nicht neutral, sondern eingebunden in die Bedeutungen
und Werte des jeweiligen Kontextes. Die Vergleiche werden aus einer Perspektive
heraus vorgenommen, die durch spezifische kulturelle und soziale Bedeutungen
gekennzeichnet ist, in denen die Ergebnisse mit positiverer oder negativerer
Bedeutung (Wenning 2008, 6) bzw. mit Rangordnungen und Hierarchien (Prengel
2006, 34) verbunden sind…
So galt jemand vor etwa 150 Jahren im deutschsprachigen Raum als
alphabetisiert, wenn er seinen Namen schreiben konnte. Zu Beginn des zweiten
Jahrtausends werden derartige Schreibkompetenzen im Erwachsenenalter
tendenziell mit „funktionalem Analphabetismus“ beschrieben… (a. a. O. S.17)
… Die sozialen Prozesse der Produktion und Reproduktion von Differenzen sind
nicht abgeschlossen, sondern fester Bestandteil jeder menschlichen Interaktion
(West / Fenstermaker 1995, 9).
Heterogenität ist partial
Heterogenität, die als sozial konstruiert verstanden wird,
ist immer auf einzelne Aspekte bezogen, auf konkrete Differenzen…
So führt Lernen dazu, dass die Diskrepanz zwischen etwas nicht gekonntem
zugunsten von Können überwunden werden kann. (a. a. O. S.18,19)
… Heterogenität ist das Ergebnis von Vergleichen, die eingebunden in soziale
und kulturelle Zusammenhänge stattfinden. Durch die Vergleiche erhält das
Ergebnis eine Bedeutung.
2.2. Heterogenität von Milieus
Im Anschluss an diese allgemeine und begriffliche Definition von Heterogenität soll sie, anknüpfend an die Ausführungen de „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ von Arndt-Michael Nohl (2010) dargestellt und durch Ausführungen zur Relation unterschiedlicher Milieus zueinander im sozialen Raum der Gesellschaft von Bourdieu (1987, 2009) erweitert werden. A. M. Nohl hat seine Ausführungen an die wissenssoziologischen Überlegungen von Karl Mannheim (1980) und Ralf Bohnsack (2010) angeknüpft und weiterentwickelt….
2.2.1 Zugehörigkeit zu Milieus
Um Heterogenität aus der Perspektive der praxeologischen
Wissenschaftssoziologie heraus zu betrachten, ist es notwendig, zwischen zwei
unterschiedlichen Wissensformen zu unterscheiden: der kommunikativ-generalisierten
und der konjunktiven bzw. handlungspraktischen. (a. a. O. S.19,20)
Kommunikativ-generalisiertes Wissen steht auf wörtlich-begrifflicher Ebene zur
Verfügung und ist milieuübergreifend zugänglich (Nohl 2010, 149f.). Seine
Verwendung setzt eine Distanz gegenüber den umschriebenen Gegenständen und
Sachverhalten sowie Abstraktion voraus. So wissen andere, wenn wir den Begriff
„Buch“ verwenden, dass wir uns auf ein Bündel gebundener Blätter beziehen
die mit Schrift und / oder Bildern bedruckt sind.
Das handlungspraktische Wissen beschreibt hingegen Erfahrungswissen, das
einzelne durch die Beziehung zu anderen Personen und / oder zu Gegenständen
gemacht haben, so beispielweise die Kindheitserfahrung, aus Büchern vorgelesen zu
bekommen. In der je konkreten Situation wird die Erfahrung der Beziehung,
gemeinsam eine Geschichte zu verfolgen, einer „Kontagion“ (Mannheim 1980; 208);
gemacht – einer existentiellen Bezogenheit auf den Gegenstand „Buch“, der diese
bereithält. Derartige Erfahrungen, die Mannheim als „konjunktive“ [verbindende
WW] Erfahrungen (Mannheim 1980, 208) bezeichnet, stehen nicht notwendigerweise
begrifflich reflexiv zur Verfügung. Sie machen jedoch einen wesentlichen Teil
menschlichen Wissens aus und sind zugleich orientierende Grundlage für
Praktiken und Handlungen, in die sie einfließen.
Definition: Dass handlungspraktische Erfahrungswissen ist jenes, das in der
Auseinandersetzung mit der sozialen und materialen Welt gesammelt wird. Aus
dieser Erfahrung ergibt sich ein praktisches Verhältnis der Menschen zur Welt,
das vorbegrifflich zur Verfügung steht. Dieses Praxiswissen steht nicht
unmittelbar reflexiv zur Verfügung (Mannheim 1980,, 205ff.). Das in eigener
Handlungspraxis erworbene Erfahrungswissen wird in Handlungssituationen
reaktiviert.
Folglich fungiert es als „opus operatum und modus operandi“
[vollbrachtes Werk und Handlungsweise WW] (Bourdien 1987, 98, Herv. Im
Original), also aus selbst erfahrener Handlungspraxis heraus wird die Praxis
generiert. Dass Menschen über unterschiedliche Erfahrungen verfügen, zweigt
sich in ihren je verschiedenen alltäglichen Praktiken… u.a. sich ernähren, sich
kleiden, einer Arbeit nachgehen, die Freizeit zu gestalten… (a. a. O. S.20)
Innerhalb pluraler Gesellschaften finden sich unterschiedliche Formen der
Lebenspraxis, die als „Milieus“ (Nohl 2010, 148) bezeichnet werden.
Definition: Milieus stellen Kulturen der praktischen Lebensführung und der
Alltagsgestaltung dar, die auf der Grundlage kollektiver Erfahrungen basieren
(Nohl 2010. 145). Milieus stellen gelebte Praxis innerhalb kollektiver
Zugehörigkeiten dar, welche die Angehörigen durch Einbindung in vergleichbare
homogene, soziale Lebenszusammenhänge erwerben…
Die Zusammenhänge müssen nicht weiter expliziert werden, sie werden verstanden,
da sie in ihrer Existenz verstanden werden, die innerhalb des konjunktiven
Erfahrungsraumes besteht Die Zugehörigkeit zu Milieus kann zwar reflexiv
zugänglich sein, ist es jedoch im Alltag üblicherweise nicht (Bohnsack 2010, 63).
In diese Praxis werden Menschen hineingeboren und sind in sie eingebunden, sie
werden in sie einsozialisiert… (a. a. O. S.21)
Die Mehrdimensionalität von Milieus ergibt sich aus der Überlappung
unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen, wie beispielswiese der geschlechtlichen
Erfahrungsdimension mit der des sozio-kulturellen Milieus…
Milieus sind weder einheitlich noch statisch, sondern vielfältig, dynamisch und
damit wandelbar. Unterschiedliche Erfahrungen überlagern sich… (a. a. O. S.22)
… Milieus sind weder einheitlich noch statisch, sondern vielfältig, dynamisch
und damit wandelbar… Einen Menschen auf die Zugehörigkeit zu nur einem Milieu
zu reduzieren, wäre eine Verkürzung der Realität (Nohl 2010, 174)….(a. a. O.
S.22)
… In den Konjunktionen sind zugleich Distinktionen enthalten, da
Zugehörigkeit zu einem Milieu immer auf Abgrenzung gegenüber anderen Milieus
verweist (Nohl2010, 147) … Anders als konjunktives Erfahrungswissen, das auf
unmittelbarem Verstehen basiert, ist das kommunikative-generalisiere auf Interpretationen
angewiesen. Dort, wo über die Grenzen von Milieus und geteilten konjunktiven
Erfahrungen hinweg kommuniziert wird, wird kommunikatives Versehen notwendig.
Die Verständigung ist darauf angewiesen, dass milieugebundene
Selbstverständlichkeiten überkonjunktiv expliziert werden. Um die Bedeutung von
etwas zu erklären, ist es erforderlich, konkrete Erfahrungen in abstrakte
Sprachlichkeit zu übersetzen. Hierfür bedarf es der Kommunikation auf
explizit-begrifflicher Ebene, die auf Abstraktionen von milieugebundenen
Perspektive angewiesen ist (Nohl 2010, 130).
Neben verbaalen Formen liegt dieses auf der Ebene kultureller Repräsentationen
vor (Nohl 2010, 245ff.) Sie korrespondieren mit kommunikativ-generalisierten
Bedeutungen, sind sprachlicher und in symbolischer sowie nonverbaler Hinsicht
vorhanden… Die Kleidung stellt eine solche kulturelle Repräsentation dar, die
uns Hinweise z.B. auf das Geschlecht einer Person gibt. Zuschreibungsprozesse
finden überwiegend auf der Grundlage kultureller Repräsentationen statt, die
aufgrund der Eindeutigkeit,, mit der sie von allen erkannt werden können und
sollen zugleich von der Vielfalt abstrahieren, die in Milieus anzutreffen ist
(Nohl 2010, 147f.)…. (a. a. O. S.23)
Zugehörigkeit zu Milieus: Milieus bestehen durch die und in den Lebenspraxen
ihrer Angehörigen. Die Aktualisierung und Weitergabe milieuspezifischen Wissens
an die nächste Generation, mittels Sozialisation, erfolgt durch die
Reaktualisierung in Alltagspraktiken…
Liegen keine … Orientierungsmodelle und Vorbilder handlungspraktischen Wissens
vor bzw. sind diese nicht mit den gesellschaftlichen Erwartungen zu
vereinbaren, vor die die nachwachsende Generation gestellt ist, spricht man von
„stark heterogenen Milieus“… Dies kann durch die Erfahrung von Migration oder
durch gesamtgesellschaftliche Umbrüche, wie dem „Fall der Berliner Mauer“
bedingt sein… (a. a. O. S.24)
… Die Differenzierung der Gesellschaft in Milieus steht in Relation zu den
unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten, die zu den gesellschaftlichen Gütern
besehen. Teilhabe- und Partizipationsunterschiede zu gesellschaftlich
angesehenen Gütern sollen i nachfolgenden Abschnitt dargestellt werden.
2.2.2 Milieus im sozialen Raum
Die ausgeführten wissenssoziologischen Überlegungen zum
Milieu werden mit den theoretischen Ausführungen Bourdieus (198; 1998) zum
Habitus verknüpft. Bourdiens empirische Annäherung an den Habitus (1982;1998)
erfolgt über die Kapitalien und ihre Zusammensetzung, die Akteur..e zur
Bewältigung ihres Lebensalltags zur Verfügung stehen. Kapitalkonfigurationen
unterschiedlicher Milieus betrachtet er in Relation zueinander und anhand der
Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die darin enthalten sind. (a. a. O. S.25)
… Der Habitus fungiert somit als Muster, mit dem die Welt betrachtet wird und
in dem gleichzeitig Praktiken begründet werden, ohne jedoch konkrete
Handlungsschritte vorzuschreiben… (Bourdieu 1987, 100ff.)…
Definition: Kapital meint akkumulierte Arbeit, die in materieller oder
immaterieller – also in verinnerlichter (oder inkorporierter) – Hinsicht
vorliegt (Bourdien 1992, 49). Menschen investieren Arbeit und Zeit, um
Kapitalien zu erwerben; dies gilt gleichermaßen für inkorporierte Formen. Der
Besitz von viel Kapital eröffnet mehr Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlich begehrten
Positionen und Lebensstilen, als dies bei wenig Kapital der Fall ist. (a. a. O:
S.26,27)
… Kulturelles Kapital: Kulturelles Kapital kann in drei
unterschiedlichen Formen vorliegen: inkorporiert, objektiviert und
institutionalisiert. Inkorporiertes Kapital ist körpergebunden; d. h. der
Lernaufwand, der zu seiner Aneignung notwendig ist, muss vom Individuum selbst
geleistet werden. Die Investition von Zeit in ein Studium… muss… finanziert
werden… Materielle Träger wie Bücher, Gemälde und Musikinstrumente machen das
objektivierte Kulturkapital aus…[, was] nur erschlossen werden kann, wenn
inkorporiertes Kulturkapital vorliegt, wie z.B. das Instrument spielen zu
können…. [Zum] institutionalisierten Kulturkapital … zählen Bildungszertifikate
und akademische Titel … So kann Zertifikat wie der „Master of Education“
genutzt / getauscht werden, um zunächst ein Referendariats- und später einen
Arbeitsplatz als Lehrer oder Lehrerin … zu erhalten… Inhalte, die sich Menschen
autodidaktisch angeeignet haben, lassen sich nicht auf vergleichbare Weise
transferieren (Bourdien 1992, 61ff.) (a. a. O. S.27)
Soziales Kapital: Diese Kapitalform bezeichnet soziale Netzwerke
zwischen Menschen. Sie können genutzt werden, um materielle und / oder
immaterielle Tauschbeziehungen vorzunehmen. Derartiger Austausch setzt die
gegenseitige Anerkennung der Akteure … voraus… Zum sozialen Kapital zählen also
Freundschaften,, aber auch die Familie oder eine Parteizugehörigkeit…
Ökonomisches Kapital: Zu ökonomischem Kapital zählen neben Geld all jene
Gegenstände und materielle Güter, die jemand besitzt. Hierzu zählen Häuser,
Kunstwerke, Aktien u. v. mehr. … (a. a. O. S.28)
… Symbolisches Kapital: Die vierte Kapitalform, das symbolische
Kapital, unterscheidet sich von den drei anderen dadurch, dass sie ihnen
innewohnt. Symbolisches Kapital stellt die wahrgenommenen und anerkannten
Eigenschafen der drei anderen Kapitalsorten dar. Erst durch das symbolische
Kapital erhalten die anderen Kapitalsorten ihren Wert, ihre Anerkennung. Die
Allgemeine Hochschulreife, das Abitur, die Matura sind anerkannte
Bildungsabschlüsse… Es ist festzuhalten, das die jeweils zur Verfügung
stehenden Kapitalien in Art und Umfang den Habitus von Menschen prägen, d. h.
