INKLUSION – QUELLENVERZEICHNIS II

 

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Cornelius Breyer, Günther Fohrer, Walter Goschler, Manuela Hager, Christina Kießling und Christoph Ratz (Hgg.)
Sonderpädagogik und Inklusion

Reihe: Lehren und Lernen mit behinderten Menschen Band 26
ATHENA-Verlag 46047 Oberhausen  1. Auflage 2012
ISBN 978-3-89896-483-8
Für Erhard Fischer zum 60. Geburtstag

Vorwort

Fast zeitgleich wurde in Deutschland in den 1970er-Jahren einerseits das Sonderschulsystem flächendeckend etabliert, andererseits aber auch ernst zu nehmende Forderungen nach Integration erhoben. Auf der einen Seite sucht die Intensität, mit der das sonderpädagogische System zwischenzeitlich in Deutschland ausgebaut wurde, weltweit ihresgleichen. Auf der anderen Seite stehen heute weitreichende Bemühungen, die UN-Konvention über die Rechte der Menschen mit Behinderungen durch geeignete Bildungsangebote inklusiv umzugestalten – regional allerdings mit sehr unterschiedlicher Ausprägung.
Die inklusive Entwicklung des Bildungssystems steht politisch und moralisch außer Frage. Dennoch tauchen bei ihrer Umsetzung Fragen auf…. Kann das erreichte Niveau sonderpädagogischer Förderung in inklusiven Institutionen gehalten werden? Ist eine inklusive Gruppenzusammensetzung tatsächlich uneingeschränkt im Interesse der Kinder oder Erwachsenen mit Behinderungen?...
Prof. Dr. Erhard Fischer… hat sich für den Ausbau der Integration eingesetzt und wurde in den wissenschaftlichen Beirat des Bayerischen Landtags berufen…
Der Bereich „Allgemeine Fragen“ umfasst grundlegende Beiträge. Der zweite Bereich umfasst Themen zu Unterricht und Schule. Schließlich finden sich im dritten Bereich Überlegungen mit und von benachbarten Disziplinen..  Würzburg… Die Herausgeber

Andreas Möckel
Heilerziehung, Bildsamkeit und Inklusion in der Geschichte der Heilpädagogik

…Immer wieder sprachen sich Pädagogen in den vergangenen 200 Jahren für eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern in Schulen aus… Die Ursprünge der Heilpädagogik lassen sich als Ursprünge der Pädagogik verstehen (Möckel 1988,24f.)

Deutsche UNESCO-Kommission e. V. Leitlinien für die Bildungspolitik
www.unesco.de/4162.html v.28.09.2012

Bisher war es so, wie Heinrich Hanselmann es 1932 in seiner Antrittsvorlesung sagte.
>So geht denn ziemlich vom Beginn unseres Volksschulwesens an bis in unsere Zeit jener breiten Heerstraße der Bildung ein schmaler Pfad parallel, dem man den sehr mißverständlichen Namen Heilpädagogik gegeben hat<. (Hanselmann 1932, 2)

Wenn man von der Forderung der Inklusion ausgeht, muss sich das insofern radikal ändern. Es muss in Zukunft eine viel stärkere gegenseitige Empathie aufgebracht werden als bisher. Immer wieder sprachen sich Pädagogen in den vergangenen 200 Jahren für eine gemeinsame Erziehung von behinderten und nicht behinderten Kindern in Schulen aus…. Jetzt soll die Konsequenz daraus gezogen werden, dass Heilerziehung Pädagogik ist >und nichts anderes< *
 *… Zitat Paul Moor Heilpädagogik, S.273

Heilpädagogik kann zeigen, wo Erziehung ihren Sitz im Leben hat. Ob das auch mit dem Begriff einer Idee der Bildsamkeit zu leisten ist, hängt davon ab, wie „Bildsamkeit“ verstanden wird. (a. a. O. S.13,14)
Tenorth bietet eine dreigliedrige Periodisierung der Geschichte der Heilerziehung an. Die erste Phase beginnt in der Aufklärung, und zwar mit der Wirkung der Idee der Bildsamkeit. Tenorth zeigt das an den ersten Instituten für den Unterricht und der Erziehung taubstummer und blinder Kinder auf. Die zweite Phase setzt er mit dem Beginn der „Selbstdestruktion“ der Idee der Bildsamkeit an. Die dritte Phase. So kann man hinzufügen, beginnt nach dem zweiten Weltkrieg. Die Idee der Bildsamkeit macht sich in den Forderungen von Integration und Inklusion neu geltend…

Die Selbstdestruktion der Idee der Bildsamkeit

Tenorth sieht in der ersten Phase der Heilerziehung ein wirksames System am Werk. Die Natur des Kindes und die Erfindungsgabe der Erzieher, beide verklammert durch die Idee der Bildsamkeit, waren ein wirksames System, das jedoch bewusst sein musste, wenn es wirksam bleiben wollte. Der Systemcharakter der heilerzieherischen Methoden sei jedoch zerfallen, und die „Einheit einer antizipierenden, in der universalen Idee der Bildsamkeit begründeten Technologie habe sich aufgelöst (Tenorth 2006, 313). An die Stelle der in der ersten Phase der Heilerziehung erfolgreichen“ Antizipation einer besseren Zukunft“ (ebd.) seien „die Klassifikation der schlechten Gegenwart des Klienten“ (ebd.) und eine berufsständige professionelle Technik“ (ebd.) getreten. Die Pädagogen… Mitte des 19. Jahrhunderts…… bezogen sich mehr und mehr auf Medizin, Psychologie und Psychiatrie… an den „Erfahrungen mit der Technologie“ (ebd.)… ferner an den Veränderungen im Verständnis der Natur des pädagogischen Klienten“ (ebd.). (a. a. O. S.14)
„Der Raum der Möglichkeiten, den die Pädagogen antizipiere und für die Gestaltung ihrer eigenen Welt nutzen können, verändert sich, nicht mehr die hypothetische, sondern die gegebene Welt und ein anderes Bild der Natur regieren die Konstruktion der pädagogischen Realität.“ (ebd.514)
… Die einseitige Bevorzugung der sog. „deutschen Methode“ (der „lautsprachlichen“ Bildung Taubstummer) belege den Wandel in den Grundannahmen, und Tenorth zitierte Friedrich Diesterweg, der gegen Friedrich Moritz Hill gewandt zu bedenken gab, nur fortgesetzte Versuche könnten entscheiden, ob die Gestenmethode oder die Sprachausbildung besser sei… (a. a. O. S.15)
Diesterweg, wie bereits Herbarth, akzeptierten die Psychologie als Instanz, die zeigen könne, wo die „Grenzen der Bildsamkeit“ lägen.
„anders als die pädagogischen Innovateure um 1800 verlagerte er mit diesem Denken über die Natur als ‚Anlage‘ die Anstrengung des Pädagogen von der ‚Erfindung‘ und der Technologie weg zur Diagnose und Beobachtung des Gegebenen hin,“ (ebd.)…
Gut pädagogisch gelte zwar immer noch die Prämisse, dass sich die Individualität erst „im unmittelbaren Vollzug der Erziehung erweisen müsse. Das geschehe jetzt aber nicht mehr „konstruierend, sondern die Natur beobachtend, nicht mehr antizipierend, sondern konstatierend.“ (ebd.) Die wesentliche Referenzliteratur, aus der „der Pädagoge im Allgemeinen und auch der Pädagoge der Behinderten“ den Begriff der „Individualität“ des Kindes bezögen, sei nicht anthropologisch, sondern im Kontext der „Pathologie“ des Kindes entwickelt. „Begabung“, „Anlagen“, „Talent“, „Gene“, aber auch „Schwachsinn“ oder „jugendlicher Verbrecher“ steckten dafür den Rahmen ab… (ebd.517) Ein Zeichen dafür sieht Tenorth in der neu gegründeten Zeitschrift Die Kinderfehler und in Strümpels Arbeiten zur Pädagogischen Pathologie:
„wie immer die Details dieser neuen pädagogischen Lehre vom Menschen aussehen, nicht die universale Idee der Bildsamkeit regiert jetzt, sondern erneut ein Mechanismus, indem Bildsamkeit nicht generell unterstellt, sondern klienttypisch zu- oder  abgesprochen wird.“… (ebd. 518)… (a. a. O. S.16) „Statt der Anregungskraft der pädagogischen Welt“ regiert nunmehr „die Homogenität von Lerngruppen“. Das zweite Beispiel ist die „Hilfsschule“, die auch von Sonderpädagogen erfunden worden sei, „um in der Regelschule frei von Kindern arbeiten zu können, die als ‚lernbehindert‘ gelten!“ (ebd.) Die Hilfsschule rückt bei Tenorth in den Zusammenhang mit den „endlosen Listen und Klassifikationen, in denen ‚Kinderfehler‘ aufgearbeitet werden“ (ebd.519)
Der Niedergang der Idee der Bildsamkeit zeige sich am schärfsten in der Pädagogik zur Erziehung geistig behinderter Kinder und in ihrer Hilflosigkeit gegenüber den Verstiegenheiten der Rassenlehre… „nicht allein ein nationales,… sondern offenbar zuerst ein professionelles Syndrom gewesen sei (ebd.). … auch… in der Schweiz…“ (a. a. O. S.17)
Die Entwicklungspsychologie habe sich von der scheinbar unauflöslich fixierten Dualität von Anlage und Umwelt getrennt und zu einer handlungsbezogenen Theorie des „Begabens“ gefunden…. Exemplarisch ablesbar an  der Karriere des Begriffs Eigensinn (ebd.) Noch um die des Jahrhundertwende als Makel des Kindes, also ein ‚Kinderfehler‘, sei Eigensinn in der schulkritischen Literatur  seit Hermann Hesse zum Indiz für das Drama des begabten Kindes geworden, das sich gegen den bornierten Lehrer und die subjektbedrohende Schule behaupte…

Der Wandel des Begriffs der Bildsamkeit

…Ideen verkehren sich unter Umständen, wenn sie umgesetzt werden, in ihr Gegenteil. Für den Missbrauch politischer und religiöser Ideen gibt es in der Geschichte Europas genügend Beispiele. Auch die Idee einer allgemeinen öffentlichen Erziehung in Schulen ist nicht eindeutig, sondern hat – trotz der Behauptung „allgemein“ zu sein – unterschiedliche, separierende Schultypen entstehen lassen. „Transformation“ und „Deformation“, zwei Begriffe, die Tenorth ebenfalls gebraucht, treffen Vorgänge, wie unerwünschte Nebenwirkungen, Wandel zum Schlechteren, Verfall, Vernachlässigung oder Missverstand wohl besser als „Selbstdestruktion“….

Es ist keine Schule für gehörlose oder für blinde Kinder bekannt, die im Namen der Bildsamkeit gegründet worden wäre…. (a. a. O. S.18,19)
Universell war in der Aufklärungszeit die Idee der Humanität, in deren Namen die angeborenen und unveräußerlichen Menschenrechte verkündet wurden. Im Namen der Humanität entstanden Emanzipationsbewegungen, zum Beispiel der Juden, der leibeigenen Bauern, der Taubstummen und Blinden…
Bildsamkeit, wie Herbart später formulierte, erhält nur dann eine auf die Erziehung aller Kinder ab zielende Bedeutung, wenn die Idee der Humanität als Imperativ hinzugedacht wird.
Ideen aber können wachsen. Ein Beispiel dafür ist die Verkündigung der Menschenrechte im Jahre 1776. Die Verfassungsväter der Vereinigten Staaten dachten damals nicht an eine Emanzipation der Sklaven…
Dieser Prozess kommt erst zu einem Abschluss, wenn die Erziehungswissenschaft ihre Grundbegriffe so weit elaboriert, dass sie jedes beliebige soziale Thema untersuchen kann, bei dem „Ungleichzeitigkeit“ in „Gleichzeitigkeit“ überführt werden muss…(a. a. O. S.19) Der Wille zum gesellschaftlichen Aufstieg und zur Fortbildung ging seit 1948($) Hand in Hand. Die Achillesferse der Lehrer wie der Sonderschullehrer war ihr unkritisches Vertrauen in die Universitäts-Wissenschaften. Sie suchten Anlehnung, wo sie diese fanden – und das war nicht immer bei der Pädagogik… Bezeichnend dafür ist der Umgang der Schulen für Gehörlose mit schwerhörigen Kindern und die Schulen für Blinde mit sehbehinderten. In beiden Fällen kamen die Anstöße zur Verbesserung der Unterrichtsorganisation von medizinischen Untersuchungen… (a. a. O. S.22) Die heilpädagogischen Anstalten des 18. Jahrhunderts markieren eine Wende. Sie nahm die von Heinrich Roth eingeleitete Wende in der Pädagogik nach dem Zweiten Weltkrieg vorweg. So verstand auch Wilhelm Flitner die Anfänge der Heilerziehung (Flitner 1957); doch er führte sie nicht auf genuin pädagogische Leistungen zurück, sondern auf die Naturwissenschaften…
Ihr fehlte beispielsweise der Gedanke des Negativen Wissens und seiner Funktion in der Erziehung (Oser/Spychiger 2005) oder die Einsicht in die Ambivalenz der Erziehungsgewalt, wie Tenorth das am Begriff des „Kindesfehlers“ Eigensinn zeigt…
…auch die Selbstheilungskräfte sind erst spät in den Blick der Erziehungswissenschaft gekommen… Was Tenorth mit „Erfindung“ in der Heilerziehung bezeichnet, ist die Entdeckung der Kompensation, die eine wichtige heilpädagogische und zugleich allgemein pädagogische Kategorie ist. Der Ausfall eines Sinnes macht den Unterricht nicht unmöglich… (a. a. O. S.23)

Tenorth, Heinz-Elmar (2006); Bildsamkeit und Behinderung – Anspruch, Wirksamkeit und Destruktion einer Idee. In: Raphael, Lutz / Tenorth. H.-E. (Hrsg.) Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. München Oldenbourg Verlag, 497 – 520

 

Walther Dreher
Winds of Change – Inklusion wollen

1 Prolog
Szene eins:
Der Festtag ist gekommen und mit ihm auch Gäste, die Erhard Fischer, den Jubilar, lange nicht mehr gesehen haben… Er kennt die Spannungspole >Integration und Qualität sonderpädagogischer  Förderung<… (a. a. O. S.27)

2. Winds of change
2.1 Wind-Stärke
Mein Text entlehnt den Titel „Winds of change“ einem Beitrag von Otto Scharmer, dessen Ansatz den roten Faden der nachfolgenden Ausführungen bildet. In der Einleitung der >Theorie U< schreibt Scharmer (2009,22):>…Die Krise unserer Zeit ist nicht einfach die Krise einer einzelnen Führungskraft, eines Landes, einer Weltregion. Die Krise unserer Zeit offenbart das Sterben einer veralteten sozialen Struktur und einer bestimmten Art des Denkens, einer überkommenen Art der Institutionalisierung und des gemeinsamen Hervorbringens von sozialen Formen<. ..

2.2. Wind-Richtung
So stürmisch und revolutionär geht es in den Erziehungsfeldern nicht zu…
Was haben Sonderpädagogik und Inklusion mit einem >family tree of non violent resistance and grassrouts leadership<, also einem Genogramm gewaltfreien Widerstands und basisorientierter Führungskonzepte zu tun?...  Vielleicht sind es auch hier >veraltete soziale Strukturen< und eine bestimmte >Art des Denkens<, die verhindern, aufrichtig nach einem gemeinsamen Hervorbringen von neuen Formen des Gemeinwesens im weitesten Sinne zu suchen. (a. a. O. S.28,29)
Denk-Richtungen, welche die UN-Behindertenrechtskonvention (BRK) anzeigt und Denk-Spuren, die sie legt, sind unübersehbar…
In einfacher Sprache [dies ist ein Fachterminus, nach welcher künftig Unterrichtsinhalte in Sätze gepackt werden, die beinahe nur noch Subjekt und Prädikat umfassen!! WW] finden wir den Hinweis so ausgedrückt: >Alle Menschen haben Menschen-Rechte. Menschen mit behinderten haben die gleichen Rechte wie alle anderen Menschen. Überall auf dieser Welt. Oft geht es behinderten Menschen schlechter als Menschen ohne Behinderungen. Die meisten Behinderten leben in sehr armen Ländern. In vielen Ländern haben behinderte Menschen weniger Rechte. Sie werden schlechter behandelt… Die UN ist eine große Gruppe. Sie macht für die ganze Welt Politik. In der UN arbeiten fast alle Länder der Welt mit.. Die UN hat genau nachgedacht… (Beauftragter der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen o.D.,2) …. Und> sie hat behinderte Menschen gefragt<, kommen in >einfacher Sprache< mehr zur Geltung als im offiziellen Text… Viele behinderte Menschen aus der ganzen Welt haben an dem Gesetz mitgearbeitet. Sie wissen am besten: welche Rechte brauchen wir? (a. a. O. S.29) … Die BRK muss als Meilenstein erkannt werden, der zugleich Grenzstein ist zum Übergang in eine neue Welt, die gänzlich verschieden ist von dem, was aus der Vergangenheit kommt, das heißt, der Geist der BRK weht nicht in eine Richtung, die höchstens einen Weg des >Mehr vom Gleichen< markieren möchte…
Aufgabe… [der] Behindertenpädagogik… den >Menschen<, den wir als >behindert< bezeichnen – mit neuen Augen zu sehen…
Georg Feuser [:] >Es müsse ‚eigentlich‘ ein ureigenstes pädagogisches Anliegen sein, sich auf das zu orientieren, was aus einem Menschen seiner Möglichkeit nach werden kann und nicht auf das, wie er uns gerade erscheint, dass er sei…< (Feuser 1996,22)
2007 haben sich junge Menschen – Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf aus Schulen des Sekundarschulbereichs, beruflichen Bildungsgängen und Hochschulen – in Portugal getroffen und in der Erklärung von Lissabon formuliert, wie sie ihre Rechte sehen… Zur >Inklusiven Bildung< äußerten sie ihre Meinung unter anderem dahingehend, sich frei entscheiden zu können, welche Schulen sie besuchen wollen… (a. a. O. S.30) >Wir sehen viele Vorteile in der inklusiven Bildung. Wir erwerben mehr soziale Kompetenzen, wir haben ein besseres Erfahrungsspektrum, wir lernen, in der normalen Welt zurecht zu kommen; wir müssen Freunde und Freundinnen mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf finden und mit ihnen interagieren – von der inklusiven Bildung profitieren nicht nur wir, sondern auch alle anderen< (European Agency for Development in special Needs Education 2007)….
…. jüngst die Diskussion um >Gemeinsames Forschen mit Menschen mit intellektuellen Behinderung< (Buchner/Koenig/Schuppener 2011)… Warum muss eine Mutter 2011 noch Folgendes unterstreichen: >Wir Eltern müssen als Vorreiter leisten, unsere Kinder als defizitäre Bündel zu betrachten, wie es uns gerne vermittelt wird< (Fröhlich-Primus 2011,2).
Noch immer scheint zu stimmen: >Wer für sein Kind Inklusion will, muss kämpfen< (Dreher/Lyra 2008, 233), wenngleich die BRK darlegt, >…. >dass das Verständnis von Behinderung sich ständig weiterentwickelt und dass Behinderung aus der Wechselwirkung zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren entsteht…< (UNO 2006,Präampel >e<) … Fazit der Jugendlichen von Lissabon…:>Unsere Zukunft müssen wir uns selbst aufbauen. Wir müssen Barrieren in uns selbst und in anderen Menschen ohne Behinderung abbauen. Wir müssen über unsere Behinderung hinauswachen – dann wird die Welt uns besser akzeptieren< (European Agency for Development in Special Needs Education 2007). (a. a. O. S.31,32) Diese Zukunft, der Abbau der Barrieren und das über sich selbst hinauswachsen gelingt nur, wenn die Betroffenen und die ihnen als >Experten von außen< begegnen, die Vergangenheit hinter sich lassen und >von der Zukunft her< wahrzunehmen beginnen und damit eine Form von >Behinderung< eliminieren, die Scharmer mit >intentional violence< bezeichnet (Scharmer 2011). Dazu kommentiert Lyra (2010,34 f.) >Dieser Gewalttypus bezieht sich auf die Tatsache, dass es einigen Menschen – die oft als Randgruppen eingeordnet werden – nicht ermöglicht wird, von ihrem höchsten Zukunftspotenzial her betrachtet und wahrgenommen zu werden…<

2.3 Gegen-Wind … (a. a. O. S.32)
Der blinde Fleck
… – vielleicht sogar eine Vielzahl von Flecken – Verstärkt wird dieser >blind spot< dadurch, dass er ein solcher des kollektiven Bewusstseins ist…. Diese Blindheit lässt die >inner source dimension< – den Quell-Ort für Entdeckungen, Erkenntnisse, neue Ideen, für neue Potenziale, neue Bedeutungen, neuen Sinn, neue Energie, neues Wolleben –, lässt den Ort eines zukünftigen möglichen Ganzen, nicht wahrnehmen. Von hier gewinnt Artikel 8 der BRK (UNO 2006), gern zitiert, aber wenig beachtet und geachtet, eine ungeahnte Sprengkraft…
Mit dem Terminus >Presencing< – einer Wortschöpfung aus >Presence< und >Sencing< – wird eine Zeitdimension erfasst, welche >auf die Ankunft einer in der Zukunft liegenden Möglichkeit Bezug nimmt… (a. a. O: S.33)  ..  Für…(Cox 2008) stellt sich der >blind spot< des kreativen Werdens doppelbödig dar. Er unterscheidet eine >passive< von einer >aktiven< Blindheit. Der Grund für letztere liegt für ihn im >Ego< des Menschen. Das Ego, im Unterschied zum authentischen Selbst, schafft Räume der Abwesenheit, des >Absencing<, wie sie auch vielfältig im Verstehens- und Annäherungsprozess der BRK zu entdecken sind…. Das Ego ist eng mit  unserer Verletzbarkeit verknüpft. Da wir uns dies nicht eingestehen wollen, versuchen wir ihr zu entgehen durch Urteilen (voice of judgement), lassen uns von unserer Furchtsamkeit (voice of fear) leiten und wehren uns gegenüber anderen mittels Zynismus (voice of cynisme). >Unserer egos werden die wichtigsten Manager unserer Strategien, durch die wir Kämpfe und Erniedrigungen in zwischenmenschlichen Erfahrungsfeldern zu vermeiden suchen. Im Kern stellen Egos eine Sammlung interpersonaler Überlebensstrategien dar< (ebd.)…Wir können dieses >Ego< in seinen Aktionen beobachten lernen, es loslassen, um dann unser >authentisches Selbst<, unser >bestes Selbst< erscheinen, auftauchen zu lassen…
Die spannungsvolle Polarität von >presencing< und >absencing< mit einem Fokus auf letzteren lässt sich exemplarisch am Modell der Kompetenzzentren sonderpädagogischer Förderung in NRW ablesen. Zu Beginn der Etablierung dieser Zentren im Sinne des Ausbaus von Förderschulen zu Kompetenzzentren für sonderpädagogische Förderung gem. §20 Abs.5 Schulgesetz NRW, sind wir 2007 in einem Beitrag zum Kongress >Eine Schule für alle< davon ausgegangen, dass der Impuls >Eine Schule für alle< den Impuls >Kompetenzzentren< verstärkt, und umgekehrt…  sich – im Dialog miteinander und im Hören aufeinander – zu einer neuen Bildungslandschaft transformieren können. (a. a. O. S.34,35)
„Beide Impulse und die damit verbundenen Impulsgeber sind für das aus der Zukunft auftauchende inklusive Bildungswesen in einem inklusiven Gemeinwesen gleichermaßen verantwortlich!“ (Dreher/Lyra 2008,, 244) Diese unsere Erwartung ist in keiner Weise erfüllt worden, wenn wir jetzt das Gutachten von Rolf Werning (2011) zur Kenntnis nehmen. Im Nachhinein verwundert das nicht…. Eine weitere Parallele findet sich in NRW einige Jahre zuvor im Modell der Integrativen Lerngruppe (IL). Der Impuls wurde von oben in die Debatte geworfen…

2.4  Auf-Wind
>Change<, Wandel sind dennoch im Auf-Wind. Was sich in die Lüfte schwingt, soll beispielhaft  sichtbar gemacht werden…
Karl-Heinz Imhäuser (2011) weist mit >Fragen ÜBER fragen< unter Bezug auf den >Index für Inklusion< in eine interessante Richtung. Der Index mit seinen Indikatorfragen – vorweg eine non duale Perspektive einnehmend – will >Dialoge< anstoßen…  (a. a. O. S.35)
Es geht darum zu beantworten, nicht zu beantworten, das heißt, auf unterschiedliche Lösungsansätze hin zu navigieren und sich auf Prozesse das Abwägens einzulassen. Dabei schlägt Imhäuser eine spannende Erkenntnisbrücke zum Physiker Hans Peter Dürr und dessen Bezug zur Logik der Natur, welche keine >zweiwertige Ja- oder Nein, sondern Sowohl-als-auch, ein Dazwischen, das Eben-nicht-Greifbare bzw. das Unentschiedene< zeigt (ebd. 44). Diese Mehrwertigkeit oder Vielfalt öffnet Räume  für eine andere, eine neue Welt… Das Zusammenwirken vieler „Wirks“ für eine winzige Artikulation der Wirklichkeit... (a. a. O: S.36)

Inklusion wollen

Knüpfen wir noch einmal an die radikale, also >wurzelhafte< Epistemologie der Theorie U …und Index für Inklusion… von Olga Lyra an. Scharmer (2009, 106f.) weist auf die Entwicklung von >Sichtweisen auf soziale Felder seit dem 19. Bis ins 21. Jahrhundert hin… Trennlinien entstehen hier durch Dualismen von Subjekt und Objekt. Ihr folgt der Blick auf die Lebenswelt, der durch das Merkmal der >Intersubjektivität< – die Lebenswelt ist eingebettet in ein Netzwerk kollektiver Beziehungen – charakterisiert ist. Im 21. Jahrhundert tritt mit der Kategorie >Transsubjektivität< eine Perspektive auf die gelebte Gegenwart hinzu, Hier liegt das Feld der Auseinandersetzungen im >Selbst<. Bildhaft durch das Symbol des Baumes betrachtet sind Objektivität und Intersubjektivität  jene Teile, die sich als Blätter, Zweige und Stamm sichtbar über der Erde erheben. Transsubjektivität ist das unsichtbare Wurzelwerk. Wenn es hier um Trennlinien, sozial gesehen zwischen >selbst und anderen< geht, dann liegen deren >(Ab)Gründe im Selbst, ökologisch gesehen zwischen >Sinnen-Welt und Selbst< und geistig gesehen zwischen >selbst und Selbst<.  Nach Scharmer ist es eine >Signatur der Gegenwart<, sich in allem Handeln dem >unsichtbaren Wurzelsystem< zuzuwenden…(a. a. O: S.37)
In diesem Sinne kommt dem >U< die Qualität eines Wasserzeichens zu, eingeprägt in das Denken, Fühlen und Wollen unserer Zeit, auf individueller und kollektiver Ebene und zugleich diese  prägend durch die Fähigkeit, >den inneren Ort, aus dem heraus wir handeln, zu verändern< (ebd. 121) Lyra, Olga (2010): Führungskräfte und Gestaltungsverantwortung in schulischen Bildungsfeldern., Theorie U als Impuls für tiefgreifenden Wandel in inklusiven Bildungslandschaften. Dissertation. Köln.

3.1 Wind-Schatten

…Die Stimme des Beurteilens (voice of judgement) scheinbar kundiger Experten gibt hier das Motto aus: >Inklusion ja – aber nicht auf dem Rücken der Behinderten<. Wobei der blinde Fleck verhindert zu erkennen, dass sich hinter dem Motto ein zweites, vielleicht das eigentliche verbirgt; >Inklusion ja – aber nicht auf Kosten unseres Schonraumes Heilpädagogik/Sonderpädagogik oder Rehabilitation!<…
http://de.wikipedia.org/wiki/Universal_Design

3.2. Wind-Stille

Es wird deutlich, Inklusion und in diesem Kontext die Theorie U sind Impulse, die uns vieles abverlangen… (a. a. O. S.38) … So steht die Wind-Stille polar zur Wind-Stärke und bedingt ein sich-Überlassen einem Stille-Raum (Scharmer 2009, 402ff.), ein Sich-Öffnen den Räumen des Geistes, des Herzens und des Wollens und ein Entdecken des Quellortes meines höchsten Selbst…

4 Epilog
Wings of change –Flügel der Wandlung

.. Wenn das Wasser den Fisch zum Fisch bildet, die Luft den Vogel zum Vogel, dann bildet die Kultur den Menschen zum Menschen, der Mensch ist Geschöpf seiner Kultur. Aber er ist nicht nur ein Gewordener, sondern auch ein Werdender, der sich neue Erkenntnisräume zu erschließen vermag, indem er seinen liebgewordenen Kokon verlässt, sich >beflügelt auf-schwingt< zu schöpferisch eigenverantwortlichem Tun, getragen von >entfalteten Wings of change<….  die mich zu Flügeln für andere werden lassen und die zugleich als Flügel der anderen mich heben und mittragen… (a. a. O. S.39)

Scharmer, C. Otto (2009) Theorie U. Von der Zukunft her führen. Presencing als soziale Technik. Heidelberg: Carl-Auer verlag
Scharmer, C. Otto (2011): winds of change.
http://www.blog.ottoscharmer.com/?m=201102/

 

Christel Rittmeyer
Zum Stellenwert der Sonderpädagogik und den zukünftigen Aufgaben von Sonderpädagogen in inklusiven Settings nach den Forderungen der UN-Behindertenkonvention
(a. a. O. S.43)

…Inklusion, das ist für mich aber nicht  nur Theorie. Als Konrektorin an einer Schule für Kranke mit dem Arbeitsschwerpunkt Kinder- und Jugendpsychiatrie weiß ich vielmehr aus tagtäglicher Erfahrung, was es heißt, sehr heterogene Schüler zu unterrichten. Aber ich weiß auch aus eigener Erfahrung, dass es möglich ist, und, worin die Vorzüge, aber auch, worin die Herausforderungen bestehen…

2 Rückblick auf die Entwicklung hin zur Forderung nach Inklusion

Mit Sander (2003) können in der Geschichte des Umgangs mi Menschen mi Behinderung … die folgenden Phasen unterschieden werden:
1. Exklusion: Kinder mit Behinderung sind von jegliche Schulbesuch ausgeschlossen.
2. Separation oder Degregation: Kinder mit Behinderung besuchen eigene abgetrennte Bildungseinrichtungen (Sonderschulen).
3. Integration: Kinder mit Behinderung  können mit sonderpädagogischer Unterstützung Regelschulen besuchen.
4. Inklusion: Alle Kinder mit Behinderung besuchen wie alle anderen Kinder Regelschulen, die die Heterogenität ihrer Schüler und Schülerinnen schätzen und im Unterricht fruchtbar machen. (vgl. Sander 2003, 317) 
…In meiner Publikation zur UN-BRK aus dem Jahre 2009 habe ich geschrieben, dass sich Deutschland angesichts des Umstandes, dass nur 14 % der Schüler eine integrative Regelschule besuchen, praktisch schwerpunktmäßig in der Phase der Separation mit gleichzeitig  geringanteiliger Integration befände, auf der Ebene der Theorie hingegen eine Weiterentwicklung zur Inklusion festzustellen sei (vgl. Themenheft 4/2003 der Zeitschrift Sonderpädagogische Förderung)  In ihren Empfehlungen zur Umsetzung der UN-BRK zwei Jahre später kommen Klemm und Preuss-Lausitz  zu der Einschätzung, dass Deutschland auf der Entwicklungsstufe der Integration stehe… (a. a. O. S.44)

3 Was fordert die UN-Behindertenrechtskonvention?

In der UN-BRK werden für alle Lebensbereiche Ziele formuliert, die die Partizipation von Menschen mit Behinderung erleichtern und Diskriminierung und Ausschluss verhindern sollen (vgl. Klemm/Preuss-Lausitz 2011,8) Die UN-BRK ist damit ein Werk, dessen Ausführungen weit über den Bereich der Pädagogik hinausgehen, im Grunde allumfassend ist.
Es bedeutet deshalb – je nach Sichtweise – eine Überfrachtung, eine Überforderung oder auch eine Selbstüberschätzung, wenn inklusive Bildung nur als Aufgabe des Bildungssystems begriffen wird…. (Heimlich 2011,45) Der gesamtgesellschaftliche Aspekt inklusiver Erziehung wird in der Diskussion jedoch weitgehend vernachlässigt… Die Gesellschaft reißt Menschen immer stärker aus gewachsenen sozialen Strukturen hinaus, so dass Inklusion immer mehr zur Aufgabe jedes einzelnen wird. Gerade Menschen mit Behinderung oder sozialen Benachteiligungen fallen aber leicht aus diesem selbst zu organisierenden Inklusionsprozess heraus… (vgl. ebed.46) Auf Schule und Unterricht bezogen ist der Paragraph 24 der UN BRK (vgl. Anhang)
http://www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf

[aus dem Internet ausgewählt WW]

Darin favorisiert die UN ei egalitäres, inklusives Schulsystem (vgl. Ellger-Rüttgardt 2009, 446). Besondere pädagogische Maßnahmen werden allerdings nicht ausgeschlossen.
Interessant ist die für den Bereich gemeinsamen Lernens neue bzw. neuartige Argumentation der UN-BRK. Denn sie argumentiert nicht pädagogisch oder ökonomisch, sondern menschenrechtlich (vgl. Klemm/Preuss-Lausitz 2011,14) (a. a. O: S.45)

4 Wie wurde die UN-BRK in der Bundesrepublik Deutschland eingeführt?

Die Bundesrepublik Deutschland hat die UN-BRK im Dezember 2008 (mit Wirkung zum 26.03.2009) einstimmig in Bundestag und Bundessrat übernommen. Insgesamt kann aber gesagt werden, dass das Bekenntnis zur UN-BRK in der Bundesrepublik Deutschland nur recht schleppend voranging: Unterzeichnung am 30.03.2007, Ratifizierung im Dezember 2008, Wirksamwerden im März 2009. Den Grund… sieht Merkelbach in der Forderung nach einem >inklusiven Bildungssystem<. Mit einer solchen Forderung kann sich ein Land, das international zu der Gruppe mit den höchsten Separierungsquoten gehört (vgl. Sander 2002, 8) insgesamt nur schwer tun. Der in diesem Zusammenhang häufig zitierte Übersetzungsfehler war denn auch offenbar kein echter Übersetzungsfehler. Die Übernahme der UN-BRK im Bundesrat scheint vielmehr nur unter der Voraussetzung zustande gekommen zu sein, >dass das federführende Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit der Kultusministerkonferenz die englische Formulierung >inclusive education system< mit >integratives Bildungssystem< übersetzte und damit die Konvention in einem zentralen Punkt falsch wiedergab< (Merkelbach 2009, 1s.)… Es wurde damit eine Gleichsetzung beibehalten, die bis auf die Übersetzung der Dokumente der Konferenz von Salamanca… im Jahre 1994… zurückgeht… Auch Marianne Demmer, Leiterin des Organisationsbereichs Schule in der GEW, sieht das Hauptproblem für die späte Ratifizierung ähnlich wie Schumann: in der >Philosophie der Konvention<, die >auf die Idee einer inklusiven Gesellschaft< beruht und damit im Widerspruch stehe >zur deutschen Tradition und Praxis des Aussonderns< (Merkelbach 2009, 2). Entsprechend wenig pointiert sind auch die Empfehlungen der KMK [Kultus-Minister-Konferenz] zur Umsetzung der UN-BRK… vom 18.11.2010… (a. a. O. S.46) … dass aber >subjektive Rechtsansprüche […] erst durch gesetzgeberische Umsetzungen begründet [werden]< (Klemm/Preuss-Lausitz 2011, 15). Im Übrigen spricht die KMK auch von einer >Pluralisierung der Förderorte<. Diese Positionierung ... erklärt sich vermutlich daraus, das nur so ein Kompromiss der einzelnen Bundesländer, die mit ihrer Kulturhoheit nach wie vor einen hohen Stellenwert haben, und in denen die integrative/inklusive Beschulung sehr unterschiedlich entwickelt ist, erreicht werden konnte (vgl. Heimlich 2011,44)….
Gegen die Umsetzung der UN-BRK hat es in der Folge dann auf Länderebene zum Teil massive Proteste gegeben. >Eine klare Kampfansage< kam prompt aus Bayern, das nach Linds Statistik mit 6,11 Prozent zusammen mit Baden-Württemberg mit 6,63 Prozent und Nordrhein-Westfalen mit 6,92 Prozent die meisten Sonderschüler(innen) unter den alten Bundesländern hat…
Wie auch immer die Haltung der KMK letztlich zu interpretieren ist: mit Heimlich kann festgestellt werden, dass durch die Ratifizierung der UN-BRK eine rechtlich verbindliche Verpflichtung zur Umsetzung der Konvention besteht… im Range eines Bundesgesetzes…
Die ratifizierte Fassung ist allerdings die englische… (Heimlich 2011, 45) (a. a. O. S.45)

5 Welche Bedeutung hat die UN-BRK für die Bundesrepublik Deutschland und die Sonderpädagogik?

Von der ehemaligen Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen, Karin Evers-Meyer, wird die UN-BRK als >ein Meilenstein zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung< (vgl. Schumann 2009,1) bezeichnet… >Behinderung wird nicht länger vorwiegend aus medizinischer oder sozialer Sicht betrachtet, sondern als menschenrechtliches Thema festgeschrieben. Sie wird nicht nur als Bestandteil des Menschlichen (Zusammen-)Lebens anerkannt und bejahrt, sondern darüber hinaus als Quelle (möglicher) kultureller Bereicherung wertgeschätzt…

6 Werden Sonderpädagogen in Zukunft noch gebraucht?

Ulrich Heimlich schreibt 2011, dass die UN-BRK keine Abschaffung der Sonderpädagogik, aber einen Modernisierungsauftrag beinhalte…
>In den Schulen von New Brunswick,, die unter Gordon Poreter den Schritt >from integration to inclusion< vollzogen haben (Perner 1197,75), hat sich dadurch die Sonderpädagogikfunktion erheblich geändert. Die ehemaligen >special educators< sind jetzt in den  Regelschulen als >method and resource reachers< tätig (ebs., 76).
Folgende Merkmale kennzeichnen die Tätigkeit der M&R-Lehrkräfte:

 7  Welche Aufgaben haben Sonderpädagogen in einem inklusiven Setting?

… nach Einschätzung einiger Fachvertreter werden sie zukünftig sogar noch mehr benötigt… So gehen beispielsweise Klemm und Preuss-Lausit in ihrem Gutachten davon aus, dass bis 2020 85% der Schülerinnen und Schüler in NRW integrativ unterrichtet werden.