ihre Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster, mit denen sie die materielle
Welt und das soziale Miteinander betrachten und bewerten und die gleichzeitig
ihre Handlungen in dieser materillen Welt strukturieren…
Soziale Felder und Feld der Macht: … (a. a. O. S.30)
… Bourdien (1993) verbindet die Möglichkeiten, sich an dem Spiel…[um]
Positionen im Feld… zu beteiligen mit dem jeweiligen Kapitalbesitz… (a. a. O.
S.31) …
Feld der Macht[:] Das gesamtgesellschaftliche Feld ist zugleich als ein
Machtfeld konstruiert…, die… [anderen Felder] angesiedelt sind, [bei] unterschiedlichen
Machtpositionen…. Der relative Wert sowie der Tauschwert von Kapitalsorten
steht hier auf dem Spiel…
Das Hervorbringen und Bearbeiten sozialer Differenzen in der Schule ist
ebenfalls eingebunden in Konkurrenz um Macht und Vorteile innerhalb de
Gesellschaft… (a. a. O. S.32)
2.3 Schule als Organisation
Milieu und Organisation: Sozialisation-, Bildungs- und Lernprozesse finden
nicht allein in sozialen Milieus statt, sondern zu einem nicht unerheblichen
Teil in gesellschaftlichen Organisationen wie der Schule…
Organisationen zeichnen sich … durch explizite Regeln aus. Diese sind formal
festgehalten und umfassen Verhaltenserwartungen sowie Rechte und Ressourcen,
die an die Mitglieder – nicht als Einzelpersonen, sondern im Modus sozialer
Rollen –formuliert werden… (Nohl 2007, 66f.)
In der Schule besteht eine formale Regel, wann der Unterricht beginnt. Zu
dieser Zeit haben die Schüler… anwesend zu sein… (a. a. O. S.33)…
Diskriminierung [/] Schule als Ort milieuübergreifender Verständigung und systematischer
Benachteiligung sozialer Gruppen: Sowohl die Strukturen, d.h. die formale
Ebene, als auch die Praktiken in Organisationen bergen Risiken systematischer
Benachteiligungen und Schlechterstellungen von Schülergruppen. Innerhalb der
Organisationen kann die als „Diskriminierung“ bezeichnet werden…. (a. a. O:
S,346) … Wird … Reduktion auf eine Erfahrungsdimension herangezogen, um das
Verhalten und die Praktiken einzelner Personen infrage zu stellen – und entlang
dieser Zuschreibungen auch den Zugang oder die Mitgliedschaft innerhalb einer
Organisation -., so ist das diskriminierend. … durch die Beschreibung der
Gruppe… mit Migrationshintergrund.. wird diese andererseits als solche
... auch konstruiert und – in eindimensionaler Perspektive – betrachtet.
Derartige Identifizierungen schließen andere Milieudimensionen aus, denen die
Schüler… ebenfalls angehören… (a. a. O. S.27) [Andere] Typen systematischer
Schlechterstellung… [sind] Diskriminierung jenseits totaler Identifizierung
durch formale Regeln, informelle Regeln des Organisationsmilieus,
milieugeprägte Umgangsweisen mit formalen Regeln und toleriertes
milieubedingtes Unterleben (Nohl 2010,224ff.) … (a. a. O. S.38)
3 Schule: Institutionelle Bearbeitung und Herstellung
von Differenzen
… 3,1 Funktionen der Schule in der Gesellschaft
Die Schule übernimmt als pädagogische Organisation Aufgaben für die
Gesellschaft: Die Heranführung der je nachwachsenden Generation an das
gesellschaftliche Wissen, an die gesellschaftliche Fähigkeiten und ihre Werte
sowie die Einführung darin sind notwendig, um die Gesellschaft in ihrer
bestehenden Form zu reproduzieren, „Innovation“ verweist auf die
Weiterentwicklung und Verbesserung der Gesellschaft (Fend 2008, 49).
Dieser gesellschaftliche Auftrag konkretisiert sich in … vier Funktionen.. (a.
a. O: S.41) Diese Funktionen können analytisch voneinander getrennt werden; sie
fungieren jedoch im Zusammenhang und stehen im Widerspruch zueinander
(Braun/Wetzel 2 001; Fend 2008, 49ff.)…
Unter den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer zugleich
kapitalistischen und demokratischen Gesellschaft stehen die vier [nachstehend
aufgeführten] Funktionen im Widerspruch zueinander (Braun/Wetzel 20012, 375f.;
Rihm 2006, 398f.).
Enkulturation
Die generationelle Weitergabe kultureller Sinnsysteme … Auch Mathematik
[als] als eine Sprache.., mit der Zusammenhänge erklärt werden…‘
Qualifikation
Die Qualifikationsfunktion beinhaltet das Ziel, der nachwachsenden Generation
entsprechende Kompetenzen zu vermitteln, um am ökonomischen Arbeitsprozess
teilhaben zu können…
Allokation
Die Allokationsfunktion verweist auf gesellschaftlichen
Positionsverteilungen, orientiert am Leistungsprinzip. Individuelle
Leistung wird in Schulnoten ausgedrückt, die in Form von Zeugnissen und
Bildungszertifikaten Übertrittsmöglichkeiten in Ausbildungsverhältnisse und auf
den Arbeitsmarkt eröffnen bzw. verschließen…(Braun/Wetzel 2001, 376).. (a. a.
O. S.42,43)
Legitimation
Die Legitimationsfunktion, die zuweilen auch als „Integrationsfunktion“
bezeichnet wird, fokussiert weniger den Arbeitsmarkt und damit das zukünftige
Sein der Kinder und Jugendlichen als Wirtschaftsbürger…, sondern die politische
Konstitution der Gesellschaft und die Loyalität ihr gegenüber. In
demokratisch organisierten Gesellschaften ist die politische Praxis auf eine
außerparlamentarische Anerkennung ihrer Entscheidungen angewiesen. Dies
beinhaltet auch Formen der Ungerechtigkeit zu akzeptieren, die innerhalb der
Gesellschaft bestehen….
3.2 Differenzbearbeitung durch die Schule im Wandel der Zeiten
… Die Differenzverarbeitung liegt im Widerstreit zwischen
der Sicherung und dem Abbau von Privilegien und den Zugangsmöglichkeiten
zu Bildung (Herrlitz et al. 2009,15)… (a. a. O. S.43)
3.2.1 Umbruch: Lösung des Ständeprinzips und Einführung des
Leistungsprinzips
… Obwohl die allgemeine Schulpflicht in Preußen bereits Ende des 18.Jhrhunderts
eingeführt wurde, setzte sie sich erst wesentlich später flächendeckend durch…
(a. a. O: S.44) …
Abgrenzung
Das einst emanzipatorische Moment des Leistungsprinzips verlor im 19.Jahhundert
insofern an Bedeutung, als die einst dem Adel zugestandenen Privilegien nun
zwar mit dem Bürgertum geteilt, jedoch gleichzeitig zur Abgrenzung gegenüber
dem Proletariat herangezogen wurden. Die Sicherung von Privilegien im Zugang zu
höherer Bildung erfolgte wesentlich entlang der zentralen Bedeutung, die der
Sprache im Kontext von Bildungs- und Lernprozessen beigemessen wurde (Sacher
2004, 16), Aspekte, die auch heute noch… von elementarer Bedeutung sind, wenn
es um Benachteiligungen im Kontext schulisch unterrichtlicher Lern- und
Bildungsmöglichkeiten geht…
Berechtigungswesen
Die höhere Bildung, die an Gymnasien zu erwerben und dem Gedanken der
Allgemeinbildung verpflichtet war, folgte den Ideen des Neuhumanismus, in denen
Pädagogik und Politik eng miteinander verknüpft und mit der Staatsfunktion
gekoppelt waren. Die zukünftigen Staatsbeamten wurden an den Universitäten, die
eine gymnasiale Bildung voraussetzten, ausgebildet. Es setzte sich ein
„Berechtigungswesen“ durch, … das den Zugang über die Universität zum
Staatsdienst eröffnete…
niedere und höhere Bildung
Konträr zu den Prinzipien gymnasialer Bildung sehen die der Volksbildung, die
sich neben Grundlagen in den Kulturtechniken – Lesen, Schreiben und Rechnen –
an religiösen Aspekten orientiert. (a. a. O. S.45,46)
… Mit der Realschulgründung setzte sich das wirtschaftliche Bürgertum damit
durch, höhere Bildungsmöglichkeiten für diejenigen Schüler… zu schaffen, deren
Ziel nicht die Arbeit im Staatsdienst ist, sondern in der Wirtschaft….
Koedukation
Geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen
Da die.. staatsbürgerliche[n] Aufgaben… von Jungen bzw. Männern übernommen
wurden… waren die staatlichen Überlegungen zur Organisation des Schulwesens,
der Lehrpläne und zur Ausbildung des Lehrpersonals auf die soziale Gruppe der
Jungen gerichtet. … Für die Mädchen lagen die Bildungs- und Erziehungsziele …
zur damaligen Zeit wesentlich darin, ihnen jenes Wissen zu vermitteln, das sie
befähigte, gute Ehefrauen und Mütter zu werden. (a. a. O: S.46,47) Die
erstgenannte implizierte die Auseinandersetzung mi höheren Künsten, um dem
Ehemann eine interessante Gesprächspartnerin sein zu können..
Erweiterung der Bildungsmöglichkeiten
Vor dem Hintergrund der Ausbreitung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert wurden
zunehmend Arbeitskräfte gebraucht, und diese konnten nicht mehr allein aus der
Gruppe der Männer rekrutiert werden…
verbunden mit der Frage nach der Leitung von Schulen für höhere
Mädchenausbildung (Faulstich-Wieland 1991, 14 1).