Was ist eine inklusive Schule?
„Die inklusive Schule ist eine integrative, völlig aussonderungsfreie Reformschule, die allen Kindern und Jugendlichen, die individuelle optimale Bildung und Erziehung vermitteln will (s. auch Biewer 2001, 154). Jedes Kind gilt als besonderes Kind. Die große Heterogenität der Schüler und Schülerinnen wird von den Lehrpersonen der inklusiven Schule als Selbstverständlichkeit betrachtet; >multi-level instruction< 1997, 78 f.), Unterricht auf mehreren Niveaus, findet in jeder Klasse statt. Die Regelschulpersonen werden dabei von sonderpädagogischen Fachkräften und bei Bedarf von weiteren Fachkräften unterstützt< (Sander 2001, 7) … (a. a. O. S.49) …

8 Welche Chancen und Risiken sind mit der Inklusion für die Sonderpädagogik und ihr bisheriges Klientel verbunden?

Was inklusiver Unterricht für Sonderpädagogen tatsächlich bedeutet, das wird letztlich nur die praktische Erfahrung in der Zukunft zeigen können…
So sind… >Befürchtungen, nach denen mit der Ausweitung der sonderpädagogischen Förderung auf die Allgemeinen Schulen ein Kompetenzverlust einhergehen würde oder gar eine Infragestellung der sonderpädagogischen Fachkompetenz [,,,] gegenstandslos (Heimlich 2011, 49) >Sonderpädagogische Lehrkräfte haben in Allgemeinen Schulen vielmehr die Erfahrung gemacht, dass ihre Fachkompetenz anerkannt wird und sie sogar Gelegenheit haben, im Rahmen ihrer mobilen Tätigkeit ihre Fachkompetenz zu erweitern… Beratungsangebote für Eltern und Lehrkräfte … (ebd.) (a. a. O. S.50)
Nachdem ich über 30 Jahre die Entwicklung hin zur Inklusion intensiv verfolgt habe, bin ich allerdings schon 1987 auf ein Risiko aufmerksam geworden,… nämlich den Verlust bisheriger sonderpädagogischer Hilfen durch eine >Low-Cost-Education<. Was… im Einzelfall zu Exklusion führen kann…
>In einem umfangreichen Buch wird der Fall eines gehörlosen Mädchens dargestellt, das die Allgemeine Schule seines Wohngebietes in einer Kleinstadt im Bundesstaat Kalifornien besucht (Siegel 1994). Es sitzt in der Klasse, bewegt sich auf dem Schulhof, darüber hinausgehende Kontakte mit anderen Schülern kommen aber kaum zustande… Die Leistungsfortschritte …. Unzureichend. Zeichensprache erlerne sie nicht..< (Biewer 2005, 105) Ein ähnliches Phänomen zeigte sich in den USA und Italien bei der Auflösung psychiatrischer Einrichtungen. Sowohl in Amerika wie in Italien war eine Kostenersparnis zwar nicht das Ausgangsmotiv für die Bestrebungen zum Abbau der psychiatrischen Anstalten. In beiden Ländern war die Decarceration jedoch mit einer ausgesprochenen Sparpolitik verbunden (vgl. Rittmeyer 1988, 149) … Für die Sonderpädagogik war und ist mit der UN-BRK verbunden, dass sie von einigen Seiten in Frage gestellt wird. Und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich – wenn sich die größte Aufmerksamkeit in Sachen UN-BRK erst einmal gelegt hat –, Sparmaßnahmen bei der Umsetzung durchsetzen könnten… (a. a. O. S.51)
Speck verweist auf ein Risiko, das mit der bislang letztlich ungeklärten Frage nach der Notwendigkeit der weiterhin für bestimmte Schüler zeitweise oder durchgängig notwendigen geschlossenen Lernumgebung verbunden ist… >Es fühlt sich nicht jedes lernende Kind in jeglicher Umgebung wohl. Auch in der >inklusiven Klasse< kann sich ein Kind >exkludiert< fühlen<. (Speck 2011, 89)

9. Welche Aufgaben stellen sich der Fachdisziplin Sonderpädagogik angesichts des Arbeitsfeldes inklusive Schule? ...

 
Nicht eingegangen wird von den beiden Autoren auf die Frage, wie dem erweiterten Beratungsbedarf entsprochen werden soll… (a. a. O. S.52) Schwer zu beurteilen ist, ob und wie zu vermutenden Low-Cost-Lösungen entgegengewirkt werden kann…

In einer inklusiven Schule spielt Diagnostik eine weitaus größere Rolle als bisher in der allgemeinen Schule und der Förderschule… (a. a. O. S.53)

 

Hans-Jürgen Pitsch
Inklusion, Konstruktivismus und Kulturhistorische Tätigkeitstheorie

Zwei Schulen
… In diesem nur grob skizierten Bereich heben sich nach dem Kriterium der betrachteten Personenmenge zwei Pole heraus:

1.1.     Zwei Schulen und die Frage der Inklusion

Beide Schulen scheinen auf den ersten Blick als unvereinbare Gegensätze. Verschärft wird diese Einschätzung durch radikalkonstruktivistische Alleinvertretungsansprüche im Zusammenhang mit inklusiver Pädagogik, wie sie etwa von Lars Anken formuliert werden. Er meint, >dass Inclusive Education der handelnde Ausdruck einer (radikal-) konstruktivistischen Epistemologie und eine (radikal-)konstruktivistische Epistemologie der theoretische Ausdruck einer Inclusiven Education sein kann< (2010,2), bindet also Inklusionspädagogik an (radikal-) konstruktivistisches Denken. Bescheidener erwartet Kurt Reusser vom Konstruktivismus nur den Fortschritt >vom epistemologischen Leitbegriff zur Erneuerung der didaktischen Kultur< (2006,151). (a. a. O. S.59)
Auf der anderen Seite gründet der wohl seit langem radikalste Verfechter einer inklusiven >Schule für alle<, Georg Feuser (1989: 1993), sein Konzept auch auf der Tätigkeitstheorie der Kulturhistorischen Schule einschließlich deren marxistischen Grundlagen und fordert auch heute noch, dass unser Verständnis von Behinderung und Persönlichkeitsentwicklung >dem historischen und dialektischen Materialismus< (Fenser 2011) verpflichtet zu sein habe. Auch er erstrebt eine Erneuerung der didaktischen Kultur, konkret durch Zentrierung des Unterrichts auf den>gemeinsamen Gegenstand< in der Organisationsform des Projektunterrichts.
Auf den zweiten Blick beschreiben Konstruktivismus und Tätigkeitstheorie häufig Gleiches mit verschiedenen Begriffen und konvergieren in vielen Bereichen….

1.2 Zwei Schulen und die Frage nach dem Huhn und dem Ei

Kersten Reich (2006, 36) bezeichnet Prager und Wygorski als psychologische Vorläufer für den Konstruktivismus, was heißt, dass Konstruktivismus eine auf beiden aufbauende Erscheinung sei. Auch der soziale und interaktive Konstruktivismus, wie von Reich vertreten, wird auf Wygorski zurückgeführt, weil dieser der sozialen und kulturellen Umwelt des Kindes erheblichen Einfluss zuschrieb (sozialer Konstruktivismus 2010). Durchgängig wird jedoch vorallem in philosophischer Literatur darauf verwiesen, das konstruktivistisches Denken bis zu Parmenides aus Elea (geb. ca.540 v. Chr.9) zurück zu verfolgen sei…(a. a. O. S.60)

2 Konstruktivismus

2.1 Grundgedanken

Konstruktivistisches Gedankengut hat bereits mit der Übernahme von Jean Prager auch die Geistigbehindertenpädagogik erreicht, unter Rückgriff auf radikale Positionen später mit deutlicher Betonung der individuellen Konstruktion von Wirklichkeit. Kognitionen entstehen nach dieser Auffassung ausschließlich im Individuum selbst…
Deutlich moderater kommt konstruktivistische Argumentation in der Allgemeinpädagogik (z. B. Siebert 2005,, Reih 2004; 20056) wie in der Geistigbehindertenpädagogik (z.B  Fischer 2003; 2004; 2008) daher. Sie leugnet die Existenz einer außerindividuellen realen materiellen wie sozialen Welt (>Realität<) nicht…

2.2. Erkenntnis und Wahrheit

Kern des konstruktivistischen Denkens ist >die Problematisierung von Ansprüchen der Wahrheit und des Zugangs zur Realität< (Hug 2010,1) Gefragt wird nicht, was Wissen >ist<,, sondern wie es gemacht wird; >der Fokus liegt damit auf Wie-Fragen und prozeduralen Perspektiven< (ebd.). (a. a. O. S.61) [Grobe Verkürzungen habe ich im Folgenden vorgenommen WW, obwohl alles lesenswert ist.]

3 Tätigkeitstheorie

… Tätigkeitstheorie basiert auf fünf Prinzipien:

  1. Tätigkeit ist hierarchisch strukturiert in

·         Tätigkeit (activity), objektbezogen, motivgesteuert, von Antizipation geleitet (Rodriguez 1998);

·         Handlung (action), bewusst, zielgerichtet, geplant und kontrolliert ausgeführt. Eine Handlung kann mehreren Tätigkeiten dienen (Udeen/Valderaz/Pastor 2008,5 )

·         Operation (operation), automatisch, ohne eigenes Ziel, von den aktuellen Handlungsbedingungen beeinflusst (Rodriguez 1998,29, erfahrungsabhängig

  1. Tätigkeit ist Objekt-orientiert, was eine objektive Realität voraussetzt (Bannon 1997,2), zu der natürliche, künstliche (Artefakte, Werkzeuge), soziale wie kulturelle Gegenstände (auch Sprache, Zeichensysteme) gehören (Kaptelinin/Nardi 1997, 3)…. (a. a. O. S.62)
  2. Tätigkeit geschieht in Externalisation und Internalisation (Leontjew).Nach außen gerichtete Aktivitäten verändern ein (kleines) Stück Welt und wirken dadurch nach innen zurück, wodurch Aneignung = Lernen geschieht.
  3. Vermittlung (Mediation): Menschliche Tätigkeit ist durch Werkzeuge und andere Menschen vermittelt (Kaptelinin/Nardi 1997)
  4. Entwicklung. Die Abfolge von Veränderungen über die Zeit, ist sowohl Gegenstand der Forschung als auch deren Methode (ebd.,3)

…. (a. a. O. S.63)
>Viabilität< [Gangbarkeit] meint  instrumentelle Aneignungslogik des Wissens. Aneignung bedeutet in der kulturhistorischen Auffassung den Erwerb von Kenntnissen, Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen zur Welt und über die Welt, die arten des Umgangs mit ihr und diejenigen gedanklichen und materiellen Werkzeuge, die beim Eingreifen in die Welt behilflich sein können…
Viabilität im Sinne des Konstruktivismus bedeutet aber auch, dass ein Weg nur für einen bestimmten Menschen gangbar sein muss. Andere Menschen können andere Wege, Verfahren, Methoden als für sich viabel empfinden. Um zu einem für mehrere Individuen tragbaren Ergebnis zu gelangen, müssen individuell unterschiedliche Viabilitäten irgendwie zusammengeführt werden….
Nach konstruktivistischer Auffassung entsteht die Gültigkeit von Begriffen, Handlungsschemata, Zielen, Gefühlen >erst auf der Ebene der Intersubjektivität< (Schüßler 2005, 92), wenn diese auch von anderen Subjekten geteilt werden….

4.2 Subjekt und Gesellschaft

Viabilität kann im konstruktivistischen Sinne >nur subjektiv bestimmt werden< (ebd, 91) und dient der Anpassung des Individuums an seine Umwelt, ganz utilitaristisch dem Überleben. Für Überindividuelles, Allgemeingültiges, Soziales ist dann kein Platz mehr, auch nicht mehr für soziale Regeln, Normen, Werte, für >unabhängig vom Individuum existierende Lebensbedingungen und Machtverhältnisse< (ebd.91).  (a. a. O. S.64) Wirklichkeit ist dann >das Produkt mentaler Aktivität eines Individuums[…] und nicht […] das Produkt sozialer und historischer Prozesse< (ebd.). Das Denken erübrigt dann das Handeln, und die eigene Anpassung ersetzt das eigene verändernde Eingreifen in die Umwelt.
An diesem Punkt argumentiert die Tätigkeitstheorie genau umgekehrt: Erst das eigene Eingreifen in die Umwelt führt zum Lernen, zur Aneignung dessen, was bereits vorhanden ist. Und dazu gehören auch Regeln, Normen, Werte, gehört Allgemeinverbindliches, gehört >kulturell legitimiertes Wissen< (Rustemeyer 2003,99).Ähnlich argumentiert auch der interaktionistische Konstruktivist Kersten Reich: >Wenn also Konstruktivisten so sehr das Erfinden betonen, dann heben sie auf den individuellen Lernvorgang ab, ohne verkennen zu wollen, dass solche Erfindungen oft nur kulturelle, wissenschaftliche usw. Entdeckungen sind, die in der Lebenswelt vorliegen< (Reich o.J. 96)… (a. a. O. S.65)

5 Konsequenzen für die Didaktik

5.1 Auswahl der Lerninhalte
Gerne wird argumentiert, die Anerkennung menschlicher Subjektivität verlange, den Lernenden die Auswahl der Lerninhalte nach deren Interessen zu überlassen. Aber auch vom Lehrer präsentierte Inhalte als Angebot zur Wiedergewinnung der eigenen Handlungsfähigkeit und Erweiterung der Verfügungsmöglichkeiten, also zur Kompetenzseigerung der Schüler sind nach Schüßler (2003, 01) >durchaus zu legitimieren<. Eine solche Didaktik sei aber nicht subjektivistisch, sondern >immer nur als dialogische zu konzipieren, d. h. Inhalte gibt es nicht unabhängig von den Lerninteressen und Handlungsproblematiken< (ebd.)…. Die Tätigkeit vermittelt zwischen Subjekt und Welt (Lerngegenstand). Der Mediator (Mentor, Erwachsene, bereits Kompetentere) vermittelt zwischen Subjekt und Tätigkeit und damit zwischen Subjekt und Welt…

5.2  Lernen der Aneignung

Auch die Tatsache, dass der Lernende die Reize auf ihre je eigene, durch ihr Struktur (ihr Vorwissen, ihre Denkmöglichkeiten) determinierte Weise verarbeiten, schließt >nicht unbedingt die Fähigkeit ein, sich selbständig Wissen anzueignen und diesen Prozess autonom zu organisieren< (ebd. 88), Auch die Aneignung von Wissen will gelernt werden, und dazu ist der Lernende auf die Vermittlung durch bereits Wissende angewiesen…. (a. a. O. S.66) … Aufgabe des Lehrers ist und bleibt, seine Schüler mit den Lerninhalten in Beziehung zu bringen…. (a. a . O. S.67)

6  Weiterentwicklungen

Wie der Konstruktivismus von seinen radikalen Formen hin zu sozialen und interaktivistischen, so hat sich auch die Tätigkeitstheorie über die Jahre hinweg entwickelt.
Uden et al. (2008, 4) beschreiben drei >Generationen< dieser Entwicklung:

  1. Die erste Generation basiert auf Wygotskis Konzept der Mediation, der Zwischenschaltung eines Werkzeugs (Uden et al. 2008,4) zwischen Person und Sache (Subjekt – Werkzeug – Objekt.
  2. Die zweite Generation, basierend auf Leontjews Arbeiten hat diese Vermittlung ausgeweitet auf Tätigkeit (Subjekt – Tätigkeit – Objekt), wobei das Werkzeug der Tätigkeit dient.
  3. Die dritte Generation, vertreten etwa durch Engström (1987 et  passim, Seeger 2011), zentriert sich auf Dialoge, multiple Perspektiven, Netzwerke , interagierende Systeme (Coverdale 2009, 4) und Arbeitsteilung, also auf soziale Aspekte des menschlichen Miteinander, auf strukturelle Koppelungen. …

International scheint die Rezeption der Tätigkeitstheorie wesentlich weiter gediehen zu sein als in Deutschland… (a. a. O: S.68)
… Auch Mirjam Faust referiert kritisch, dass in der materialistischen Pädagogik das Menschenbild zu sehr am Arbeitsbegriff festgemacht wird< (2007, 73), Kommunikation und moralisches Handeln z.B. unberücksichtigt bleiben und >dass das Marx’ sche Gesellschaftsbild unverändert übernommen wird und andere Erklärungsansätze nicht berücksichtigt werden< (Faust 2007, 73f.) Trotz dieser Kritik bleiben deutsche Vertreter der Tätigkeitstheorie hartnäckig bei ihrer Forderung, dass unser Verständnis von Behinderung und Persönlichkeitsentwicklung >dem historischen und dialektischen Materialismus< (Feuser 2011, 120) verpflichtet zu sein habe…  [Aber:]
Inklusiver Unterricht hat sich an den Schülern zu orientieren und nicht an Ideologien… (a. a. O. S.69)

Andreas Fröhlich
Diversity Management – ein übertragbarer Ansatz?

… Diversity Managemen ist eine Antwort, die auf die schon realisierte und sich weiter abzeichnende Globalisierung von Produkten und Handel eine Antwort zu geben sucht. Immer mehr Firmen, aber auch Behörden und andere Institutionen, sehen sich einer großen Vielfalt von Mitarbeitern gegenüber, die aus unterschiedlichen Kulturen stammen, deren individuelle Unterschiede beachtlich sind bzw. auch jetzt erst wahrgenommen werden…. Lange Zeit ging es darum, diese Unterschiede möglichst einzuebnen, durch Fort- und Weiterbildung einen gleichen Level der Fähigkeiten zu erreichen und somit Kommunikations- und Informationsstörungen zu vermeiden und die Kooperationsfähigkeit zu verbessern. (a. a. O. S.75,76) Seit einigen Jahren wird nun erkannt, dass die Unterschiede durchaus als positiv-kreatives Potenzial gesehen werden können. Ältere und jüngere, männliche und weibliche, solche aus der unmittelbaren räumlichen Umgebung und andere, die von sehr weit her kommen, bringen zusätzliche Qualifikationen und Fähigkeiten mit, die über das engste berufsspezifische Können hinausgehen.  …>Humanressourcen<…  Die eigentliche Zielrichtung ist die höhere Wertschöpfung. Es gab Zeiten, da man dies offener Ausbeutung nannte… Soll aus einem solchen Konzept etwas abgeleitet werden können, das Menschen mit Beeinträchtigungen dient?...
Ironisch zugespitzt: Die Freundlichkeit eines Menschen mit Down-Syndrom? Ausgezeichnet, hier können wir die Grundstimmung einer Belegschaftsgruppe positiv beeinflussen. Ein blinder Mitarbeiter? Ausgezeichnet, seine erhöhte Konzentrationsfähigkeit, da er durch allerlei visuelle Effekte nicht abgelenkt wird, können wir sehr gut gebrauchen. Der Mitarbeiter im Rollstuhl? Auch kein Problem, lange sitzende Tätigkeiten ist er gewöhnt… (a. a. O. S.76)

Charta der Vielfalt

….Bei Charta der Vielfalt wird Behinderung ausdrücklich thematisiert ... auf persönliche Nachfrage hingegen musste eingestanden werden, dass bislang dazu eigentlich noch nichts vorliegt…

Biodiversität und Genaberration

Wenn man Fragen der Globalisierung mit der des Lebens auf diesem Globus verknüpft, so kommt man nicht umhin, sich mit Fragen der Biodiversität zu befassen… (a. a. O. S.77)
Biodiversität, so stellen die Biowissenschaften fest, ist allerdings nur unter der Bedingung der Abgrenzungen des Abgeschlossenseins möglich. Eine völlig offene >biologische Landschaft< führt zu einer zunehmenden Vermischung und Angleichung. In gewisser Weise haben wir das das thermodynamische Gesetz hier auf biologische Sachverhalte anzuwenden….

Hier, so können wir sagen, liegt der eigentliche Kerngedanke der Inklusion. Diversität – bei Behinderung oft auch als negativ empfunden – löst sich auf, wenn unterschiedliche Populationen am gleichen Ort, zur gleichen Zeit, unter gleichen Bedingungen leben. ..
Die entsprechenden Wissenschaften haben bei vielen Menschen, die wir als behindert bezeichnen, eine Genaberration festgestellt, die zu einer Funktionsänderung führt, diese dann im Phänotyp zu einer Verschiedenheit, zu einer Auffälligkeit, ggf. auch zu Aktivitätsveränderungen, aus denen dann die bekannten Partizipationseinbußen entstehen… (a. a. O. S.78)
Vielleicht ist das Down-Syndrom ein Versuch der >Natur< eine gewisse stärkere Emotionalität, Freundlichkeit, Ausdrucksstärke experimentell evolutionär zu erproben. ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung] kann auch als Versuch der Natur gesehen werden, auf die zunehmende Beschleunigung in fast allen Alltagsprozessen zu reagieren…

3 Die Inklusion der Harmlosen

… Der skeptische Blick: Zu welchem Zeitpunkt ist diese UN-Konvention verabschiedet worden? Man könne kritisch anmerken, dann erst, als Medizin und Erfahrung, vielleicht auch Pädagogik und Psychologie, gezeigt haben, dass Behinderung nicht ansteckend ist… (a. a. O. S.79)
…>Weggesperrt< oder >chemisch neutralisiert< werden nach wie vor viele Menschen,. Die >verschieden< sind. Menschen, die wir als gefährlich erachten und darüber hinaus immer auch Menschen, die unser Empfinden quälen, weil sie unerträglich arm sind….

4 Das Recht anders zu sein

Vor Jahren war es in Frankreich in einer Radiosendung, dass ich erstmals die Formulierung >le droit d’être different< hörte. Es ging um nordafrikanische Immigranten in das >französische Mutterland<…
Das Leben in der >Parallelwelt< gilt als Bedrohung, andere Lebensformen, andere Lebensziele werden als fremd und gefährlich gesehen, (a. a. O. S.80) Wieder könne man einen kühnen spekulativen Gedanken formulieren: sind die Einrichtungen für Menschen mit Behinderung vielleicht auch Parallelwelten, die jetzt nicht mehr ertragen werden?...

5 Menschheit ist Vielfalt

…  (a. a. O. S.81)

 

Karl-Ernst Ackermann
Veränderungen im Selbstverständnis der Geistigbehindertenpädagogik im Kontext von Leitvorstellungen. Zur Verortung von >Inklusion< in der Geistigbehindertenpädagogik

1 Krise der Heil- und Sonderpädagogik?

… Das letzte größere Krisenszenario ist noch gar nicht so lange her – eine Dozententagung der Sonderpädagogik in deutschsprachigen Ländern hatte im Jahr 2001 in München stattgefunden (Bundschuh 2002): Die aktuelle Krise tritt nun mit der neuen Leitvorstellung >Inklusion< auf den Plan… dieses Leitprinzip beansprucht den Rang eines Menschenrechts (vgl. z. B. Wocken 2011)…. Ich.. werde .. mich im Weiteren mit Inklusion als einem Musterbeispiel für Leitvorstellungen in der Sonderpädagogik – und hier noch konkreter, nämlich vor allem in der Geistigbehindertenpädagogik – befassen. Ich werde also zunächst einen Blick auf die für die Geistigbehindertenpädagogik relevanten Leitvorstellungen werfen, mit denen in der Regel eine gewisse Änderung des pädagogischen Selbstverständnisses und des >pädagogischen Gegenstands< einhergegangen war und einhergehen wird. So zeichnete sich zum Beispiel noch in das vergangene Jahrzehnt hinein mit dem Leitbild >Integration< eine Tendenz zur Entwicklung einer >Integrationspädagogik< ab, mit der ja nicht nur ein Namenswechsel intendiert war…  (a. a. O. S.83,84)

2 Leitvorstellungen in der Geistigbehindertenpädagogik und ihre Folgen

Anfang der 1980er Jahre wurde im deutschsprachigen Raum das >Normalisierungsprinzip< als neue >Philosophie< des Handelns und Denkens in der Behindertenhilfe vorgestellt. In einem Band der >Kleinen Schriftenreihe< im Lebenshilfeverlag mit dem Titel >Das Normalisierungsprinzip. Eine Einführung< machte Walter Thimm (1984) auf diese neue Sichtweise des Handelns und Denkens in der Behindertenhilfe aufmerksam. Er griff damit einen zentralen Gedanken aus Skandinavien auf, den Bank-Mikkelsen im Dänischen Fürsorgegesetz bereits 1959 folgendermaßen formuliert hatte: >Normalisierung bedeutet: den geistig Behinderten ein so normales Leben wie möglich zu gestatten< (zitiert nach Thimm 1984,4).
Dieser neuen >Philosophie< wurde damals nicht nur zustimmend, sondern auch mit Ablehnung begegnet. Man befürchtete, die Menschen sollten >normalisiert< werden. Nachdem deutlich geworden war, dass es sich hierbei um ein Missverständnis handelte – denn diese Leitvorstellung meinte und meint Normalisierung der Lebensbedingungen und eben nicht die Person – wurde diese >Philosophie< in der Geistigbehindertenpädagogik nach und nach umgesetzt…
Das heißt die Rezeption dieses Prinzips fand auf der Ebene der >Professionellen< statt, insbesondere in den Verbänden und Großeinrichtungen als den adäquaten Adressaten des Normalisierungsprinzips. Das Selbstverständnis innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik als Disziplin wurde hierdurch offensichtlich nicht wesentlich tangiert. (a. a. O. S.84,85)

Nach dem Normalisierungsprinzip folgte mit der Integrations-Bewegung in den 1980er-Jahren bekanntlich bald eine weitere Neuorientierung, die in der Geistigbehindertenpädagogik zu heftigen Grundsatzdebatten und selbstkritischen Rückfragen über die bisherigen Zielsetzungen führte. Mit diesem neuen Leitbegriff ging jedoch nach und nach im Mainstream das Missverständnis einher, Integration ließe sich herstellen, ohne das gesamte Bildungssystem zu verändern – und dies, obgleich mit der Behindertenpädagogik Feusers (1993) bereits ein begründeter Ansatz vorlag, der diese Prämisse betonte. Inzwischen erscheint vielen Verfechtern die >Integration< als gescheitertes Experiment, das nur noch als >Inklusion< in der ursprünglich gedachten Richtung fortgesetzt werden kann.
hier lässt sich so viel festhalten: Integration wurde als Organisationsform des Bildungssystems verstanden und dementsprechend im Blick auf bildungspolitische Adressaten formuliert, aber zunehmend auch innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik diskutiert und so nach und nach in den Rang einer zentralen Orientierung innerhalb der Geistigbehindertenpädagogik gehoben. Anders formuliert: Der genuine pädagogische Gegenstand der Geistigbehindertenpädagogik – nämlich die Bildung des Individuums – wurde von der hinzutretenden Leitvorstellung >Integration< nach und nach überlagert und schließlich in weiten Teilen der Integrationsbewegung zum Gegenstand der Geistigbehindertenpädagogik gemacht – letztendlich ein Selbstmissverständnis! Denn hiermit wurde lediglich eine von mehreren >Bedingungen< von Bildung mit dem genuinen Gegenstand der Geistigbehindertenpädagogik, nämlich >Bildung< des Individuums, mehr oder weniger verdrängt.

Mitte der 1990er Jahre tauchte das neue Leitprinzip >Selbstbestimmung< auf. Hiermit wurde den Menschen mit geistiger Behinderung die bislang vorenthaltene Idee auf Selbstbestimmung als längst überfällige emanzipatorische Errungenschaft zuerkannt… mit Selbstbestimmung wurde Abbau von Fremdbestimmung gemeint…

…eine Errungenschaft – oder nicht vielmehr eine unabdingbare Voraussetzung und Verpflichtung, ohne die man in der modernen Gesellschaft als >Modernisierungsverlierer< gilt und gar nicht mithalten kann (vg. Waldschmidt 1999). (a. a. O. S.85)
Gleichwohl besteht zwischen >Selbstbestimmung< im weiten Sinne und >Bildung< eine hohe Übereinstimmung, sodass mit Selbstbestimmung  in der Geistigbehindertenpädagogik eine Leitvorstellung eingeführt wurde, die der pädagogischen Intention mehr als alle bisherigen Leitvorstellungen entgegenkommt…
Im Zuge der der neuen Sozialgesetzgebung (SGB I, IX und XII), aber auch mit der neuen WHO-Klassifikation ICF [International Classification of Functioning, Disability and Health] wurde der Gedanke der Teilhabe bzw. Partizipation in die Fachdiskussion eingeführt, der nun zunehmend an die Stelle des Begriffs Rehabilitation tritt. Es würde aber ein Missverständnis darstellen, das Recht auf Teilhabe auf ein >Dabeisein ist alles< zu reduzieren. Denn es geht un Teilhabe am Leben in der Gesellschaft im umfassenden Sinn! Doch wiederum gilt: Teilhabe ist zwar eine wesentliche Bedingung für die Bildung des Individuums. Sie stellt aber nicht das Zentrum des pädagogischen Grundgedankens dar.  Oder anders formuliert: Zentraler >Gegenstandsbereich< der Pädagogik ist >Bildung< als eine historisch-anthropologische Möglichkeit des Individuums…
Darüber hinaus sollten bei einer selbstkritischen Reflexion von Leitvorstellungen nicht nur die programmatischen Positionen der
Geistigbehindertenpädagogik aufgegriffen werden, sondern nach den weitaus wirksameren Leitvorstellungen gefragt werden…z.B. nach der bis heute sehr wirksamen Leitvorstellung an >heimlichen Leitbild< der >Stellvertretung<…. (a. a. O. S.86)

Leitvorstellung>Inklusion< in der aktuellen Diskussion

Zur Fachdiskussion in der >Teilhabe< … Jahrgang 2011 der Zeitschrift >Teilhabe<,

Hans Wocken versucht mit einem Beitrag >Zur Philosophie der Inklusion< (2011), die zentralen Grundgedanken >Selbstbestimmung, Gleichberechtigung, Teilhabe der Behindertenrechtskonvention (BRK 2008) als >Trias< herauszuarbeiten, die seiner Ansicht nach der Trias >Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit< der >Aufklärung< bzw. der Französischen Revolution entspricht und sich hiermit zugleich begründen lasse… Im Zuge der Entfaltung dieser Zusammenhänge folgert Wocken…. Auf der Ebene von handlungsleitenden Konsequenzen … die Trias >Assistenz, Gleichstellung und Inklusion<…  Doch die Beziehungen, die zwischen philosophischen Grundlagen und Menschenrechten gezogen werden, basieren zunächst auf Analogiebildungen,… (a. a. O. S.87)
Vor diesem Hintergrund wird dann von >Inklusion< als einem begründeten Menschenrecht gesprochen.
Ebenfalls im Heft 2 der >Teilhabe< wurde unter der Überschrift >Die unreflektierte Integration von Kindern mit geistiger Behinderung verletzt ihre Würde< ein Leserbrief von Riccardo Bonifranchi (2011) abgedruckt, der eine Debatte auslöste, die sich in den Heften 3 und 4 fortsetzte. Bonifranchi knüpft… an einen Beitrag von Frühauf (2011a) an, in dem >ernüchternde statistische Ergebnisse zur Integrationsquote in Deutschland und die geringe Bedeutung von Inklusion moniert werden. (Frühauf  2011a,34). Bonifranchi stellt demgegenüber die These auf, die >Integration von geistig behinderten Kindern in den Regelschulbereich< (ebd. 90) verletze die Würde dieser Schüler, da quasi alle diese Kinder nach einer unbestimmten Zeit den Regelbereich wieder verlassen müssen…  dass an Stelle einer optimalen Förderung die Integration gesetzt werde (ebd.) bzw. dass diese Kinder in der Inklusion permanent überfordert würden…
Auf diesen Leserbrief reagierte in Heft 3 der Teilhabe 2011 Andreas Hinz… unter dem Titel >Unbelegte Behauptungen und uralte Klischees – oder Krisensymptome der Heilpädagogik?<… (a. a. O. S.88)

3.2 Zwei Ebenen des Argumentierens

… die Diskussion bewegt sich auf zwei Ebenen, die parallel zueinander liegen, jedoch nicht miteinander in Berührung treten. Nämlich einerseits werden auf einer >programmatischen Ebene< Zielsetzungen, Sollvorstellungen, innovative Ideen und Ansprüche sowie Wertsetzungen entwickelt und begründet, andererseits wird auf einer >Ebene der Faktizität< auf die Mechanismen des Alltags, auf die Machbarkeit und die Logik der Realitäten verwiesen… (a. a. O. S.89)
… Im Blick auf die Feststellung Rohrmanns (2011) nicht die Behindertenpädagogik Feusers und Jantzens, sondern die Heil- und Sonderpädagogik sowie die Behindertenpädagogik Hamburger Provenienz befinden sich in der Krise, stellt sich die Frage, ob die Bemerkung Frühaufs über eine >Entgrenzung der Fachdisziplin und deren stärkere Verortung in der Gesellschaft< (Frühauf 2011b, 99) nicht weitaus umfassender gewichtet werden muss… (a. a. O. S.90)

3. 3  Von der Bildung des Individuums zur Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft
Im Editorial zu Heft 4 der >Teilhabe< (2011) verweist Monika Seifert (2011) darauf, dass die – zugleich mit der Ratifizierung der UN-BRK erfolgte – Umbenennung der Zeitschrift >Geistige Behinderung< ab 2009 in >Teilhabe< als >Programm< zu verstehen ist.
>Nicht länger sollte primär die Behinderung  eines Menschen im Fokus stehen, sondern sein Recht auf Teilhabe in allen Lebensbereichen. […] Ziel ist die Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft, die alle Menschen als gleichberechtigte Bürger(innen) willkommen heißt, die Verschiedenheit wertschätzt und ihren individuellen Bedürfnissen sowie dem jeweiligen Unterstützungsbedarf Rechnung trägt […]< (Seifert 1011, 146 ) …
Wenn man nun aber die fachwissenschaftlichen Statements in der >Teilhabe< dazu  liest, kann man den Eindruck gewinnen, dass auch die Geistigbehindertenpädagogik als wissenschaftliche Disziplin mehr oder weniger fraglos einem solchen grundlegenden Wechsel der Orientierung folgt und sich nunmehr als Teilhaberwissenschaft versteht…
Doch was für einen inzwischen 50-jährigen Verband für Fortschritt und Selbstreflexion gelten darf, gerät im Kontext der Disziplin zu einem fragwürdigen Kurswechsel. Denn die Geistigbehindertenpädagogik … hat spätestens in den 1990er Jahren ihre Orientierung am medizinischen Paradigma aufgegeben.  Im Zentrum stehen…. Erziehung und Bildung von Menschen mit geistiger Behinderung in ihrer Lebenswellt… (a. a. O. S.91)

Deutlicher: die Pädagogen beanspruchen jetzt nicht mehr den Fokus auf die Bildung und Erziehung von Individuen (ohne und mit Behinderung) zu richten, sondern gesellschaftliche Situationen / soziale Kompetenzen (sofern sich diese überhaupt fassen lassen) so zu modellieren, dass darin alle Menschen willkommen geheißen werden… (a. a. O. S.92)

4 Zum pädagogischen Selbstverständnis – ein basaler pädagogischer Grundgedankengang

…Realisierte Pädagogik vermittelt… einerseits zwischen>Aufwachsen< und >Gesellschaft< (oder zwischen >Natur< und >Kultur<), andererseits zwischen den Generationen. Zentraler Bezugspunkt dieser beiden Vermittlungsprozesse ist der der Gedanke der >Bildsamkeit< des Menschen. Kern dieser Idee ist die Möglichkeit und das Interesse des Individuums, sich zu bilden…. (a. a. O. S.93)
… Bildung als Tätigkeit des sich seiner Selbst Innewerdens im Medium von Symbolen muss vom je einzelnen Subjekt aus sich heraus ergriffen werden. Es handelt sich um einen Prozess, der nicht delegiert bzw. für andere Menschen übernommen werden kann, jeder  muss hierzu im Rahmen seiner Möglichkeiten selbst tätig werden.  Das heißt… nicht nur >transitive Bildung<…, sondern unverzichtbar…>reflexive[n] Bildung<….

Bedingungen der Bildung im Kontext von:

… Dort, wo Menschen miteinander in einen gemeinsamen Handlungszusammenhang eintreten, werden Formen der Institutionalisierung (repressive, entfremdende oder aber schützende, stützende oder konstituierende) hervorgerufen. Die Pädagogik vermittelt zwischen Individuum und Gesellschaft… (a. a. O. S.94)

…. Doch Fokus und Kern dieses pädagogischen Grundgedankenganges ist Bildung als eine menschliche Möglichkeit. Zu klären ist, durch welche Bedingungen ein Individuum jeweils Bildung hervorbringen kann….

5 Veränderungen im Gegenstand und Selbstverständnis der Geistigbehindertenpädagogik. Zum Ort der Inklusion im pädagogischen Grundgedankengang.

… Aus systemtheoretischer Sicht wird Inklusion weniger als Ziel, sondern vielmehr als ein für Gesellschaften notwendiger Prozess verstanden – und es wird beobachtet, dass dieser immer auch mit Exklusion einhergeht. Inklusion und Exklusion gehören aus dieser Sicht demnach zusammen…
Insofern richtet sich Inklusion an die Adresse der Politik und Bildungspolitik bzw. an die Gesellschaft und ihre Institutionen. (a. a. O: S.95) … Es handelt sich also bei Inklusion nicht um einen pädagogischen,, sondern vielmehr um einen politischen Begriff, dem in der pädagogischen Fachdiskussion derzeit der Status eines politischen Kampfbegriffs zukommt, der notwendig ist, um wesentliche Prozesse in der Gesellschaft anzustoßen. Ob diese Prozesse dann auch im Sinne derer, die sie anstoßen, gesteuert werden, ist eine spannende Frage…

Im inklusionspädagogischen Kontext geht es vorrangig um die Gestaltung von gesellschaftlichen Bedingungen, um zu einer gelungenen Form von gesellschaftlichen >Verkehrsformen< zu gelangen. Also wenige um Pädagogik, sondern um Politik.
In dieser Verkennung des pädagogischen Grundgedankens liegt meiner Ansicht nach das Hauptproblem, der Diskussion in der Geistigbehindertenpädagogik. (a. a. O. S.96)

… Die >Dignität der Praxis< (Schleiermacher) verweist auf die notwendige Orientierung und Vergewisserung pädagogischen Denkens am konkreten Bildungsgeschehen… Das bezieht sich auf alle >Brennpunkte< … auch auf die >Tatsache< der Rückschulung im Kontext von Inklusionsbemühungen…. [viele Kinder müssen wieder aus der Regelschule herausgenommen werden, weil sie dort versagen oder stören.]

… Denn es geht bei dieser Problematik gerade darum, nicht die Identität von Absicht und Realität zu beschwören, sondern die Differenz zwischen der Faktizität einerseits und der Intentionalität andererseits als das spezifisch Pädagogische festzuhalten… (a. a. O. S.97)

 Konrad Bundschuh

Systeme – Inklusion – Betroffene
Grenzen und Möglichkeiten der Verwirklichung

1 Systeme in der Krise

Häufig wurde und wird der Systembegriff auch im Zusammenhang mit heilpädagogischen Fragestellungen verwendet (vgl. Kobi 1999). Dieser Begriff erweist sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nicht zuletzt auch im Kontext des Zusammenbruchs sozialer, ökonomischer und finanzieller Systeme als problematisch, da einzelne Menschen mit speziellem Erziehungs-, Förder- und Hilfsbedarf, mit Beeinträchtigungen und Behinderungen im Rahme systemischen Denkens nicht immer adäquat wahrgenommen werden…
Das Schulsystem fordert in der Regel Leistung von den Schülern. Kindern werden gerade heute mit epidemiologischer Genauigkeit Verhaltens-, Lernstörungen und Behinderungen attestiert. Familien, Schulen und andere Institutionen sind an den Grenzen der Belastbarkeit angelangt.

… Die Klagen über Aggression und Gewalt, allgemeine Verhaltensauffälligkeiten und Lernstörungen bei Kindern und Jugendlichen nehmen zu, ca. 25 % aller Kinder sind betroffen. (a. a. O. S.101,102) Ca. sieben Prozent aller Schulkinder werden in Förderschulen unterrichtet. Klingt in diesem Zusammenhang der Gedanke an Inklusion zunächst nicht  als ironisch und utopisch? … Stellt der Inklusionsgedanke die Lösung für ein Leben mit Behinderung in unserer Gesellschaft dar – auch unter den Aspekten Lernen, Bildung, Persönlichkeitsentwicklung und vor allem Lebensqualität?... Es stellt sich dabei die Frage,  was zu tun sei, damit Leben individuell wie kollektiv gelingen kann in einer Welt , die in vieler Hinsicht die Maßlosigkeit, speziell die Leistungsfähigkeit zum Maß aller Dinge erhebt…. Zweifellos bezieht Inklusion alle Menschen ein. Sie geht weit über schulische Belange hinaus, erstreckt sich über die gesamte Lebensspanne und intendiert ein wert- und würdevolles soziales Zusammenleben aller Menschen…

2 Inklusion kritisch betrachtet

… Seinen Ursprung hat der Terminus… Inklusion… in der Soziologie Niklas Luhmanns (1987), der ihn als Gegenbegriff zu Exklusion verstand und beide Begriffe als >Primärdifferenz von Gesellschaftssystemen< betrachtete (vgl. Biewer 2009, 124 f.). Abgesehen von der Verwendung der Begriffe >inclusion<, >inclusive education< oder >inclusive schools< im angloamerikanischen Raum, in dem Integration mit Inklusion zunächst meist gleichgesetzt wurde, hat der Begriff seinen bildungswissenschaftlichen Ursprung in der Salamanca-Erklärung von 1994. >Das Leitprinzip, das diesem Rahmen zugrunde liegt, besagt, dass Schulen alle Kinder, unabhängig von ihren physischen, intellektuellen, sozialen, emotionalen, sprachlichen oder anderen Fähigkeiten aufnehmen sollen. Das soll behinderte und begabe Kinder einschließen, Kinder von entlegenen oder nomadischen Völkern, von sprachlichen, kulturellen oder ethnischen Minoritäten sowie Kinder von anderen benachteiligten Randgruppen oder –gebieten< (deutsch: UNESCO 1994,14). Die britische Literatur der 1990er Jahre beschreibt häufig folgende Merkmale des Konzepts der >inclusive school<: Die Verschiedenheit  der Schüler(innen) stellt den Ausgangspunkt des Schulkonzepts dar und wird als positiver Wert angesehen, nicht als Problem oder eine Erschwernis für Lehrkräfte. … Die inklusive Schule stellt einen Beitrag zur Entwicklung einer inklusiven Gesellschaft dar (vgl. Biewer 2009, 126 ff.)
Die Österreichische UNESCO-Kommission übersetzte 1996 die Salamanca-Erklärung ins Deutsche und übertrug >inclusion< mit >Integration< und >inclusive schools< mit >integrative Schule<. Es bestand zu diesem Zeitpunkt noch kein Bewusstsein darüber, dass diese Übersetzung möglicherweise den Sachverhalt nicht genau trifft. >Inclusion< wurde von Anfang an mit >Inklusion< übertragen, ungeachtet der Kritik, dass der ebenfalls denkbare Bezug auf das lateinische >includere< (= einschließen, einsperren) unpassende Assoziationen wecken könnte. Auch der Alternativvorschlag …>Einbeziehung<… blieb folgenlos… (a. a. O. S.103)
… In Deutschland wird immer noch ein geringer Anteil von Schülern integrativ beschult; mit großer Wahrscheinlichkeit liegt die Zahl bei zehn Prozent; Inklusion befindet sich noch im Anfangsstadium einer Verwirklichung. Aufgrund der evidenten Mängel im Rahmen integrativer Prozesse können Forderungen entwickelt und Verbesserungsvorschläge abgeleitet werden….
Der Unterschied zwischen schulischer Integration und Inklusion besteht insbesondere in der Zielsetzung: >Die Integrationspraxis versucht, aus sonderpädagogischer Warte individuumsbezogen die Einbeziehung ihrer Klientel mit sonderpädagogischem Förderbedarf, je nach individueller Schädigung, mit personenbezogener Ressourcenausstattung…, während die Inklusionspraxis mit systemischem Ansatz alle Schüler an einer gemeinsamen Schule für alle teilhaben und individuell wie gemeinsam lernen lassen und dies mit systembezogener Ressourcenausstattung und allen beteiligten Berufsgruppen… (a. a. O. S.104)
… Martin Giese hebt hervor, dass sich der Inklusionsdiskurs quasi in einem, >anthropologischen Niemandsland< befindet und weist auf den theorieabstinenten Inklusionsdiskurs, ferner auf strukturalistische Insuffizienzen hin… (2011, 218 ff.) Inklusion bewegt sich aus wissenschaftlicher Sicht auf unsicherem Terrain.

3 Inklusion als Aufgabe

… Dabei geht es nicht nur um eine soziale Integration im Sinne des Geltenlassens und Verstehen von Mitmenschen mit Behinderung und deren Eingliederung in die Welt der Nichtbehinderten. Inklusion im umfassenden pädagogischen Verständnis bedeutet vielmehr, dass alle Kinder und Jugendlichen im gemeinsamen Leben durch Lernen an gemeinsamen Inhalten, kooperativ und kommunikativ beteiligt sind, gemeinsam spielen, lernen und arbeiten, wobei der Inklusionsbegriff spezifische Möglichkeiten und Grenzen noch zu wenig reflektiert. Wichtig ist dabei, den Kindern und Jugendlichen mit Behinderung an den gemeinsamen Lernprozessen eine aktive Teilnahme zu ermöglichen… Nur in Interaktionen mit aktiver Beteiligung aller lernen Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung einen unbefangenen Umgang miteinander, der die immer drohende Stigmatisierung von Menschen mit Behinderung verhindern hilft (Bundschuh/Heimlich/Krawitz 2007, 141-145)  Inklusion als Ziel ist in der sonderpädagogischen Diskussion an sich unumstritten…. Die jahrzehntelange Praxis der schulischen Separation behinderter Kinder aufgrund traditioneller Klassifikation in verschiedene Behinderungsarten vor allem in Anlehnung an medizinische und psychologische Vorgaben und das darauf basierende Sonderschulüberweisungsverfahren stehen allerdings in einem Widerspruch zum pädagogischen Inklusionspostulat… (a. a. O. S.105)
…Reinhard Markowetz (2007) stellt in einem Überblicksartikel zum Thema >Inklusion und soziale Integration von Menschen mit Behinderungen< über 20 Prinzipien zusammen… Der ethische Imperativ unserer Verfassung (Artikel 3, Abs.3, Satz 2 des Grundgesetzes, 1994) Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden http://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_3.html  legitimiert den pädagogischen Auftrag für integrative Erziehung und gemeinsamen Unterricht. Weiterhin: Normalisierung (behinderte Menschen sollen ihr Leben so normal wie möglich führen können), Unteilbarkeit von Integration (jedes behinderte Kind, unabhängig von Art und Schwere der Behinderung hat Anspruch auf integrative Erziehung und gemeinsamen Unterricht. Weiterhin: Normalisierung (behinderte Menschen sollen ihr Leben so normal wie möglich führen können)… Ganzheitlichkeit (jeder Mensch ist so zu akzeptieren, wie er ist), das dialogische Prinzip (die Begegnung zwischen Menschen als die eigentliche und wirksame pädagogische Situation) und die Freiwilligkeit. …

4.Inklusionspädagogik als dynamischer Prozess auf verschiedenen Ebenen

…Inklusion… in heterogen zusammengesetzten Lern- und Spielgruppen von Anfang an… Kinder mit und ohne Behinderung haben damit auf natürliche Weise Gelegenheit, voneinander zu lernen und von ihrer Unterschiedlichkeit zu Lernen und Entwicklungsprozessen angeregt zu werden. (a. a. O: S.106,107) Aus diesem Grunde sollte Inklusion das gesamte Bildungswesen, schlichtweg das ganze Leben des Menschen umfassen…  Außerhalb von Bildungseinrichtungen im engeren Sinne gewinnt das Konzept der Normalisierung noch mehr an Bedeutung. Normalität bedeutet dabei keineswegs Anpassung Behinderter an die Normen der Gesellschaft. Vielmehr bringt das Normalitätsprinzip zum Ausdruck, dass Menschen mit Behinderungen wie alle anderen Mitglieder der Gesellschaft ein Recht auf normale Lebensbedingungen haben (z.B. Zeiteinteilung, Wohnen, Freizeit, Reisen, Entscheidungen)…. Während in der traditionellen Pädagogik eine defizitorientierte Sicht von Behinderungen dominierte, steht in der Integrations- und vor allem Inklusionspädagogik eine kompensations-und ressourcenorientierte Sichtwiese im Vordergrund…. Unterschiedlichkeit ist… konstituierendes Moment von Erziehungs- und Bildungsprozessen in modernen Gesellschaften…. Die gesellschaftliche Ebene is die normative Grundlage integrativer Prozesse. Integration und erst recht Inklusion geraten aber zunehmend in Widerspruch mit normativen Setzungen einer Gesellschaft, die seit jeher >Behinderte als deviante Personen< exotisierte, gleichzeitig aber >besondere< Einrichtungen für deren Rehabilitation geschaffen hat. Weshalb sollten sich diese Einrichtungen – von der gesellschaftlichen Ebene her betrachtet – nun plötzlich erübrigen? (a. a. O. s.107,108) Inklusion provoziert und macht Widersprüche transparent… Wir sind allerdings – vor allem bei Berücksichtigung der Schwerfälligkeit und Resistenz der involvierten Systeme – von einer Lösung der Problematik weit entfernt. (a. a. O. S.108,109)

Ansätze und Aspekte inklusiver Unterrichtung

Bei Eltern, Pädagogen, bildungspolitkern und bei Verbänden ist die Überzeugung gewachsen, dass eine angemessene Vorbereitung von Kindern mit und ohne Behinderung auf ein gemeinsames Leben in unserer Gesellschaft nur gelingen kann, wenn die soziale Inklusion behinderter Kinder in der Regelschule – soweit wie möglich – verwirklicht wird….
Im Mittelpunkt steht die einzelne Person, das Subjekt mit seiner jeweils individuellen Entwicklung…
Insofern erscheint es pädagogisch eher vertretbar zu sein, ein Kind mit erheblichen Lernproblemen in einer Schule mit einem entsprechenden Förderschwerpunkt wie z. B. Lernen, geistige Entwicklung, Verhalten, Sehen zu unterrichten, als es in der Regelschule bzw. Allgemeinen Schule zum permanenten Schulversager mit allen Konsequenzen für den Persönlichkeitsbereich (Ängste, totaler Motivationsverlust, Frustration) werden zu lassen (Bundschuh 2008, 46 – 59, 267 -173). …. Es darf nicht sein, dass um des Etiketts >Inklusion< willen von Anfang an in die Allgemeine Schule integriert wird, ohne das pädagogisch sinnvolle Voraussetzungen dafür geschaffen wurden… (a. a. O. S.109)

6..Inklusion – Grenzen und Möglichkeiten

Die Sonder- und Heilpädagogik muss sich als Wissenschaft intensiv mit der Frage der Inklusion und >kindesorientierter Unterrichtung< von Schülern beschäftigen…

6.1 Grenzen

Bisher liegt keine allgemein anerkannte Definition von Inklusion vor; es handelt sich wohl eher um einen euphemistischen Begriff, der es Wissenschaft und Praxis ermöglicht, ethisch akzeptable Gedanken zu äußern, unbefangen über pädagogisch und ethisch Wünschenswertes zu reflektieren…. Es wird schwierig sein, das traditionelle Doppelsystem Allgemeine Schule und Förderschule als geteiltes System zu einem neuen inklusiven Schulsystem umzuwandeln… Systeme sind relativ starr, sie tragen in sich eine Beharrungstendenz… (a. a. O: S.110)
Betrachtet man Inklusion unter den Aspekten der Kompatibilität von Leistungssicherung und sozialer Erziehung, klafft die Schere unüberbrückbar weit auseinander; ob sich dieser Spagat in Zukunft verringern oder gar neutralisieren lässt, bleibt fraglich…
Für die Realisierung von Inklusion wird eine inklusive Gesellschaft gefordert; dabei gehört zur Gesellschaft, dass es immer auch Gewinner  und Verlierer gibt. Werte und Normen des Miteinander und Füreinander werden häufig nicht beachtet. Kein Zweifel, die schulische Inklusion von Kindern mit und ohne Behinderung wird nur von einem Teil der Gesellschaft eingefordert. Unter systemtheoretischem Aspekt kann aber nicht ein Teil das Ganze bestimmen…
Wir sprechen bereits wieder zu häufig über die Betroffenen, statt mit den Menschen mit Behinderungen. Man sollte sie selbst und die nahen Bezugspersonen fragen, wie sie sich im Zusammenhang mit ihrer Situation Inklusion vorstellen…
Das hierarchisch gegliederte Schulsystem setzt die eigentlichen Grenzen für die adäquate Förderung von Kindern mit Lernproblemen in der Allgemeinen Schule, vor allem wenn man bedenkt, dass die Grundschule in zunehmendem Maße als Zubringerschule zu den weiterführenden Schulen dient… (a. a. O. S.111)

6.2. Möglichkeiten der Inklusion

Die Weiterentwicklung des ursprünglich als Integration bezeichneten Ansatzes in Richtung Inklusion im Sinne einer >Schule für alle< wird möglich sein, aber nur Schritt für Schritt können Lösungen gemeinsamen Lernens umgesetzt werden. Es wird ein langsamer und langwieriger Prozess sein, bei dem auch mit Rückschlägen zu rechnen ist….Dabei wird es notwendig sein, Einstellungen der Menschen in unserer Gesellschaft und das Schulsystem, in dem der Leistungsgedanke nahezu durchgängig dominiert, im Sinne von Inklusion zu ändern. Das Leistungsdenken ist in unserer Gesellschaft über Jahrzehnte hinweg gewachsen und damit tief verwurzelt…

6.Perspektiven

Der Boden für Inklusion ist bereitet, die frühe Separierung bzw. Klassifikation von Schülern bis zur vierten Klasse der Grundschule wird sehr häufig kritisiert, der ideologische Streit zwischen verschiedenen Schulmodellen und Systemen wie Gesamtschule und gegliedertes Schulsystem weitgehend neutralisiert.
Sonder- und Heilpädagogik stand und steht nicht im Dienste normorientierter, lehrplan- und lehrerorientierter schulischer Wirklichkeit im Sinne der Passung und Anpassung des Kindes an gegebene Verhältnisse, nimmt vielmehr entschieden die Position des in Probleme geratenen Kindes gegenüber dem System Schule und allen Implikationen (Schulamt, Lehrer, Prüfungen) ein. Erst mit der Orientierung an der speziellen Bedürfnissituation beginnt der Weg des Verstehens…(a. a. O: S.112)

II  Fragen zu Unterricht und Schule

Michael Wagner
Die inklusive Schule der Zukunft -
wirklich eine Schule für alle?

.. Nach Speck steht Inklusion für einen Zustand des sozialen Eingeschlossenseins, für Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft und für ein Einbezogensein in lebensrelevante Kommunikationszusammenhänge. Gleichzeitig macht er aber darauf aufmerksam, dass es sich hierbei letztlich um eine Metapher handelt, die erst im Hinblick auf ein spezifisches Bezugssystem mit einer klaren inhaltlichen Bedeutung verbunden werden kann (vgl. Speck 2010, 61) In einem solchen Bildungssystem ist sichergestellt, dass >Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit anderen in der Gemeinschaft leben, Zugang zu einem inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterführenden Schulen haben< (ebd. 36 (Schattenübersetzung!))… Nach Heimlich verzichten inklusive Bildungseinrichtungen von vornherein auf jegliche Form der Aussonderung… (Heimlich 2011, 45)…. Dabei bezieht sich die prinzipielle Anerkennung von Vielfalt sowohl auf die Unterschiede zwischen Menschen als auch auf ihre Gleichheit im Sinne eines gemeinsamen Menschsein. Die Vielfalt wird anerkannt und als >reichhaltige Quelle für das Lernen, Unterrichten und den Aufbau von Beziehungen<(Booth 2010, 62) anerkannt.  (a. a. O: S.117,118)
Die Aspekte von >Heterogenität< beziehungsweise >Vielfalt< beziehen sich im Kontext von Inklusion nicht nur auf die Dimensionen >Kompetenz< und >Einschränkung<, sondern umfassen auch verschiedene Geschlechterrollen, ethnische, sprachliche und kulturelle Hintergründe, religiöse und weltanschauliche Überzeugungen, Familienstrukturen, soziale Lagen< (Hinz 2002, 357)…

2 Die inklusive Schule – eine Schule für wen?

… ob dies letztendlich nicht zu einer Überforderung aller am Bildungsprozess Beteiligen führen muss? …(a. a. O: S.118)  Betrachtet  man … die Ausführungen in einem Handbuch der Parlamentarier, das von den Vereinen Nationen 20078 zur Erläuterung der Behindertenrechtskonvention herausgegeben wurde, so wird der Zusammenhang Inklusion –>Schule für alle< – scheinbar relativiert. >Experience has shown that as many as 80 or 90 per cent of Children with specific education needs, including children with intellectual disabilities, can easily be integrated into regular schools an[d] classrooms< (United Nations 2007, 83). … Eine Gruppe, die allerdings mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu diesen 20 % gehört, sind Kinder und Jugendlichem ist einer schweren oder mehrfachen Behinderung, mit massiven Verhaltensauffälligkeiten oder zum Teil auch mit schweren chronischen oder progredienten Erkrankungen…
Wocken (2011, 95) geht … davon aus, dass es >zur Inklusion aller Kinder mit Behinderungen […] zweierlei Systeme [bedarf]< Für Kinder mit den Förderschwerpunkten Lernen, Sprache, emotional und soziale Entwicklung ist… zukünftig das >inklusive Regelsystem< …(Wocken 2011, 95) … zuständig. Für Kinder mit den Förderschwerpunkten Sehen, Hören, geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung gibt es das >inklusive Unterstützungssystem< (ebd., 99): In ihm wird >wie bisher üblich der sonderpädagogische Förderbedarf formell festgestellt und darauf aufbauend eine personenbezogene Zuweisung zusätzlicher und fachlich angemessener Pädagogenstunden vorgenommen< (ebd.., 100).
In eine solchen inklusiven Unterstützungssystem werden die Schülerinnen und ‚Schüler mit Behinderung auf verschiedene Klassen und Schulen verteilt und den sonderpädagogische Förderung erfolgt ambulant durch einen sonderpädagogischen Wanderlehrer<, der von Klasse zu Klasse, von Schule zu Schule geht und dort >seine< Kinder aufsucht< (ebd., 101). Auch für Reiser (2002, 415) ist die Forderung nach einer >Schule für alle< eine Illusion. Er geht davon aus, dass es für einzelne Kinder und Jugendliche auch zukünftig einen Bedarf nach speziellen schulischen Einrichtungen geben wird… >rehabilitative Einrichtungen< (ebd.). (a. a. O. S.119,120) … Für die… scheinbar nicht in das >inklusive Regelsystem< (Wocken) inkludierbaren Schülerinnen und Schüler ist es auch…  so, dass sie weiterhin in besonderen schulischen Settings zusammengefasst und unterrichtet werden. Dies birgt die große Gefahr der Bildung von eher homogenen >Restschulen< bzw. >rehabilitativen Einrichtungen< (Reiser) in sich, was letztlich eine noch stärkere Exklusion und Marginalisierung dieser Kinder und Jugendlichen zur Folge hätte, wie das aktuell der Fall ist…  man wird mit Blick auf die Gefahr des Entstehens neuer >rehabilitativer Einrichtungen< letztlich immer noch in der Phase der Separation und Segregation stecken bleiben…. Schule der Zukunft … muss… notwendigerweise eine >Schule für alle< sein. (a. a. O. S.120)

3  Der Weg zu einem inklusiven Bildungssystem

… Nicht schuladministrative Aspekte  im Kontext der Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs entscheiden über den zukünftigen Schulort, sondern Eltern, Kinder und Jugendliche haben ein Wahlrecht, das in der UN-Konvention als ein >menschenrechtlich verbürgter Anspruch< (ebd.) festgeschrieben wird... (a. a. O. S.121)

4  Entwurf einer inklusiven Schule für alle

..Konzept.. Feuser.. der >entwicklungslogischen Didaktik< (vgl. u. a. 1989)… Sein Ziel ist es, dass >alle Kinder in ihrer momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen in Orientierung auf die >nächste Zone der Entwicklung< an und mit einem Gemeinsamen Gegenstand < spielen, lernen und arbeiten< (Feuser 2002, 283). Feusers ausschließlich auf das Modell >Gemeinsames Lernen am Gemeinsamen Gegenstand< begrenzter Ansatz erfährt durch die von Wocken beschriebenen unterschiedlichen Lernsituationen (1998) eine konzeptionell wichtige und notwendige Erweiterung… Vielfalt reicht dabei von sogenannten >koexistenten Lernsituationen<, in denen Schülerinnen und Schüler in gemeinsamen Lernsituationen in erster Linie auf sich selbst und ihre individuellen Handlungspläne konzentriert sind, bis hin zu kooperativen Lernsituationen, in denen im Sinne Feusers gemeinsam gelernt wird…
Um .. Kinder[n] und Jugendliche[n] mit schweren Behinderungen… gerecht werden zu können, sind unterschiedliche Settings notwendig, die ein hohes Maß von Individualisierung, bis hin zur didaktisch vorstrukturierten Einzelsituation gekennzeichnet sind. Mit Markowetz kann man dies als >exklusiv-individuelle Lernsituationen [bezeichnen; M.W.). in denen die meisten Kinder in gemeinsamen Lernsituationen nahezu Unterricht das Gleiche tun, während eines oder auch mehrere Kinder parallel das Ihrige tun dürfen< (Markowetz 200, 177). (a. a. O. S.122,123) ..Ziel einer solchen Schule ist es auch, auf der Basis sehr unterschiedlicher Lernangebote verschiedene Schulabschlüsse zu ermöglichen…  Fragt man nun, welche Kriterien für Eltern von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung bei der Schulwahl relevant sind, so zeigt beispielsweise eine Elternbefragung… 2008  in Bayern…, dass von den 158 Eltern… 64 % (n=101) die Möglichkeiten von Förderung und Therapie als wichtigen Grund angeben (vgl. Fickenscher/Kannewischer/Wagner 2010, 257)…. z.B. Krankengymnastik, Ergotherapie. Logotherapie…
In einer Schule, in der sowohl verschiedene Lernsituationen als auch verschiedene therapeutische Angebote realisiert werden sollen, laufen die jeweils heterogen zusammengesetzten Schulklassen allerdings Gefahr, in mehr oder weniger stabile Teilgruppen zu zerfallen, was der Idee eines inklusiven Unterrichts zuwider laufen würde. Um dies zu vermeiden, ist es notwendig, das die sogenannte >Schulklasse< sich in ihrer Funktion verändert. Aus ihr muss eine heterogen zusammengesetzte >Stammgruppe< werden, die für die einzelnen Schülerinnen und Schüler den sozialen und immer wieder auch unterrichts- und lernbezogenen Mittelpunkt bildet…. Die einzelne Schülerin, der einzelne Schüler lernt in seiner Stammgruppe, verlässt sie aber immer wieder auch, um situativ in anderen Unterrichtssituationen lernen zu können oder um therapeutische Unterstützungsangebote wahrzunehmen… (a. a. O. S.123)

Abb.1: Strukturmodell einer >Schule für alle< [nicht wiedergegeben]

Désirée Laubenstein
Eine Schule für alle oder eine Schule für jeden – Gedankenfragmente zu diskursiven Praktiken im Rahmen aktueller Inklusionsdiskussionen

Mit PISA hat eine neue Diskussion in der Bundesrepublik begonnen. Eng gekoppelt sind hieran Überlegungen zur Bildungsgerechtigkeit mit den Strukturelementen Verfügbarkeit (availability), Zugänglichkeit (accessibility), Annehmbarkeit (acceptability) und Adaptierbarkeit (adaptibility vgl. Lindmeier 2010, 2) …  ein…Bildungssystem…wird… dann als ungerecht empfunden, wenn es bestimmte Menschen strukturell benachteiligt … in einem unmittelbaren Verweisungszusammenhang mit dem…Begriff…. der Chancengleichheit , >Die grundsätzliche Problematik spitzt sich auf die Frage zu, ob >Chancengleichheit< darin bestehe, alle Schüler gleich zu behandeln oder sie radikal verschieden, nämlich entsprechend ihren jeweiligen Bedürfnissen zu fördern< (vgl. Brennner 2011, 14, in Anlehnung an Hellekamp/Musolf 1999).
Tatsache ist jedoch, dass es heutzutage eine ganze Reihe von potentiellen Verlierern des Bildungsprozesses gibt, und dass hier regionale, konfessionelle, geschlechtsspeifische, lebenslagenspezifische, ethnographische und kulturelle Aspekte mit hineinspielen. Demzufolge ist Ahlbeck (2011, 69) zwar zuzustimmen, wenn er hervorhebt, dass in der Bundesrepublik niemand aufgrund seiner Herkunft vom Schulbesuch ausgeschlossen wird, der Aspekt der Benachteiligung bleibt davon jedoch unberührt. >Wer die Schule von ihrem gesellschaftlichen Auftrag her denkt, dem stellt sich das Problem der Bildungsgerechtigkeit unter neuen Perspektiven: nicht mehr unter dem Aspekt der Versorgung einer möglich großen Zahl von Schülern mit möglichst hohen formalen Abschlüssen, sondern die Bereitstellung eines ausdifferenzierten Schulangebots für verschiedene Bedürfnisse.< (Brenner 2011, 35) (a. a. O. S. 127,128)
Fußnote 3. Vgl. hierzu die Diskussion im soziologischen Diskurs über die >Überflüssigen< (Hark 200).
Hierbei gelingt es dem deutschen Schulsystem bisher nicht, jedem Kind eine faire Bildungschance einzuräumen (vgl. Dräger 2009, 4). Zurzeit befindet sich das Schulsystem in einer paradoxen Situation: >Immer mehr Schülerinnen und Schüler werden außerhalb von Förderschulen integrativ gefördert, bei gleichzeitiger Zunahme der Schülerzahl in Förderschulen. […] An den insgesamt 3.302 Förderschulen in Deutschland werden derzeit etwa 400.000 Schülerinnen und Schüler (4,9% aller Schüler ) unterrichtet. Unter den EU-Staaten hat Deutschland damit den höchsten Anteil an Schülerinnen und Schüler, die in Förderschulen unterrichtet werden. Vor allem Jungen sind an Förderschulen stark überpräsentiert< (Autorengruppe 2010, 6).. >Während in Hamburg etwa ¼ der Schüler mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung am gemeinsamen Unterricht teilnimmt, sind es in Baden-Württemberg (II) lediglich 0,13 %  […] Überraschenderweise ist… Bremen, hinsichtlich aller Förderschwerpunkte der Spitzenreiter in den Integrationszahlen, in der Integrationsquote für den Förderschwerpunkt geistige Entwicklung Schlusslicht… Schüler mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung werden in Bremen in kooperativer Form gemeinsam mit jahrgangsentsprechenden Klassen der zugeordneten allgemeinen Schule in der Verantwortlichkeit des jeweiligen Förderzentrums unterrichtet. Somit liegt keine Integration im Sinne der KMK vor< (Breyer 2010. 9) … (a. a. O. S.129) … Wie positionieren sich die Teilnehmer(innen) dieser Diskurse? Welche Wirklichkeit wird durch welche Argumentation konfiguriert?  Welche Wissensordnungen lösen sich durch die Inklusionsdebatte ab? Lösen sie sich überhaupt ab? Und vor allem: wer interpretiert diese Diskurse…? … Wer hat die Deutungsmacht? ...