Entlastung der Volksschule
Hilfsschulgründungen:
Erste „Hilfsschulen“, so wurden die Schulen für Kinder und Jugendliche mit
sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt Lernen damals
genannt, wurden Ende des 19. Jahrhunderts gegründet…
Die Ursachen des Scheiterns wurden in einer individuellen Minderbegabung
gesehen, wobei der Anteil der Volkschulen am schulischen Versagen der Schüler …
ausgeblendet wurde (Werning/Lütje-KLose 2012, 35). Die Pathologisierung –
verstanden als die von einer genetisch-biologischen Norm bestehenden Abweichung
– der Andersartigkeit der Schüler… legitimierte, dass nicht die Volksschulen
für sie zuständig waren, sondern die Hilfsschulen. (a. a. O. S.47)
… Der Unterricht wurde individueller und auf die Bedürfnisse der Kinder
abgestimmt gestaltet. Bereits damals gab es Widerstand gegen die Entwicklung
von Hilfsschulen. Er entfaltete sich am Begriff des „Schwachsinns“ und der
Ausblendung des Anteils der Volksschulen am Versagen der Schüler…
(Werner/Lütje-Klose 2012, 2919).
Gesellschaftlich waren zwei Aspekte mit der Einrichtung von Hilfsschulen für
sogenannte „schwachsinnige Kinder“ verbunden: eine Reduzierung der
Sozialausgaben, indem die Schule die Schüler… sozial brauchbar machte, und die
Erzeugung von Loyalität gegenüber staatlicher Obrigkeit. Die
Qualifikationsfunktion der Schule war auf einfache Tätigkeiten des
Arbeitslebens gerichtet… Wie heute auch, kamen die Schüler… der
Hilfsschule aus prekären Lebenssituationen, die von Armut gekennzeichnet waren
… Die Integrationsfunktion der Hilfsschule richtete sich auf die Loyalität der
Schüler… gegenüber der Verteilung von Reichtum in der Gesellschaft… Die
Hilfsschule hatte auch präventive Aufgaben, namentlich der Kriminalität
vorzubeugen (Lütje-KLose 2012, 31f.).
Vergleichbar der Rollenvorstellungen zur Differenzdimension Geschlecht wurden
im Bereich der Hilfsschulbedürftigkeit biologische oder genetische
Voraussetzungen als Gründe für die Einrichtung spezifischer
Bildungsorganisationen und –ziele angeführt. Wenn auch nicht in vergleichbarer
Weise (beim Geschlecht wurde im Gegensatz zur Behinderung nicht von einer
Pathologie ausgegangen), ist dies im Bereich des Sonderschulbesuchs leitendes
Erklärungsprinzip gewesen.
Für Kinder und Jugendliche ohne deutsche Staatsangehörigkeit gab es bis Mitte
der 1960er Jahre keine Schulpflicht…
gemeinsam vierjährige Grundschule
…. Mit der Reichsschulkonferenz ….1920 setzte sich in Deutschland eine
vierjährige Volksschule durch, die von allen Schüler…n besucht werden solle –
mi Ausnahme derjenigen, die in Sonderschulen (so vorhanden) unterrichtet
wurden. (a. a. O. S.48,49) Anschließend besuchten die Schüle… die Oberstufe der
Volksschule. Die Mittelschule oder das Gymnasium…. Die Unterschiede zwischen
den Schulformen drückten und drücken sich in einer Leistungshierarchie aus…
3.2.2
Ausweitung der formalen Gleichheit, bestehende Ungleichheit
Während der Herrschaft der Nationalsozialisten, die sich an einem
hochdistinkten Verständnis von Menschen ausrichtete und an der Schule und ein
Teil der Lehrerschaft aktiv beteiligt waren, war Rassismus das leitende Prinzip
der Bearbeitung von Differenzen im Kontext von Schule und Unterricht… entlang
„völkischer Zugehörigkeit“ … organisiert (Herrlitz er al. 2009, 139f.). Kinder
und Jugendliche mit Behinderungen wurden (teilweise unter Mithilfe der
Hilfsschullehrerschaft) sterilisiert – ein Akt, der durch das Gesetz zu
„Verhütung erbkranken Nachwuchses“ geregelt und „legitimiert“ war
(Ellger-Rüttgardt 2008, 242 ff)….
Die Gestaltung des Schulsystems in der BRD knüpfte wesentlich an die Situation
der Weimarer Republik an… Erhalten geblieben ist damit auch der anhaltende
Widerstreit zwischen der Sicherung von Bildungsprivilegien und der Bemühung der
Realisierung von Chancengleichheit… (a. a. O. S.49)Resümierend kann vorweggenommen
werden, dass die grundlegende Struktur und ein leistungsorientiertes
Berechtigungswesen erhalten geblieben sind, es aber zahlreiche Reformansätze
und –Bemühungen gab und gibt… bis heute – angestoßen durch die PISA-Studie. (a.
a. O: S.49,0) Nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges sahen die alliierten
Besatzungsmächte … grundlegende Veränderungen vor, mit den Zielen der
Entnazifizierung und Demokratisierung. Ihre Vorschläge bezogen sich auf die
schulische Struktur, die zugunsten einer Gesamtschule nach US-amerikanischem
Vorbild (die keine vertikale Gliederung kennt) sowie einer Revision der Inhalte
gestaltet werden sollte…. Trotz des Erhaltes der Mehrgliedrigkeit in Form
von Sonderschule, Hauptschule, Realschule und Gymnasium gab es Angleichungen
zwischen den hierarchisch gegliederten Schultypen… auf der inhaltlichen Ebene,
wie es der Allgemeinbildungsanspruch aller Bildungsgänge zum Ausdruck bringt.
Neben der Strukturierung des Schulsystems ist Ende der 1960er Jahre eine zweite
Diskussionslinie aufgetaucht, welche die Frage nach der Reproduktion sozialer
Ungleichheit durch die Schule aufgreift. (a. a. O. S.50,51) … unter dem
Stichwort der „Ausschöpfung der Begabungsreserven“, … im Zuge der „deutschen
Bildungskatastrophe“(Picht 1965) proklamiert… (Brake/Büchner 2012, 35). …
Breitere Bevölkerungsschichten konnten anspruchsvollere Bildungsgänge besuchen
und länger zur Schule gehen (Herrlitz et al. 2009, 181f.)…. Sogenannte
„Bildungsexpansion“…, in der mehr Schüler… höhere Schulformen besuchen und
abschließen konnten (Brake/(Büchner 2012, 34). Dennoch zeigen die
internationalen Vergleichsstudien, dass Bildung ebenso wie Zugangsmöglichkeiten
zu Bildungsinstitutionen in Deutschland wesentlich von sozialen Merkmalen, also
Milieuzugehörigkeit, abhängig sind – dies gilt gleichermaßen für die Schweiz
(Zahner Rossier/Holzer 2007, 43) wie für Österreich (Schwantner/Schreiner 2010,
40). Die Aufhebung geschlechtshomogener Lerngruppen und Schulen setzte sich in
der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren flächendeckend durch…
allerdings ohne, dass Inhalte, Methode und Didaktik dieser Situation angepasst
wurden (Faulstich-Wieland 1991, 30ff.).
Der Deutsche Bildungsrat formulierte 1972 das erste politische Dokument, das
den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung vorschlug
()Schnell 2003, 78)…. (a. a. O. S. 51)
3.2.3
Entwicklungen und Diskurse seit 2000
PISA-Studie
… Die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 hat Bewegung in die
Diskussionen um die Gestaltung der Schule in der Gesellschaft gebracht…
Die Reformüberlegungen, die im Anschluss hieran gestartet wurden, haben jenen
der 1960er- und 1970er-Jahre gemeinsam, dass Restaurationen bestehender
Strukturen vorgenommen wurden statt grundlegender reformieren… Reformen
…entlang der Begriffe „Schuleffektivität“ und „Schulqualität“, die den Übergang
von einer Input- zu einer Output-Steuerung de Bildungswesens markiert… (Gomolla
2010, 246f.)… Je nach Bundesland eröffnet nicht nur das Gymnasium die
Möglichkeit, Abitur zu machen und einen Hochschulabschluss zu erwerben, sondern
auch eine weitere Schulform der Sekundarschule, wie z. B die Stadtteilschulen
in Hamburg und die Sekundarschulen in Berlin. (a. a. O. S.52) … Van Ackeren und
Klemm konstatieren, „dass in der zerfaserten und entgrenzten
Schulformenlandschaft die historisch verwurzelten und über die Jahrzehnte und
Jahrhunderte weite gegebenen charakteristischen Unterschiede zwischen
‚niederer‘ und ‚höherer‘ Bildung fortleben: ‘Niedere‘ Schulbildung begrenzt
Entwicklungsmöglichkeiten und orientiert auf kognitiv weniger anspruchsvolle
Bildungs- und Berufsabschlüsse.“ (Ackeren/Klemm 2009, 61). Edelstein … ()2006,
127).. hebt zudem hervor, dass sich die PISA-Werte in Deutschland in den
letzten Jahren zwar gebessert haben, also im Bereich des Unterrichts
Entwicklungen zu verzeichnen sind, dies jedoch wesentlich im gymnasialen
Bereich…
Folgende Kritikpunkte werden bei den formalen Regeln des Schulsystems, die
Ungleichheiten zwischen Schülern… begünstigen, gesehen: die vorgesehene frühe
Selektion, die geringe Durchlässigkeit, die terminale Ausrichtung der Schule
sowie die Stützung der Struktur auf die Begabungsideologie. (a. a. O. S.53,54)
…
Hamburger Volksentscheid
Am 18.07.2010 sprachen sich die Bürger… in Hamburg gegen Schulreformen aus,
die von Senat und Bürgerschaft beschlossen waren. Ein zentraler Punkt, über den
in der Stadt diskutiert wurde, war die Verlängerung der Grundschulzeit um zwei
Jahre. Diese Verlängerung wurde abgelehnt.
Die
Aufteilung von Schüler…n in Schulen mit unterschiedlichen Leistungsansprüchen
sowie verschiedenen Bildungs- und Lernzielen erfolgt in Deutschland wie auch in
Österreich im Anschluss an die vierte Klasse… mit oder ohne Berücksichtigung
des Elternwillens und zielt letztlich darauf, leistungshomogene Lerngruppen zu
konstruieren. Dass dies nur unzureichend gelingt und die Idee der
Homogenisierung eine Fiktion ist, beschreiben Klafki und Stöcker bereits 1976
(497). … (a. a. O. S.54)
… Bis zur 10. Klasse haben 25% aller in Deutschland zur Schule gehenden Kinder
und Jugendlichen die Erfahrung des Sitzenbleibens gemacht (Saldern 2007, 43).
In Schulsystemen wie dem deutschen, die terminal (abgebend) organisiert sind,
kommt der Selektion eine große Bedeutung zu. Diese Entscheidung über die
Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft ist allgegenwärtig… Für Deutschland
konstatiert Gomolka (2013), im Unterschied zum angloamerikanischen Sprachraum,
eine starke Orientierung an der Begabungsideologie. Anders als das
Leistungsprinzip dominiert in Deutschland die Vorstellung, dass die Schüler….
aufgrund ihrer biologisch-genetischen Ausstattung unterschiedlich begabt sind…
Die Schule selbst wird in diesem Verständnis nicht als Ort oder Raum
verstanden, der einen Beitrag zur Leistungs- und Lernentwicklung von Schülern…
leisten kann, was einer professionsspezifischen Selbstaufgabe gleichkommt. (a.
a. O. S.55)
3.3 Differenzherstellung und –bearbeitung durch Schule am Beispiel schulischer Leistungsbewertung
..
Dass die Kontrolle mittels Noten funktioniert, steht im Zusammenhang mit der
Knappheit begehrter gesellschaftlicher Positionen, die mittels zertifizierter
Bildungsergebnisse zu erreichen sind bzw. vergeben werden.