Wie wird Behinderung im Inklusionsdiskurs produziert und reproduziert?

… Reuter (2010, 24) formuliert: >Inklusion ist eine Lebensform, bei der Unterschiede zwischen den Kindern in ihren Interessen, Wissensständen, Fähigkeiten und Fertigkeiten, familiäre und kulturelle Hintergründe, kommunikative Kompetenzen, Herkunftsbedingungen, Begabungen und Beeinträchtigungen zum Potenzial des Lernens aller Beteiligten werden können<… Die Beschulung in Sondereinrichtungen wird gleichgesetzt mit Diskriminierung, Isolation und Trennung von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.
Allerdings lassen sich in diesem Kontext auch kritische Stimmen finden. Kobi (2008, 14) mahnt an: >Ein Inklusions-Konzept, das nicht in den Ruch einer >Totalen Institution< geraten will, hat zumindest die Möglichkeit zur Selbst-Exklusion offen zu halten…(a. a. O. S.130,131) [spricht von] Orwell‘scher Sprachsäuberung… >Behindertsein ist schön!<, >Geistig Behinderte gibt es nicht!<, >Celebrate Diversity!<, so die Interjektionen der Verzückung im Ausblick auf das belobigte Land< (ebd. 19) Auch Ahrbeck (2011, 8) bemerkt kritisch: […] niemand soll mehr ausgeschlossen werden. Allerdings darf sich dann auch niemand mehr, und das ist die Kehrseite, aus diesem System entfernen.< …
Ahrbeck (2011, 107f.) resümiert: >Die Diskussion ist affektiv erheblich aufgeladen…  Insofern ist auch nicht gesichert, mitunter sogar unwahrscheinlich, dass alle Kinder von einer inklusiven Beschulung profitieren können,<  … >..  >…ach ich bitte euch, dies in Zukunft zu ändern, alle Kinder brauchen eine Schule für alle< und individuelle Förderung, bitte verhindert diese ausgrenzung und dieses >abnunbinichandersgefühl< für kinder mit behinderung. Ich habe es am eigenen Leib und ganz besonders in meiner seele erfahren, wie sich diese ausgrenzung anfühlt. Ich hatte viele jahre nur einen unangemessenen lernstoff, die praktische beschulung ignorierte  meine handlungsstörung als autistin, es ist keinem menschen anzusehen was er versteht, ganz egal wie schwerwiegend die behinderung auch sein mag, es ist nie beurteilbar ob ein mensch nicht doch klug ist, und es nur nicht zeigen kann, deshalb muss jedes kind das recht haben den ganz nomalen unterricht zu bekommen,  auch wenn sein wissen nicht abgeprüft werden kann…< (Klein  2010, 33). (a. a. O. S.13 1)
Zemp (1995, 355ff.) hebt hervor: …> Nach all dem, was ich gehört habe, muss ich annehmen, dass die Sonderpädagogik noch nie etwas von der Behindertenbewegung gehört hat… Wir in der Behindertenbewegung sind längst woanders: wir fordern Emanzipation statt Integration […] Wir wollen nicht in die gleiche Misere integriert werden, wie Menschen ohne Behinderung sind! Wir fordern das selbstverständliche Recht auf ein selbstbestimmtes Leben und das Anerkanntsein in unserem Sein mit unseren spezifischen, eben vielleicht anderen Möglichkeiten.<
…. So verweist die Soltauer INITIATIVE für Sozialpolitik und Ethik in sozialen Arbeitsfeldern (2010) darauf hin, dass unter sozial- und wirtschaftspolitischer Perspektive die Euphorie der Behindertenverbände, die mit der Ratifizierung der UN-Behindertenkonvention einhergeht, nicht geteilt werden kann. … Die Soltauer Initiative (2010, 11) stellt fest: >Eine Inklusiom gerade behinderter Menschen in einer vom System her exkludierenden Politik ist schwer vorstellbar.< (a. a. O: S.132)
Der Deutsche Behindertenrat (2010) fordert in seinem Positionspapier, dass Wissenschaft und Forschung ihren Blick auf die inklusive Bildung fokussieren müssen…
Der vds (2010, 27) hebt hervor: >Soll Inklusion gelingen, wird sowohl die permanente Weiterentwicklung eines hochqualifizierten interdisziplinären Unterstützungssystems von Förderzentren für alle (sonderpädagogischen) Bedürfnisse als auch die prozessbezogene, qualitätsorientierte Evaluation der Systeme benötigt.< Warnend weist der vds darauf hin, dass hierbei >allgemeine und Förderschule nicht als konkurrierende Systeme diskutier werden  [dürfen], sondern als qualitative Förderangebote in einer gemeinsamen Bildungslandschaft.< (ebd. 24).
Erst in ihrem Entwurf am 03.12 2010 äußert sich die KMK explizit zur inklusiven Bildung…: >Die inklusive Schule ist eine Zielvorstellung, die in einem längerfristigen Prozess zu verwirklichen ist. Dabei können die vorhandenen Organisationsformen sonderpädagogischer Förderung einschließlich der Förderschulen weiter geführt und einbezogen werden.<
(KMK 2010, 18) …
Die Deutsche Gesellschaft für Erziehungswissenschaften, Sektion Sonderpädagogik hat daraufhin am 15.03.2011 …kritisch herausgestellt, dass das Recht auf Bildung und die Forderung der Umstellung auf ein inklusives Erziehungs- und Bildungssystem nicht vereinbar ist mit der Pluralisierung der Förderorte< oder der >Beibehaltung von Sonderinstitutionen<.
Die Monitoring-Stelle des deutschen Instituts für Menschenrechte stellt in ihren Empfehlungen an die Länder, die Kultusministerkonferenz und den Bund am 31. März 2011 heraus, dass bisher nur vereinzelt der erforderliche Rechtsrahmen für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems geschaffen (Bremen), Rechtsanpassungen vorgenommen (Hamburg, Schleswig-Holstein), Konzepte erstellt (Berlin, Mecklenburg-Vorpommern) oder regionale Arbeitsprozesse organisiert wurden (Baden-Württemberg). (a. a. O. S.133,134) >Beunruhigend sind die Zeichen aus einem Bundesland (Sachsen), das sich im Schulbereich dem Auftrag aus der Konvention weitgehend verschließt< (ebd. 4)…. (a. a. O. S.134)

Wer sind nun die sozialen Akteure im Inklusionsdiskurs?
Wer hat die Sprecherposition? Die betroffenen Personen?
Die Wissenschaftler(innen)? Die Politiker(innen)?

Überraschenderweise sind es scheinbar nicht die Menschen mit Benachteiligungen/Behinderungen selbst, die im Rahmen der Inklusionsdebatte Gehör finden und die über ihre Teilhabe in allen für sie relevanten Lebensbereichen selbst bestimmen können…
Das Normalitätsdenken, der ständige Konfliktbereich zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen, fällt in den Beurteilungen und Überlegungen unter den Tisch< (Sierck 1989, 9)…

Wie werden die Subjektpositionen im aktuellen Inklusionsdiskurs konstituiert?

Subjekte

Positionen

Menschen mit Benachteiligung/
Behinderung

Hilfebedürftig-förderbedürftig

Eltern

Engagiert/unwissend

Regelschullehrer(innen)

(in)kompetent

Sonderpädagog(inn)en

Wissend/ignorant

Politiker(innen)

Unflexibel

 

Nach dem dargestellten Stand der pro/contra Diskussion im Inklusionsdiskurs werden die Subjektpositionen nach alter Tradition aufrechterhalten… (a. a. O. S.135)
… Mit dieser Zuschreibungspraxis lassen die derzeitigen Praktiken keine Positionsveränderung zu. Ein verändertes Wissen über Benachteiligung/Behinderung wird zwischen den Subjekten so nicht hergestellt werden können.

Gibt es mögliche Diskussionsuniversen?
Gibt es einen gemeinsamen konsensuellen Bereich aller Akteure?

… die  UN-Behindertenkonvention…

Gibt es eine Verschiebung der Akteure und eventl. Ihrer Positionen innerhalb des Diskurses? Wer spricht zukünftig?

… Es gilt, bestehende Ängste und Abwehrmechanismen zu analysieren und zu beobachten, inwieweit die sonderpädagogische Theorie und Praxis Emanzipationsbestrebungen von Menschen mit Benachteiligungen/Behinderungen ignoriert, nicht ernst nimmt oder diese als >Nichtverarbeitung einer Behinderung< (Eggli 1993, 131) deklassiert. Indem nichtbehinderte Menschen bestimmen, welche benachteiligten/behinderten Menschen integriert werden, üben sie soziale Kontrolle aus. Diese Machtstrukturen gilt es, im Sinne Foucaults (1978; 1993; 1994) zu analysieren….
… Vielmehr können, sollten und müssen immer auch die betroffenen Kinder und Jugendlichen und ihre Eltern selbst (mit)entscheiden können und dürfen, wo und wie sie Bildung erfahren und in welcher (schulischen) Organisationseinheit dies möglich ist. (a. a. O. S.136)
Dies kann eine >Schule für alle< sein, denkbar wäre jedoch auch eine >Schule für jeden<. (a. a. O. S.137)

 

Reinhard Markowetz

Inklusive Didaktik (k)eine Neuschöpfung!?
Ein Beitrag zur didaktischen Diskussion über Gemeinsamen  Unterricht

1  Problemstellung und einleitende Zusammenhänge

Menschliches Lernen ist komplexer als es und die Lerntheorien suggerieren. Lernen ist ein höchst individueller und lebenslanger Prozess, dem die gegenwärtige Lernkultur in unseren Regelschulen nicht mehr gerecht zu werden scheint. Lehrer()innen), die ihren Unterricht so planen und vorbereiten, dass alle Schüler(innen) im Gleichschritt das Gleiche lernen können, werden auf Dauer weder den eigenen Ansprüchen an den Erfolg ihres Unterrichts genügen, noch den Bildungsansprüchen der ihnen anvertrauten Schülerschaft nachkommen können. Noch immer orientieren sich die Lehrer(innen) am Ideal des Lernens in weitgehend homogenen Gruppen…  Nur zu gut wissen wir, dass sich die sehr breit gefächerten Unterrichtskonzeptionen, denen wir in Gestalt von Begriffen und Worthülsen wie z. B. offener Unterricht, Öffnung von Schule, Verzicht auf äußere Differenzierung und Betonung von Maßnahmen der inneren Differenzierung und Individualisierung, organisiertes, entdeckendes Lernen, soziales Lernen, Erfahrungslernen, Entwicklungsorientierter Unterricht, Lernen mit und nach dem Wochenplan, Stärkung der lernenden Subjekte, Freiarbeit, fächerübergreifender, gar fächeraufhebender Unterricht, kommunikativer Unterricht, Projektunterricht usw. (vgl. z. B. Bönsch 1995; Glöckel 1996; Gudjons/Teske/Winkel 1991; Meyer 1987) begegnen, nur langsam verbreiten und vor allen Dingen auch in den weiterführenden Schulen nur zögerlich durchsetzen  (a. a. O. S.141,142) Es scheint so, dass , dass schon die reformwilligen Avantgardisten enorme Probleme bei der praktischen Umsetzung eben jener >anderen, alternativen Lehr- und Lernformen< haben, sich schwer tun, die Schule neu zu machen und den Unterricht >zeit- und kindgemäß zu gestalten, so wie es die ganz >großen< Pädagogen (z. B. Klafki 1971; 1995; v. Henrig 1994) vorgeben und Kulturkritiker aufgrund ihrer Analyse des gesellschaftlichen Wandels und der veränderten Kindheit (vgl. Beck 1986; Postman 1983; Preuss-Lausiz 1993; Rolff/Zimmermann 1985) längst zwingend anraten…
Stattdessen haben uns die >Kurznachrichten aus einer didaktischen Wunderwelt< erreicht, die verheißungsvoll den Einzug in ein >Superlea[r]ning – Megateaching < ankündigen (vgl. Terhart 1978, 181 ff.). Es ist die Rede von der Suggestopädie, dem Ansatz des Neurolinguistischen Programmierens (NLP) und der Edukinestetik. Diese stark körperbezogenen, biologisch fundierten Formen des Lehrens und Lernens werden bereits unter dem Sammelbegriff >Neurodidaktik< Friedrich 1985; Preiß 1996) subsummiert. Dabei hat es den Anschein, dass diese psychotherapeutischen Ansätze genau dort ansetzen, wo unsere pädagogische Verzweiflung am größten ist und uns beste Aussichten auf schnellen, reibungslosen eigenen Erfolg bei gleichzeitiger Heilung der Lernprobleme unserer Lernenden einräumen. Solche Methoden versprechen uns bislang ungeahnte Erfolge hinsichtlich der Quantität und Qualität des Lernens auf physiologische Grundlage und begründen ein Verständnis von Didaktik , das keiner tiefgründigen didaktischen Theorie mehr bedarf…
Friedrich, Gerhard (1985); Die Praktikabilität der Neurodidaktik. Frankfurt a. M. Lang – Preiß. Gerhard (Hrsg.) (1996): Neurodidaktik, Pfaffenweiler: Centaurus
Gleichzeitig boomen parallel zu den Schulen private Nachhilfeinstitute, die gegen gute Bezahlung aufarbeiten, was unsere Schulen nicht mehr zu leisten vermögen, die unsere Schüler coachen und briefen (engl. to brief = unterrichten), um ihnen das Überleben in den Häusern des Lehrens und Lernens so lange wie nur möglich zu sichern. (a. a. O. S.142,143)…
Oder sollte es tatsächlich genügen, sich unterrichtmethodisch  fortzubilden, um dann je nach Lust und Laune, in x-beliebiger Reihenfolge, …. In den Warenkorb der dort eingelagerten und über die Medien bereits feilgebotenen Verfahrensweisen zu greifen?...
…Wir… brauchen dringend ein schlüssiges, lehr- und praktisch anwendbares didaktisches Konzept, nachdem wir inklusiven Unterricht effektiv planen und gestalten können. Aus der integrationspädagogischen Literatur sind uns bereits einige didaktische Positionen bekannt (vgl. z. B. Feuser 1995¸Reiser 1991¸Spicher 1998)… Mir ist kein Überblick bekannt, der grundlegend über Akzeptanz und zahlenmäßige Verbreitung didaktischer Positionen innerhalb der Integrationspädagogik und nun auf den Terminus Inklusionspädagogik erweitert, fundiert Auskunft gibt. (a. a. O. S.143,144)

2  Bestimmung einer inklusiven Didaktik durch die Integration und Balance didaktischer Modelle

… Konkrete didaktische Entscheidungen lassen sich daraus nicht unmittelbar ableiten. Sinnvoll gebündelte und in einem gewissen logischen Zusammenhang stehende didaktische Prinzipien schärfen bisweilen aber klar umschriebene Unterrichtskonzepte, die sich zwischen offenen und geschlossenen Formen des Unterrichts bewegen, Ausdruck unterschiedlicher lern- und bildungstheoretischer Grundauffassungen sind und … auch den Vollzug ganz bestimmter unterrichtsmethodischer Umsetzungen vorsehen… (a. a. O. S.144,145) Didaktische Modelle suchen den Kontakt zu wissenschaftlichen Theorien und die Anbindung an Wissenschaftstheorien und lassen sich umgekehrt aus ihnen ableiten und schärfen. An der Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis haben demnach didaktische Modelle als Instrument der Erfassung, Analyse, Planung, Durchführung und kritischen Reflexion wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der Wirklichkeit von Schule und Unterricht…
Was also liegt näher, als die verschiedenen Aspekte und Aufmerksamkeitsrichtungen synergetisch in ihren Erklärungswerten und Planungsdimensionen zusammenzuführen, die >Patchwork-Metapher< innerhalb der Identitätstheorien (vgl. Keupp et al. 2002) auf die Didaktik zu übertragen und das Wissen, das einzelne didaktische Modelle zur Verfügung stellen, für die Entfaltung einer umfassenden Theorie einer inklusiven Didaktik zu nutzen, die den Umgang mi Gleichheit und Differenz als Aufgabe des Sozial- und Bildungssystems beschreiben, analysieren und kritisch-konstruktiv im Bildungsalltag lösen kann.
In diesem Beitrag ist es nicht Ziel, alle didaktischen Modelle zu sichten und im Einzelnen näher zu beschreiben. Nach Kron (2004, 63) wären dies vierzig didaktische Theorien und Modelle. Die die Didaktik als Wissenschaft gegenstandsorientiert bestimmen. Bönsch (1996, 97) kommt auf lediglich zwölf Ansätze… Das deutet darauf hin, dass… zum anderen einige Modelle (z.B. die kybernetische respektive kybernetisch-informationstheoretische Didaktik von Felix Cube),… völlig versandeten… (a. a. O. S.146)
An anderer Stelle (Markowetz 2007c) habe ich die Konturen jener zehn didaktischen Positionen skizziert, denen ich gegenwärtig aufgrund ihres mehr oder weniger stark spürbaren emanzipatorischen Erkenntnisinteresses einen entstigmatisierende Kraft durch Bildung für alle und Teilhabe am Gemeinsamen Unterricht einräume …
Die Abbildung 1 versucht hierzu eine Zusammenschau jener Ansätze, die sich nach Kron (2004, 68) mit fünf zentralen Leitbegriffen: >1. Bildung, 2. Lernen, 3. Interaktion, 4. System und  5. Konstruktion< klassifizieren und ordnen sowie zur gegenstandtheoretischen Bestimmung und Herausarbeitung einer inklusiven Didaktik heranziehen lassen… (a. a. O: S.147) Keines der Modelle repräsentiert eine Didaktik als Ganzes, sondern bildet immer nur bestimmte Ausschnitte aus der Wirklichkeit und ein verkürztes Verständnis von Schule und Unterricht ab… (a. a. O: S.148)

Abb. 1 [nicht wiedergegeben]

3 Zwischenbilanz und Ausblick

Aus meinen Ausführungen… lässt sich ableiten, das eine inklusive Didaktik keine >Neuschöpfung< zu sein braucht. Eine inklusive Pädagogik will und kann gegenwärtig weder die pädagogische Theorie noch die Praxis um eine Variante bereichern…
Das … wesensbestimmende Moment, vermittelnde Etwas und kleinste gemeinsame Vielfache ist vor dem Hintergrund des kardinalen Prinzips der Unteilbarkeit von Integration (vgl. Muth 1991) als ein fundamentaler Ausdruck der unendlichen pädagogischen Geschichte der >Wiederherstellung der Einheit des Menschen in der Menschheit< (Séguin 1812-1880), aber konkreten Utopie einer inklusiven Gesellschaft, axiomatisch das der Teilhabe, das der sozialen Anerkennung und Zugehörigkeit aller Menschen, das keiner Letztbegründung bedarf, sondern im Rekurs auf den ethischen Imperativ unserer Verfassung und die als Menschenreicht formulierte Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen als oberstes Prinzip von paradigmatischer Qualität auf der Mikro- und Makroebene seine fundamentale, durchgängige Orientierungsfunktion zu erfüllen hat und eine handlungsleitende und systemerneuernde Funktion darstellt…
Eine inklusive Pädagogik und ihre Dialektik sollte nicht den Anspruch erheben, eine völlig neue, noch nie dagewesene Pädagogik und Didaktik erfinden zu wollen und sich davor hüten, sich … ins Abseits stellen und letztlich für schlechten und die Selektionsfunktion von Schule erfüllenden Unterricht verantwortlich zu machen.  Aber eine inklusive Pädagogik kann als übergeordnetes Konstrukt operieren, das ohne ein schlechtes Gewissen bekommen zu müssen, sich durchaus der historisch gewordenen Theorien, bestehenden Modellvorstellungen, überdauernden Konzepten und allseits für wichtig empfundenen Prinzipien bedienen… (a. a. O. S.150,151)
Auch eine inklusive Pädagogik ist zunächst nur Pädagogik und kann nichts anderes als Pädagogik sein. Aber sie ist eine in die Zukunft gerichtete , reformerische und moderne Pädagogik,…  versucht, die Subjekte wieder einander näher zu bringen, um dabei neue Sozial- und Umgangsformen hervorzubringen, soziale Kohäsion zu produzieren und Inklusion in der Gesellschaft zu stabilisieren und dauerhaft zu halten… (a. a. O. S.151)
…-Wesensmoment eines solchen heuristischen Modells ist das Inklusive, das als durchgängiges Prinzip von paradigmatischer Qualität die Theorie und Praxis des Gemeinsamen Unterrichts anzuleiten hat. Merkmale, an denen sich das Wesensmoment  des Inklusiven erkennen und messen lässt, sind u. a. :

Die Theorie und Praxis wird auf ihrem Weg zu einer integrativen Pädagogik und Didaktik sich an solchen komplexen Zusammenhängen orientieren müsse, wenn wir ernsthaft wollen, dass behinderte und nichtbehinderte Menschen als gleichberechtige Interaktionspartner zu Akteuren und Konstrukteuren ihres Lernens im gemeinsamen Unterricht werden, dabei in Beziehung zueinander treten und miteinander eine solidarische >Grammatik des sozialen Umgangs< (vgl. Kobi 1993, 414ff.) hervorbringen. (a. a. O: S.152,153)

... Die in der Abbildung 2 für einen Überblick fixierten Grundstrukturen des <Neudenkens und Neumachens (vgl. von Hentig 1994) einer Schule für Alle und der Gemeinsamen Unterrichtung u. a. von Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung lassen unmissverständlich Bildung als behindertensoziologisch bedeutsamen Lösungsansatz und Ausgangspunkt für sämtliche didaktischen Überlegungen zur Vorbereitung von Gemeinsamen Unterricht und seinen fortlaufenden Lehr- und Lernprozessen erkennen… (a, a, O. S.153) … Eine inklusive Pädagogik und Didaktik, die sich vorbehaltlos dem Prinzip der Unteilbarkeit verpflichtet weiß, darf das Problem der Pseudokooperation von behinderten und nicht behinderten Schülerinnen und Schülern nicht verschweigen. Maßnahmen der >Inneren Differenzierung und Individualisierung<  oder der >Inneren Differenzierung durch Individualisierung< können eine uneingeschränkte kooperative Beteiligung im Gemeinsamen Unterricht nicht umfassend garantieren. Exkklusiv-individuelle Lernsituationen sollten deshalb als unverzichtbare Grundform im Gemeinsamen Unterricht anerkannt, individualpädagogisch begleitet und gewinnbringend didaktisch gestaltet werden… [so] dass trotz zugelassener Nähe und Distanz soziale Kohäsion entsteht, das Recht auf Gleichheit und Verschiedenheit verbrieft und das Wesensmoment des Inklusiven im Gemeinsamen Unterricht erhalten und spürbar bleibt. Gelingt das, sind Sonderpädagogik und Allgemeine Pädagogik auf dem gemeinsamen Weg zu einer inklusiven Didaktik.

Abb. 2 [nicht wiedergegeben]

 

Ingeborg Thümmel
Unzureichende Lautsprache –ein Exklusionsrisiko?
Ausgewählte Ergebnisse einer landesweiten Studie zur Förderung
von kaum- und nichtsprechenden Schülern in niedersächsischen
Bildungseinrichtungen mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung
im Lernbereich Kommunikation

1 Problemumriss (a. a. O. S.161)
… Angesichts der Gefahr, dass die UN-BRK in der Umsetzung scheitern könnte, weil z.B. nicht geprüft wird, welche Exklusionsprozesse sich für welche Schülergruppen im Schulsystem verstetigen und welche angemessene Vorkehrungen erforderliche Bedingungen für gelingende Inklusion darstellen, haben sich die fünf großen Fachverbände der Behindertenhilfe in Deutschland zusammengeschlossen mit dem Ziel, eine interdisziplinäre Teilhabeforschung im Verbund mit >Wissenschaftler(inne)n unterschiedlicher Forschungsrichtungen konzeptionell auszuarbeiten (Buchner/Koenig/Schäfers 2011, 2).
Von dem Ressourcenmodell ausgehend soll diese Teilhabeforschung die folgenden zwei zentralen Fragestellungen in den Blick nehmen:
>Wie sehen gesellschaftliche Inklusionsbedingungen und Exklusionsrisiken aus? Welche Unterstützungssysteme wirken sich in welcher Weise auf Teilhabechancen und –einschränkungen aus?< (Ebd.)….

1.2 Wozu Kommunikationsförderung im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung?

… Sprechen ist die komplexeste und differenzierteste, aber auch störanfälligste Kommunikationsform. Verständliches Sprechen hängt davon ab, das die einzelnen Laute korrekt gebildet werden (Artikulation), die Regeln von Wortfolge und Satzstruktur Beachtung finden (Syntax) und die Beziehung zwischen Bedeutung und Zeichen (Semantik) erfasst werden. Des Weiteren müssen die Wörter meist mit Absichten verbunden werden (Pragmatik), Sprechflüssigkeit muss gewährleistet sein, Lautstärke und Betonung (Prosodie) sowie Resonanz angepasst sein.
Im Nachfolgenden werden Schüler als nicht- oder kaum sprechend klassifiziert, wenn sie fremden Personen gegenüber einfache Wünsche oder Befindlichkeiten nicht verständlich äußeren können… (a. a. O. S.163)
In der ursprüngliche Bedeutung communicare (lateinisch) bedeutet Kommunikation, >teilen, mitteilen, teilnehmen lassen; gemeinsam machen, vereinigen<. …Communio (Gemeinschaft)…
In diesem Kontext lässt sich eine fehlende Lautspracheproduktion als ein Exklusionsrisiko identifizieren.
Seit den 1990er Jahren öffneten die damaligen Schulen für Geistigbehinderte ihre Türen für schwerst- und mehrfachbehinderte Schüler (Thümmel 2003)… In… unterschiedlichen Bundesländern wurde ein prozentualer Anteil von nicht- oder kaumsprechenden Schülern an Schulen für Geistigbehinderte von 24% bis hin zu 60% ermittelt (Adam 1996: Bundschuh/Herbst/Kannewischer 1999; Coon/Ziemen 2000). Eine neuere Studie von Boenisch (2004), die letztendlich 2009 in Gänze… veröffentlicht wurde, ermittelte für alle Bundesländer… mit Ausnahme von Bremen… an Förderschulen mit dem Schwerpunkt Körperlich-Motorische Entwicklung.
Boenisch (2009a, 2009b) erfasste bundesweit 20% (n=2,291) kaum- oder nichtsprechende Schüler mit dem Förderschwerpunkt Körperlich-Motorische Entwicklung… in Niedersachsen lediglich 6% (n=53) in diesem Schwerpunkt… (a. a. O. S.164) Dieses Ergebnis legte die Vermutung nahe, dass zumindest in Niedersachsen ein weitaus größerer Anteil an kaum- und nichtsprechenden Schülern … in Förderschulen  mit dem Schwerpunkt Geistige Entwicklung beschult wird.

1.3 Auf welche curricularen und welche konzeptionellen Grundlagen bezieht sich Sprach- und Kommunikationsförderung im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung?

Sprach- und Kommunikationsförderung…  ist ein zentraler Bestandteil des Bildungsauftrages von vorschulischen sowie schulischen Einrichtungen… in den Lehrplänen aller Bundesländer für den Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung. Gleichzeitig wird sprach- und Kommunikationsförderung … im allen Lernbereichen eingeplant und [soll] durchgeführt [werden]…
Ab … 2000 überarbeiteten bzw. verfassten alle Bundesländer im Anschluss an KMK-[Kultus-Minister-Konferenz] Empfehlungen ihre Lehrpläne …Geistige Entwicklung neu. Die Lehrplanrevision war nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass eine veränderte Schülerschaft verstärkt in die Schulen  mit dem Förderschwerpunk Geistige Entwicklung drängte, Schüler… mit schweren Behinderungsformen, die mit den eingeführten didaktisch—methodischen Verfahrensweisen nicht erfolgreich zu fördern waren. In diesem Kontext wurde auch erstmalig Unterstützte Kommunikation (UK) … international…  Augmentative and Alternative Communication..  in die Lehrpläne aufgenommen… Unter AAC, deutsch UK, werden alle pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen und Hilfen subsumiert, die zu einer Verbesserung der Verständigung von Personen ohne oder mit erheblich eingeschränkter Lautsprache beitragen können….
Unterstützte Kommunikation beruht auf einem multimodalen Kommunikationssystem, das alle Ausdrucksmöglichkeiten eines Menschen bewusst berücksichtigt. Dies können körpereigene, im natürlichen Kontext erworbene Kommunikationsformen sein, wie Blickbewegungen, Mimik, Laute/Lautsprache, Gestik und Körperhaltungen. Des weiteren können hilfsmittelgestützte, erlernte Kommunikationsformen wie Gebärden, nicht-elektronische Hilfen wie Symboltafeln und –bücher sowie elektronische Hilfen zu Einsatz kommen… (a. a. O. S.163)
Allem Anschein nach scheint UK als geeignetes Förderkonzept anerkannt und akkreditiert zu sein…. [Aber] das Phänomen des time-lags, die zeitliche Verzögerung zwischen der Veröffentlichung von Lehrplänen und Curricula und deren Umsetzung… ist … bekannt, zum anderen bestätigen vielfältige Alltagserfahrungen, dass von den administrativen Vorgaben nicht auf deren Umsetzung und schon gar nicht auf eine erfolgreiche Förderung geschlossen werden darf. Die Gesamtsituation… ist mithin derzeit ungeklärt.

2 Zum Stand der Kommunikationsförderung an niedersächsischen Bildungseinrichtungen mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

2.1 Fragestellung und Design der niedersächsischen Studie

… Wie häufig, unter welchen Bedingungen und mit welchen Ergebnissen (Erfolgen) kommt UK als Förderkonzept … zum Einsatz? … Fragebogen
(Erdélyi/Thümmel 2011; Hüsken/Prien/Thümmel 2011; Prien 2011, Thümmel 2011)… (a. a. O. S.168)
… Insgesamt wurden in einer landesweiten Totalerhebung von Juni 2010 bis Dezember 2010 2010 Lehrkräfte an 119 Bildungseinrichtungen mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung in Niedersachen befragt.

2.2. Ausgewählte Ergebnisse

Von 119 niedersächsischen Bildungseinrichtungen sind 56 Tagesbildungsstäten, demnach private Bildungsinstitutionen, und 63 staatlich Förderschulen… 1215 Fragebögen… wurden… verschickt…
Rücklaufquote von 49 Prozent… als gut zu klassifizieren.
Im Schuljahr 2009-10 besuchten 6945 niedersächsische Schüler mit einem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung eine Schule oder Tagesbildungsstätte…. Die Studie erfasst bezogen auf die Verwendung von Lautsprache die Angaben von insgesamt 4159 Schülern… Von diesen … werden von den befragten Lehrkräften 1118 Schüler als kaum- und nichtsprechende Schüler klassifiziert. Dies entspricht einem Prozentanteil von 26,88 … Das Verhältnis von Bedarf und vorgehaltenen Förderressourcen wurde über die Differenz zwischen der Schülerzahl, bei denen die Lehrkräfte einen Bedarf an UK feststellten und der Schülerzahl, die mit UK gefördert wird, errechnet . Danach ergab sich eine Unterversorgung von 5 %... Die Frage, wie oft die genannten Kommunikationsmittel verwendet werden, sollte Aufschluss geben über die Häufigkeit des Einsatzes körpereigener Kommunikationsmittel…  
Die Aussagen der befragten Lehrkräfte zur Häufigkeit des Einsatzes  körpereigener Kommunikationsformen sowie nicht-elektronischer  und elektronischer Kommunikationshilfen durch kaum- oder nichtsprechende Schüler schlüsseln die nachfolgenden Diagramme auf: (a. a. O. S.167,168)

Abbildung 1 [Säulendiagramm von mir in eine Tabelle verwandelt:
links 0 Einsatz meistens oder immer/ rechts: Einsatz selten oder nie WW]
Anteil der kaum- und nichtsprechenden Schüle, die körpereigene Kommunikationsformen nutzen im Vergleich zu denen, die nicht-elektronische und elektronisch Kommunikationshilfen einsetzen (Mehrfachnennungen, n= 1003, Angaben in Prozent)

Unartikulierte Laute

50

50

Gesten

58

42

Blickbewegungen

72

28

Mimik

79

21

Kommunikationsschürzen

0

0

Talker

18

82

Gebärden

29

71

 

Folgerichtig zur Darstellung der von den Schüler…n am häufigsten verwandten Kommunikationsformen geben 54,8 % der Lehrkräfte an, dass gute oder sehr gute Erfolge der Förderung durch die Vermittlung körpereigener Kommunikationsmittel wie Mimik, Gestik, Blickkontakt erzielt werden und dies insbesondere im Hinblick auf das Lautsprachverständnis… Beindruckend deutlich weist … Abb.2 aus, das die hohe Prozentzahl an befragten Lehrkräften zeigt, die nur einen geringen bzw. keinen Erfolg oder Vermittlung von Gebärden, Zeichen- und Symbolzeichen sehen. Entsprechend eingeschränkt durch die Kommunikationsbarrieren beurteilen die Lehrkräfte die Teilhabemöglichkeiten am Schulleben der kaum- und nichtsprechenden Schülerinnen und Schüler. So erklären 53 % der Lehrkräfte, dass kaum- und nichtsprechende Schüler sich selten oder gar nicht am Unterricht beteiligen, 4[?] der befragten Lehrer berichten über seltene oder fehlende Beteiligung dieser Schüler am Klassen- und Pausengeschehen… (a. a. O. S.168)

Abbildung 2: [Säulendiagramm von mir in eine Tabelle verwandelt.
links gute oder sehr gute / rechts: keine oder geringe Erfolge durch Einsatz von WW]
Erfolgseinschätzung in Bezug auf die Vermittlung von nicht-elektronischen und elektronischen Kommunikationshilfen ( n=1003; Angaben in Prozent

Gebärden

32

68

Talkern

31

69

K.-Bücher, -tafeln, -schürzen

34

66

 

       

Abbildung 3: [Säulendiagramm von mir in eine Tabelle verwandelt:
links 0 Einsatz meistens oder immer/ rechts: Einsatz selten oder nie WW]
links: trifft meistens zu; trifft selten oder nie zu

  • Schüler äußert aus eigener
    Motivation Wünsche und Freude

66

34

Schüler äußert aus eigener
Motivation Gefallen und Missfallen

23

77

 

3 Diskussion der Ergebnisse

Mit der Studie wurde erstmalig die Bildungssituation von kaum- und nichtsprechenden Schülerinnen und Schülern, die niedersächsische Bildungseinrichtungen mit dem Förderschwerpunk Geistige Entwicklung besuchen, erforscht… Im Spiegel der aus der UN-Konvention resultierenden Rechtsansprüche und der 4A-Strukturmerkmale für hochwertigen inklusiven Unterricht verdeutlichen die ausgewählten Ergebnisse einige der festgestellten Exklusionsprozesse…, die die Teilhabe für kaum- und nichtsprechende Schüler… erheblich erschweren. (a. a. O. S.169)

(1)        Exklusionsprozesse durch Einschränkung der Zugänglichkeit
(Limitation of Availability)

Besonders das >Abfall-Ergebnis< der Studie zeigt die Notwendigkeit einer radikalen Systemveränderung im Blick auf die Zugänglichkeit zu Bildungsinstitutionen für kaum- und nichtsprechende Schüler…Immerhin 48 Prozent der Bildungseinrichtungen für Schüler… mit der diagnostischen Zuschreibung von Förderbedarf Geistige Entwicklung sind im Bundesland Niedersachsen Tagesbildungsstätten, also in privater Trägerschaft…  bleibt demnach knapp der Hälfte… der Zugang zum staatlichen Schulwesen verwehrt…  eine schwerwiegende Bildungsbeeinträchtigung… , weil private Einrichtungen über Schüleraufnahme und Schülerablehnung in eigener Zuständigkeit entscheiden und auch weil… weitaus weniger Klassenleitungen über eine wissenschaftliche Lehrerausbildung verfügen.

(2)        Exklusionsprozesse durch Einschränkung der Verfügbarkeit
(Limitation of Accessibility)

Mehr als ein Viertel der Schülerschaft in den Bildungsinstitutionen im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung wird von zuständigen Lehrkräften als kaum- und nichtsprechend diagnostiziert…. Die hohe Selektivität der Lerngruppen im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung verhindert Peer-Learning, weil gleichaltrige Sprachmodelle fehlen.

(3)        Exklusionsprozess durch Einschränkung der Verfügbarkeit der nötigen Ressourcen (Limitation of Acceptability)

Die zunächst festgestellte gute Versorgung von 95% der kaum- und nichtsprechenden Schüler… mit Kommunikationsförderung erwies sich als Artefakt. Es konnte gezeigt werden, dass sich Kommunikationsförderung vornehmlich auf körpereigene Kommunikationsformen beschränkt, die am häufigsten im natürlichen Kontext erlernt werden. Die Reichweite dieser Kommunikation ist jedoch beschränkt, da nur eine begrenzte Anzahl von Intentionen und Inhalten so kommuniziert werden kann. Möglicherweise verleitet die Mehrfachbehinderung die Lehrkräfte zur Annahme, dass eine Entwicklung über basale Kommunikationsformen hinaus nicht möglich ist. Denkbar allerdings ist auch, dass die Lehrkompetenz fehlt… (a. a. O. S.170)

(4)        Exklusionsprozesse durch Einschränkung der Anpassung an die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler (Limitation of Adaptability)

Mehr als ein Drittel der kaum- und nichtsprechenden Schüler… können aus Sicht der Lehrkräfte ihre Wünsche oder Freude nicht äußern, knapp ein Viertel gelingt es … nicht, aus eigener Motivation Gefallen und Missfallen auszudrücken, über die Hälfte… beteiligen sich nicht aktiv am Unterricht. Vor dem Hintergrund dieser Datenlage lässt sich feststellen, dass die Anpassung an die kommunikativen Bedürfnisse der kaum- und nichtsprechenden Schülerfälle gescheitert ist….

Hier zeigt sich für die Teilhabeforschung im Bildungsbereich ein weites Forschungsfeld, das sich allerdings nur dann bearbeiten lässt, wenn wirksame Exklusionsprozesse in der schulischen Praxis aufgedeckt werden und die Umsetzung von Konzepten durch Wirksamkeitsstudien nachgewiesen wird. (a. a. O. S.171)

 

Michael Häusler
>… wie hat du‘ s mit der Inklusion?<
Der Umgang mit Widersprüchen und Ungewissheiten als Herausforderung an die Professionalität von Geistigbehindertenpädagogen

Zugang und Fragestellung

Muss man an Inklusion glauben? Beinhaltet die Qualifikation zum rechten Sonderpädagogen ein Glaubensbekenntnis zur schulischen Inklusion? So könnte man mit [Goethes] Faust fragen. Er beansprucht für sich, ethische Werte wie den der Nächstenliebe auch ohne Religion begründen und praktizieren zu können. Seine skeptischen und relativierenden Äußerungen befriedigen Gretchen jedoch nicht, sie besteht darauf; >Man muss dran glauben!<
Fast könnte man derzeit meinen, dass schulische Inklusion in der Sonderpädagogik ebenfalls zur Glaubenssache erhoben wird, die dementsprechend ein Glaubensbekenntnis erfordert (Vgl: Speck 2011) und somit im Sinne der hier gewählten Überschrift zur Gretchenfrage geworden ist… (a. a. O. S175)
Allerdings sind derzeit Zielsetzungen und Rahmenbedingungen eines sich verstärkt als inklusiv verstehenden Schulsystems nur schemenhaft zu erkennen. So bleibt nicht nur weitgehend offen, wie und in welchem Umfang gemeinsamer Unterricht konkret gestaltet werden soll, sondern auch, welche Rolle Sonderpädagogen in diesem System spielen werden und welche Ausbildung sie dafür brauchen (vgl. Lindmeier 2009).
Hierzu möchte ich die Frage stellen, wie Lehrerinnen und Lehrer für Schüler mit geistiger Behinderung sich auf diese spannungsreichen und offenen Situationen einstellen können und damit die These verknüpfen, das ein wesentliches Merkmal (sonder-)pädagogischer Professionalität darin besteht, Widersprüche und daraus entstehende Ungewissheiten als Grundstruktur pädagogischen Handelns zu erkennen und im Rahmen der Entwicklung der eigenen Lehrerpersönlichkeit reflektierend und handelnd auszubalancieren. Der professionelle Pädagoge zeichnet sich demnach nicht durch den unbedingten Glauben an eine verabsolutierte Wahrheit aus, sondern dadurch, dass er mit Widersprüchlichkeiten und Ungewissheiten in seinem Arbeitsfeld reflektiert umzugehen vermag (vgl. Meyer 2001). …

2 Spannungsfelder – Widersprüche – Ungewissheiten

2.1 Pädagogisches Handeln in Spannungsverhältnissen

… Der Begriff des Spannungsfeldes stammt aus der Physik: Spannung entwickelt sich zwischen zwei Polen mit unterschiedlichen Ladungen. Als Metapher auf die Pädagogik bedeutet das, dass Spannungsfelder zwischen Polaritäten, gegensätzlichen Begriffen und Sachverhalten entstehen… (a. a. O. S.176) An einem Beispiel lässt sich dies verdeutlichen: Eine junge Kollegin übernimmt erstmals eigenverantwortlich eine Klasse an einem Förderzentrum mit dem Förderschwerpunk geistige Entwicklung. Selbstbestimmung und Autonomie des Kindes sind für sie hohe Werte, die sie auch gerne in entsprechenden offenen Unterrichtsformen konkretisieren möchte, bald jedoch stellt sie fest, dass ohne Regeln, Absprachen und gezielte Instruktion geordnetes Arbeiten noch schwer möglich ist bzw. die Schüler… damit überfordert sind, ihr Lernen und Zusammenleben selbst zu organisieren. Bei der Auswahl der Unterrichtsinhalte sind ihr Themen wichtig, an denen ihre Schüler… als Person wachsen, kreativ sein und sich individuell entfalten können – sie stellt aber bald fest, dass manch einer seine Schuhe noch nicht selbst binden kann… Sie sieht, dass die Förderung der Klassengemeinschaft ein wichtiges Anliegen sein muss, erkennt aber auch die höchst unterschiedlichen Lernbedürfnisse und Lernniveaus in der Klasse, die vielfältige Differenzierungsmaßnahmen und offene Formen von Unterricht erfordern. In diesem Zusammenhang sieht sie sich auch mit der Frage konfrontiert. Ob sie ihren Schülern in einem festgelegten Zeitraum ein Quantum an Fähigkeiten und Wissen vermitteln oder ihnen im Rahmen ihres individuellen Lerntempos Zeit geben soll, sich mit Inhalten in Ruhe auseinanderzusetzen? Sie hat gelernt, ihren Unterricht sorgfältig vorzubereiten und zu planen, registriert aber zugleich, dass ihre Schüler … in den Unterrichtsstunden eigene Bedeutsamkeiten und Handlungsziele entwickeln und formulieren, die zu berücksichtigen sind, auch wenn dies Ihre Planung durcheinanderbringt.
Auch in Bezug auf ihre eigene Lehrerpersönlichkeit mag sich die Kollegin mit Widersprüchen konfrontiert sehen: Menschliche Nähe und persönlicher Bezug bedeuten ihr im Umgang mit Menschen viel – es zeigt sich jedoch, dass es immer wieder nötig ist, zu ihren Schüler…n ein gewisses Maß an Distanz zu wahren, sowohl um ihrer Rolle als Lehrerin und Autoritätsperson gerecht zu werden, als auch, um sich von ihrer Tätigkeit und den oft prekären und bedrückenden Schicksalen ihrer Schüler… nicht völlig absorbieren zu lassen. Als kritische und selbstbewusste Persönlichkeit sieht sie sich… mit administrativen Gegebenheiten und Zwängen konfrontiert, als Beamtin in eine Hierarchie mit Pflichten und Erwartungen eingepasst… (a. a. O. S.177)
Diese Beschreibung und Analyse pädagogischer Professionalität orientiert sich an strukturanalytischen Ansätzen der Professionalisierungsforschung (vgl. u. a.  Terhart 2010, 92). Meyer bringt deren Grundaussage auf die prägnante Formel, Schule sei der >gelebte Widerspruch< (2001, 218), deren in sich widersprüchliche strukturelle Elemente eine lineare Ableitung von Handeln aus wissenschaftlichen Vorgaben ausschließen…

2.2  Ungewissheit

Das Ausbalancieren von Spannungsverhältnissen kann nicht nach einem allgemein verbindlichen Maß erfolgen, sondern muss je nach der besonderen Situation stets von neuem versucht werden. Dies ist ein Teil der Ungewissheit (vgl. Häußler 2005) bzw. Des Nichtwissens…
Am deutlichsten kommt dieser Rest an Nichtwissen im jeweils einmaligen pädagogischen Bezug zum Kind zu Tragen … (a. a. O. S.178)

3  Schulische Inklusion – Spannungsfelder und Ungewissheiten aus der Sicht der Geistigbehindertenpädagogik

3.1        Ist über schulische Inklusion überhaupt noch zu diskutieren?

    …

3.2        Die Allgemeine Schule: homogene Lerngruppen oder Heterogenität?

>Akuter Handlungsbedarf besteht in erster Linie für die allgemeinen Schule<, stellt Speck (2010, 112) mit Blick auf Art.24 der UN-Behindertenkonvention fest…. Aus persönlicher Erfahrung ist dazu zu sagen, dass bei allem guten Willen und prinzipieller Offenheit bei Lehrkräften und Schulaufsicht der Allgemeinen Schule hier derzeit noch wenig Bewegung zu beobachten ist. Für wesentlich gravierender halte ich jedoch die Tatsache, dass mit der Forderung nach Inklusion in einem im Wesentlichen auf Sortierung der Schüler… in (vermeintlich) homogene Lerngruppen hin ausgerichteten, Lebenschancen zuweisenden Schulsystem ein gewaltiges Spannungsfeld entsteht, in dem die Beteiligten Gefahr laufen zerrissen zu werden. Im Mittelpunkt dieses Systems steht nach wie vor wie ein Fels das Gymnasium, das diejenigen, die seinen Anforderungen genügen, zur Hochschulreife führt. Den übrigen werden ihre Plätze in den anderen, von den meisten Eltern und Schülern weniger begehrten Schularten zugewiesen. In der Grundschule werden die Weichen für die weitere Schullaufbahn der Kinder gestellt, wodurch dieser und den in ihre tätigen Lehrkräften eine immense, verantwortungsvolle Aufgabe aufgebürdet ist. (a. a. O. S.179,180)
… Speziell bezogen auf Schüler…. Mit geistiger Behinderung ist festzustellen, dass Lehrkräfte an Allgemeinen Schulen hier (noch) kaum über spezifisches Fachwissen verfügen…

3.3. Förderzentren mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung:
      Öffnung oder Wahrung des Bestehenden?

Die Förderschulen und damit auch die Schule für geistig behindere stehen seit jeher bezüglich des Selbstverständnisses in einer Grundspannung: Sie kümmern sich um Kinder mit besonderen Lernbedürfnissen und entlasten damit die Allgemeine Schule. Da dies jedoch nach wie vor hauptsächlich in separierenden Einrichtungen geschieht, entsteht ein Spannungsverhältnis zum Ziel der gesellschaftlichen Integration… woraus sich vielleicht auch ableiten lässt, worum immer wieder Impulse zur Integration behinderter Kinder gerade von Sonderpädagogen ausgingen… (a. a. O: S.180)
So sieht Lindmeier (2020) es als einen Verstoß gegen das Gleichheitsangebot an, wenn Schüler… durch die Zuordnung zu eine bestimmten Schulart von bestimmten Bildungsangeboten und –inhalten ausgeschlossen bleiben >So könnte es beispielsweise sein, dass auch Schüler… mit sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung  Fremdsprachen erlernen wollen… < (Lindmeier 2010,4) [Aber:] >Barrieren für Lernen und Teilhabe< (Hinz 2009, 173)v lassen sich nicht nur im Kontext der Förderschulen ausmachen. Eine albtraumhafte Vision in diesem Zusammenhang ist das Bild eines Kindes mit geistiger Behinderung, das mit einem Schulbegleiter in der Ecke des Grundschul-Klassenzimmers Lego spielt, um die anderen nicht beim Mathematikunterricht zu stören!

3.3        Lehrkräfte an Schulen für geistig Behinderte: Lehrer oder Berater?

Noch ist nicht abzusehen, wie eine inklusive Schule in Zukunft aussehen wird – ein ineinandergreifendes Gebilde von Förder- und Regelschule oder eine im Sinne des Inklusionsgedankens zu Ende gedachte Schule für alle. In letzterer bestünde kein Bedarf mehr an Sonderschullehrern im herkömmlichen Sinne, sondern nur noch an Beratern, die den Lehrkräften an Allgemeinen Schulen in heterogenen Klassen zur Seite stehen. Es käme der Tag, an dem diese Spezialisten nicht mehr in der Lage wären, auf eine in eigener Unterrichtspraxis erworbene Erfahrung und Kompetenz zurückzugreifen, weil es den Ort, an dem sie diese hätten sammeln können, nicht mehr gäbe… (a. a. O. S.181) Die Reduktion auf eine mehr oder weniger spezialisierte Beraterfunktion würde den Beruf des Sonderschulpädagogen um wesentliche Aspekte beschneiden. Lehrer –Sein und darüber hinaus Sonderschullehrer-Sein…

3.5 Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung:
     >Anders-Sein und Mitmachen-Wollen< (Vliegenthart)

>Teilhabe< am Leben der Gesellschaft ist ein Grundwert inklusiven Denkens und wird als solcher kaum hinterfragt. Wer allerdings mit Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung arbeite, wird vielleicht bemerken, dass sie in ihrer Emotionalität, ihrem Handeln und ihrer Kommunikation auch etwas Eigenes im Sinne einer eigenen Welt konstituieren können, die Nicht-Behinderten nur bedingt zugänglich ist: dieses Eigene ist in seiner Direktheit oft erfrischend, ist in seiner Originalität manchmal erstaunlich, manchmal auch bizarr, es beinhaltet großen Humal, ebenso aber auch durch die Erfahrung von Begrenztheit und Niht-Können bedinge tiefe Tragik und Traurigkeit. Es stellt sich dahr die Frage, wer an dieser Welt Anteil hat und ob es im Falle von Menschen mit geistiger Behinderung nicht voreilig ist zu schließen, alle wollten auf jeden Fall und ausschließlich an der Welt der >Normalem< partizipieren… >… Der Erzieher behinderter Kinder steht bei seiner Arbeit in einer dauernden Spannung zwischen einerseits dem Bestreben, den seiner Fürsorge Anvertrauten zu helfen, die größtmögliche Anpassung an die Lebensformen der Nichtbehinderten zu erreichen und andererseits dem Bemühen, dem Typisch-Eigenen jedes dieser Kinder Rechnung zu ragen. Der Erzieher möchte ihnen die uns allen vertraute Welt zugänglich machen, aber doch auch >ihre< Welt respektieren und verhindern, dass sie in eine unangemessene Form gezwängt werden<, schrieb der niederländische Heilpädagoge W. E. Vliegenhart im Jahre 1968 (18) (a. a. O. S.182,183)
Welt konstituiert sich in diesem Zusammenhang sicherlich immer auch über den Austausch mit anderen, Identität über den Vergleich mit ihnen. … >Es gibt so etwas wie eine Behindertenidentität: das soll heißen, dass sich manches behinderte Kind vornehmlich an Gleichbetroffenen orientiert, um zu wissen, wer es ist. Daran ist nichts Ungewöhnliches. Jeder kennt das: Wer wissen will, wie gut, wie schön, wie klug etc. er ist, vergleicht sich mit anderen. Dabei hat die Orientierung an Menschen, die ihm ähnlich sind, einen guten psychologischen Sinn; sie stärkt nämlich das Selbstvertrauen. Für eine Orientierung des Behinderten an Gleichbehinderten sind die Integrationsklassen Hamburger Prägung strukturell ungeeignet: Es gibt nicht z. B. mehrere geistig Behinderte in einer Klasse oder mehrere Körperbehinderte bemerkt Antor in seinem Bericht  über Integrationsklassen an Hamburger Grundschulen (Antor 1988, 3f.). Hinzu kommt die Gefahr, dass gerade Kinder mit geistiger Behinderung immer wieder ihr Unvermögen und Nicht-Können gespiegelt bekommen und dies als Teil ihrer Identität verinnerlichen….

4 Haltung – die ethische Basis professionellen Deutens und Handelns

4,1, Werte und Widersprüche

Die Analyse der genannten Widersprüchlichkeiten als Kern pädagogischer  Professionalität bleibt unbefriedigend, solange nicht deutlich wird, auf welcher Basis denn pädagogisches Handeln und professionelle Reflexivität beruht. Diese muss eine ethische Komponente haben … eine >pro-inklusive Grundeinstellung<…eine >inklusive Haltung< …(Dlugosch 2010, 296)  … Als deren Grundwerte werden u. a. >Humanisierung und Demokratisierung der Schule … Freiheit und Solidarität, Gleichheit und Gerechtigkeit<  (Wilhelm/Binsinger, zit. N. Dlugoscj 2010, 196) genannt. (a. a. O. S.183,184) Und weiter: >Die inklusive Einstellung und Haltung baut auf ein ganzheitliches Weltbild und ganzheitliches Menschenbild< (ebd.).  Schon diese wenigen, mit hohem normativem Gehalt aufgeladenen Sätze machen deutlich, dass hier eine Wertsetzung erfolgt ist, die noch vor jeder vermeintlich objektiven und empirisch abgesicherten Sicht auf Erziehung und Bildung… wirksam ist….
… viele Jahre der Forschung in Modellversuchen haben sicherlich zahlreiche Erkenntnisse und objektives Wissen über gemeinsame Lernprozesse von Kindern mit und ohne Behinderung erbracht…   Jedenfalls wurde meines Wissens noch nicht belegt, ob eine integrative bzw. inklusive Schule oder ein sich in Förderschule und Allgemeine Schule differenzierendes Schulsystem das >bessere< Modell ist. Die oben genannten Prinzipien lasen sich zudem auf abstrakter Ebene trefflich formulieren, erfreuen durch ihren Wohlklang und scheinen zunächst ohne weiteres konsensfähig. Zwei Fragen sind dennoch zu stellen: Dürfen sich – zum ersten – Inklusions-Skeptiker nun nicht mehr auf diese Werte berufen? … Kann nur eine inklusive Schule eine humane Schule sein…?  (a. a. O. S.184) … Zum zweiten ist ganz pragmatisch zu fragen, was im Kontext Schule heißt, einem Kind Respekt entgegenzubringen und es in seiner Individualität anzuerkennen? Dies wird die Grundhaltung sein, mit der die Lehrkraft ihm zunächst gegenübertritt. Sie wird jedoch auch nicht umhin können, ihm unter Umständen mit einigem Nachdruck Lebens- und Lernaufgaben zuzumuten, die es womöglich ablehnt, weil sie ihm zunächst schwerfallen… Sie wird versuchen, ein Sozialverhalten des Kindes, welches die Klassengemeinschaft beeinträchtigt, mit geeigneten Mitteln in sozial verträgliche Bahnen zu lenken. Sie wird darüber hinaus womöglich ein familiäres Umfeld des Kindes sehen, in dem es kaum Unterstützung für die Arbeit der Schule gibt….

4.2  Die Haltung des Einzelnen als Basis sonderpädagogischer Professionalität

Die eine, >richtige< Haltung kann es demnach nicht (mehr) geben. Dies wäre auch wenig zeitgemäß. In einer pluralistischen Gesellschaft, welche großen kollektiven und handlungsleitenden Glaubensvorstellungen wie Nation, Religion, Tradition oder Gemeinsinn und den damit verknüpften in sich konsistenten Wertesystemen keine Allgemeingültigkeit mehr zugesteht und Normsetzung und Sinngebung individualisiert hat, scheint die bloße Übernahme einer ethischen Haltung nicht mehr ohne weiteres möglich. Diese ist vielmehr in eigener Anstrengung in einem Akt der Selbstvergewisserung  zu gewinnen… (a. a. O. S.185)
Der Pädagoge Alfred Perzelt definiert Haltung, die er zum Begriff des Wissens in Bezug setzt, dabei wie folgt: >Die wesentliche Seite des Haltungsproblems liegt beim Ich selbst. […] Das Wissen muss, wenn es für Haltung da ist, fordern, dass man sich dem Ich in eigenen Fragen selbst widmet, dass man sich das eigene Ich selbst zur Aufgabe macht, um sich zu finden.< (Perzelt 1963, 45)
In einer Zeit des Wertepluralismus ist diese Aufgabe komplex: Haltung muss mehr denn je eine reflektierte, autonome, selbstverantwortete Haltung des Einzelnen sein, die tendenziell eher skeptisch gegenüber Letztbegründungen und Verabsolutierungen bleibt und in der folglich unter anderem Offenheit, Gelassenheit und mitmenschliche Solidarität eine Rolle spielen (vgl. Häusler 2000a) …

 

Roland Stein
Unlösbar oder gar kein Problem…? Die inklusive Beschulung  verhaltensauffälliger Kinder und Jugendlicher

Nachdem Deutschland im März 2007 die UN-Konvention „Übereinkommen über die  Reche von Menschen mit Behinderungen< … unterschreiben hat, ist ein Prozess der Umgestaltung der schulischen Landschaft in die Gänge gekommen…. [der}] das gesamte deutsche Schulsystem betrifft.
Häufig wird recht leichtfertig davon ausgegangen, dass gerade Schüler mit Lernbeeinträchtigungen und Verhaltensauffälligkeiten besonders leicht integrierbar bzw. innerhalb eines inklusiven Schulsystems an Allgemeinen Schulen beschulbar wären. Es kann allerdings mit gutem Grund prognostiziert werden, dass zwei besondere Problemfelder der Inklusionsentwicklung entstehen, wenn es wirklich um eine >Schule für alle< ginge; zum einen die inklusive Förderung Schwerst- und Mehrfachbehinderter – zum anderen aber auch diejenige von Schülern… mit Auffälligkeiten im Verhalten und Erleben. Belege dafür finden sich national wie international (vgl. Goerze 1990, 2008; Preuss-Lausitz & Klemm 2008; Speck 2010,100, 2011; NLTS 2000 http://www.nlts2.org ).
Epidemiologische Studien gehen von alarmierenden Raten psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen aus: Eine sorgfältige , von Ihle & Esser (2002; 2008) veröffentlichte Metaanalyse  von einschlägigen, qualitativ anspruchsvollen Studien über 30 Jahre hinweg kommt zu einer mittleren Periodenprävalenz von 18 % psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen… Erschwerend tritt hinzu, dass von einer beträchtlichen Zahl hoch persistenter, also überdauernder Problematiken ausgegangen werden muss; Ihle & Esser (vgl. 2002) schätzen die Rate von über mehrere Jahre andauernden Störungen auf etwa 10 % aller Kinder und Jugendlichen… Auch die Schulen für Kranke im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie bauen ihre Angebote breitflächig aus, weil der Bestand bei Weitem nicht ausreicht. (a. a. O. S.189,190)
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass es aus zahlreichen Studien heraus auch klare Hinweise darauf gibt, dass eine beträchtliche Persistenzrate zwischen externalisierenden Verhaltensauffälligkeiten in den ersten drei Lebensjahren einerseits sowie massiven Verhaltensproblematiken, insbesondere Delinquenz im Jugend- und Erwachsenenalter festzustellen ist (vgl. Kissgen 2008; Kuschel et al. 2008), also zu einen externalisierende Erscheinungswiesen häufig massive Probleme nach sich ziehen, zum anderen hier Früherkennung und Frühprävention sowie -intervention wichtig wären.
Aufschlussreich ist… der Blick auf die Förderquoten anhand der Statistik der Kultusministerkonferenz: In den meisten Bundesländern bestehen besondere Schulen für diejenigen Kinder und Jugendlichen, die auf Grund ihrer Auffälligkeiten in Regelschulen als nicht >tragbar< beurteilt werden. Dabei handelt es sich mit Stand 2008 bundesweit um 0,445 % der Schüler… (vgl. Kultusministerkonferenz 2010b,43) … über die zehn Jahre… zwischen 1999 und 208… hinweg mit einer Erhöhung um 62,4  % ….
Die Förderquote der Schüler mit Förderbedarf in der emotionalen und sozialen Entwicklung insgesamt (also einschließlich der in allgemeinen Schulen verbleibenden) liegt mit Stand 2008 bei 0,694 %; auch sie stieg … an…<

Es ergibt sich ein sehr zwiespältiges Bild: Einerseits erweist sich im Vergleich der Förderschwerpunkte die >Integrationsquote<, d. h. das Verhältnis zwischen Schülern an allgemeinen Schulen und Schülern an Förderschulen als recht hoch. Aber andererseits ist ein erheblicher Problembereich massiver psychischer Störungen zu bedenken, die eine integrierte oder inklusive Beschulung sehr schwer bis unmöglich machen…
(a. a. O. S.190) Es ist davon auszugehen, dass durch verhaltensauffällige Schüler… sehr gravierende Problematiken für Schule und Lehrer entstehen: Insbesondere durch Aggression und Gewalt sowie Aufmerksamkeitsdefizite und Hyperaktivitätsstörungen – aber etwas verdeckter auch durch Autismus-Spektrum-Störungen, Angstproblematiken, die in den epidemiologischen Studien durchgängig an vorderster Stelle stehen, sowie ergänzend Depressivität., Drogen- und Suchtproblematiken, Suizidalität usw. Auch Schulabsentismus bzw. schulaversives Verhalten stellen ein sehr breitflächiges Problem dar (vgl. Herz/Puhr/Ricking 2004; Rickiing/Schulze/(Wittrock 2009; Sälzer 2010). … Es wäre sinnvoll, normative Zielsetzungen, also Inklusion als Wert und Wertentscheidung, von Fragen der nüchternen Betrachtung der Wirksamkeit bestimmter institutioneller Lösungen und pädagogischer Maßnahmen zu trennen.
Im internationalen Vergleich müsste sehr sorgsam untersucht werden, inwiefern Deutschland hier wirklich einen Aufholbedarf hat und wo genau (vg. Etwa Willmann 2008; Speck 2010). Die in der Diskussion dominante Betrachtung von Integrationsquoten wird der Komplexität der Tatbestände nicht gerecht. Eine hohe Integrationsquote sag noch nichs über die tatsächliche Integration bzw. Die Qualität inklusiver Beschulung… aus…
EWin Schüler könne formal in einer Allgemeinen Schule integriert sein, während er wegen seines auffälligen Verhaltens de facto von seinen Mitschülern, vielleicht auch von den Lehrern ausgegrenzt wird. Ein Schüler könnte in einer >exkludierenden< Fördereinrichtung beschult werden, mit dem Ziel, Ressourcen aufzubauen, die ihm helfen, sich in seinem späteren Leben zu integrieren, sei es in Freizeit und Alltag, sei es hinsichtlich Arbeit und Beruf. Insofern könnte man auch eine Schule für Erziehungshilfe als >inklusiv< beschreiben, indem sie wichtige Ausprägungsform des allgemeinen Schulsystems darstellt und indem sie solchen Schülern im Hinblick auf ihre gesellschaftliche Integration hilft, die im allgemeinen Schulsystem, so wie es ist, nicht haltbar sind. Der >exklusive< Charakter von Förderschulen ergibt sich ja nicht so sehr, weil sie exkludieren, sondern weil sie die vom allgemeinen Schulsystem exkludieren Schüler… aufnehmen.
Eine sehr breit angelegte internationale Metaanalyse von Vergleichsanalysen zwischen integrierter und separierter Beschulung erbrachte uneinheitliche Ergebnisse ohne wirklich klaren Vorteil für integrierte Beschulung (vgl. Lindsay 2007). Der Autor empfiehlt sehr dringend Modellversuche, um näher bestimmen zu könne, welche Schüler unter welchen Förderbedingungen in welcher Hinsicht wirklich profitieren … denn ein Gewinn hinsichtlich des einen Aspekts wird möglicherweise durch Probleme hinsichtlich eines anderen erkauft.
Eine deutsche Untersuchung von Huber (vgl.  2006; 2009) legt nahe, dass gerade die tatsächliche soziale Integration lernbeeinträchtigter und verhaltensauffälliger Schüler in allgemeinen Schulen keineswegs leicht zu erreichen ist und  … auch erhebliche Schwierigkeiten ergeben…
Im Gesamtbild dürfte es sehr wahrscheinlich sein, dass zumindest mittelfristig im Hinblick auf einen Teil dieser Störungsbilder nicht auf spezifische Schulangebote im Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung verzichtet werden kann. Auf der anderen Seite müssen allerdings angesichts der Verbreitung psychischer Störungen und dem entsprechender Probleme im Bereich Verhalten und Erleben zugleich die Bemühungen intensiviert werden,

Zum Erreichen dieser Ziele können die bestehenden Schulen zur Erziehungshilfe als Kompetenzzentren diene, wenn sie weiterentwickelt werden…  [zahlreiche Literaturangaben] (a. a. O. S.193)

… Ein bedeutendes zweites Unterstützungssystem können die Schulen für Kranke im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie sein. Die Ausgestaltung dieser Schulen ist derzeit allerdings recht heterogen…
Was die Frage der Professionalität und Entwicklung anbelangt, so fördert eine Analyse des Forschungsstandes zu Schulen für Kranke in der Psychiatrie erhebliche Defizite zutage. Es gibt wenig Forschung … [zahlreiche Literaturangaben] Nachsorge und Beratung stellen einen der spannendsten Brennpunkte der Diskussion um die Aufgaben von Schulen für Kranke dar (vgl. etwa Schmitt 2000¸Seebach 2004; Verband Sonderpädagogik 2008) ,,, (a. a. O. S.192)
Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen bringen gegenwärtig und zukünftig in zweierlei Hinsicht, sowohl im Hinblick auf ihre große Verbreitung als auch im Hinblick auf ihre intensiven Ausprägungsformen, erhebliche Anforderungen in das gesamte Schulsystem hinein, auch für die Lehrer… sowie andere pädagogische Berufsgruppen. Gerade diese Problemstellungen bergen die Gefahr der Überlastung und des beruflichen Ausbrennens (vgl. John/Stein 2008). Insofern sind Schutzmaßnahmen im schulischen System und für die einzelnen Professionellen gegen berufliches Ausbrennen sehr bedeutsam. Das Schulsystem wird sich weiterentwickelnde professionelle Systeme benötigen, die gezielt, individualisiert und flexibel unterstützen. Zentren für Erziehungshilfe sowie Schulen für Kranke im Kinder- und Jugendpsychiatrie können bereits heute, erst recht jedoch bei gezielter Weiterentwicklung, wesentliche Unterstützung für das gesamte Schulsystem liefern… (a. a. O. S.195)

 

Heinz Mühl
Einzelfallhilfe versus systemische Hilfen bei Verhaltensstörungen im Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung – Die Sonderpädagogik auf dem inklusiven Prüfstand?

1 Problemstellung

Die Bemühungen um eine inklusive Schule insbesondere im Gefolge der Ratifizierung der UN-Konvention… rütteln an den Fundamenten der Sonderpädagogik, die häufig auf Individualisierung und Einzelfallhilfe angewiesen ist. Neuerdings hat Brüggelmann (2011) auf positive Aspekte der Individualisierung in Didaktik, Methodik und Unterricht hingewiesen. … 

Insbesondere die Forderung nach Dekategorisierung und Deetikettierung stellt die sonderpädagogischen Förderschwerpunkte in der bisherigen Form im allgemeinbildenden Schulbereich in Frage. In der Konvention selbst wird die Kategorie >Behinderung< nicht in Frage gestellt. Dekategorisierung soll Etikettierung und damit Stigmatisierung verhindern, also die negativen Folgen von sonderpädagogischer Förderung durch Förderpädagogen. Als Folge davon werden auch die individuelle sonderpädagogische Förderung und spezielle Curricula in Frage gestellt…

2  Beispiele individueller Förderung

2.1 Einzelförderung 1: Pädagogischer Umgang mit dem selbst verletzenden Verhalten einer Jugendlichen mit geistiger Behinderung und autistischer Störung*. *Gekürzte Fassung der Examensarbeit von Herrn Class Bußmann (2002).
Zielsetzung

Ziel der Förderung war es, das selbst verletzende Verhalten (SVV) einer fünfzehnjährigen Schülerin (P) mit schwerer geistiger Behinderung und autistischer Störung zu reduzieren sowie beschäftigungs- und Kommunikationskompetenzen aufzubauen. (a. a. O. S.199)

Person: Lebensweltlicher Hintergrund und Verhaltensstörung

P war zu Beginn der Studie 15,5 Jahre alt. Sie lebte … bei ihren Eltern und wurde in einer Gruppe der Sekundarstufe I einer Förderschule Geistige Entwicklung unterrichtet. Sie konnte sich verbal nicht äußern, machte sich aber vor allem in Essenssituationen durch Gesten verständlich. P hatte wenig Kontakte zu den Mitschülern und nahm auch von sich aus keine Kontakte auf. Verbale Anweisungen konnte K weitgehend verstehen. Einen Großteil des Tages verbrachte sie in einer Ecke sitzend, wobei sie Stereotypen ausführte. Spaß machte ihre der Schwimm- und Sportunterricht, ansonsten mied sie die meisten Beschäftigungsangebote oder ging nur sehr zögernd auf sie ein. In der Gruppe waren Gummi-Einweghandschuhe ihre Lieblingsgegenstände. Die von ihren Bereuungspersonen aufgeblassen, mit etwas Wasser gefüllt und verknotet wurden.
P zeigte stereotype und sich selbst verletzende Verhaltensweisen. Als SVV konnte am häufigsten das Schlagen des Kopfes gegen harte Gegenstände beobachtet werden. Außerdem schlug sie oft mit der Hand gegen den Kopf oder gegen den Oberschenkel und mit den Hacken eines Fußes gegen das Schienbein des anderen Beines. An Stirn und Nase zeigten sich dauerhafte Spuren des SVV in Form einer verhornten Stelle auf der Stirn und einer >Boxernase<, an Händen und Armen häufig Kratzspuren. Sie kniff sich auch selbst in den Arm. Vereinzelt kamen auch fremdaggressive Verhaltensweisen vor; so schlug sie manchmal andere mit der Hand oder stieß sie mit ihrem Kopf, kratzte und kniff sie an Armen und Händen.