… Während Schulnoten zu Beginn der Schulzeit häufig motivierend sind
übernehmen sie zu einem späteren Zeitpunkt auch die Funktion des Aufzeigens
realistischer Perspektiven…. Die kontrollierende Funktion bezieht sich
sowohl auf Schüler… als auch auf Lehrpersonen… (a. a. O. S.56)
Zensuren werden herangezogen, um Prognosen für die weitere Schullaufbahn und
den Unterricht, die Unterrichtsgestaltung zu generieren… (Sacher 2004, 26ff.) …
Formen der Leistungsbewertung: Schulnoten
werden in Deutschland wie auch in Österreich und der Schweiz vorwiegend in
Zifferform vergeben. Bei der Bewertung der Schülerleistung wird in Deutschland
in der Regel ein sechsstufiges System von Noten (Klassen 1 bis 10) oder ein
fünfzehnstufiges Punktesystem (gymnasiale Oberstufe) angewendet… Neben den
Ziffernzeugnissen ist es seit einem Beschluss der KMK (1970, 9) in der
Grundschule möglich, sogenannte „verbale Beurteilungen“ abzugeben. Die
Anregungen hierfür kamen aus der Reformpädagogik… (a. a. O. S.57)
Vergleichsarbeiten
Die Bewertung schulischer Leistung durch Lehrkräfte erfolgt zunehmend durch
vergleichende Schulleistungstests, v.a. im Hinblick auf Kompetenzen
(Fürstenau/Gomolla 2012, 13f.). … Seit Ende der 1990er Jahre werden neben den
Klassenarbeiten zentrale Abschlussprüfungen und Vergleichsarbeiten eingesetzt,
die eine weitere Form der Leistungsbewertung darstellen und im engen Kontext mit
Schuleffektivitätsuntersuchungen darstellen. Letztgenannte Entwicklungen sind
Ausdruck der Deregulierung und Dezentralisierung der Schulsystemsteuerung, die
andererseits mit Monitoring einhergeht (auf ökonomische Kriterien aufbauende
Kontrolle), dem sogenannten „Controlling“… mithilfe standardisierter Testes…
Zielvereinbarungen und Evaluationen sind zwei Instrumente…
Bildungsstandards
Im gleichen Zeitraum wurden auch andere Formen der Leistungsbewertung
(weiter)entwickelt… beispielsweise Portfolios, Lerntagebücher, Kompetenzraster.
Ihnen ist das Ziel gemeinsam, individuelle Lernprozesse zu betrachten und auf
diesen aufbauend, nächste Lern- un d Entwicklungsschritte von Schüler...n und
deren didaktisch-methodische Unterstützung zu planen (Fürstenau/Gomolla 2012,
15)… [wobei] Wissen stärker in einer anwendungsbezogenen Form abgeprüft wird.
Notenvergabe … (a. a. O: S.60)
…Nicht nur die Bedeutung der Einzelnote gegenüber der Gesamtzahl von Noten ist
relativ, auch die Vergabepraxis ist durch Relationierung gekennzeichnet… Die
Legitimation von Noten erfolgt nicht selten über die Zuschreibung von Talent,
Begabung und Anstrengung aufseiten der Schüler… Es gilt in der Regel dann als
nicht mehr ausreichend, wenn eine ganze Lerngruppe in einer konkreten
Leistungsanforderung schlecht bewertet wird…
Auch Schüler… werden in die Notenfindung einbezogen, allerdings
konstatieren Zaborowtski et al. (2011), dass dies wesentlich mit dem Ziel der
Validierung der von der Lehrperson vergebenen Note vorgenommen und so letztlich
auch die Legitimität der Note hergestellt und zugleich unterstrichen wird
(Zaborowski et al. 2011, 350)…. (a. a. O. S.61)
Übungsaufgaben
Aufgabe 2
Das folgende Zitat von Joachim Schröder bezieht sich auf das gegliederte
Schulsystem:
„Denn in das gegliederte Schulsystem ist eine Struktur der Homologie
eingeschrieben, das in oberen und mittleren Milieus verfügbare
kulturelle Kapital korrespondiert mit den in den höheren Schulformen
vermittelten Bildungskapital, und ebenso entspricht das in unteren sozialen Milieus
benötigte dem in den Haupt- und Sonderschulen bereitgestellten
Kulturkapital. Diese homologen Strukturen zeichnen milieustabile Bildungswege
vor und ermöglichen vor allem den Angehörigen der unteren sozialen Milieus nur
in Ausnahmefällen einen gesellschaftlichen Aufstieg.“ (Schröder 2010, 119,
Herv. im Original)
Konkretisieren Sie die Überlegungen des Zitats exemplarisch an formalen
schulischen Strukturen, die dies begünstigen.
Aufgabe 3
Erläutern Sie, warum die Anwendung von Leistungs- und Mindeststandards zu
Benachteiligungen führen kann. (a. a. O. S.62)
4 Heterogene Milieus in Schule und Unterricht
Die Schüler… gehören, ebenso wie die Lehrkräfte einer Schule unterschiedlichen
sozialen Milieus an, aus denen heraus sie Schule und die Erwartungen, welche
die Organisation an ihre Rolle stellt, bearbeiten…. (a. a. O. S.64)
4.1 Sozioökonomische Heterogenität im Kontext von
Schule und Unterricht
Sozio-ökonomische Heterogenität (also Unterschiede im Zugang zu Ressourcen),
über die Milieus verfügen, wird in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften
vorwiegend entlang des Begriffs „soziale Ungleichheit“ diskutiert (Büchner
2003; Butterwegge 2019; Bradil 200; Bauer 2010): soziale Ungleichheit
korrespondiert mi „Bildungsungleichheit“ (Becker/Lauterbach 2008; Krüger et al.
2010), da mittels schulischer Bildung soziale Privilegien gesellschaftlich
legitimiert werden und Chancengleichheit nicht eingelöst wird. Fehlender
Schulerfolg wird nicht selten als mangelnde Begabung oder Motivation den
Schülern.... zugeschrieben bzw. unterstellt und so als Problem individualisiert
(Gomolla 2012, 32f.) Konträr dazu stehen sozialwissenschaftliche und
menschenrechtliche Perspektiven, die Bildungsungleichheit als Ausdruck
gesellschaftlicher Ungleichheit sehen, die durch das Bildungssystem
reproduziert und produziert wird… (a. a. O. S.65)
Lerninhalte
Die Bedeutung schulischen Lernens wird von privilegierten Kindern wesentlich in
den Inhalten gesehen, während die nicht privilegieren diese funktional
verstehen… Nicht Lerninhalte, sondern deren Funktionalität und Tätigkeiten wie
Lesen, Schreiben und Rechnen werden von ihnen thematisiert… (a. a. O. S.76)
… im Gegensatz zu …schweizerischen… Hauptschüler[n]… setzen die Gymnasiast…en
sich kritisch mit den Lehrpersonen und ihrer Unterrichtsgestaltung
auseinander. Die Bedeutung einer zweckfreien Bildung jenseits ökonomischer
Verwertbarkeit zeigt sich… (a. a. O. S.77)
schulische Regeln
… Vertrautheit mit Regeln und Regelverletzung unterscheiden die nicht
privilegierten von den privilegieren Schüler...n…
… Sprache: Die Sprache, die in Schule und Unterricht verwendet wird, mit deren
Hilfe Inhalte und Regeln transportiert werden, stellt einen zweiten Bereich
dar, durch den für Schüler… aus nicht privilegiertem Milieu Nachteile
entstehen…(a. a. O. S.78)
Die milieugeprägten Orientierungen von Bildung und Lernen… finden (häufig) eine
Milieuentsprechung in der Lehrerschaft…
4.2 Geschlechtsbedingte Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht
… neben der sozio-ökonomischen Zugehörigkeit ein zentrales gesellschaftliches Strukturierungsprinzip
… Die binäre Unterscheidung zwischen männlich und weiblich
hat… auch eine vertikale Komponente, die ich z.B. in der
geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zeigt…
Die Differenzdimension soll in diesem Kapitel in Bezug auf schulische Formen
der Benachteiligung vorgestellt werden. Dazu wird zunächst ausgeführt, wie
Geschlecht in einer sozial konstruktivistischen, wissenssoziologisch fundierten
Perspektive verstanden wird… (a. a. O: S.79
4.2.1 Geschlechtsbedingte Heterogenität
Im Alltag wird üblicherweise von einer binären Unterscheidung von Männern und
Frauen, Mädchen und Jungen ausgegangen. Hier soll gezeigt werden, dass
Geschlecht eine Heterogenitätsdimension respektive milieugeprägte Erfahrungen
hervorruft, die in interaktiven Situationen alltäglicher Praxis hergestellt und
bearbeitet werden (West/Zimmermann 1987, 126f.). Geschlecht wird entlang dieser
Überlegungen nicht als eine biologisch determinierte Kategorie verstanden,
sondern als soziale Konstruktion, die mehrdimensional ist… Im engen
Zusammenspiel mit anderen Milieudimensionen, die einander überlappen, leben und
praktizieren Menschen Geschlechtlichkeit und Geschlechtszugehörigkeit.
„doing gender“
Geschlecht ist als ein soziales Konstrukt zu verstehen, verbunden mit dem Ziel
der Überwindung einer einseitigen Betrachtung, wird seit den 1980-er Jahren in
der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft diskutiert (Faulsich-Wieland
2004a, 176). Die Überlegungen sind wesentlich inspiriert vom Ansatz des „doing
gender“ (West/Zimmermann 1987, 126). Dieser unterscheidet zwischen „sex“, „sex
category“ und „gender“, um Geschlecht innerhalb der Gesellschaft zu erklären
(West/Zimmermann 1987, 127). „Doing“ im Zusammenhang mit „gender“ unterstreicht
die Aktivität der Akteure… in dem Prozess….
Sex verweist auf biologische Merkmale, anhand derer Geschlechtlichkeit
definiert wird. Hierzu zählen beispielsweise Chromosomen und sichtbare
Genitalien… (a. a. O-. S.80=
… Mit „sex category“ ist Anwendung der Kategorie „sex“ im Alltag gemeint… da im
Alltag die biologischen Kriterien… nicht sichtbar bzw. erkennbar sind… Aufgrund
im Alltag sichtbarer Merkmale wie Kleidung, Frisur und Schmuck einer Person
wird ihr ein Geschlecht entlang der „sex category“ zugeschrieben… Die Praxis
der Herstellung von Geschlecht wird als „gender“ bezeichnet…[was] in adäquatem,
also geschlechtsangemessenem Verhalten zum Ausdruck kommt… auch in körperlicher
Bewegung. Dies zeigt sich besonders deutlich am Beispiel von Menschen, die an einem
bestimmen Zeitpunkt ihres Lebens entscheiden, ihre geschlechtliche
Zugehörigkeit, gender und/oder ihr biologisches Geschlecht zu wechseln…. (a. a.
O. S.81) … Innerhalb der Gesellschaft wird von einer Konstanz des Geschlechts
ausgegangen… (a. a. O. S.82)
… Die Entwicklung geschlechtliche Identität wird mehr als andere kulturell
konstruierten Differenzen als naturgegeben wahrgenommen… Gemeinsam ist…
verschiedene[n] Kulturen.. , dass sie unterschiedliche Schemata für männlich
und weiblich anbieten. Diese werden in ihren Praktiken hervorgebracht und
repräsentiert…
Geschlecht und Schule: Der Diskurs um Geschlecht in der Schule wird mithilfe
des Begriffs der „Geschlechtergerechtigkeit“ geführt (Budde et al. 2008).
Gerechtigkeit kann in diesem Zusammenhang unterschiedlich verstanden werden;
als Gerechtigkeit für die Geschlechter oder als den Geschlechtern gerecht
werden… (a. a. O. S.84)
4.3 Migrationsbedingte Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht
…Mit den Fragen … beschäftigt sich die Migrationspädagogik bzw, die
interkulturelle Pädagogik… (a. a. O: S.93)
… In Gesellschaften, die durch Ein- und Auswanderung gekennzeichnet sind,
verändern Migrationsprozesse die soziale und die individuelle Wirklichkeit der
Menschen: Die gesellschaftliche Realität dieser Ein- und
Auswanderungsländer wird durch Migration erzeugt und permanent umgestaltet.
Nicht selten gilt Migration für sogenannte „Einwanderungsgesellschaften“ auf
diese Weise als Ausgangspunkt für Modernisierung und Entwicklung (Mecheril
2010, 156). Die Struktur der Gesellschaft wird dadurch heterogener; es kommen
neue Milieus hinzu und neue entwickeln sich (Nohl 2010. 156). Menschen die in
ein Land einwandern, bringen neue Sprachen, Erfahrungen, Wissensstrukturen,
Perspektiven, Erwartungen und Praktiken mit…. Die sogenannte
natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit markiert eine zentrale
Unterscheidungsdimension innerhalb des Diskurses um Migrationsandere. … (a. a.