Funktionale Diagnostik

Als SVV galt jeder sichtbare Schlag der Hand an den Kopf oder Körper, jeder sichtbare Stoß des Körpers gegen einen harten Gegenstand und jeder Tritt gegen den eigenen Körper. Teilweise gingen die Stöße des Kopfes gegen harte Gegenstände über in ein Anlehnen des Kopfes an diesen Gegenstand. Neben SVV wurde notiert, ob P einer Beschäftigung nachging oder ob sie sich passiv verhielt. Neben der systematischen Beobachtung wurden mit den Betreuungspersonen und der Mutter Gespräche geführt. Zudem sollten sie Fragebögen zur Funktion der SVV ausfüllen.
… Mit der systematischen Beobachtung..  [durch die] Betreuungspersonen… wurde die Zeit zwischen 8.00 und 12.30 Uhr erfasst, der Zeitraum, den der Autor täglich in der Gruppe verbrachte…. Das häufige Auftreten von SVV in Essenssituationen lag offenbar darin begründet, dass P ca. eine Stunde am Tisch sitzen musste und nicht mit ihren Einweghandschuhen spielen durfte….
Als Ergebnis der funktionalen Diagnostik insgesamt war das SVV mit hoher Wahrscheinlichkeit multifunktional und wurde von P in erster Linie als Vermeidungsreaktion auf unangenehme Anforderungen und als Versuch, Gegenstände zu bekommen, gezeigt.  (a. a. O. S.200,201) Als Selbststimulation trat es erst dann auf, wenn die aufgeblasenen Einweghandschuhe für ihre stereotypen nicht zur Verfügung standen.

Fördermaßnahmen

Von den Betreuungspersonen und dem Autor wurde ein Maßnahmenkatalog erstellt, der die aufrechterhaltenden Faktoren des SVV beseitigen und die positiven Aktivitäten fördern, ihr Beschäftigungsrepertoire erweitern sowie ein Kommunikationssystem aufbauen sollte.
… Auf SVV solle reagiert werden, indem möglichst neutral, aber bestimmt >Hör auf< zu P gesagt und ihre schlagende Hand sanft heruntergedrückt wurde, um einen möglichen Reflex zu unterdrücken und das SVV zu unterbrechen. Hörte das SVV daraufhin auf, so sollten ihr Beschäftigungsangebote gemacht werden. Wurde das SVV zur Vermeidung von Anforderungen eingesetzt, so durfte auf keinen Fall nachgegeben werden, sondern die Aufgabe sollte mit ihr zu Ende geführt werden. dabei solle nicht geschimpft und nur so viel Körperkontakt wie nötig eingesetzt werden…  Erst nach Aufhören des SVV sollen die Betreuungspersonen sich P zuwenden und ihr Beschäftigungsangebote machen. Als Verstärker solle einheitlich das Lob >Gut, P< verwandt werden… Essenssituationen… möglichst  kurz ..(ge)halten…
Schließlich zeigte sich, dass P gerne Klavier spielte. Wenn P anfing sich zu langweilen und ihr stereotypisches Schütteln der Einweghandschuhe langsam in SVV überging, wurde versucht, mit ihr in den Musikraum zu gehen. Wenn sie schon SVV zeige, wurde gewartet, bis dieses Verhalten ausblieb, um das SVV nicht mit dem Klavierspielen zu verstärken… An schönen Tagen konnte man auch in den Garten gehen und mit dem Fahrrad fahren, wippen, schaukeln oder auch einfach nur in der Sonne sitzen… Gebrauch von Bildkarten.. [als] Möglichkeit.. sich zu verständigen… (a. a. O. S.201)

Ergebnisse

[Es]…konnte das Niveau der täglich gezählten Schläge, das in der Grundrate bei etwa 103 lag, in der Maßnahmenphase auf  40 Schläge pro Vormittag gesenkt werden. An drei Tagen … waren die Datenwerte höher..
der erste … Tag.. der Maßnahmenphase… am 14. Tag… wahrscheinlich Menstruationsbeschwerden… am 17. Tag… zwei Bezugspersonen erkrankt,,,  eine Betreuerin als Vertretung….
Auch die Nachbeobachtung hatte kein erneutes Ansteigen von SVV bei P gezeigt. Das Ergebnis kam wahrscheinlich dadurch zustande, dass einige entscheidende Auslöser für SVV ausgeschaltet werden konnten,  Wahrscheinlich wirkte sich das oft wütende und ärgerliche Verhalten der Betreuungspersonen auf P verstärkend aus… Ein weiterer Erfolg der pädagogischen Maßnahmen bestand in der Zunahme der Beschäftigungszeit… durchschnittlich… 30 Minuten… So wurden >Leerlaufphasen< reduziert, und sie konnte aus einer größeren Anzahl von Beschäftigungsangeboten eine ihr angenehme Beschäftigung auswählen. So konnten auch die Phasen verringert werden, in denen sie sich durch stereotypes Verhalten, welches nicht selten in SVV überging, entspannte. (a. a. O. S.202,203) Stattdessen spielte sie nun häufiger Klavier….
P machte gegen Ende der Studie einen zufriedeneren Eindruck als vorher. Die langen Phasen, in denen sie weinend und schreiend, sich selbst schlagend oder den Kopf gegen die Heizung stoßend in einer Ecke des Ruheraums oder auf dem Gang saß. Nahmen deutlich ab…

2.2. Einzelförderung 2: Pädagogische Maßnahmen bei einer Schülerin mit Verhaltensstörungen * Gekürzte Fassung der Examensarbeit von Frau Mechthild Renschen (2002).

Zielsetzung

In dieser Förderung, die etwa drei Monate dauerte, wurde versucht, das störende Verhalten einer Schülerin (S) im Unterricht zu reduzieren und lernfördernde Kompetenzen zu entwickeln. (a. a. O: S.203)

Person: Lebensweltlicher Hintergrund und Verhaltensstörung

… S war zu Beginn der Maßnahme 13;4 Jahre alt. Sie lebte in den ersten drei Lebensjahren mit zwei Geschwistern bei ihren Eltern. Aufgrund der familiären Situation wurden die drei Kinder schon früh in einem Heim aufgenommen. Im Alter von neun Jahren wechselten sie in die jetzige Heimsonderschule und besuchten dort die Klassen für geistige Entwicklung. S lebe in einer Wohngruppe mit Kindern und Jugendlichen verschiedenen Alters und Geschlechts. Zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Schule wurde S in ihrem Verhalten als unselbständig und kleinkindhaft beschrieben. Sie musste viele alltägliche Dinge erst lernen. Anforderungen, selbst etwas zur Bewältigung ihres Alltags beizhutragen, wurden von ihr als Zumutung aufgefasst.
Ihr Verhalten wurde als stark abhängig von Stimmungsschwankungen beschrieben. Sie suchte Zuwendung durch sich wiederholende Fragen und kleinkindhaftes, albernes Verhalten. In extremen Konfliktsituationen reagierte sie mit sich selbst verletzendem Verhalten, indem sie sich an den Kopf schlug, sich auf den Boden warf oder sich selbst heftig beschimpfte…

Funktionale Verhaltensanalyse

Informationen wurden durch freie und systematische Verhaltensbeobachtungen in der Klasse gewonnen. Gespräche mit den Lehrpersonen und Erzieherinnen der Wohngruppe ergaben weitere wertvolle Hinweise. In der Beobachtungs- und Förderphase wurde die Anzahl der unangemessenen Verhaltensweisen erfasst. Als Messinstrument diente ein Beobachtungsbogen, in dem das Auftreten bzw. Nichtauftreten dieser Verhaltensweisen in kurzen Zeitintervallen erfasst wurde. Eine Beobachtungseinheit bestand aus 30 Minuten. Die Datensammlung erfolgte anfangs täglich in der 1. Und 2. Stunde, bzw. montags in der 3. Und . Stunde.
Während der Förderphase fand die Datensammlung an drei Tagen der Woche statt. Während der Untersuchung fungierte die Autorin als Versuchsleiterin und Beobachterin. … In einigen Sitzungen protokollierte die Klassenlehrerin als zweite Beobachtungsperson…
Folgende Verhaltensstörungen sollten reduziert werden: (a. a. O. S.204)

  1. Unangemessenes, albernes, kleinkindhaftes Verhalten in Handeln und Sprechen, vor allem andere Schülerinnen nachahmen durch Schreien und Kreischen,
  2. Störung des Unterrichts durch Aufgabenverweigerung. Aufgaben nicht weiter führen oder erst nach mehrmaliger Aufforderung erledigen, Sich-selbst-aus-dem-Klassenraum-schmeißen,
  3. Störung des Unterrichts durch Zwischenrufe, ständiges Reden, lautes Sprechen, sich wiederholende Fragen, die sie sich selbst beantworten konnte.

Die Auslöser für diese Verhaltensweisen waren schwer auszumachen…
Kaum oder selten traten diese Verhaltensweisen in der Schule in Essens-, bei Feispiel- oder in Entspannungssituationen auf, die für sie eine besondere Bedeutung hatten. S verhielt sich herausfordernd und provokant , wenn sie das Gefühl hatte, zu wenig Beachtung zu erhalten….Die ständigen Ermahnungen wirkten sich vermutlich nachteilig auf das Selbstbild von S aus. Negative Reaktionen erfuhr sie in diesen Situationen auch durch die Mitschülerinnen. ..

Fördermaßnahmen

Nach der Grundphase setzte die Fördermaßnahme für die erst genannte Verhaltensstörung  ein. Von beiden Lehrkräften sollte diese konsequent ignoriert werden; wenn das unangemessene Verhalten nicht mehr auftra, wurde angemessenes Verhalten beachtet.
Vor dem Einsatz der zweiten Fördermaßnahme wurde mit S der Zweck der Förderung besprochen. Dazu wurden bildhaft die erwünschen Verhaltensweisen dargestellt, damit sie die Abmachung vor Augen hatte. Damit sollte ihr bewusst werden, dass sie durch ihr Verhalten  viele Konflikte erlebte und Aufgaben nicht fertig stellen konnte, da sie nicht konstant am Unterricht teilnahm. S erklärte sich spontan bereit teilzunehmen. Ebenso wurden die Mitschülerinnen…  informiert…
Als Token (Eintausch-Verstärker) diente ein Puzzle mit 500 Teilen – Puzzeln war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen –. , welches in Tütchen zu je die Teilen gegen einen Chip am Ende der Unterrichtsstunde eingetauscht werden konnte. Die 30-minütigen Sitzungen waren in Zeitintervalle von fünf Minuten eingeteilt. Da S nur wenig Bewusstsein im Umgang mit Zeit hatte, wurde ihr durch eine Sanduhr der Ablauf eines Zeitintervalls deutlich. (a. a. O. S.205,206) … Beim Umtausch der Chips … gegen die gleiche Anzahl Tütchen mit Puzzleteilchen… wurde durch Lob die Mitarbeit, das Fertigstellen der Aufgabe o. ä. sozial verstärkt…
Eine zusätzliche pädagogische Körperarbeit sollte positiv auf das Körper- und Selbstbild der Schülerin einwirken. Inhalt und Zielsetzung … waren:

·         Den eigenen Körper kennen lernen, Körperteile wahrnehmen,

·         Körperspannungen wahrnehmen und Körper entspannen,

·         Kräfte entdecken, mobilisieren und gezielt steuern.

 Diese Einzelfördermaßnahme fand an drei Tagen in der Woche jeweils eine Doppelstunde in einem kleinen Raum als fest integrierter Bestandteil ihres Stundenplanes fünf Wochen lang statt…  Raum leicht abgedunkelt, eine Decke auf dem Boden ausgebreitet, … Schuhe … ausgezogen, … leise Entspannungsmusik. Mit einem Rollentausch bei den Übungen sollte sie auch Verantwortung für sich übernehmen. So konnte sie Fürsorge und Behutsamkeit an der Partnerin lernen und diese Gefühle in ihren Alltag übertragen… Als Einstieg in jede Sitzung konnte sie kurz  erzählen, wie es ihr ging… Die letzten 15 Minuten der Stunde konnte sie puzzlen. (a. a. O. S.206)

Ergebnisse

Der Trend der Grundraten, geschätzt durch die Split-Mittel-Methode, war bei den Grundraten 1 und 3 deutlich abfallend, bei der Grundrate 2 stark ansteigend…
Besonders die Fördermaßnahme zur Reduzierung der Aufgabenverweigerung  erzielte eine sofortige starke Wirkung und trug damit zur internen Validität der Untersuchung bei….
Subjektive Erfahrungen zur Auswertung der Körperarbeit waren folgende:

Diskussion

Die Einzelförderung hat gezeigt, dass das problematische Verhalten von S im Unterricht reduziert und eine kontinuierliche und relativ störungsfreie Teilnahme am Unterrichtsgeschehen möglich wurde. Dies gelang ihr auch in der kurzen Phase, in der die Verstärkung durch das Tokensystem zurückgenommen wurde….
Die Verhaltensänderung führe zu keinen Generalisierungseffekten in anderen Unterrichtsfächern. Daher schiene es sinnvoll. Maßnahmen zur Förderung der Generalisierung in anderen Unterrichtsfächern und bei anderen Lehrkräften weiterzuführen.
Da die Förderung im Klassenverband erfolgte, kam es anfänglich zu problematischen Situationen, in denen ein Schüler eifersüchtig auf die außergewöhnliche Situation von S reagierte…

3 Schlussfolgerungen

Aus pädagogischer Sicht können Fördermaßnahmen bei Verhaltensstörungen bei Schülern mit geistiger Behinderung sinnvollerweise grundsätzlich aus drei Komponenten bestehen:  (1) aus Maßnahmen, welche die Handlungsmöglichkeiten der betroffenen Person unter Berücksichtigung der Funktionen des Problemverhaltens erweitern, (2) aus Maßnahmen, welche die Lebenswelt zur Unterstützung der Handlungserweiterung verändern, und (3) aus Maßnahmen, die direkt auf die Beeinflussung des Problemverhaltens gerichtet sind. Dabei ist zu bedenken, dass die Verhaltensstörung den betroffenen ein gewisses Maß an Kontrolle über ihre Umgebung ermöglichen, die ihnen nicht ohne entsprechenden Ersatz genommen werden sollte. Verhaltensstörungen sollten daher mit Ausnahme von massiv selbst verletzenden oder fremdaggressiven Verhaltensweisen nicht von vornherein unter allen Umständen unterdrückt werden (Mühl 2002,36)….  (a. a. O: S.208)
… Es ist versucht worden, am Beispiel der Förderung … [bei] Verhaltensstörungen bei Schülern mit geistiger Behinderung darzulegen, dass individuelle Aspekte unerlässlich sind, um eine wirksame Reduzierung zu erreichen. Damit sind zwar Etikettierungseffekte nicht völlig auszuschließen, aber sie sind geringer einzuschätzen als Distanzierungs- und Vernachlässigungseffekte, die ohne eine solche Art der Förderung eintreten und die Persönlichkeitsentwicklung beeinträchtigen würden. (a. a. O. S.209)

 

Christoph Ratz & Ullrich Reuter
Die Jakob-Muth-Schule in Nürnberg
und ihre >intensiv-kooperierenden Klassen< (IKON).

Ein Beispiel an dem konzeptionelle Entwicklung, politische Abhängigkeit und aktuell zu lösende Aufgaben integrativer Schulentwicklung sichtbar werden

Einleitung

Bemühungen, integrierte oder inklusive Schulkonzepte zu gestalten, gibt es nicht erst seit der UN-Konvention, sondern mindestens seit dem Gutachten des Deutschen Bildungsrates 1973. Das Förderzentrum, Förderschwerpunkt  geistige Entwicklung der Lebenshilfe Nürnberg, bemüht sich seit Jahren um die Gestaltung solcher integrativer Settings.
Als Symbol seiner Bemühungen hat die schule sich … 2009 nach dem wesentlichen Initiator des o. G. Gutachtens, Jakob Muth, benannt. …
Es wird deutlich, dass die Bemühungen der Jakob-Muth- Schule vor dieser Zeitenwende enorm waren und sich gegen vielfältige Widerstände … durchsetzen mussten. Dadurch aber stand bei Vorliegen des neuen Gesetzes  mit den ICON-Klassen eine Konzeption zur Verfügung… als Vorreiter in einer sich nun rasant entwickelnden bayerischen Szene…
(a. a. O. S.211)

2 Die ICON-Klassen

Das private Förderzentrum der Lebenshilfe Nürnberg e. v. ist eine staatlich anerkannte Ersatzschule mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, die Schüler… aus dem Stadtgebiet Nürnberg aufnimmt. Die besondere Zusammensetzung der Schülerschaft (etwa die Hälfe kommt aus Familien mit Migrationshintergrund aus fast 30 Nationen, ein hoher Anteil rekrutiert sich aus sogenannten sozial benachteiligten Bevölkerungsgruppen) führt dazu, dass viele Schüler einen mehrfachen Integrationsbedarf aufweisen.
Die Schule ist seit ihrer Gründung im Jahr 1978 die Heilpädagogische Tagesstätte (HPT) der Lebenshilfe angeschlossen. Beide Einrichtungen arbeiten eng zusammen und ergänzen sich zu einem Ganztagsangebot. In den letzten Jahren wurden jeweils ca. 23 Klassen mit durchschnittlich zehn Schülern…  sowie acht schulvorbereitende Gruppen (SVE) Heilpädagogischer Kindergarten gebildet.
Seit etwa zehn Jahren öffnet sich die Schule auf Initiative des Vorstands sowie der pädagogischen Teams und der Schul- und Tagesstättenleitung….
Die Berufsschulstufe wurde an einem eigenen Standort in der Nähe der von Berufsschulen und Werkstätten ausgelagert, um dort eine stark lebensweltbezogene Vorbereitung auf gesellschaftliche und berufliche Eingliederung umzusetzen, auch in enger Zusammenarbeit mit >Access< bei der Begleitung von Jugendlichen auf Arbeitsplätze am ersten Arbeitsmarkt. Der Mobile Sonderpädagogische Dienst (MSD) unterstützt eine zunehmende Zahl von Schülern mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in der Nürnberger Montessori-Schule und der Jenaplan-Schule.
Für die wissenschaftliche Begleitung und Beratung der Weiterentwicklung der Einrichtung auf dem Weg zu >einer Schule für Alle< wurde Prof. Dr. Jutta Schöler(TU Berlin) gewonnen….
Seit dem Schuljahr 2003/2004 wurde kontinuierlich ein ganzer Grundschulstufenzug als >Außenklassen< an der Grundschule Gebersdorf, einem Stadtteil im Nürnberger Südwesten aufgebaut. Die regelmäßige gemeinsamen Unterrichtszeit in der dort praktizierten 2 : 1-Kooperation (2 Grundschulklassen kooperieren mit einer entsprechenden Jahrgangklasse der JMS) beträgt sechs bis zwölf Wochenstunden. Hinzu kommen gemeinsame Projekte, Feiern, Feste und Ausflüge. Aufgrund der positiven Erfahrungen … wurde das Außenklassen-Modell seit 2005 auf eine weitere Grundschule , die Wahlerschule im Stadtteil Schmiegling ausgeweitet (a. a. O. S.212,213)
Vergleichbare Kooperationen mit Hauptschulen gestalteten sich als nicht durchführbar. Erfreulicherweise besteht seit dem Schuljahr 2007/2008 eine Außenklasse an der staatlichen Geschwister-Scholl-Realschule (3. Bzw. 6. Jahrgangsstufe). Kennzeichen der Zusammenarbeit der Partnerklassen von Real- und Förderschule ist, dass der Unterricht überwiegend in einer Lerngruppe stattfindet… Methodisch finden vor allem Formen des offenen Unterrichts (Lernwerkstat, Wochenarbeit) sowie fächerübergreifende Projekte statt. Ab Schuljahr 2012/2013 soll eine zweite Partnerklasse dort eingerichtet werden….

2.2 IKON-Klassen – von der Idee zum Start

Die zweite Öffnungsrichtung neben den Außen- und Partnerklassen verändert das Förderzentrum noch unmittelbarer: Seit 2010 werden Grundschulklassen in intensiver Kooperation mit Förderschulklassen innerhalb der>Sondereinrichtung< unterrichtet (ICO = Intensiv-kooperierende Klassen Nürnberg). Auch wenn das BayEUG von 2003 diese Form gemeinsamen Unterrichts ausdrücklich vorsieht, war die Umsetzung  doch  ein ausgesprochen mühsamer und schwieriger Weg.
Nach einer Zukunftswerkstatt zum Thema >Gemeinsame Bildung und Betreuung  für alle Kinder< im Dezember 2005, der die Kompetenzen, Ideen und Visionen der zukünftig Beteiligten sammelte, entstand bis 2009 ein gemeinsames pädagogische s Konzept (vgl. Jakob-Muth-Schule 2009). Diesem liegt die Idee zugrunde, die positiven und ermutigenden Erfahrungen aus den bestehenden Partnerklassen in den organisatorisch freieren Rahmen einer Förderschule zu verlegen, die dort vorhandenen Infrastruktur (Barrierefreiheit, Fachräume, Hilfsmittel, Ganztagsangebot) und Kompetenzen für gemeinsames Lernen und Spiel zu nutzen, den >Schonraum Förderschule< zunehmend für >Normalität< und in die Kommune hinein zu öffnen und damit die Jakob-Muth-Schule in eine >Schule für alle< weiterzuentwickeln, in der es keine >Restschüler< gibt, sondern Kinder und Jugendliche mit und ohne besondere Bedürfnisse gemeinsam leben und lernen. (a. a. O. S.213,214) Gleichzeitig sollte in der Verknüpfung von Heilpädagogischer Tagesstätte und einem von der Lebenshilfe gegründeten integrativen Hort ein integratives Ganztagsangebot realisiert werden.
Der erste Versuch… scheiterte 2008 am zu kurzen zeitlichen Vorlauf sowie an Schwierigkeiten bei der Kommunikation zwischen Träger und Schulaufsicht und dem mangelnden Interesse von Grundschuleltern….
Seitens des Schulamtes wurde die Dunant-Schule, eine große Grundschule in etwa 3 km Entfernung, als Partnerschule aus gewählt und zugesichert, das die Zahl der sprengelübergreifend angemeldeten Grundschüler pro Klasse bei maximal 17 liegen darf. Die Stadt Nürnberg als Sachaufwandsträger…
Der Umbau der zu kleinen Klassenzimmer in je einen einander liegenden großen und einen kleinen Unterrichts- und Tagesstättenraum wurde gerade noch rechtzeitig fertig.
Trotz vieler bürokratischer und finanzieller Hürden bestand das größte ‚Risiko darin, ob es gelänge, eine ausreichende Zahl, also mindestens 30 Eltern zu finden, die bereit sein würden, ihr Kind ohne Förderbedarf für das völlig neue Projekt … anzumelden. Mit Infoabenden, Presseberichten und Mund-zu-Mund-Propaganda gelang es… (a. a. O. S.214)

2.3 Erste Erfahrungen

Nach dem ersten IKON-Schuljahr fällt die Zwischenbilanz der Beteiligten insgesamt positiv aus. Die beiden gemeinsamen Klassen aus Grund- und Förderschülern haben sich zwar unterschiedlich, aber insgesamt erfolgreich entwickelt… Hohe Anforderungen wurden an die ‚Teamfähigkeit der Pädagoginnen gestellt; zusammen mit den Mitarbeiterinnen der Tagesstätte und des Horts waren einschließlich Pflegekräften, FSJ [Freies Soziales Jahr]-Praktikantin  und Schulbegleiterin 16 Personen (ohne Fachlehrkräfte) unmittelbar beteiligt… Nach einigen Wochen stellte sich heraus, dass sich unter den Regelschulkindern einige Schüler mit Lern- und Verhaltensschwierigkeiten befinden, deren Probleme vorher nicht bekannt waren, sodass ungewollt und entgegen den gesetzlichen Vorgaben . die eigentlich nur >normale< Grundschüler mit Förderschüler geistige Entwicklung kooperieren lassen wollten, tatsächlich eine >Schule (oder Klassen) für alle< entstanden… dennoch wurde in beiden Klassen durchgängig gemeinsamer Unterricht mit hohen Anteilen offener Unterricht durchgeführt… Seitens der beteiligten Eltern besteht eine sehr hohe Zufriedenheit, auch wenn es deutliche Unterschiede zwischen den Grundschuleltern, die sich bewusst für dieses Projekt entschieden hatten, und den Förderschuleltern, die ihr Kind notwendigerweise in eine Förderschule einschulen mussten, im Hinblick auf Identifikation mit dem Projekt und die Zusammenarbeit mit den Pädagoginnen gab. Die Werbung interessierter Eltern für den zweiten Anlauf (mit einer neuen ersten ICON-Klasse) wurde zum Selbstläufer. Ohne besondere öffentliche Aktivitäten gab es deutlich mehr Anmeldungen als zu vergebende Plätze.
Das Konzept eines pädagogisch gemeinsam gestalteten Ganztags erweist sich als sehr wertvoll und tragfähig für die Beziehungen und Entwicklungen des Kindes…. (a. a. O. S.215)

3.Wissenschaftliche Begleitung

Es gibt eine unüberblickbare Menge an Literatur über Inklusion und Integration, und auch eine ganze Reihe zum Teil sehr umfangreicher Forschungsprojekte ….  Schüler im FsgE können zu einem überwiegenden Anteil nicht an Gruppenerhebungsverfahren teilnehmen, darüber hinaus haben die Verfahren keine Normen für diese Gruppen von Schülern…
Das Institut für Grundschulforschung mit Sitz in … Nürnberg zeigte mit den Professorinnen Sabine Martschinke und Bärbel Kopp auf Anfrage spontan Interesse, zur Geistigbehindertenpädagogik an der Universität Würzburg (Ratz) bestanden bereits Kontakte. (a. a. O. S.216),217)
Die ersten Kontakte zwischen den beiden Fächern zeigten ein hohes Maß an Kooperationsbereitschaft, aber auch eine große Unterschiedlichkeit in der Erfahrung bezüglich der Integration von Schülern im FsgE und ebenfalls in den Forschungsmethoden… So sieht zunächst die Frage nach der Schulleistung im Bereich der Grundschulforschung ein klares methodisches Vorgehen nach sich: normiere Schulleistungstests, ein längsschnittliches Verfahren mit mehreren Messzeitpunkten. Dieses Verfahren kann auf nur wenige Schüler im FsgE übertragen werden…
Zusammenfassend können nach einem Jahr folgende erste Aussagen getroffen werden (vgl. Martschinke/Kopp/Ratz 2011 sowie 2012):

  1. Die Lernausgangslage der Grundschulkinder im Lesen ist vergleichbar mit einer größeren Stichprobe, d. h. es liegen keine Unterschiede bezüglich der phonetischen Bewusstheit vor zwischen den Grundschülern des IKON-Projekts und denen aus einer Vergleichsstichprobe aus anderen Nürnberger Grundschulen, die ein Jahr zuvor mit den gleichen Erhebungsinstrumenten getestet wurden.
  2. Bezüglich des Selbstkonzepts zum Lesen und des Selbstkonzepts der sozialen Integration liegen keine Unterschiede zwischen den Grundschul- und Förderkindern vor, d. h. sowohl Grund- als auch Förderschüler schätzen ihre Fähigkeiten gleich hoch ein und fühlen sich der Klasse gleichermaßen zugehörig. (a. a. O. S.217)
  3. Bezogen auf die Entwicklung ist kein Absinken der Förderkinder im Bereich des Selbstkonzeptes Lesen und … der sozialen Integration zum Ende des Schuljahres hin ersichtlich; beide Werte steigen bei den Grundschulkindern an und dies sogar höher als bei den Kindern einer Vergleichsgruppe.
  4. Die Ergebnisse der Soziogrammauswertung zeigen, dass sich vernetzte Sozialbeziehungen zwischen Grundschulkindern und Förderkindern entwickelt haben.
  5. Die Unterrichtsbeobachtung in beiden Klassen zeigt in beiden Klassen eine Ausgewogenheit von gemeinsamen und individuellen Phasen beim Lernen und eine gleichberechtigte Rollenverteilung der beteiligten Lehrkräfte. Damit gelingt der Unterricht im Tandem in der beabsichtigten geteilten Verantwortlichkeit … für alle Kinder.
    Forschungsmethodisch sind offene Punkte zu benennen (vgl. ebd.):
    …. Probleme bei der Operationalisierung von gemeinsamem Unterricht; Was bedeutet >gemeinsam<? …

4  Aktuell zu lösende Aufgaben, die charakteristisch für eine Schule auf dem Weg sind

Um gegenwärtigen Zeitpunkt lassen sich einige Handlungsfelder und Zukunftsaufgaben beschreiben, die als exemplarisch zu bezeichnen sind für Schulen, die auf dem Weg der Inklusion sind. (a. a. O. s.218,219) Sie verdeutlichen, das bei den vielen positiven Erfahrungen stets auch neue Herausforderungen entstehen.

4.1  Umgang mit Heterogenität und Komplexität

Bereits 1990 bestimmte Annedore Prengel das in dreifacherweise bestimmte Phänomen der Heterogenität als >Spannungsverhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit< ….

·         >Die verschiedenen Lebensäußerungen und Lernbedürfnisse werden in ihrer je spezifischen Eigenheit durch die Lehrkräfte beachtet und beantwortet.<

·         >Mitschüler… lernen sich gegenseitig als verschiedene und verschieden Wachsende wahrzunehmen und anzuerkennen.<

·         Weil die Ressourcen der persönlichen Zuwendung… allen gleichermaßen entsprechend ihren unterschiedlichen Bedürfnissen zur Verfügung stehen  […], kann sich Selbstachtung bei allen entwickeln. Sie ist das Recht auf Gleichheit im Freiraum der Verschiedenheit< (Deppe-Wolfinger/Prengel/reiser 1990, 273 ff.)

Im ICON-Projekt  zeigt sich diese Vielfalt als Realität und zugleich als Erfahrungsmöglichkeit und Lernziel in vielfacher Weise:

… Die unterschiedlichen Voraussetzungen und Erwartungen an Grund- und Förderschullehrkräfte (Lehrpläne, Lernfortschritt, Leistungsbeurteilung) erzeugen Drucksituationen, die oft nur schwer auszuhalten sind… (a. a. O: S.219)

4.2 Besondere pädagogische Voraussetzungen

Ist es schon enorm anspruchsvoll und anstrengend, den >ganz normalen Alltag< in solch heterogenen pädagogischen Situationen zu bewältigen, so stellen Schüler mit ausgeprägten sozial-emotionalen Störungen (unabhängig vom Status Regel- oder Förderschüler) oder einem hohen Betreuungsbedarf aufgrund ihrer Behinderung (z. B. Schüler mit autistischen Störungen, aggressivem Verhalten, stark eingeschränkter Kommunikations- oder Bewegungsmöglichkeit, mit hohem Pflegeaufwand) weitere Herausforderungen dar. Ist die komplexe Situation einer Gruppe von ca. 25 Kindern für alle Schüle geeignet und förderlich?  Können Schule, Tagesstätte und Hort Interventionen leisten, die eigentlich medizinisch-therapeutische Maßnahmen erfordern?
Verhaltensstörungen sind en unterschätztes Problem bei der Gestaltung von inklusiven Settings….  Dworschak/Kannewischer/Ratz/Wagner (2012b) zeigten jüngst, dass >52 % der Schüler… mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung in Bayern eine ausgeprägte Problematik des Verhaltens und der Emotionen zugeschrieben werden kann< (ebd., 162) – dabei kann auch von einem deutlichen Anteil von psychischen Störungen ausgegangen werden… in den beiden IKON-Klassen…  [liegt] der Anteil  eher noch höher… 8 von 14 Förderschülern…, was 57 % entspricht… Auch auf der Seite der Grundschüler stellt sich die Frage nach Verhaltensstörungen. Die Erfahrung zeigt, das sich in >Angebotsschulen< eine andere Mischung findet als in Sprengelschulen, auch wenn hierfür kein empirischer Beleg vorliegt. Das spezielle Modell der ICON-Klassen ist für den Grundschulbereich ein Angebot, das von Eltern, die bei einer >normalen<Regelbeschulung unter Umständen Probleme für ihr Kind erwarten, gerne in Anspruch genommen wird… (a. a. O. S.220)

4.3 Ganztagsangebote und ganzheitlicher Förderbedarf 

Die Erfahrungen der JMS in außen- und Partnerklassen an Regelschulen haben gezeigt, dass die gemeinsame Bildung und Erziehung von Kindern mit und ohne Förderbedarf nicht auf die Schule allein beschränk bleiben darf…

4.4 Ressourcen und Infrastruktur

…. Die Klassenzusammensetzung mit durchschnittlich 16 Grundschülern, von denen einige  z. T. erheblichen Förder- oder zumindest pädagogischen Betreuungsbedarf mitbringen, und 8 bis 9 Schülern mit hohem Förderbedarf stellt ohne Zweifel (zu?) hohe Anforderungen an Mitarbeiter und Kinder. Kooperationsstunden sind nicht vorhanden. (a. a. O. S.221,222) Die Stundentafeln der beiden kooperierenden Schularten sind insbesondere in Jahrgangsstufe 3 nicht mehr kompatibel (28 Pflichtstunden für Grundschüler, 22 für Förderschüler) zusätzliche Stundenzuweisungen für notwendige Angleichungen sind nicht vorgesehen…

  1. Politischer Wille, Gesetzgebung und administrative Strukturen

… Insbesondere die Verteilung von Zuständigkeiten zwischen Kultus- und Sozialministerium, zwischen Schuladministration, Kommunen und Behörden der Eingliederungshilfe(Bezirk, Jugendhilfe u. a. ) führen zu Verteidigungs- und Verteilungskämpfen auf verschiedenen Ebenen…

5 Fazit

(a.          a. O. S.222)

… Jakob Muth, der Initiator des Bildungsrats-Gutachtens von 1973 und Namensgeber  der Nürnberger Schule, hat schon 1991 aus intensiver Beobachtung integrativer Förderung behinderter Kinder im allgemeinen Unterricht die erstaunliche Konsequenz gezogen, das nicht nur >Regelschulen ohne Aussonderung<, sondern gerade auch weiter entwickelte spezialisierte Einrichtungen langfristig gelingende Integration möglich machen: >Ich bin dagegen der Auffassung, dass die Sonderschule unter den integrativen Schulen, also das Schulmodell, was behinderte Kinder ohne Selektion aufnimmt, auch in Zukunft weiterbestehen wird. Allein an Schulen, die behinderte Kinder jedweden Schweregrades  aufnehmen können, lässt sich zum einen die Qualifikation von Lehrern der verschiedenen sonderpädagogischen Fachrichtungen permanent sichern und mit der allgemein/pädagogischen Kompetenz andere Lehrerin Zwei-Lehrer-Systemen kooperativ verbinden…

 

Walter Göschler
Lernwerkstätten und Inklusion

Am Institut für Sonderpädagogik an der Universität Würzburg wurde 2007 beschlossen, eine Lernwerkstatt für die Studierenden einzurichten. Hierzu wird seitdem eine Mitarbeiterstelle finanziert, die für den Aufbau, die konzeptionelle (Weiter-)Entwicklung und für die Leitung zuständig ist. Herr Prof. Dr. Erhard Fischer, dem dieses Festschrift gewidmet ist, hatte zu dieser Zeit die geschäftsführende Leitung des Instituts für Sonderpädagogik inne….

1 Lernwerkstatt als uneinheitlicher Begriff

Der Begriff Lernwerkstatt wird sowohl in der Fachliteratur als auch im Zusammenhang mi Bildungseinrichtungen nicht einheitlich verwendet. In erziehungswissenschaftlicher Hinsicht ist ein Schwerpunkt im Bereich der Primarschulpädagogik festzustellen… Bei aller Uneinheitlichkeit der Begriffsverwendungen scheinen Lernwerkstätten immer verbunden mit dem Wunsch, Erziehung und Bildung vom Kindergartenalter bis in die Universitäten hinein reformorientiert in einer Veränderung der Lernsituation und auch des Lernortes zu begreifen und realisieren zu wollen (vgl. Seitz 2003, 197)…. (a. a. O. S.227)

1.1       Lernwerkstätten als Reformelemente

…. Lernwerkstätten in Deutschland werden zu Beginn der 1980er Jahre begründet, zuerst an der TU Berlin und an der Gesamthochschule Kassel (vgl. Kirschhock 2005, 203). Seit 1986 finden bundesweite und internationale Tagungen zu Lernwerkstätten statt. Nach einer Zeit der Konsolidierung des bundesrepublikanischen Erziehungs- und Bildungssystems bis in die 1060er Jahre hinein >wird allerdings zunehmend Kritik an der traditionellen Grundschulkonzeption geübt. Reformansprüche und Schulwirklichkeit scheinen sich in vielen Punkten nicht vereinbaren zu lassen< (Müller-Naendrup 1997,37)… Die innere Schulreform beschäftigt sich mit >Fragestellungen,  die die Gestaltung des Schullebens, den erzieherischen Unterricht, das Prinzip des sozialen Lernens, die Gestaltung einer kinderfreundlichen Lernumwelt, die Leistungsbeurteilung ec. Betreffen [ebd. 4]. … >nach dem Vorbild der Teacher Centres in den USA und England< (Schomaker 2011, 208)….

1.2       Erziehungswissenschaftliche Anbindung

…Doch wie ist dieses Reformbestreben inhaltlich zu fassen? Innere Schulreform ist sehr eng mit dem Begriff >Offener Unterricht< verknüpft.-  Doch auch dieser Begriff lässt eine Vielzahl an Varianten und Realisierungsmöglichkeiten offen… (a. a. O. S.228)
Eine Orientierung gibt die Antwort von Lillian Weber, die das Workshop Center in New York 1972 begründete (vgl. Ernst 1996, 40)… >Die Frage, was ‚Offener Unterricht ausmacht, ist schwer für mich zu beantworten, denn ich habe diesen Begriff  nicht in die Welt gesetzt, das ist eher ein zufällige Name. Natürlich wollte ich so etwas wie ‚Öffnung‘ . Eine bessere Bezeichnung wäre vielleicht ‚Zugänglichkeit‘. […] Ich wollte, daß die Klassenräume sich ein wenig zur Welt hin öffnen, zur Realität der vielen Dinge in ihr. <ich wollte ein Höchstmaß an Interaktion der Kinder… als Motor des Denkens< (ebd.).
Drei Punkte erscheinen an diesen Aussagen bedeutsam:

Damit wird eine Orientierung geschaffen, die über den Aspekt der Individualisierung und Differenzierung hinausweist hin zu einem gemeinsamen Tun…

1.3       Schwerpunktsetzungen

Lernwerkstätten können gefasst werden als >Arbeitsumgebungen, die nach dem Prinzip der anregenden Lernlandschaft gestaltet sind und so alternative Lernorte darstellen< (Hagstedt 2009a,1). Orientierungspunkte sind nicht einzelne Lernziele, sondern die Zielrichtung weist auf >übergeordnete pädagogische Ziele und auf einen umfassenden Bildungsbegriff< hin (Kirschhock 2008, 20). Es werden Freiräume geschaffen auf seien der Lernenden und die Lehrerrolle verändert sich vom Instrukteur hin zum Begleiter oder Berater… Nicht der Unterricht steht im Vordergrund, sondern die Lernenden. Demnach sind Lernwerkstätten Orte, >an denen noch oder wieder in subjektbezogenen Zeitrhythmen gearbeitet und Erfahrung nicht nur simuliert< wird (Selle 1992, 40). Die Verantwortung für Lernfortschritte verlagert sich stärker auf den Lernenden. Damit eignen sich Lernwerkstätten zur Realisierung einer >partizipativen Lehr- und Lernkultur< (Wedekind 2009, 3) Dabei wird ein Lernverständnis zugrunde gelegt, indem das Kind Akteur des Lernprozesses im Sinne eines aktiven, entdeckenden und konstruierenden Lernens ist. Die ist ein jeweils individueller Weg in situativen und sozialen Zusammenhängen (vgl. ebd., 4). (a. a. O. S.229)

2        Integration und Inklusion als uneinheitliche Begriffe

… In der Bayerischen Bildungslandschaft wurde die Leitlinie >Integration durch Kooperation< ersetzt durch >Inklusion durch Kooperation<< und der Inklusionsbegriff kommt auch dann zum Tragen, wenn einzelne Kinder oder Jugendliche mit sonderpädagogischem Förderbedarf sich in einer Raum-Zeit-Nähe zu Kindern und Jugendlichen ohne …Förderbedarf befinden….

2.1.  Entwicklungslinien der Integration/Inklusion

In den 1960er Jahren konnte der Auf- und Ausbau unterschiedliche Sonderschulen für verschiedene Behinderungsarten, die z. T. in sich nochmals unterteilt waren bzw. immer noch sind, vorangetrieben und realisiert werden als vierte Ebene eines gegliederten Schulwesens…
die Sonderschulen… waren….  mit Gesetz… mit einem eigenen Bildungsauftrag ausgestattet und die Schulpflicht für Schüler.. mit einer geistigen Behinderung legitimiert und durchgesetzt… Damit verbunden war die Qualifizierung von Sonderschullehrkräften… (vgl. Stern 2995, 334). (a. a. O. S.230) Die Idee einer gemeinsamen Erziehung , Bildung und Betreuung von Kindern mit und ohne Behinderung  (Stiftung Aktion Sonnenschein o. J.) entstand im Zusammenhang mit dem Montessori-Kindergarten der Aktion Sonnenschein ab 1968 in München, in dessen Gefolge eine Schule entstand, die >Kinder mit oder ohne Behinderung gemeinsam besuchen konnten (ebd.) … offiziell, also von Seiten der genehmigenden Behörde, … wurde… keine Aufnahme von blinden, gehörslosen und geistig behinderten Kindern zugelassen (vgl. Hellbrügge1984, 52). Die Kultusministerkonferenz veröffentliche 1972 die >Empfehlung zur Ordnung des Sonderschulwesens… Hier wird ein individuumzentriertes Verständnis von Behinderung formuliert, das den Grund für das Vorliegen einer Behinderung im jeweiligen Subjekt verankert und dies als Begründung seiner Begabung und Eigenart betrachtet… Ein Jahr später wurde mit den Empfehlungen der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrates… ein Kontrastprogramm einer weitgehend gemeinsamen Erziehung und Bildung von behinderten und nichtbehinderten Kindern vorgestellt.. (Muth 1988, 18)
Ab 1975 nimmt ein Klassenzug der mehrzügigen Fläming-Grundschule in Berlin  Kinder mit Behinderungen auf. Damit ist diese Schule die erste, die offiziell genehmigt und dokumentiert  Kinder mit geistiger Behinderung aufnimmt (vgl. Stoellger 1988,11). (a. a. O. S.231,232) …
Zwischen 1980 und 1982 veränderte sich die Uckermark-Grundschule in Berlin in eine >Schule ohne Aussonderung< mit >wohnortnaher Integration< (Heyer/Preuss-Lausitz 1990,19) Ziel.. Normalisierung der Arbeitsbedingungen, Individualisierung der Förderung und soziale Integration über die Schule hinaus …(Heyer et al. 1993,… vgl. ebd., 15f) <
Die Grundschule in der Robinsbalje in Bremen führte ab 1984 neben den bis dahin üblichen Maßnahmen der Individualisierung und Differenzierung in integrativen Klassen das didaktische Prinzip des gemeinsamen Lernens an einem gemeinsamen Gegensand (Feuser) ein. Dabei geht es >um Realisierung eines Verständnisses von schulischer Integration, das impliziert, daß

lernen und im Unterricht mitarbeiten< (Feuser/(Meyer 1987,12…)
Bei diesem Konzept kommt explizit ein Behinderungsbegriff zum Tragen, der nicht personenzentriert ist und den Jantzen mit der Verhältniskategorie der Isolation beschreibt. Behinderung ist nicht das Wesen einer Person. >Isolation ist nicht an irgendwelchen inneren Eigenschaften der Individuen festzumachen< (Jantzen 1980a,70), sondern ist anzusetzen im Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt. >Isolation meint ein Verhältnis und kein Ding< (Jantzen 1980b,132).
Damit wird eine individuumzentrierte Sichtweise von Behinderung überwunden. Eine feststellbare Beeinträchtigung eines Kindes ist nicht seine Behinderung, sondern die Bedingung seiner Existenz. Erst die Konsequenzen des sozialen Ausschlusses behindern das Kind (vgl. Feuser/Meyer 1987, 186). …
Es konnte gezeigt werden, das eine gemeinsame Erziehung und Bildung von unterschiedlichen Kindern und Jugendlichen realisierbar ist… (a. a. O: S.232)

2.2  Von der Integration zu Inklusion?

… Wesentlich am Inklusionsbegriff ist die Erweiterung des Personenkreises und damit verbunden die Überwindung des Zwei-gruppen-Ansatzes Behinderte-Nichtbehindere…. Qualität- und Quantitätsprobleme machen eine Hinwendung zum Inklusionsbegriff notwendig. In 15Punkten stellt Hinz die Praxis der Integration, die versucht, >aus sonderpädagogischer Warte individuumsbezogen die Einbeziehung ihre Klientel  mit sonderpädagogischen Förderbedarf, je nach individueller Schädigung, mit personenbezogener Ressourcenausstattung, spezieller Förderung und primärer eigener Zuständigkeit voranzubringen< (Hinz 2002, 359), der Praxis der Inklusion gegenüber, die >mit schulpädagogischem  Ausgangspunkt und systemischem Ansatz alle Schüler an einer gemeinsamen Schule für alle teilhaben und individuell wie gemeinsam lernen lassen und dies mit systembezogener Ressourcenausstattung und allen beteiligten Berufsgruppen vorantreiben will< (ebd. 359f.). …
In der praxisrelevanten Umsetzung der UN-Konvention gehen die Bundesländer verschiedene Wege, jedoch ohne erkennbar die Vorteile der Praxis der Inklusion aufzugreifen. In Bayern wurde inzwischen der Begriff der >Integration durch Kooperation< ersetzt durch >Inklusion durch Kooperation<. Zum Schuljahr 2011/12 wurde das Kriterium der aktiven Teilnahme –>nicht mehr die Lernziele der allgemeinen Schule sind ausschlaggebend, sondern schulische Fortschritte, deren Ausmaß und Qualität nicht weiter definiert sind< (Goschler 2010.16) – zugunsten eines Elternwahlrechts des Förderorts verändert… (a. a. O. S.233) … Nach wie vor wird darauf insistiert, dass die Frage des Lernortes eine Frage der Verfasstheit des Subjekts und nicht eine Frage der Veränderung von Schule ist…
Damit hat der Inklusionsbegriff eine ähnliche Aufweichung und Inflationierung genommen wie der Integrationsbegriff aus Sicht der Inklusionsbewegung…

2.3  Gemeinsamer Unterricht und Gemeinsames Lernen in heterogenen Gruppen

Im folgenden Abschnitt wird weder de Begriff de Integration noch der Begriff de Inklusion verwendet. Wesentlich erscheint die didaktische Realisierung eines gemeinsamen Unterrichts in einer Schule für alle. Dieser gemeinsame Unterricht wird sich im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Differenzierung einerseits und einem gemeinsamen Lernen an einem gemeinsamen Gegenstand bewegen. (a. a. O. S.234,235) Markowetz hat dies als Triangulation bezeichnet….

3        Gemeinsamer Unterricht in Lernwerkstätten


3.1 Lernwerkstätten und exklusiv-individuelle Lernsituationen

>Exklusiv-individuell mein und akzeptiert ein passageres, nicht durchgängig akzeptables unterrichtliches Vorgehen, das fei von Kooperationszwängen ist und bei dem sich Schüler mit und ohne Behinderung in weitgehender Selbstbestimmung innerhalb oder außerhalb des Klassenzimmers mit pädagogisch-erzieherischer Begleitung oder ohne persönliche Assistenz so verhalten dürfen, das dies den individuellen Fähigkeiten und Lernbedürfnissen in hohem Maße gerecht wird< (Markowetz 2004, 177)…. Damit eine exklusiv-individuelle Lernsituation überhaupt möglich werden kann, wird ein geöffneter Unterricht benötigt, der nicht darauf abzielt, dass der Unterricht in allen Teilen durch die Lehrkraft vorherbestimmt wird. Eine Schülerin oder  ein Schüler verfolgt allein ihr/sein Interesse innerhalb eines gemeinsamen ‚Themas oder auch außerhalb. Das Lernwerkstattkonzept kann diese Offenheit akzeptieren, wenngleich angefügt werden muss, dass dies kein durchgängiges Prinzip sein kann und darf, da es sonst zu einer extremen Vereinzelung der Kinder und Jugendlichen führen würde und die Sozialität von Lernprozessen aufgegeben wird. (a. a. O. S.235)

3.2  Lernwerkstätten und gemeinsame Lernsituationen

Lernsituation

Inhalts- und Beziehungsaspekt

Bezug zum Lernwerkstattkonzept

Koexistente
Lernsituationen

Überwiegend >individuelle Handlungspläne<

Individualisierung
Jeweils eigenes Projekt

Kommunikative
Lernsituationen

>Interaktion pur<
Sache im Hintergrund

Gesprächskreise,
Klassenkonferenzen

Subsidiäre
Lernsituationen

Asymmetrisches Verhältnis
Unterstützung

Offenheit der Lernsituation für andere Kinder

Kooperative
Lernsituationen

Verbindlicher Zusammenhang des gemeinsamen Arbeitens

Gemeinsames Ziel. Projekt
Bezug zu Lernbiografien

Tabelle 1: Lernsituationen nach Woken

3.4        Lernsituationen und das gemeinsame Lernen an einem gemeinsamen Gegenstand.

Zentral für Feusers Allgemeine Pädagogik und entwicklungslogische Didaktik ist, dass alle Kinder und Schüler in Kooperation miteinander, auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau, nach Maßgabe ihrer momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen, in Orientierung auf die ‚nächste Zone ihrer Entwicklung‘, an und mit einem ‚gemeinsamen Gegenstand‘ spielen, lernen und arbeiten< (Feuser 2005, 168). Der Begriff >alle< ist umfassend zu verstehen und impliziert, das >alle Kinder und Schüler alles lernen dürfen, jedes Kind und jeder Schüler auf seine Weise lernen darf und alle die erforderliche Hilfe bekommen, derer sie bedürfen< (Feuser 2011b, 89). Behinderung wird nicht  mehr individuumzentriert, sondern transnormalistisch im Sinne unbegrenzter Normalitäten gesehen (vgl. Lingenauber 2008, 25). Es muss darauf hingewiesen werden, dass  damit keine Zwei-Gruppen-Einteilung vorliegt…
Während im Lernwerkstattkonzept der Aspekt der Kooperation zwar vorhanden ist, bleibt er aber dennoch als mögliche Form der Zusammenarbeit eine Sozialform neben anderen und steht gleichberechtigt zu einem individuellen Lernen… (a. a. O. S.236)

… Dabei gilt es die Dialektik zwischen Sache und Subjekt zu berücksichtigen. >Der Mensch erschließt sich die Dinge durch den Menschen und sich den Menschen über die Dinge – in der gemeinsamen Kooperation< (Feuser 2004, 147). Damit wird Kooperation zu einem Kernstück gemeinsamen Lernens und dabei auch für die jeweilige individuelle Entwicklung…
Lernen wird als sozialer Prozess gesehen, der sich in Kooperation verwirklichen lässt. Damit erfährt die vorwiegend  konstruktivistische Sicht von Lernen im Lernwerkstattkonzept eine Erweiterung dahingehend, dass Lernen als kooperative Aneignung der Kultur begriffen wird und dabei einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Gattung Mensch leistet…
Es bleibt zu fragen, inwieweit die.. Allgemeingültigkeit einer Entwicklungslogik in neueren Ansätzen zur Kulturhistorischen Schule so gesehen wird. Eine Orientierung hierfür kann Chaiklin geben, wenn er feststellt, dass Vygotskij >das Kind als integrale Person sieht, die in sozialen Beziehungen zu anderen Personen steht< (Chaiklin 2010. 81). Hier wird nicht die Entwicklungslogik in den Vordergrund gestellt, sondern das Kind in (s)einem sozialen System… (a. a. O. S.237)
Sowohl im Lernwerkstattkonzept wie auch  beim Konzept des gemeinsamen Lernens an einem gemeinsamen Gegenstand ist der Ausgangspunkt didaktischer Überlegungen das jeweilige Subjekt mit seinen biografischen Lernerfahrungen. In beiden Konzepten wird Lernen und Entwicklung als ein Prozess gesehen, der anderer Subjekte bedarf und somit sozial bestimmt ist. Die Auseinandersetzung mit einem Gegenstand kann zur weiteren Entfaltung bzw. Entwicklung der Persönlichkeit führen. Im Lernwerkstattkonzept wird Wert auf die Auseinandersetzung mi dem Lerngegenstand gelegt und nicht auf das Lernen von operationalisiertem Wissen. Dies eröffnet unterschiedliche Zugangsweisen, die eine Berücksichtigung verschiedener Entwicklungsniveaus und individueller Lernbiografien ermöglicht.
Weitere[s]… www.lernwerkstatt.sonderpaedagogik.uni-wuerzburg.de

(a.          a. O. S.238)

 

III  Fragen anderer Disziplinen


Andreas Warnke & Regina Taurines
Inklusion – Was kann die Kinder- und Jugendpsychiatrie dazu tun?

 

1     Inklusion: Die allgemeine Aufgabenstellung und Zielsetzung

 

Die Zielsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (BRK; United Nation 2006) ..-. betrifft das Aufgenommensein, die Teilhabe von Menschen mi Behinderung in allen gesellschaftlichen Bereichen, so auch im medizinischen Gesundheitssystem. Inklusion soll mehr sein als Integration. Integration zielt auf Nachteilsausgleich und Teilhabebefähigung zur Eingliederung in bestehende gesellschaftliche Lebensverhältnisse und Strukturen. Die Befähigung, die Habilitation und die Heilung einer Behinderung infolge psychischer Erkrankung dienen diesem Ziel. Diese Zielsetzung ist zweifellos Teil des Begriffes Inklusion will aber noch mehr: die Anpassung gesellschaftlicher Haltungen, Lebensgestaltungen und Strukturen an die Teilhabefähigkeiten des Einzelnen mit Beeinträchtigungen. Die Umsetzung von Inklusion wird ein langwieriger gesundheitspolitischer Prozess sein, der wiederum vom Tempo  gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen zu Inklusion abhängig sein wird.

Der Begriff der Inklusion

Nun braucht das deutsche Gesundheitssystem grundsätzlich keinen internationalen Vergleich zu scheuen. Dennoch steht außer Frage, dass Menschen mit Behinderung und psychischer Störung Benachteiligungen, Ausgrenzungen und Barrieren erfahren, die sich allgemein oder beim Einzelnen reduzieren oder gänzlich beseitigen lassen. Solche Nachteile sind schon deshalb nicht zu rechtfertigen, da in Deutschland psychische Störungen mit an >erster Stelle bei den Ursachen der durch Behinderung beeinträchtigen Lebensjahre< stehen. Positionspapier Bundesverband Evangelische Behindertenhilfe, Juli 2011:

 www.beb-ev.de  und www.bebnet.de, Rubrik >Stellungnahmen< (a. a. O. S.245)

2     Das Verständnis von Behinderung: dem Menschsein zugehörig

Die UN-Behindertenrechtskonvention beinhaltet eine maximale Anforderung, nämlich das Recht, >ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten sowie die volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreichen und zu bewahren<. Dass in solcher extremer Formulierung auch eine Gefahr für die Zielsetzung der Inklusion liegt, darauf hat Otto Speck in einer bemerkenswerten Stellungnahme aus seiner Sicht als Sonderpädagoge hingewiesen. Es ist wohl keinem Menschen möglich >volle Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens< zu haben; so ist dies auch nicht den Menschen mit Behinderung möglich. Jeder solchen extremen Formulierung eines Rechtsanspruchs ließe sich das Gebot der mitmenschlichen Gleichberechtigung, Verantwortlichkeit und der rechtlichen Pflichten entgegenhalten. >Das ideologische Verdikt gegen jede ‚Defizitorientierung‘ geht an heilpädagogischen Erfordernissen vorbei< (Speck 2011. 86). …

3     Die Notwendigkeit von Diagnose: Die Begriffe >Krankheit< und >Behinderung< als Voraussetzung von Inklusion

Seit Jahrzehnten findet sich in pädagogischen Texten immer wieder der Begriff eines >medizinischen Modells<, für das kennzeichnend sei, dass es sich vorwiegend auf Feststellungen von ungünstigen Befunden und Behinderungen stütze (Wollenweber 2011). Die Sicht auf den ganzen Menschen mit seinem Lebensfeld werde vernachlässigt. (a. a. O. S.246,247) Dass ein solches Modell tatsächlich in diesem abschätzigen Sinne für die Medizin nicht generell gegeben war, wird, aus welchen Gründen auch immer, ungern zur Kenntnis genommen. Für das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie trifft es schon längst nicht zu, wenn überhaupt jemals (vgl. Blanz et al. 2006; Herpertz-Dahlmann et al. 2008). Eine >Defizitorientierung< wird im gleichen Sinne auch der Sonderpädagogik zum Vorwurf gemacht. So als ginge es noch heute in der Sonderpädagogik oder der Medizin darum, Defizite beim Menschen zu definieren, um sie auf eine Funktionsstörung zu reduzieren und irgendeiner Aussonderung zuzuführen…
Medizin versteht sich als Heilkunde. Heilen und Behandeln ist erst dann möglich, wenn zuvor eine Erkrankung erkannt und möglichst diagnostiziert ist (im akuten Notfall auch oft nicht möglich). … Die Diagnose Legsthenie ist nicht Selbstzweck. Die tägliche klinische Erfahrung zeigt, dass eine solche >Defizitdiagnose< den Schüler mit Legasthenie davor bewahrt, einer inadäquaten Beschulung zugeführt zu werden…. Die Diagnose einer >Depression< ist  sinnvoll und notwendig, weil mit ihr die Hilfsbedürftigkeit eines Menschen erkannt wird und dies mit auch rechtlichen Konsequenzen: Diagnostik und Behandlung sind mittels RVO (Reichsversicherungsordnung) durch Krankenkassen finanziell gesichert…
Der Begriff der Behinderung ist kein medizinischer, er ist ein pädagogischer und ein Begriff aus dem Sozialrecht… Einem Nachlassen der Sehschärfe, welche uns die Fähigkeit zum Lesen nimmt, ist mit Begriffen wie >tiefbegabt<, >Mensch mit besonderen Bedürfnisse<, >mit besonderer Begabung< oder >andersfähig< nicht abgeholfen. Speck (2011) nennt solche realitätsverleugnende Begrifflichkeit >zynisch<. Es kommt vielmehr darauf an, die Dioptrien genau zu bestimmen, also… die Brillengläser richtig zu bemessen… (a. a. O. S.247)
Eine Inklusion. Die durch das Fachgebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie  zu verwirklichen ist, hat die Begriffe >psychische Störung<, >psychische Erkrankung< und >Diagnose< zur Voraussetzung.

4     Das Aufgabengebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie

>Die Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie umfasst die Erkennung, nicht-operative Behandlung, Prävention und Rehabilitation bei psychischen, psychosomatischen, entwicklungsbedingten und neurologischen Erkrankungen und Störungen sowie bei psychischen und sozialen Verhaltensauffälligkeiten im Kindes- und Jugendalter< (Bundesärztekamme 1992). Das Aufgabenfeld ist also störungsorientiert definiert. Es schließt also Menschen nicht aus, sondern hat die psychiatrische Versorgung alle Kinder und Jugendlichen  zur Aufgabe, ob sie nun mit Behinderung leben oder nicht. Alle ärztliche Bemühung des Fachgebietes hat somit definitorisch zum Ziel, eine mögliche Exklusion, verursacht durch psychisches Erkranken, zu verhindern. Einem multifaktoriellen Verständnis der Krankheitsentstehung entspricht das Prinzip multifaktorieller Behandlung. Diagnostik und Behandlung sind notwendig immer ein fachliches (meist interdisziplinäres) Zusammenwirken mit dem Kind mit psychischer Störung, seiner Familie und seinem außerfamiliären gesellschaftlichen Umfeld. >Ambulante (auch mobile), teilstationäre und stationäre Einrichtungen sind die organisatorischen Strukturen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie… Vertretung des Fachgebietes in Lehre und Forschung…. Öffentlichkeitsarbeit und die Interessenvertretung psychisch kranker Kinder und Jugendlicher und ihrer Angehörigen< (Warnke/Lehmkuhl 2011,1).

5  Psychische Störungen– das multiaxiale Verständnis

Die von einer internationalen Expertenkommission erarbeitete und durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) autorisierte diagnostische Klassifikation von psychischen Störungen wurde Grundlage einer transkulturellen Verständigung … Inzwischen sind [sie] (ICD-10, Kap. V,F Klinisch-diagnostische Leitlinien; Dilling/Mombour/Schmidt 2008) und das Statistische Manual psychischer Störungen (DSM IV¸Saß/Wittchen/Zaudig 1996) allgemein anerkannte Klassifikationssysteme… (a. a. O. S.248,249)
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie hat sic das multiaxiale Klassifikationsschema nach ICD-10 (MAS) durchgesetzt….
Die[]se] multiaxiale Diagnostik … beinhaltet:
Achse I: das klinisch-psychiatrische Syndrom. Diagnostisch ist die Aussage zu treffen, inwieweit eine psychische Störung von Krankheitswert vorliegt: eine Angststörung, Zwangsstörung, Essstörung oder frühkindlicher Autismus als Beispiele. Mit
Achse II werden Untersuchungen zur Entwicklung der Motorik, der Sprache, des Lesens, Rechtschreibens und Rechnens durchgeführt ..Mit
Achse III wird das Intelligenzniveau erfasst… Mit der
Achse IV sind die Befunde zur körperlichen Entwicklung  erfasst. Diese sind ebenfalls von großer Entscheidungsrelevanz bei Inklusionsfragen. Mit der Diagnose von Zerebralparese, schwergradiger und nicht hinreichend medikamentös  beherrschbarer Epilepsie oder progredienter Muskelerkrankung als Beispiele verbinden sich regelhaft  Fragen der Integration oder Inklusion… Auf der
Achse V werden… die assoziierten aktuellen abnormen psychosozialen Umstände… erfasst. Die Eingliederungshilfe nach § 27 des Jugendhilfegesetzes setzt erzieherischen Bedarf voraus…
Für den Inklusionsbedarf ist die die Beurteilung nach
Achse VI , die globale Beurteilung des psychosozialen Funktionsniveaus, ausschlaggebend… Nachteilausgleich… (a. a. O. S.249) …  Vor d…er Bekanntmachung vom 16.11.1999 des Bayerischen Kultusministeriums…. Wurden Kinder, die bei den Diktaten über die Noten >mangelhaft< und >ungenügend< nicht hinauskamen, daran gehindert, eine begabungsadäquate Schule zu besuchen, also exkludiert…
Die multiaxiale Diagnostik ist, um ein weiteres Beispiel zu nennen, Voraussetzung für die Diagnose eines Autismus-Syndroms und somit relevant für die Inklusionsleistungen >Integrationshelfer< (nun wohl besser >Inklusionshelfer<) und >Schulbegleiter<,
Die Eingliederungshilfe nach § 35 a SGB VIII, also aufgrund (drohender) seelischer Behinderung, setzt die Feststellung einer psychischen Störung voraus…
Die Diagnostik hat sich erweitert um >Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD; Arbeitskreis OPD-KJ 2007)… für das Säuglings- und Kleinkindalter… (a. a. O. S.250)

5     UN-Konvention und kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung

Angaben der UN-Konvention in Artikel 9 (Zugänglichkeit, Barrierefreiheit), Artikel 17 (Schutz der Unversehrtheit der Person), Artikel 19 (unabhängige Lebensführung und Einbeziehung in die Gemeinschaft), Artikel 23 (Achtung der Wohnung und der Familie), Artikel 25 (Gesundheit) und Artikel 26 (Habilitation und Rehabilitation) sind von besonderer Bedeutung…  Die regionalisierte Verteilung von Facharztpraxen, von Ambulanzen, Tageskliniken und Kliniken soll auch in ländlichen Gebieten Menschen mit Behinderung einen gleichberechtigten Zugang zur klinischen Versorgung ermöglichen. Zu gleichberechtigten Informations- und Kommunikationstechnologien (Artikel 9[?]) gehören etwa die klinische Beschilderung in Braille-Schrift. Gleichberechtigt soll der Zugang zu gemeindenahen Unterstützungsdiensten, einschließlich der >persönlichen Assistenz< gegeben sein (Artikel 19)… Gleichberechtigt ist die Maßgabe, >dass ein Kind nicht gegen den Willen seiner Eltern von diesen getrennt wird, es sei denn, dass die zuständigen Behörden in einer gerichtlich nachprüfbaren Entscheidung nach den anzuwendenden Rechtsvorschriften und Verfahren bestimmen, dass diese Trennung zum Wohl des Kindes erforderlich ist< (Artikel 23)….
Bei der Zielsetzung von Habilitation und Rehabilitation sei anzustreben, dass gleichberechtigt ein Höchstmaß an Unabhängigkeit, umfassende körperliche, geistige, soziale und berufliche Fähigkeiten …< angestrebt wird (Artikel 26)…

7  Folgerungen zur strukturellen Versorgung

… die ambulante Versorgung leistet einen wesentlichen Beitrag zur Inklusion, indem psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen wirksam behandelt werden, seelische Behinderung vermieden und der Verbleib im natürlichen Lebensfeld gesichert wird. (a. a. O. S.251,252)
… Die teilstationäre (tagesklinische) Versorgung hat sich im Fachgebiet vervielfacht, sodass 2008 bundesweit mehr als 170 Tageskliniken bestanden. Ihr Beitrag zur Inklusion ist herausragend dadurch, dass die Kinder nachts und an Wochenenden in der Familie verbleiben können…
Auch der stationäre Bereich (2008 gab es 133 vollstationäre Einrichtungen), leistet einen wesentlichen Beitrag zur Zielsetzung der Inklusion, weil die wirksame stationäre Behandlung seelischer Erkrankungen eine Chronifizierung und maligne schwergradige psychische Erkrankung verhindert werden können … massive Verkürzung der Liegezeiten in den letzten zwei Jahrzehnten…
Ein Beispiel .. ist die Errichtung der Spezialklinik für Kinder und Jugendliche mit Schwer- und Mehrfachbehinderungen und psychischen Störungen auf dem Gelände des Blindeninstituts in Würzburg…. Initiiert durch … Einrichtungen der Behindertenhilfe vor Ort – Gehörlosenzentrum, Blindeninstitut, Körperbehindertenzentrum, Lebenshilfe – in Kooperation mit der universitären Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie….

8  Prävention

… Präventiv und eine gleichberechtigen Rehabilitation dien das Fachgebiet  aber auch durch die vielfältige gutachterlichen Dienstleistungen, nicht zuletzt auch durch landesärztliche Tätigkeiten und die Mitwirkung in Gesundheitsämtern…
Die Kooperation der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Elternverbänden und Selbsthilfegruppen ist hinsichtlich der Inklusion besonders wichtig. Vertreter des Fachgebietes sind in vielen dieser Verbände in wissenschaftlichen Beiräten tätig. Beispiele sind u. a. die Verbände der Lebenshilfe, die Frühforderung, Der Bundesverband >Autismus Deutschland e. V.<, der >Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie<, die >Tourette-Gesellschaft Deutschland e. V.<, der >Bundesverband ADHS Deutschland e. V.< oder die >Deutsche Gesellschaft Zwangserkrankungen e. V.<.  (a. a. O. S.253,254)
Eine Vernetzung der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Jugendhilfe, Kindergaren, schulischen und beruflichen Versorgungsstrukturen, insbesondere mit der Sonderpädagogik, ist wesentlich für ein Gelingen der Zielsetzungen…    Konsiliardienste … Weiterbildungsprojekte … Weiterbildungscurriculum für Lehrer im Sonderschulbereich… (a. a. O. S.254)

 

Günther Fohrer
Inklusive Schule und (Schul-)Psychologe

1 Einleitung

… Im Artikel 2 … der UN-Konvention- wird von den Unterzeichnerstaaten gefordert, dass Menschen mit Behinderung nicht aufgrund ihrer Behinderung vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen werden dürfen. Dies wird nicht nur auf den Grundschulunterricht bezogen, sondern sogar auf weiterführende Schulen…  Eine der wenigen offiziellen Reaktionen war eine Pressemitteilung des Berufsverbandes Deutscher Psychologen (BDP) vom Mai 2009 mit dem Titel >Von Inklusion profitieren alle<, in der letztlich die Beschulung von Kindern mit Behinderung in den Regelschulen gefordert wird (BDP 2009a). es wird kritisiert, dass die Fragestellung auf eine reine Kostenfrage reduziert wird, stattdessen müsse die Grundlage für individualisierte Förderung gelegt werden….