O. S.95)
… Alle drei Begriffe blenden in der verwendeten aart und Weise aus, dass
innerhalb der nationalen, ethnischen und kulturellen Formen des Zusammenlebens
differenziere Milieus und verschiedenartige soziale Praxen (sich überlappende
Milieus) existieren. ... (a. a. O. S.96) … kompensatorische… Maßnahmen…
seit der… 1970-er Jahre.. richteten sich ausschließlich auf sogenannte
„Ausländerkinder“. Ziel der Maßnahmen war es, die sprachlichen Defizite der
nicht deutschsprachigen Kinder … zu überwinden… Insgesamt waren die
eingeleiteten Maßnahmen damit assimilativ organisiert, da eine
sprachlich Angleichung der „Migrationsanderen“ das Ziel war
(Gogolin/Krüger-Potratz 2006, 100) Die kompensatorischen und
defizitorientierten Unterstützungsleistungen fielen zeitgleich mit den
politischen Bemühungen um eine Rückkehr der „Ausländer…“ in deren sogenannte „Heimat“.
Dennoch [kam es zur] Formierung der „Ausländerpädagogik“ als
erziehungswissenschaftliche Disziplin .. in der pädagogischen Bemühung um
Kompensation … offenbart sich.. die Vorstellung einer (sprachlich) homogenen
Gesellschaft (Krüger-Potratz 200, 100) …
Paradigmenwechsel zur interkulturellen Pädagogik
.. Aus der disziplinären Kritik formierte sich eine Perspektive, die den
„Differenzdiskurs“ (Mecheril 2010, 36) der 1980-er Jahre charakterisiert – die
interkulturelle Pädagogik… der Differenzdiskurs … betrachtete … die zur
Diskussion stehende Migration jetzt als konstitutiven, d.h. elementaren,
Bestandteil des gesellschaftlichen Miteinanders (Gogolin/Krüger-Potratz 2006,
105)…. Kultur als Identität stiftendes und gleichzeitig Differenz
markierendes Moment löste die Sprache bzw. Sprachdefizite als grundlegendes
Unterscheidungskriterium ab. Kultur und kulturelle Identität wurde ein enormer
Einfluss auf Individuen und die Konstitution von Milieus unterstellt…
Anderssein wurde nicht mehr als Defizit, zumal als ein individuelles,
verstanden. Die Kulturen der Migranten… erlangten diskursive Anerkennung. Die
mündete in der Forderung, unterschiedliche Identitäten zu respektieren
(Mecheril 2010a, 56)….
Hierin ist ein emanzipatorisches Moment enthalten, da nicht mehr nur die
Arbeitskraft des Gastarbeiters, sondern der Mensch mit seiner kulturellen
Identität der Bezugspunkt pädagogischer Bemühungen wurde (Nohl 2010,. 56). (a.
a. O. S.98,99). Gedacht wird dies in einem Gesellschaftsmodell einer
multikulturellen, sich als Einwanderungsland verstehenden Gesellschaft. Damit
wird von der Interkulturellen Pädagogik gesellschaftspolitische Kritik geübt
(Krüger-Potratz 2005, 120)… Strukturelle Fragen der Benachteiligung gelangen
verstärkt in den Blick. Differenz wird damit nicht mehr als Defizit gegenüber
einer gedachten Norm, sondern als gleichberechtigt nebeneinanderstehend und als
Anderssein verstanden (Gogolin/Krüger-Potatz 2006, 105)….
Kritisiert wird die Verwendung eines Kulturverständnisses, in dem kulturelle
Aspekte von Andersartigkeit betont werden. Dabei werden andere Formen von
Unterschieden ausgeblendet und der Fokus auf die Kultur gelegt…. (a. a. O.
S.99): Seit den 1990-er Jahren differenziert sich der Diskus innerhalb der
Interkulturellen Pädagogik kontinuierlich weiter. Dies erfolgt entlang
unterschiedlicher theoretischer Bezüge und inhaltlicher Fokusse wie die
wissenssoziologische Perspektive (Nohl 2010), die Diskriminierungsperspektive
(Gomolla/Radtke 2009) und der Verwendung von Rassismus als Analysekategorie (Mecheril/Melter
2010,, 150dd.) sowie religiöser Differenz (Weiße, W. 2010: Religionsunterricht
für alle in einer Schule für alle. Inklusion statt Separation, In: Schwohl, J.,
Sturm T. (Hrsg.): Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung. Widersprüche
und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses. Transkript,
Bielefeld, 193-210 (a. a. O. S.100,176)
Bildungspolitisch markiert die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie
(PISA-Konsortium 2001) einen markanten Punkt für die Weiterentwicklung der
interkulturellen Pädagogik… im Hinblick auf migrationsbedingte Heterogenität …
geht Diskurs…einher mit einer verengten Fokussierung der
Sprachkompetenzen… und führt nicht selten zu Fördermaßnahmen, die einer
defizitorientierten Perspektive zuzuordnen sind (Mecheril 2010a, 58).
Gleichzeitig wird einer breiten Öffentlichkeit deutlich, dass es der deutschen
Schule nicht gelingt, migrationsbedingte Benachteiligung zu überwinden – dies
in anderen Schulsystem und Staaten jedoch erfolgreich(-er) geschieht (Wilmes et
al. 2011, 31). … (a. a. O. S.100) ….
Beteiligung und Zugang zu Bildungsgängen und Fachkompetenzen
… Zwar besuchen mehr Schüler… mit Migrationshintergrund ein Gymnasium (26%) als
Hauptschulen (24%), jedoch ist innerhalb der Schulform der Anteil der
Hauptschüler… mit Migrationshintergrund deutlich höher als derjenige der
Schüler… ohne Migrationshintergrund. Im Gymnasium dreht sich das Bild um… In
den andern Schulformen bzw. Bildungsgängen ist der Anteil vergleichsweise
ausgeglichen (Weishaupt et al. 2012, 254)…
Die Lesevermittlung im Unterricht gelingt der Schule bei Jugendlichen mit
Migrationshintergrund nicht in vergleichbarem Maße wie bei jenen ohne…
(Weishaupt et al. 2012, 254). (a. a. O. S.102) .. Das sozio-ökonomische Milieu
hat mehr Einfluss auf die Lesekompetenz der Gruppe als der
Migrationshintergrund…
Unterrichtliche Praktiken
… Das Schulsystem ist durch kulturelle, nationale und linguale Zentriertheit
gekennzeichnet, die historisch eng an die Herausbildung des Nationalstaates
gekoppelt ist…. (a. a. O. S.103)
Schüler…, deren Familiensprache nicht der Variante des Deutschen entspricht,
die in einer bildungsorientierten Mittelschicht anzutreffen ist, werden…
im Unterricht durch die sprachliche Interaktionsgestaltung, die dies
voraussetzt, benachteiligt (Schütte/Kaiser 2011, 246). (a. a. O. S.104,105)
Verständnis von Unterrichtsfächern
Hawighorst (200/) hat in einer Untersuchung die elterlichen
Bildungsvoraussetzungen mit Migrationshintergrund erfragt. Anhand eines
Fallvergleichs kontrastiert sie sie Vorstellungen, die türkisch- und
russischsprachige Eltern, in beiden Fällen Väter, auf den Mathematikunterricht
und die Bildung ihrer Kinder in Deutschland insgesamt haben.. . Die fachliche
Unterstützung ihrer Kinder können sie nicht immer in dem von ihnen gewünschten
Maße leisten, weder inhaltlich noch finanziell auf dem Wege der Nachhilfe.. (a.
a. O. S.106)
4.4 Behindertenbedingte Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht
Die drei in den vorangegangenen Abschnitten vorgestellten
Heterogenitätsdimensionen werden häufig in einem Zusammenhang mithilfe der im
angloamerikanischen Sprachraum verbreiteten Terminologie „race, class and
gender“ zusammengefasst (deutsch häufig: Ethnizität, soziales Milieu und
Geschlecht), da sie als wesentliche milieuprägende Differenzen aufgefasst
werden. Behinderung hat im Gegensatz dazu keinen vergleichbaren Stellenwert in
der Diskussion. Dies liegt darin begründet, dass der Grunddualismus derart
stark dem Pol der Nichtbehinderung zugeschrieben wird, dass sie im Gegensatz
zur Behinderung als nicht erwähnungswert erscheint (Lutz/Wennig 2001, 19ff.).
Behinderung soll hier dennoch in vergleichbarer Weise wie sozio-ökonomische
Heterogenität dargestellt werden, da die Dimension in ihrer Ausprägung als
sonderpädagogischer Förderbedarf in spezifischer Weise der Logik des
Schulsystems entspricht.
So wurde in den drei vorangegangenen Abschnitten aufgezeigt, dass spezifische
Formen der Milieuzugehörigkeit mit systematischer Benachteiligung im
Schulsystem und im Unterricht einhergehen können – die, sofern sie gravierend
sind als „individueller Förderbedarf“ zusammengefasst werden.
„Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf“ stellt den schulinternen Begriff für
Behinderung dar. Da die Schule und auch der Unterricht wesentlich an der
Herstellung von Behinderung beteiligt sind, wird diese Differenzdimension hier
als vierte vorgestellt und dargestellt.
Behinderung verweist zugleich auf eine vertikale und horizontale Gliederung der
Gesellschaft. Da Behinderung im sozialrechtlichen Sinn auf Einschränkung
verweist, sind die Möglichkeiten des Erwerbs ökonomischen Kapitals
eingeschränkt. Dies führt zu einer vertikalen gesellschaftlichen
Stratifizierung durch die Differenzdimension Behinderung. Horizontal ist sie
insofern, als behinderungsbedingte Erfahrungen als eine Milieudimension gefasst
werden kann, die mit spezifischen Erfahrungen einhergeht.
Behinderung wird hier, ebenso wie die anderen Milieus auch, zunächst aus einer
sozialwissenschaftlichen Perspektive beschrieben und damit als milieugebundene
Erfahrung verstanden (Tervooren 2000). Im schulischen Kontext bedeutet
Behinderung, dass die normative Erwartung, schulische Leistungen zu erbringen,
nicht erfüllt wird (Weisser 2005 , 151). Die Institution regiert hiermit mit
der Vergabe von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf bzw. von besonderem
Bildungsbedarf… (a. a. O. S.107,108)
4.4.1 Behinderungsbedingte Heterogenität
… Eine grundlegende Unterscheidung besteht zwischen
einem medizinischen und einem sozialwissenschaftlichen Verständnis von
Behinderung.
Im medizinischen Modell wird Behinderung als Schädigung verstanden.
Folglich stellt sie eine Dysfunktion dar, die auf eine Anomalie, auf
eine Abweichung zurückgeführt wird. Die Schädigung des Körpers kann in
organischer, mechanischer oder psychischer Hinsicht vorliegen….
Mit dieser Zuschreibungsform von Behinderung als einer Schädigung geht das
Risiko der Verkürzung von Behinderung als einem individuellen Merkmal einher,
was zu einer Reduktion des Individuums auf seine Schädigung führt (Hirschberg
2003, 172ff.)
sozialwissenschaftliches Model
In den „Disability Studies“ und in Teilen der Behindertenpädagogik wurde diese
Kritik aufgegriffen und ein soziales Modell von Behinderung entwickelt.
Gesellschaftliche Benachteiligungen und Resonanzen auf eine Schädigung
beschreiben das, was hier mit Behinderung gemeint ist… Sind Partizipation und
Teilhabe von Menschen behindert, so liegt die Ursache nicht in der attestierten
Schädigung, sondern in der Bearbeitung der Schädigung in menschlichen
Interaktionen und Praktiken…. (a. a. O. S.108) … Die Unterscheidung zwischen
medizinischem und sozialem Paradigma der Betrachtung von Behinderung wird
sowohl innerhalb des erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurses als auch
innerhalb der Disability Studies weiter differenziert. Die Bezugnahme auf
unterschiedliche Metatheorien, wie z.B. dem dialektischen Materialismus oder
der Systemtheorie, spiegelt eine differenzierte sonderpädagogische Betrachtung
und Definition von Behinderung wider, basierend auf einem Diskurs mit
verschiedenen, miteinander streitenden Positionen (Überblick: Bleidick 1999;
Moser/Sasse 2008; Vernooij 2007)….
Disability Studies
„Disasbility Studies“ ist eine Forschungsrichtung, die Behinderung als soziale
Konstruktion begreift und sich sozialwissenschaftlich mit dem Phänomen der
Behinderung auseinandersetzt. Die Perspektive, die Behinderung als Ergebnis
sozial konstruierter Barrieren versteht, geht wesentlich auf Analysen und
Erkenntnisse der Behindertenbewegung zurück (bifos e. V. 2012). (a. a. O.
S.109)
… Eine solche Definition ist die der Weltgesundheitsorganisation (WHO) … in der
ICF, der „International Classification of Functioning, Disability, and Health“,
die Funktionsfähigkeit und ihre Einschränkung hinsichtlich der Körperfunktionen
und –strukturen sowie die Aktivitäten und Partizipation von den Kontextfaktoren
der Umwelt und der konkreten Person… beinhaltet.. (a. a. O. S.110) …
Mithilfe der WHO lässt sich eine eingeschränkte körperliche Funktion, wie ds
Fehlen der beine erst dann als ein Problem beschreiben, wenn hierdurch einzelne
menschliche Aktivitäten nicht ausgeführt werden können und /oder dadurch die
Teilhabe oder Partizipation eingeschränkt sind…. Zudem wird an der ICF
kritisiert, dass die Klassifizierung von Behinderung entlang negativer
Beschreibungen erfolgt, die zur Stützung eines Normalitäts- und
Abweichungskonstruktes beitragen… (Hirschberg 2003, 1777f.) Aus einem sozialen
und wissenssoziologischen Verständnis heraus können Erfahrungen der Behinderung
auch entlang eines Milieus konzipiert werden. … Der …Gruppe von Menschen… , die
gehörlos ist und sich als eine sprachlich-kulturelle Minderheit, im Sinne eines
Milieus versteht… ist ihrer Hörschädigung bewusst, jedoch reflektiert sie diese
nicht als ein Defizit, sondern als ein sprachliches Problem, das im Kontakt mit
der hörenden Gesellschaft auftritt (Galic 2005. 156)… Durch den Einsatz
respektive den Erwerb der Gebärdensprache aufseiten seiner Lehrerin kann die
Behinderung in der Interaktion zwischen Anton und ihr als bildungsrelevanter
Bezugsperson überwunden werden… Die Frage der Behinderung kann also verstanden
werden als eine Frage der Passung zwischen Interaktionspartnern…. …
(a. a. O. S.112) …
Die Organisation Schule operiert nicht mit dem Begriff der Behinderung, sondern
mit dem des „sonderpädagogischen Unterstützungsangebotes… (a. a. O. S.113) …
Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma
… Im Kontext der Schule hat die Ausstellung eines sonderpädagogischen
Förderbedarfs eine Erhöhung der Ressourcen zur Folge, in sächlicher wie in
personeller Hinsicht. Die Vergabe von Ressourcen ist finanziell und rechtlich
an die Zuweisung des sonderpädagogischen Förderbedarfs gebunden. Dies wird als
„Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ bezeichnet. Da zusätzliche Ressourcen nur dann
gewährt werden, wenn ein Schüler… das Etikett des sonderpädagogischen
Förderbedarfs trägt (Bleidick et al. 1995, 256). Der sonderpädagogische
Förderbedarf markiert somit in erster Linie eine institutionell-administrative
Kategorie der Ressourcenzuweisung, unabhängig davon, ob diese in integrativen
oder sonderschulischen Settings realisiert wird. … (a. a. O. S.114)
… Die oben eingeführte Unterscheidung zwischen sonderpädagogischem
Förderbedarf, dessen Ursache in der Kombination aus Schädigung und Behinderung
liegt, und demjenigen, der wesentlich aus sozialen Kontexten und fehlenden
Passungsverhältnissen zwischen Schule und Kind/Jugendlicher resultiert, wird
unterschiedlich häufig attestiert. Während die erstgenannte Form etwa 30% des
Anteils der Schülergruppe mit sonderpädagogischem Bedarf ausmacht, ist die
zweite Gruppe mit 70% deutlich größer. Statistisch betrachtet, hängen
Behinderung und sozio-ökonomische Milieuzugehörigkeit zusammen. Je niedriger
die Milieu- oder Schichtzugehörigkeit ist, desto höher ist die
Wahrscheinlichkeit einer Behinderung. Die gilt für alle Behinderungsformen
gleichermaßen (Cloerkes 2007, 90)… (a. a. O. S.117)
4.4.2 Benachteiligung und Schlechterstellung in Schule
und Unterricht…
Beteiligung und Zugang zu Schulischen Bildungsgängen… (a. a. O.S.117)
Aus Abbildung 12 [hier ausgelassen] wird ersichtlich, dass im Jahr 2010 in
Deutschland 4% der Schüler… sonderpädagogischen Förderbedarf erhielten. Erfasst
sind in der Datengrundlage nur jene Schüler… , die diese Förderung in einer Sonderschule
bekamen… Abbildung 13 [hier ausgelassen] zeigt, dass über die
Förderschwerpunkte hinweg die Anzahl von Schüler…n insgesamt, die separativ
beschult wurden, die Anzahl der integrativen Schüler …n deutlich übersteigt.
Sie liegt bei gut 80%. Während Schüler…n mit sonderpädagogischem Förderbedarf
im Bereich „Geistige Entwicklung“ kaum integrativ beschult werden, liegt der
Anteil der Schüler…n mit Förderbedarf im Förderschwerpunkt ES (emotionale und
soziale Entwicklung) mit etwas über 40% am höchsten. Die Zahlen beschreiben das
Jahr 2010… (a. a. O. S.118) …
Die KMK-Empfehlungen von 1994 ermöglichen die reguläre Einführung schulischer
Integration, die als eine Beschulungsvariante neben anderen gehandhabt wird,
und greifen damit die bereits praktizierte und in den meisten Bundesländern
verankerte Integration auf. (a. a. O. S.119)
… Die „Integrationspädagogik“ hat sich aus der Sonder- respektive der
Behindertenpädagogik heraus entwickelt…
Die KMK-Empfehlungen von 2011 proklamieren die schulische
Bearbeitung von Behinderung als eine Querschnittsaufgabe, die alle
Bildungseinrichtungen betrifft…. prinzipiell an jedem schulischen Ort…
Der sonderpädagogische Förderbedarf wird abgelöst von „sonderpädagogischen
Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangeboten“, die Schüler…n erhalten… (a.
a. O. S.120)
… Die Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung wird von politischer
Seite damit als Aufgabe der allgemeinen Schule verstanden.
Sonderpädagogische Fördermaßnahmen setzen innerhalb dieses Rahmens an und sollen
sich am Subsidiaritätsprinzip orientieren, d.h. die allgemeine Pädagogik
unterstützen, also keine eigene darstellten…
Unterrichtliche Kulturen der Benachteiligung
… Einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen erhalten
Schüler…n, deren schulische Leistungen durchschnittlich zwei Jahre unter dem
Niveau der Klassenstufe liegen, die sie ihrem Alter nach besuchen sollen. Im
Verständnis einer kompensatorischen Erziehung ist es Aufgabe dieser
Sonderschulform … sog. „Förderschulen“… z.B. „Lernhilfeschule“ oder „Schule für
Lernbehinderte“…. , dass sich der relative Abstand von zwei Jahren gegenüber
den altersgleichen Peers nicht erhöht – ohne die Erwartung zu haben, das der
Rückstand durch die Sonderschulung gänzlich aufgehoben wird (Wocken 2000, 495):
(a. a. O. S.121)
Vor diesem Hintergrund hat Wocken (200) in einer Untersuchung schulische
Leistungen von Schüler…n, die die 7. Klasse einer Förderschule besuchen, mit
denen von Schüler…n der 5. Klasse an Regelschulen verglichen. Die Schüler…n der
Förderschulen schneiden in ihren rechtschriftlichen Leistungen deutlich
schlechter ab als diejenigen, die eine Hauptschule besuchen. Während erstere in
der „Hamburger Schreibprobe“ (HSP) einen Prozentrang von 2,2 erreichen (d.h.
97,8% aller Schüler…n sind besser als sie), erreicht die zweite
Gruppe
einen
Prozentrang von 13. Diese Ergebnisse zeigen, dass der Unterricht in der
Sonderschule nicht zur Kompensation im gewünschten Sinn führt, sondern
sogar zur Vergrößerung des Leistungsabstands zwischen den Schüler…n
beiträgt (Wocken 2000, 496).
Wockens Befunde erhärten sich in einer zweiten Untersuchung, der eine
Erweiterung auf andere Bundesländer zugrunde liegt. Die Ergebnisse zeigen, dass
die Anzahl der Jahre, die eine Förderschule besucht wurde, mit schlechten
Schulleistungen und niedriger Intelligenz korrelieren. Die Begründung hierfür
sieht der Autor der Studien über die Tatsache hinausgehend, dass die
schwächsten Schüler...n bereits früh in eine Sonderschule überwiesen werden, da
sie besonders früher erkannt werden; er sieht die Begründung auch im Milieu
der Förderschule selbst. Schulleistungen sind immer auch ein Produkt der
Schule. Die in vieler Hinsicht fehlende Heterogenität in der Förderschule,
v. a. in sozialer und leistungsbezogener Hinsicht, erklärt dies (Wocken 2005,
58 ff.).
Dass Schüler…n mit sonderpädagogischem Förderbedarf in heterogenen Lerngruppen
erfolgreicher Lernen, belegen zahlreiche Untersuchungen der
Integrationspädagogik (Bless/Kronig 1999; Wocken 2005). Zugleich lernen die
nicht behinderten Kinder in Integrationsklassen nicht weniger als in
Regelklassen ohne Schüler…n mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Freyerer
1998)….
Eckart u. a. (2011) zeigen in einer Langzeitstudie, die in der Schweiz
durchgeführt wurde, dass Schüler…n mit sonderpädagogischem Förderbedarf
im Bereich Lernen, die integrativ beschult wurden, im Gegensatz zu separativ
beschulen einen besseren Zugang zu Ausbildungsplätzen haben und über größere
soziale Netzwerke verfügen. (a. a. O. S.122,123) Diese sozialen Netze entstehen
wesentlich über die berufliche Tätigkeit und umfassen soziales Kapital in Form
von Bekanntschaften mi Menschen, die ebenfalls einer Arbeit nachgehen. Die
Benachteiligungen, die mit dem Besuch einer Sonderschule verbunden sind, wirken
deutlich über die Schulzeit hinaus (Eckart et al. 2011, 111).
Benachteiligungen entlang von Behinderung bzw. von sonderpädagogischem
Förderbedarf sind im aktuellen Schulsystem mehr als die anderen
Differenzdimensionen durch eindimensionale Zuschreibungen hervorgebracht, die
durch die Schule und formal vorgenommen werden. Wenn die Zuschreibung
„sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf“ über die ressourcenvergebende Instanz
hinaus in unterrichtlichen Interaktionen herangezogen wird, wird auch ihr
diskriminierendes Potenzial in diesen hereingenommen. Neben der
organisatorischen Schlechterstellung der Schüler…n, die für diese Gruppe
besonders gilt, sind auch Schlechterstellungen dieser sozialen Gruppe auf
unterrichtlicher Ebene zu verzeichnen.
Zusammenfassung
… Gemeinsam ist den Benachteiligungen der vier Dimensionen ( vgl. S.12:
entlang der sozialen Gruppen sozio-ökonomischer, migrationsbedingter,
geschlechterbedingter und behinderungsbedingter Heterogenität] , dass sie
wesentlich durch milieubedingte Interpretationen formaler Regeln und durch das
Organisationsmilieu hervorgebracht werden; Umgangsformen, mit denen die
Schüler…n der genannten sozialen Gruppen nicht in vergleichbarer Weise vertraut
sind, so dass eine Passung zwischen ihnen und den Anforderungen zuweilen
misslingt. Diese Nichtpassung läuft Gefahr, individualisiert zu werden, als
persönlicher Bildungsmisserfolg einzelnen zugeschrieben und interpretiert zu werden,
anstatt als schulisch-unterrichtliche Bildungsungleichheiten hinterfragt zu
werden. (a. a. O. S.123)
4.5 Übungsaufgaben
… Aufgabe 2
Geschlecht wird im Alltag häufig als „dichotome Differenz“ beschrieben. Nennen
sie sozialwissenschaftliche Argumente, die diese Position infrage stellen.
Aufgabe 3
Beschreiben Sie den Paradigmenwechsel von der „Ausländerpädagogik“ zur
„Interkulturellen Pädagogik anhand zentraler, sich unterscheidender Bezüge,
Aufgabe 4
Erläutern Sie die wesentlichen Unterschiede zwischen einem medizinischen und
einem sozialwissenschaftlichen Modell von Behinderung, indem Sie diese einander
gegenüberstellen…. (a. a. O. S.124)
3. Inklusion als Perspektive schulischer und unterrichtlicher Bearbeitung von Heterogenität … (a. a. O. D.126)
5.1. Inklusion als pädagogisches Rahmenkonzept … (a. a. O. S.127)
.. Inklusion im Kontext von Schule und Unterricht im Sinne
der UN-BRK ist normativ ausgerichtet und, wie die Konvention insgesamt, an den
(allgemein) menschenrechtlichen Prämissen entlang der spezifischen Perspektive
von Menschen mit Behinderung konkretisiert, sich also nicht an der Bevorzugung
einer bestimmten Personengruppe orientiert (Bielefeldt 2010, 66) Die
Ratifizierung… eröffnet… die Möglichkeit zur Gestaltung einer Schule für
alle… (a. a. O. S.128)
Für die Organisation Schule bedeutet die, konkret zu erkennen, wo und wie in
ihr und durch sie Exklusion und Marginalisierung realisiert werden und wie
diese zu überwinden wären…. An dieser expliziten Verschiebung der
Ausrichtung von Adressatenorientierung bin zu einer situationsbezogenen
Perspektive auf Inklusions- und auch Exklusionsprozesse vonseiten der
Inklusionspädagogen und darauf bezogener Forschung knüpft auch die Forderung
nach der Loslösung von der Kategorie der „special educational needs“
(Moore/Slee 2012, 237ff.), dem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf an. (a.
a. O. S.129,130)
Behinderung wird als „Behinderung von Teilhabe- und
Partizipationsmöglichkeiten“ verstanden, eine Perspektive, die in einer
materialistischen Behindertenpädagogi9k eine theoretische Fundierung hat
(Feuser 2006; Wocken 2009).Bezogen auf den Unterricht und die Schule ist zu
fragen, wo und wie Schüler…n die Teilhabe am unterrichtlichen Geschehen, an den
unterrichtlichen Lehrintensionen er Lehrkräfte und der Partizipation an Lern-
und Bildungsprozessen behindert werden, z.B. weil nicht an ihre biografischen
und milieugeprägten Vorerfahrungen angeknüpft wird…
Inklusive Strukturen und Praktiken entwickeln: Ansatzpunkte für derartige
Perspektiven umfassen die Ebene expliziter und formaler Regeln der Schule: D.h.
wesentlich ihre Strukturen – die daran gebundene Mitgliedschaft zu
Bildungsgängen – und die schul- und unterrichtsspezifischen Regeln, die
informellen Regeln (mit denen im schulischen/unterrichtlichen
Organisationsmilieu Differenzen bearbeitet werden), die milieugeprägten
Interpretationen der formalen Regeln und das (tolerierte) Unterleben der
pädagogischen Organisation… Dabei ist ihre Einbindung in das gesellschaftliche
Feld konkurrierender Interessen zu reflektieren. (a. a. O. S.130)
[Unterleben als eingeschobenen Begriffserläuterung]
Die formalen Regeln können unterlaufen werden, indem sie nicht beachtet werden,
ihnen also zuwider gehandelt wird. Dies ist beispielweise der Fall, wenn die
Schüler…n im Unterricht miteinander Gespräche führe, während die
Lehrperson der gesamten Lerngruppe etwas erklärt…. (a. a. O. S.34)
.. Auf formaler Ebene zählt hierzu die Überwindung dichotomer und binärer
Beschreibungen von Kindern und Jugendlichen, die in Praxen eindimensionaler
Milieuzuschreibungen zu finden sind (wie beispielsweise vorhandener /nicht
vorhandener „sonderpädagogischer Förderbedarf“ (Kron 2005,83); ebenso die
schulischen Strukturen, welche die Schüler…n zu einer stetigen Legitimation ihrer
Mitgliedschaft herausfordern, die… in den Dimensionen Leistung und Verhalten
kontrolliert wird…
Eine Schule für alle schließt Exklusion aus Bildungsgängen aus und damit
konjunktive Erfahrungen des Verlustes von Mitgliedschaft und/oder Zugehörigkeit
zu einem Bildungsgang und einer Lerngruppe aufseiten der Schüler…n sowie deren
stetige Überprüfung durch die Lehrer…n . Die Einschränkung der
Begegnungsmöglichkeiten von Menschen, die sich in milieuspezifischer Hinsicht
voneinander unterscheiden, würde ebenfalls überwunden werden können und
Ansatzpunkte zur Verständigung eröffnen… (a. a. O. S.131) … Die Ausrichtung der
Lehrbemühungen auf einen Teil der Lerngruppe („die schwächeren“, die „stärkeren
Schüler…n) stellt einen Bearbeitungstyp dar. Die Ergebnisse, die auf der
Grundlage v on Gruppendiskussionen gewonnen wurden, belegen, dass dies häufig
mit dem Ziel der Homogenisierung der Lerngruppe erfolgt. Mit anderen Worten:
Ein Teil der Klasse erhält durch das unterrichtliche Angebot vonseiten der
Lehrpersonen auf die abgestimmte Lehrangebote, ein anderer Teil erhält keine;
dieser Teil der Klasse wird im Lernen behindert (Sturm 2013; 2012b).
Inklusive Praktiken entwickeln
Innerhalb der Schule gilt es dann, die formalen Regeln, die durch die
Organisation vorgegeben sind (innerhalb der Einzelschule wie auch des
Unterrichts, derart zu konkretisieren, dass sie nicht mehr diskriminierend
wirken. Dies umfasst das potenziell tolerierte Unterlebender Schule, mögliche
milieugeprägte Interpretationen der Regeln (wie z.B. die unreflektierte
Verwendung des Deutschen in seiner Variante der Bildungssprache) sowie das
Organisationsmilieu selbst einschließlich seiner unterrichtsfachspezifischen
Dimensionen…. (a. a. O. S.132) …
Akzeptanz und Reflexion
Auf konjunktiver Ebene wird Inklusion als geteilte Erfahrung des reflektierten
und egalitären Miteianders von Differenz und Gemeinsamkeit dann erkennbar, wenn
kollektiv geteilte Praktiken realisiert werden, die die Inklusion aller
Beteiligten vorsehen, indem sie ihre Differenzen reflektieren und egalitär
nebeneinanderstellen sowie ihnen zugeschriebene Hierarchien reflektieren. Dies
umfasst die Akzeptanz der Widersprüchlichkeit von Egalität und Hierarchie sowie
ihre reflektierte Bearbeitung…. Es erzeugt Momente der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit,
die lernend und bildend überwunden werden können; sie sind dabei unterhalb der
prinzipiellen Inklusion als Differenzen reflektierenden Miteinander angesiedelt
und beziehen sich auf Einzelsituationen. (a. a. O. S.133,134) So diese in einer
Balance gehalten, situativ auf Kooperationskontexte bezogen sind und nicht
permanent die gleichen Schüler…n inkludiert und exkludiert werden, muss dies
nicht mit systematischen Benachteiligungen einhergehen. Vielmehr stellt der
kontinuierliche Wechsel einen Möglichkeitsrahmens für milieureflektierte Lern-
und Bildungsprozesse dar (Wagner-Willi/Sturm 2012). Exkludierende Modi dieser
Art können im Unterricht besehen, wenn eine (spontane) Schülergruppe, die sich
innerhalb des unterrichtlichen Geschehens auf eine bestimmte Art mit einer
Aufgabenstellung befasst, keine weiteren Schüler…n zulässt. Die Gruppe
exkludiert in diesem gedachten Fall einen Schüler, sodass dessen Teilhabe an
dem konkreten Geschehen nicht möglich ist. Exkludierende Praktiken wie solche
sind nicht per se marginalisierend. Sie werden es erst dann, wenn die
Differenzen zwischen einzelnen Schüler…n und/oder Schülergruppen nicht
thematisiert und kommunikativ bearbeitet werden….
Die Schule bietet als gesellschaftliche und pädagogische Organisation einen
Ort, an dem in und durch Bildung Benachteiligungen abgebaut werden können; das
kann durch pädagogische Handlungen unterstützt und eröffnet werden… (a. a. O.
S.134)
Diskrepanzerfahrungen sowie lernende und bildende Auseinandersetzung …
Diskrepanzerfahrungen bestehen dort, wo es Passungsschwierigkeiten zwischen dem
bisherigen Wissen und Können und/(oder Praktiken der Bewältigung des
Alltags gibt. Sie sind Teil von Lernprozessen, ohne dass letztgenannte eine
zwingende Folge sind… (a. a. O. S.136) …
Lernen stellt die Antwort auf die erfahrene Diskrepanz dar, dass die eigenen
Wissensbestände nicht ausreichen, um ein auftauchendes Problem zu bearbeiten,
ohne dass sich durch den Lernprozess die grundlegende Erfahrung und die Sicht
auf Gegenstände verändern…
Bildung wird als qualitative Weiterentwicklung und/oder Änderung der damit
zusammenhängenden Praktiken des konjunktiven Erfahrungswissens und seiner
reflexiven Durchdringung verstanden. Bildungsprozesse qualitativer
Entwicklungen beschreiben sogenannte „Transformationen“, die sich in der
praktischen Lebensführung niederschlagen (Rosenberg 2011, 51). … Eine
Neuausrichtung ist auf die Anerkennung durch andere angewiesen…
Diskrepanzerfahrungen können dann (und dort) gemacht werden, wenn erfahrbar
wird, dass gleiche Ziele durch unterschiedliche Praktiken erreicht werden
können. (a. a. O. S.137,138)
3.3 Diagnostik: systematische Annäherung an
Lernprozesse …
Definition:
Pädagogische Diagnostik ist ein Erkenntnisprozess, mit dessen Hilfe Differenzen
mit dem Ziel der Unterstützung von Lern- und Bildungsprozessen erkannt und
erklärt werden (Schuck 20078, 147). … (a. a. O. S.141) …
Die jeweilige Qualität der Auseinandersetzungen des Lernenden mit einem
Lerngegenstand, „die Zone der aktuellen Entwicklung“, wird ebenso wie „die Zone
der nächsten Entwicklung“ (Vygotzkij 2002, 326) in diagnostischen Prozessen
ermittelt…. (a. a. O. S.145)
Die drei Teilschritte Mikroanalyse, gegenstandsbezogene Handlungsanalyse und
Biografieanalyse werden in der Interpretation und bei der Beschreibung von
Lern- und Bildungszielen miteinander verbunden… (a. a. O. S.146)
… Mikroanalyse erfasst individuell verwendete Regelhaftigkeiten und
Zugriffsweisen auf einen Gegenstand (z.B. Mathematik, Sprache u. a.) … (a. a.
O. S.143)
5.4 Unterricht: Anforderungen an die Initiierung von
Bildungs- und Lernprozessen …
5.4.1 Didaktik – eine Definition
Der erziehungswissenschaftliche Diskursstrang, der sich mit Unterricht befasst,
ist die Didaktik. Die Bezeichnung kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet
so viel wie lehren, unterweisen, klar auseinandersetzen und belehrt werden
(Lehner 2009, 10) Das im 17. Jahrhundert entwickelte Verständnis von Didaktik
als planvolles Lehren und Lernen hat sich bis heue in der schulpädagogischen
Diskussion gehalten und lässt sich mit der folgenden Definition Wiaters (2010)
zuspitzen: (a. a. O. S.147)
Definition
Didaktik ist als eine Wissenschaft zu verstehen, die „sich mit Situationen,
Prozessen und Phänomenen des Unterrichtens und Lernens in der Schule befasst, um
sie „auf den Begriff“ zu bringen, zu beschreiben, zu strukturieren, und ihre
zentralen Faktoren zu bestimmen, um sie erklärbar und möglichst
prognostizierbar zu machen, um aus ihnen Handlungs- und Orientierungswissen für
die Unterrichtspraxis zu gewinnen, um an ihnen zu erkennen, wie sich
theoretisch/wissenschaftlich gesichertes Wissen über Lehr-Lern-Prozesse unter
konkreten Unterrichtsbedingungen nutzbringend aktivieren lässt“ (Wiater 2010,
9). … (a. a. O. S.148)
5.4.2 Unterricht als Milieu … von Lehrkräften….
Der fachliche Gegenstand… Pädagogisches Wissen und Können beschreibt eine
weitere Dimension, die für das Unterrichtsmilieu von Lehrpersonen prägend ist.
(a. a. O. S.149,150)
Definition
Das Unterrichtsmilieu stellt eine spezifische Kultur der Interaktion dar, in
der vonseiten der Lehrpersonen Bildungs- und Lernprozesse entlang ausgewählter
Fachgegenstände aufseiten der Schüler….n initiiert und unterstützt werden.
Unterrichtsmilieus werden in interaktiven Praktiken hervorgebracht, in welchen
die unterschiedlichen sozialen Milieus der Beteiligten und ihre rollen- und
organisationsbezogene Mitgliedschaft der Schule einfließen.
… (Wagner-Willi/Sturm 2012) … (a. a. O. S.150)
.. Durch die… fachwissenschaftliche Komponente erhöht sich das Risiko
systematischer Benachteiligung sozialer Gruppen. Und zwar insbesondere für
jene, die sich in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen nicht auf
milieuspezifisches Verstehen verlassen können und auf einen interpretativen
Zugang angewiesen sind…
Das Selbstverständnis des Faches und seine Bedeutung im schulischen
Fächerkanon, also v. a. auch in Relation zu anderen Fächern, ist Teil des
Fachmilieus… Für die Ebene formaler Regeln in der Schule verweist dies darauf,
dass sowohl in der vorgegebenen schulischen Fächerkombination innerhalb eines
Bildungsgangs als auch in den spezifischen Unterrichts- und Lerngegenständen,
die als Bildungs- und Rahmenpläne in der Schule präsent sind, soziale
Geschichte eingebunden ist und zwar in Form (fach-) milieuspezifischer
Bedeutungen. Dies kann über die Verhaltensebenen hinaus zur Schlechterstellung
sozialer Gruppen führen. Die milieugeprägte Interpretation von Regeln erfolgt
dort, wo Milieus dominieren und ihren Umgang mit einer Regel , einer
Interpretation, durchsetzen. (a. a. O. S.151,152)
Mathematische Sprache und mathematischer Habitus
So argumentiert Zevenbergen (2001) auf der Grundlage Bourdieus für den
Mathematikunterricht, dass dieser zum Ziel habe, in die mathematische Sprache
und einen mathematischen Habitus einzuführen. Die Schüler…n sollen mathematisch
sprechen können und so Teil des mathematischen Milieus werden. Sprache wird
dabei von ihr über die linguistische Ebene hinaus als Habitus verstanden (Zevenbergen
2001, 209)… (a. a. O. S.152)
… In der Didaktik wird zwischen Bildungsinhalt, dem potentiellen Wissen und
Können, und dem Bildungsgehalt unterschieden. Der Bildungsgehalt ist
individuell zu betrachten, aus der jeweiligen Perspektive des Lernenden… (a. a.
O. S.153)
Gemeinsamkeiten und Differenzen erkennen
Die pädagogisch-unterrichtliche Herausforderung besteht darin, die
milieugeprägten Erfahrungen und das gegenstandbezogene Wissen und Können der
Schüler...n hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und ihrer Unterschiede zu
erkennen. Diese so aufzugreifen, um Lern- und Bildungsprozesse zu initiieren,
macht den Kern didaktischen Handelns in gruppenförmig organisierten Lehr-
und-Lernsituationen aus…. Bei der pädagogischen Adressierung einer Gruppe, die
mit einer Vermittlungsintention einhergeht, ist es notwendig, bestehende Gemeinsamkeiten
und zugleich Differenzen heranzuziehen, um Diskrepanzerfahrungen als
potentielle Lehranlässe zu schaffen. Fehlt einzelnen Schüler…n der Lerngruppe
die Möglichkeit bzw. gelingt es ihnen nicht, an Vertrautes anzuknüpfen, so sind
sie aus dem Interaktionszusammenhang ausgeschlossen… (a. a. O. S.154) …
Grundwiderspruch der Lehrtätigkeit
.. Die Überlegung, alle am unterrichtlichen Geschehen partizipieren zu lassen,
ein inklusives Setting zu schaffen, liegt konträr zu der schulischen Regel,
Situationen zu schaffen, an denen nicht alle vergleichbar partizipieren können,
um eine Bewertung im Modus besser/schlechter (nachträglich) legitimieren zu
können. Es wird also Marginalisierung durch Nicht-lernen-Können provoziert….
Die egalitäre Differenz zwischen unterschiedlichen Positionen oder Lernständen
wird durch die formale Vorgabe von Zielen, die als erreicht/nicht erreicht
bewertet werden, in hierarchische Relationen überführt… (a. a. O. S.156) …
Das Ziel der Konzeption eines inklusiven Unterrichts im Kontext der
aufgezeigten Widersprüchlichkeit liegt darin, dass die Individuen die
unterrichtlichen Inhalte als für sich bedeutsam und relevant erleben, um
Diskrepanzen gegenüber ihren aktuellen Vorstellungen erfahren zu können, die in
Lern- und Entwicklungsprozesse münden. Ein didaktischer Ansatz, der dies
aufgreift, ist Feusers Theorie der „Kooperation am gemeinsamen Gegenstand“
(Feuser 1995, 1q78ff.).
… Der gemeinsame Gegenstand ist nicht das konkrete Material, das im Unterricht
erarbeitet und bearbeitet wird, sondern die kulturelle Tätigkeit bzw.
der kulturelle Gegenstand in seiner gesellschaftlichen Bedeutung; diese
sogenannte „Sachstruktur“ eines Gegenstandes ist aufzuschlüsseln, um die ihr
innewohnende Lerngelegenheit zu erkennen. (a. a. O. S.157,158)
Lernen und Bildung ermöglichen und behindern
Der Grundwiderspruch der Lehrtätigkeit korrespondiert auf der Ebene der
Organisation Schule, formuliert in ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag: eine
ermöglichende sowie eine behindernde Perspektive auf Lernen und Bildung. So
können Schule und Unterricht ermöglichen, dass unterschiedliche Perspektiven
kennengelernt und ausprobiert werden. Zugleich stellen diese Perspektiven aber
eine Auswahl und damit eine Einschränkung dar, die als legitim und besser
anerkannt werden. Die letztgenannte Seite der Schule irritiert die
gleichberechtigte Anerkennung verschiedener Lebenspraxen und damit verbundenen
gesellschaftlichen Perspektiven. Eine gleichberechtigte Betrachtung der
Unterschiede kann insofern als eingeschränkt betrachtet werden, da bereits
legitime Interpretationen und Vorgaben besehen, die Ausdruck milieugeprägter
Interpretationen sind.
Vielfalt von Milieudimensionen kennenlernen
Die pädagogische Zielsetzung, den Schüler…n das Kennenlernen
unterschiedlicher Perspektiven zu ermöglichen, ohne eine assimilative
(angleichende) Übernahme dieser Perspektiven zu erwarten, steht im Widerspruch
zu einer schulisch legitimierten Perspektive egalitärer Differenz. Das betrifft
das didaktische Handeln in besonderem Maße, das es sowohl präskriptiv als auch
legitimierend eingesetzt wird und so Perspektiven transportiert, zugleich aber
offen für Lernprozesse bleiben muss. Die Grenzen einer unterrichtlichen wie
auch diagnostisch gestützten Planbarkeit werden hier unmittelbar berührt. (a. a.
O. S.180,181)
Offener Unterricht
Um einen situativen Wechsel zwischen Differenzbezügen zu haben, bieten sich
einige Unterrichtsformen eher an als andere. Hierzu zählt der „Offene
Unterricht“. Offener Unterricht knüpft an reformpädagogische Traditionen an und
umfasst Varianten wie Projektunterricht, Freiarbeit und Stationslernen
(Werning/Lütje-Klose 2012, 157f.). … die jeweiligen Verhaltensformen, die eine
Unterrichtsform und –gestaltung an die Schüler…n stellt, müssen von ihnen
zunächst erworben werden. Dies gilt gleichermaßen für den sogenannten
„Frontalunterricht“ wie für andere Formen auch….
Kooperatives Arbeiten … (a. a. O. S.162)
… „Gemeinsam“ verweist hier nicht unbedingt darauf, unmittelbar gemeinsam tätig
zu werden, aber Entscheidungen und Praktiken des Teampartners…in mitzutragen
und gegenüber den zu Erziehenden zu vertreten… Teamarbeit kann dabei ein
positives Vorbild für Schüler…n dafür sein, wie Erwachsene mit Heterogenität
und Differenzen umgehen, wie sie Konflikte bearbeiten und welche (grundlegenden)
Vorstellungen des Zusammenlebens sie teilen… (a. a. O. S.163)
… Die kommunikative Bearbeitung schulischer und gesellschaftlicher Widersprüche
kann ein Unterrichtsthema sein, und zugleich Gegenstand in spezifischen
Inhalten… indem Differenz thematisiert wird. Die aufgezeigten pädagogischen
Orientierungen dürfen aktuelle gesellschaftliche und schulpolitische
Entwicklungen nicht ausblenden, welche die Realisierung von Inklusion
erschweren und/oder behindern und parallel zur Stärkung des Abbaus von Diskriminierung
durch die Politik der UN-BRK
stattfinden (Slee 2006, 160). So hat schulische Inklusion als Orientierung
derzeit keine vergleichbare legitime Basis wie sie beispielsweise
Bildungsstandards haben, die sich an kognitivem und explizitem Wissen sowie
Kompetenzen orientieren und zunehmend als bildungspolitische
Steuerungsinstrumente Verwendung finden. Die Steuerungsformen sind wesentlich
an marktwirtschaftlichen Prinzipien ausgerichtet (Gomolla 2010, 265ff.; Herz
2010a, 31; Moser 2011, 362f.; Werning 2012, 49). Zudem werden die regulierenden
Möglichkeiten des Staates, Ausgleich und Integration zu unterstützen, durch
globale und ökonomische Entwicklungen zunehmend eingeschränkt. Die Schule als
pädagogische Organisation innerhalb der Gesellschaft, von der eben diese
Aufgaben erwartet werden, ist hiervon ebenso betroffen, wie jene
Bildungsorganisationen, die mi der Lehrerbildung betraut sind (Sturm
2012a, 297f.) …
Zusammenfassung
… Im gegenwärtigen Schulsystem und Unterrichtswesen bestehen diverse, miteinander
verbundene Strukturen und Praktiken, die zu Behinderungen von Lernprozessen
führen und soziale Gruppen benachteiligen. Sie stehen jenen gegenüber, die an
egalitärer Differenz orientiert sind. (a. a. O. S.164,165) … Inklusion ist die
geteilte Erfahrung in Verbindung mit dem Wissen über ein reflektiertes und
egalitäres Miteinander von Differenz und Gemeinsamkeit. … (a. a. O. S.165)
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