2  Traditionelle Schulpsychologie

Es erscheint durchaus gerechtfertigt von >traditioneller< Schulpsychologie zu sprechen, da seit der Nachkriegszeit entsprechende Stellen existieren, in flächendeckendem Maße allerdings erst seit Ende der 1970er Jahre installiert wurden.(Überblick für Bayern: Staatsministerium 2007). Für 1973 ging man davon aus, das deutschlandweit ein Schulpsychologe rund 15.000 Schüler betreut. Als Besonderheit ist dabei hervorzuheben, dass es sich dabei immer um eine Doppelrolle handelt: zum einen Lehrkraft, zum anderen Schulpsychologe… in der Regel [unter] Beamtenrecht…. (a. a. O: S.257)
Nach den ministeriellen Vorgaben bestehen die Aufgaben des Schulpsychologen in Bayern aus folgendem Katalog (Staatsinstitut 20079:

Fasst man Aufgabenbereiche und Zielgruppen übergreifend in Anlehnung an die Übersichten bei Fleischer/Jörten (2007) zusammen, so ergibt sich folgendes Bild:

 

Ansatzpunkte

Zielbereiche

Maßnahmen

Schüler

internalisierende
Störungen

Ängste, Rückzug

 

 

Externalisierende
Störungen

Aggression, Gewalt,Mobbing

 

 

Leistungsprobleme

Leistungsabfall, Versagen

 

 

 

Lese-Rechtschreib-schwäche

Diagnostik, Beratung,Therapie

 

 

Rechenschwäche

 

 

Konzentrations-probleme

AD(H)S

 

 

Besondere Begabungen

Hochbegabung

 

 

 

 

 

Lehrer

Probleme mit Schülern

Herausforderndes Verhalten

 

 

Neue Herausforderungen

Besondere Auffälligkeiten und Syndrome bei Schülern

Beratung, Supervision, Coaching, Fortbildung

 

Entwicklung neuer Strukturen

Veränderte Schülerschaft

 

 

 

Schule im Wandel

 

Schulleitung

Leitungsaufgaben

Mitarbeiterführung

 

 

 

Umgang mit Eltern

Information, Fortbildung

Übergeordnete
Instanzen

Organisations-entwicklung
--------------
Personalentwicklung

 

 


(a. a. O. S.258,259)


Die verwendeten Methoden (wie etwa Verhaltenstherapie, klientenzentrierte Ansätze) ergeben sich aus dem Methodenkanon der Psychologie sowie aus den Schulrichtungen und Therapieansätzen der klinischen Psychologie. Hinzu kommt die Orientierung an berufsständischen Grundsätzen wie:

Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich erkennen, dass Aufgabenfelder und Stellung des Schulpsychologen nicht unproblematisch sind und die Gefahr der Marginalisierung des Fachgebietes besteht….
Wie bereits erwähnt betrug die Quote 1973 1 : 15 .000 Schüler, man forderte 1 : 5.000 Schüler. … breit gestreut… auf das gesamte Bundesgebiet bezogen…  Ähnlich breit gestreut verhält es sich mit dem Verhältnis Schulpsychologe zu Schule, es streut von 1 : 18 (Berlin), 1:26 (Bayern) bis 1 : 111 (Niedersachsen). Das Verhältnis Schulpsychologe zu Lehrer geht von 1 : 340 (Berlin), 1 : 493 (Bayern) bis 1 : 1.853 (Niedersachsen) (BSP 2010)….  Zieht man den internationalen Vergleich in Europa heran, so rangiert Deutschland in der Statistik des BDP  am unrühmlichen letzten Platz bei der Quote Schüler pro Schulpsychologe. Hier steht Dänemark mit 773 Schülern an vorderster Stelle, gegenüber Deutschland mit 10.326.. (Dollase 2010)…(a. a. O. S.259,260)

Fasst man die Kennzeichen derzeitiger traditioneller Schulpsychologie in Deutschland zusammen, so lässt sich feststellen:

  1. Sehr schlechte Versorgung in Deutschland im europäischen Vergleich
  2. Erhebliche Schwankungen zwischen den einzelnen Bundesländern
  3. Einschränkung durch Doppelrolle Lehrer – Schulpsychologe (in Bayern)
  4. Gefahr einer diffusen, eher marginalen Rolle im System Schule (in Bayern)
  5. Fachgebiet >Schulpsychologie< schwierig definierbar
  6. Bereitstellung über Kultusetat

3.Psychologie und Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung

Sowohl in der Fachwissenschaft als auch in der berufsständischen Organisation (BDP = Berufsverband  Deutscher Psychologen<) unterscheidet man zwischen einem Fachgebiet Schulpsychologie <8eigene Sektion im BDP) und einem Fachgebiet Psychologie der geistigen Behinderung (eigene Fachgruppe in der Sektion Klinische Psychologie im BDP). In Beschreibungen der Aufgabenfelder für diesen Bereich (u.a. Irblich/Stahl 2003; Meir-Korell 2003; BDP 2009c) finden sich Aufgabenbereiche, die mit den Aufgaben der Schulpsychologie identisch sind. Darüberhinausgehend beziehen die Aufgabenfelder natürlich Bereiche ein, die sich auf die weitere Lebensspanne beziehen und Felder wie Arbeiten und Wohnen zum Gegenstand haben. (a. a. O. S.260,261)
Ein wichtiges Thema ist stets die Fragestellung, welche Foren psychologischer Behandlung können bei der speziellen Klientel eingesetzt werden und inwiefern müssen allgemeine Methoden spezifisch angepasst werden. Grundsätzlich ist es nicht die Zielsetzung psychologischer Tätigkeit bei Menschen mit geistiger ‚Behinderung sie vom >Behindert-Sein< zum >Normal-Sein< hin zu verändern, sondern ihr >Behindert-Sein< als eigene Qualität anzuerkennen und Verhaltensprobleme unter dieser Prämisse zu verstehen (Meir-Korell 2003).
Aufgabenbereiche, die in diesem Kontext stärker zum Tragen kommen als in der traditionellen Schulpsychologie sind Bereiche wie:

Wenn neuerdings hier der Fokus stärker auf Familie und allgemein das Lebensumfeld  gerichtet wird, so wird hier auch ein Paradigmenwechsel sichtbar weg von der reinen Individualorientierung (meist zusätzlich defizitorientiert) hin zur Miteinbeziehung des gesamten Umfeldes wie ihm auch in der ICF und neuerdings ICF-CY Rechnung getragen wird….
Im Gegensatz zum staatlichen Schulpsychologen handelt es sich um eine Leistung der Eingliederungshilfe nach SGB XII (s. auch BDP 2009c) und dient der Förderung der Teilhabe … Eine Diagnose >Intelligenzminderung< nach ICD-10 (F 70 bis F 79) wird dabei vorausgesetzt. Begründen lässt sich diese wesentlich bessere Versorgung mit erhöhten Prävalenzraten psychischer Auffälligkeiten bei Kindern mit Intelligenzminderung….  Emerson (2003 nach Sarimski 2005) fand eine um das 7,3fache erhöhe Rate an Auffälligkeiten gegenüber nichtbehinderten Kindern… Externalisierende Symptome (Hyperaktivität, Störungen des Sozialverhaltens, oppositionell provozierendes Verhalten) treten stärker bei zunehmender Intelligenzminderung auf, internalisierende Symptome (Ängste, depressive Störungen, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme, emotionale Labilität, sozialer Rückzug) treten eher auf je geringer die Intelligenzminderung ist, Fremd- und Autoaggressionen eher mit stärkerer Intelligenzminderung… . Wriedt et al. (2010),,, (a. a. O. S.261)
Fasst man den Einsatz von Psychologen im Bereich der Förderzentren mit Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung zusammen, so ergeben sich folgende Punkte:

4        Psychologie in der inklusiven ‚Schule

Zielvorstellung sollte sein, Errungenschaften aus der Beschulung von Kindern mit geistiger Behinderung und anderen Behinderungen in ein neues inklusiv orientiertes Schulwesen herüber zu retten. Grundsätzlich darf die Versorgung der angesprochenen Kinder nicht schlechter werden als in den traditionellen Förderzentren und die Versorgung der Kinder in Regelschulen erscheint auch verbesserungswürdig – jedenfalls hinsichtlich der Versorgung mit Schulpsychologen.
Das grundlegende Menschenbild sollte in der Tradition der humanistischen Psychologie stehen, die sich als dritte Kraft verstand gegenüber Psychoanalyse und der Lerntheorie. Ähnlich einem ihrer Hauptvertreter Abraham Maslow (1908-1970) formulierten Charlotte Bühler und Melanie Allen vier grundsätzliche innere Antriebe, die sowohl für Menschen mit Behinderung als auch für Menschen ohne Behinderung gelten (Hansen 1992):

(a. a. O. S.262)
Traditionelle Regelschulen orientieren sich kaum an der Befriedigung aller dieser Bedürfnisse, aber das Förderzentrum mit Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung nahm dies von seiner Konzeption her immer sehr ernst, wenn man bedenk wie sich der Schultyp definierte, nämlich als:

(Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung 1997)
Hier wird deutlich dass Schule für Kinder mit geistiger Behinderung nicht nur ein >Lernort< sein soll, wie ihn die traditionelle Schule primär kennt, sondern viele andere Aspekte hat, die starken Anklang an die Bedürfnisse im Sinne der humanistischen Psychologie haben, wenngleich von Pädagogen formuliert (s. auch Speck 2991).
Was könnten nun vor diesem Hintergrund Aufgabenfelder einer inklusiven< (Schul-)Psychologie sein? Wo wäre ihr Einsatz besonders notwendig?

1.   Individuelle Orientierung im Rahmen von Heterogenität

Heterogenität war schon immer Bestandteil schulischer Erziehung, doch im Kontext von Inklusion wird sie natürlich erheblich größer und erfordert ein erheblich stärkeres Maß an Individualisierung der Förderung.  Individuelle (Förder-)Diagnostik und Förderplanung gehören zu den traditionellen Aufgaben der Psychologie. Hier ist eine stärkere Inanspruchnahme und Einbeziehung dieser Profession unbedingt notwendig. Eine >inklusive< Psychologie kann sich nicht zum Ziel setzen, eine Diagnostik zu betreiben im Sinne der Zuordnung von Schülern zu Intelligenzkategorien wie sie die Normalverteilung vorgibt (auch im Sinne der ICD-10) , sondern im Sinne einer Kompetenzorientierung mit Ableitung entsprechender Fördermaßnahmen.

2.   Keine >Pathologisierung< von Schülern, sondern >Verstehen<

Neben der bereits skizzierten >Intelligenzdiagnostik< geht oft einher eine psychiatrisch orientierte Zuordnung zu >Krankheitsbildern< katalogisiert in der ICD-10 und DSM-IV-TR). Neben der Kategorisierung >Behindert- Nicht-Behindert< wird eine weitere Kategorisierung  geschaffen >Behindert plus Psychisch gestört<. Insbesondere bei Schülern mit geistiger Behinderung trägt dieses Vorgehen wenig bei zu eine tragfähigen Förderung., hier ist eine >verstehende< Diagnostik notwendig unter Berücksichtigung der Lebensgeschichte, des Lebensumfeldes, spezifischer Ausdrucksweisen von Menschen mit Behinderungen und Nachvollziehen subjektive Sinnhaftigkeit ihres Verhaltens. (a. a. O. S.263)

3.   Sozial-emotionale Entwicklung >aller Schüler<

Der Kernpunkt inklusiver Beschulung sollte die Förderung der sozial-emotionalen Entwicklung und Entwicklung des Selbst bei Schülern bisheriger Förderzentren sein. Bei den Schülern der bisherigen Regelschulen soll die Akzeptanz behinderter Kinder und das soziale Denken gefördert werden. In de inklusiven Schule muss in stärkerem Maße das Beziehungsgefüge zwischen den Schülern und deren sozial-emotionaler Entwicklung ein großes Thema sein. Aufgrund der Heterogenität und sehr differierenden Bedingungen innerhalb der Schülerschaft sind hier besondere Sensibilität und gegebenenfalls Interventionen notwendig.

4.   Verständnishilfen für Schüler mit Besonderheiten

Als Teil der Disziplin >Psychologie der geistigen Behinderung< wären hier Erkenntnisse mitzubringen, die für alle Beteiligten am Inklusionsprozess absolut notwendig sind… Erforschung von >Verhaltensphänotypen< …. Verhaltensspezifika für bestimmte Syndrome wie z. B. Down-Syndrom, William-Beuren-Syndrom… (Seidel 2002; Sarimski 2003)…

5.   Entwicklung und Kooperation von Pädagogen

Im Bereich der Förderzentren war der Einsatz verschiedener Berufsgruppen schon immer üblich, im Bereich der Regelschulen bisher eher nicht… (a. a. O. S.264)

6.   Schule mehr als nur Schule, sondern als Lebensraum

Die inklusive Schule sollte vom Förderzentrum lernen und das erweiterte Konzept übernehmen, den Schülern mehr als nur Wissensvermittlung zu bieten, sondern einen Lebensraum, gemeinsam mit einem Hort oder einer Heilpädagogischen Tagesstätte (bezogen auf bayerische Verhältnisse). Gerade zu einem solchen Konzept könne Psychologie eine wichtige Hilfestellung bieten, um sozial-emotionale Komponenten stärker einzubringen (siehe oben Punkt 3).

7.   Stärkere Gewichtung des Fachgebietes Psychologie

Die eschreckend niedrigen Versorgungszahlen des traditionellen Schulbereichs dürfen für eine inklusive Beschulung nicht zum Vorbild genommen werden. Für die Schüler mit Beeinträchtigungen im sozialrechtlichen Sinne wäre dies ein absoluter Rückschritt…

8.   Keine Reparaturfunktion, sondern Miteinbeziehung von Beginn an

Der traditionellen Schulpsychologie wurde eingangs vor allem die systemstabilisierende >Repair<-Funktion als Kritik vorgeworfen. In einer neugeschaffenen inklusiven Schule sollen nicht Psychologen die Reparaturinstanz für wenig geglückte Miteinbeziehung von Kindern mit Beeinträchtigung missbraucht werden, sondern sie sollen den Prozess der Annahme der Kinder von beginn an begleiten und gegebenenfalls korrigieren und modifizieren,

… (a. a. O. S.265)

 

Reinhard Lelgemann
Arbeit muss möglich sein! – Auch in inklusiven Zeiten! Arbeits(un)möglichkeiten für Menschen mit schweren mehrfachen Behinderungen

Die UN-Erklärung der Rechte behinderter Menschen formuliert in Artikel 27, Absatz 1 das Recht auf Arbeit in einem inklusiven Arbeitsmarkt zu Bedingungen, die es ermöglichen den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen. Die Diskussion der UN-Deklaration und anderer aktueller politischer Dokumente etwa dem Bericht RehaFutur (Deutsche Akademie für Rehabilitation 2009), dem Nationalen Aktionsplan der Bundesrepublik 2011) oder des Fachkonzept für Eingangsverfahren und den Berufsbildungsbereich in Werkstätten für behinderte Menschen der Bundesagentur für Arbeit (2010), machen gleichzeitig deutlich, dass zum wiederholten Mal der Personenkreis der Menschen mit sehr schweren Beeinträchtigungen keine spezifische Beachtung findet. Dies gilt selbst für den im Jahr 2011 vom Forum behinderter Juristinnen und Juristen vorgelegen Entwurf eines neuen Teilhabegesetzes, in dem Menschen mit schwersten Behinderungen nur am Rande vorkommen…
Damit sollen die Initiativen, z. B. für inklusive Arbeitsmöglichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keineswegs in Frage gestellt werden, doch es soll gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Forderung der UN-Konvention für alle Menschen gelten soll und nicht nur für diejenigen, die eine unmittelbare Chance haben, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein.

1     Zum Personenkreis

Die Gruppe der Menschen mit sehr schweren oder schwersten Beeinträchtigungen wird oftmals entsprechend der Herkunft des Autors oder des Angebotsträges unterschiedlich beschrieben… (a. a. O. S.269)
In einer 2011 als Entwurf vorgelegten und 2012 veröffentlichen Erklärung des Arbeitskreises >Bildung und Arbeit für alle Menschen mit sehr schweren Behinderungen<< (2011) mit dem Titel >Diskriminierung beenden – Rechtsanspruch auf berufliche Bildung und Teilhabe am Arbeitsleben für Menschen mit schwerer geistiger und/oder mehrfacher Behinderung sicherstellen<, wird der Personenkries wie folgt beschrieben:
>Menschen mit schweren geistigen und mehrfachen Behinderungen meint Menschen, die aufgrund von schweren Beeinträchtigungen mentaler, sensorischer Funktionen sowie Stimm- und Sprechfunktionen, oft verbunden mit mehr oder wenig3er ausgeprägten Schädigungen neuromuskuloskeletaler, bewegungsbezogener Funktionen einen höheren Unterstützungsbedarf aufweisen, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können.< … Menschen mit komplexem Unterstützungsbedarf (vgl. Fornefeld 2008)…
Auch wenn zahlreiche weitere Autoren mit einer solchen Beschreibung immer auch eine geistige Beeinträchtigung verbinden, so muss darauf aufmerksam werden, dass dies nicht immer angenommen werden kann…. (a. a. O. S.270)

2     Arbeit Tätigkeit und Bildung

Allerdings stellen sich viele Mitarbeiter die Frage, welche Bedeutung Arbeit oder arbeitsähnliche Angebote für Menschen haben, deren tägliche Lebensgestaltung bereits ausgesprochen komplex ist und die hierzu in einem hohen Maß die Hilfe von Assistenten benötigen..
In einer Befragung von 386 Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM) und Tagesförderstätten im Jahre 1996, die sich selbst als Personen beschrieben, die für mehrere Stunden am Tag auf Hilfe anderer angewiesen waren und die nur schwer sprachlich kommunizieren konnten, ergab sich, dass der Wunsch, >einer sinnvollem Arbeit nachgehen zu können< zu den drei wichtigsten Wünschen gehöre…
Wichtig waren ebenfalls stabile Beziehungen zu akzeptierten Personen, um Kommunikation und eine angemessene Versorgung in allen Bereichen (auch Hilfe beim Essen, der Pflege und Hygiene) zu ermöglichen. Mit ihrem in der Werkstatt … verdienen Entgelt waren sie eher nicht zufrieden, wobei diese Frage allerdings weniger bedeutsam erschien…(a.  a. O. S.271)

3     Zur Geschichte der Angebote für Menschen mit sehr schweren und mehrfachen Behinderungen oder >Ganz lange habe ich nur im Rollstuhl gelegen…

Bis Mitte der 1980er-Jahre hatten sich die damals sogenannten Werkstätten für Behindere von Beschützenden Einrichtungen zu Arbeitsstätten entwickelt, die vielfältige wirtschaftliche Angebote einbrachten. Diese bestanden zu einemgroßen Teil aus sich wiederholenden Aufgaben, die nach einer längeren Trainingsphase zumeist selbständig ausgeführt werden konnten. Arbeiten in den Bereichen Montage, Verpackung, einfache Installationsaufgaben konnten zumeist durch Menschen erbracht werden, die keine feinmotorischen Probleme hatten, die einer gewissen Anleitung bedurften, danach aber über längere Phasen produktiv tätig sein konnten. Neben diesen Aufgaben entwickelten die WfB aber auch zunehmend eigenständige Angebote oder spezialisieren sich in kleineren Wirtschaftsbereichen, wie der damals beginnenden ökologischen Landwirtschaft, der Holzverarbeitung im Bereich Eigenfertigung und mehr. Da die WfB gleichzeitig Einrichtung der sozialen Rehabilitation und ökonomischer Betrieb war, bestand und besteht ein großes Interesse an einem guten wirtschaftlichen Ergebnis. So wurden als Gruppenleiter vor allem produktionsorientiere bzw. handwerklich erfahrene Fachkräfte angeworben, die pädagogische Qualifikation hatte eher Bedeutung im Sozialen Dienst… Einzig im Bundesland Nordrhein-Westfalenerhielten die Werkstätten den Auftrag, alle Menschen mi Behinderung… aufzunehmen. Dies führe dazu, dass viele Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), so die offizielle derzeitige Bezeichnung, eigene Gruppen für Menschen mit sehr schweren und mehrfachen Behinderungen einrichteten….
Auch auf dem Gebiet der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) wurden Menschen mit sehr schweren und mehrfachen Behinderungen nicht als rehabilitationsfähig angesehen…. (a. a. O:. S.274)


Obwohl damit bewiesen war, dass die Nichtbeteiligung an Arbeitsprozessen weniger an den Problemen der einzelnen Menschen festzumachen war, sondern eher an der Bereitschaft der einzelnen WfbM hier rehabilitative Aufgaben verantwortlich zu übernehmen, enthielt auch das novelliere Sozialgesetz IX und die dazugehörige Werkstättenverordnung im § 136 weiterhin die Möglichkeit, Menschen aus dem Arbeitsbereich der Werkstäten auszusondern….(a. a. O. S.276)
…Die Fähigkeit zur aktiven Mitarbeit darf keine Voraussetzung einer solchen sein, sondern muss auch als Ergebnis vielfältiger, durch die Einrichtung zu organisierender arbeitsweltbezogener Bildungsprozesse begriffen werden.

4  Aktuelle Entwicklungen

In den Jahren 2007 bis 2010 konnten Terfloth und Lamers weitere Untersuchungen zu Situation der Menschen mit sehr schweren Behinderungen in Werkstäten und vergleichbaren Einrichtungen im Rahmen des Forschungsprojekts SITAS (Sinnvolle produktive Tätigkeit fgr Menschen mit schwerer und mehrfacher Behinderung zur Teilhabe am kulturellen Leben) realisieren. Erneut zeigten diese Forschungen einen ausgesprochen unterschiedlichen stand der Entwicklung, machten aber vor allem deutlich, dass eine arbeitsweltbezogene Bildung bis in die Gegenwart hinein kaum realisiert wird…. (a. a. O.S.277)
… Als skandalös muss geradezu der Einsatz kurzfristig wechselnder Mitarbeiter, wie Zivildienstleistende, Mitarbeiter im Sozialen Jahr oder von 400-Euro-Kräften bezeichnet werden. Völlig unbekannt waren Mitarbeiter aus einem technischen oder handwerklichen Beruf mit entsprechenden Zusatzqualifikationen…  ([vgl.] Lamers und Terfloth)  (a. a. O. S.278)

4     >Ich kann mehr…<

… als viele Kostenträger denken und viele Einrichtungen sehen wollen.
Diese Aussage steht am Anfang des 2011 erschienen gleichnamigen Buches des Vereins >Leben mit Behinderung, Hamburg<, in dem das oben beschriebene Projekt Feinwerk vorgestellt und diskutiert wird….

Persönlich sinnvoll erlebte Arbeit, ausgeübt von Menschen mit sehr schweren Behinderungen, die durch arbeitsweltbezogene Bildungsangebote vorbereitet wird, muss bundesweit auch in Zukunft möglich sein – gerade auch in inklusiven Zeiten! (a. a. O. S.280)

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Heinz Klippert
Heterogenität im Klassenzimmer
Wie Lehrkräfte effektiv und zeitsparend damit umgehen können
Beitz Verlag Weinheim und Basel 2010 ISBN 978-3-407-62683-7

Umschlagtext
Gezeigt wird, wie die Schüler/innen zeitnah und flexibel Unterstützung erfahren und durch wechselnde Lerntätigkeiten, Lernpartner und Lernmethoden immer wieder Anschluss finden können. Ohne dass die Lehrkräfte ständig direkt eingreifen und beraten müssen. Diese indirekte Förder- und Integrationsarbeit ist machbar und wirksam!
Kernpunkte sind kooperatives Lernen, dosierter Wahlunterricht, Lernkompetenzförderung, differenzierte Aufgaben und konsequenter Arbeitsunterricht. Das Grundprinzip: Die Schüler/innen helfen, kontrollieren und erziehen sich gegenseitig. Das sichert Lehrerentlastung und Schüleraktivierung…

Vorwort

Ich bin in die heterogenste Schule gegangen, die man sich wohl vorstellen kann. Acht Jahre lang. Eine einklassige Volksschule in einem 200-Seelen-Dorf in Nordhessen. In einem größeren Raum eines gemeindeeigenen Gebäudes waren sie alle versammelt: die Jüngeren und die Älteren, die Leistungsstarken und die Leistungsschwachen, die Armen und  die Reichen, die Motivierten und die Desinteressierten, die Guterzogenen und die Vernachlässigten, die Braven und die Verhaltensgestörten. Und alle haben von der >chaotischen Situation< relativ viel profitiert: Die Cleveren haben ihre Selbständigkeit entwickelt und sich immer wieder als Hilfslehrer und Miterzieher in der Klasse betätigen müssen und dadurch sowohl in der Sache als auch in punkto Schlüsselqualifikationen eine Menge lernen können. Und die Schwächeren? Sie sind nie wirklich allein gelassen worden, sondern konnten auf das organisierte Miteinander- und Voneinanderlernen im Klassenraum zählen. Das hat sie gestärkt und ermutigt…. 
Dieses konzertierte Arbeiten war ein Muss und eine Chance – für die Lehrer- wie für die Schülerseite . Ein Muss deshalb, weil sich unser Dorfschullehrer unmöglich persönlich um alle Schüler/innen kümmern konnte…   Niemand hat über die heterogene Schülerpopulation in unserer Dorfschule geklagt – weder die Eltern noch unser Lehrer noch gar wir Kinder…  (a. a. O. S.11)
Heterogenität wirkt produktiv und ist nur so lange ein Problem, wie Lehrkräfte davon träumen, dass homogene Schülergruppen alles besser und leichter machen…, Die schulische Realität sieht de facto so aus, dass Heterogenität in den Klassenzimmern weiter zunehmen wird…. Kein Fluch
… sondern eher ein Segen….
Natürlich setzt diese positive Sicht der Dinge einiges voraus: Zum Ersten muss sich das Berufs- und Rollenverständnis der Lehrkräfte anpassen. Zum Zweiten bedarf es einer verstärkten Qualifizierung der Schüler… in puncto selbständiges und kooperatives Lernen… (a. a. O. S.12)

Einleitung

… Weder die Lehrerausbildung noch die innerschulische Arbeit leisten den nötigen Beitrag…  Die Tatsache, dass in Deutschland Jahr für Jahr je eine Milliarde Euro für Nachhilfeunterricht sowie für die >Beschulung< von Sitzenbleibern ausgegeben wird, spricht Bände…
In den meisten OECD-Ländern ist das gemeinsame Lernen seit Langem eine Selbstverständlichkeit – zumindest bis zur neunten Klasse. Die PISA-Erfolge dieser Länder machen deutlich, dass der dort praktizierten integrative Ansatz offenbar weder zu Lasten der Kinder und ihrer Eltern noch zu Lasten des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs geht…
Finnland z.B. hat bis Ende der 1960er Jahre nahezu das gleiche dreigliedrige Schulsystem wie Deutschland gehabt… und den Entschluss gefasst, die Grundschule auf zehn Jahre auszudehnen und verbindlich integrierte Gesamtschulen zu schaffen.,.. (a. a. O. S.14,15)
Die Erfolge, die das finnische Schul- und Bildungssystem seither erzielt hat, sprechen für die Richtigkeit und Angemessenheit dieses Weges…
Das beginnt bei der gekonnten Differenzierung der Lernangebote und reicht über die gezielte Förderung von Lernkompetenzen und Lernberatungen bis hin zum Ausbau des kooperativen und handlungsorientierten Lernen und Arbeitens in den Klassen…..
Das gilt nicht zuletzt für die Gymnasien. Gingen z. B. bis in die späten 1960er-Jahre hinein durchschnittlich sechs bis zehn Prozent eines Schülerjahrgangs ins Gymnasium, so sind es mittlerweile in vielen Städten und Regionen 40 und mehr Prozent. So gesehen ist  das Gymnasium unter der Hand zur >Haupt<-Schule geworden – mit einem äußerst breiten Spektrum an Begabungen, Neigungen und familiären Hintergründen der Schüler…  Im Notfall steuern die betreffenden Eltern eben spezielle Privatschulen an.
Die Frage ist nur, wem mit diesen Homogenisierungsbestrebungen tatsächlich gedient ist. Wie neuere Untersuchungen belegen, ist Heterogenität ein durchaus belebendes und leistungsförderndes Moment – auch für die >Höherbegabten< ….  (a. a. O. S.15)
… Die Verteilung der Schülerschaft auf >gute<, >mittlere< und >schlechte< Schüler ist und bleibt ein fragwürdiges Relikt aus vergangenen, ständestaatlich geprägten Zeiten.  Zu einer lebendigen Demokratie passt sie ebenso wenig wie zur modernen Informations- und Wissensgesellschaft mit ihrem ausgeprägten Bedarf an anspruchsvollen Kompetenzen und Kompetenzförderungsmaßnahmen. Wie allseits bekannt ist, verlangt die moderne Lebens-, Berufs- und Arbeitswelt, dass die Heranwachsenden möglichst frühzeitig lernen, mit ganz unterschiedlichen Menschen und Talenten sensibel und konstruktiv umzugehen…
Wenn jeder nur an sich denkt und nur mit seinesgleichen zusammenarbeiten will. Dann sind der Ab- und Ausgrenzung Tür und Tor geöffnet. Von daher sind äußere und innere Differenzierungsmaßnahmen im Schulbereich eher mit Vorsicht zu genießen… Die Motivierten bekommen Futter, die Unmotivierten werden eher links liegen gelassen…
die schwächeren Lerner… laufen…   damit Gefahr…, ihre eigenen >Minderwertigkeitsgefühle< immer weiter zu kultivieren…
Mit ihren lehrerzentrierten Verfahren, ausgeprägten Einzelarbeiten, schülerfernen Aufgaben, abstrakten Paukereien, sterilen Klassenräumen, fragwürdigen Sitzordnungen etc. tragen zahlreiche Lehrkräfte dazu bei, dass viele Schüler… weit hinter ihren Möglichkeiten zurückbleiben…
Letzteres gilt vor allem für die zahllosen praktisch-anschaulichen Lerner, die erwiesenermaßen eher Gruppenarbeit als Einzelarbeit, eher praktisches Tun als beflissenes Zuhören brauchen, wenn sie motiviert und erfolgreich lernen sollen… (a. a. O. S16,17)   
Viele Lehrkräfte… fühlen sich eher dazu berufen, ihrer Fachwissenschaft und Fachdidaktik zu folgen, anstatt Schüler… dort abzuholen, wo sie begabungs- und neigungsmäßig stehen. Die meisten Sekundarstufenlehrkräfte  sehen sich eher als Wissensvermittler denn als >Entwicklungshelfer< ihrer Schüler…Ihr Kerngeschäft ist und bleibt das Unterrichten und Erziehen, das Beobachten und Beraten, das Ermutigen und Moderieren, das Integrieren und Inspirieren von Schülergruppen, die nicht von vornherein interessiert und gleichgesinnt in Erscheinung treten…. (a. a. O. S.17)
Kaum ein Elternabend, eine Lehrerkonferenz oder ein Lehrerverbandsmeeting vergeht, ohne dass über unzumutbare Heterogenität in den Klassenzimmern geklagt wird. Dabei geht es gar nicht allein um Kinder mit klar diagnostizierten Beeinträchtigungen bzw. Lernproblemen…, für die in der Tat spezielle Fördermaßnahmen notwendig sind.*) Nein, kritisiert wird meist sehr generell, dass das gemeinsamen Lernen von Schwächeren und stärkeren, von Ambitionierten und weniger Interessierten, von Fleißigen und Faulen, von Braven und Verhaltensschwierigen, von Langsameren und Schnelleren eher unzumutbar sei und vor allem zu Lasten der clevereren Schüler-… in den Klassen gehe. Die Fragwürdigkeit dieser Klage wird im vorliegenden Buch noch näher belegt werden….
*) OECD-Länder wie Finnland, Kanada und Australien machen es vor. Dort stehen den Klassen- bzw. Fachlehrern… zahlreiche pädagogische Hilfs- und Spezialkräfte zur Seite, sofern spezieller Betreuungs- und/oder Differenzierungsbedarf bestehen sollte. Das schließt konkrete Fördermaßnahmen außerhalb des Klassenverbandes ebenso mit ein wie gezielte Doppelbesetzungen bzw. Assistenzlehrereinsätze im Unterricht selbst. Dafür wird auch richtig Geld in die Hand genommen… (a. a. O. S.18,19)
Teil II bildet den Hauptteil des Buches. Auf mehr als 160 Seiten wird dargelegt, wie Lehrkräfte heterogene Lerngruppen effektiv und zeitsparend >managen< können. Alltagstauglichkeit ist dabei das Schlüsselwort. Kernpunkte sind kooperatives Lernen, Lernkompetenzförderung und konsequenter Arbeitsunterricht in den Klassen… Das sichert Lehrerentlastung und inspiriert und integriert die unterschi9edlichen Schülertalente… Eine exzessive Individualisierung und Differenzierung ist weder praktikabel noch pädagogisch sinnvoll….
(a. a. O: S.19)
Abgestellt wird auf klare Lehrerlenkung und vielfältige Lerntätigkeiten der Schüler…, auf wechselnde Zufallsgruppen und differenzierte Aufgabenstellungen, auf gegenseitiges Helfen und regelgebundenes Erziehen, auf kleinschrittiges Vorgehen und konsequentes Reflektieren…
Teil III … ist den schul- und bildungspolitischen Konsequenzen gewidmet..                                                                                                                                                                                                                                                    

….Wenn einzelne Schüler/innen etwa kaum Deutsch können, dann können ihnen ihre Fachlehrer/innen natürlich auch nicht recht weiterhelfen. Von daher sind z.B. mehr Sprachtraining vor Schuleintritt, zusätzliche Förderkräfte, kleinere Klassen, praxisgerechtere Lehrerausbildung , höhere Sachmitteletats, innovative Evaluationsmaßnahmen [Auswertungs-M.  WW] u. a. m. wichtige und hilfreiche flankierende Maßnahmen… (a. a. O. S.20)

  1. Die Tücken des gegliederten Schulwesens

1.1       Heterogenität kennt viele Spielarten

Typisch für das gegliederte Schulwesen ist das Bemühen um eine möglichst ausgeprägte >Homogenisierung< der Schülerschaft. Die Verschiedenheit der Schüler… wird als Belastung gesehen, die es zu minimieren gilt…  >Heterogenität im Klassenzimmer< kann vieles bedeuten: Leistungs-, Verhaltens- oder Altersheterogenität ebenso wie geschlechtsspezifische, sozialkulturelle, sprachliche, gesundheitliche oder migrationsbedingte Heterogenität (vgl. Wenning 2002, S.25f.) Was also soll reduziert werden? Die Unterschiedlichkeit von Kindern ist derart facettenreich, dass das Streben nach Homogenität nachgerade utopisch anmutet. Hinzu kommt, dass Heterogenität ja nichts Statisches ist, sondern selbst wiederum der Entwicklung unterliegt…. Außerdem besagen homogene Schülerleistungen noch lange nicht, dass auch andere Schülermerkmale übereinstimmen. So können kognitiv starke Schüler… z.B. sehr verhaltensschwierig sein, oder leistungsschwache Kinder können sich unter Umständen als sehr kreativ und sozial erweisen. So gesehen ist das gängige Streben nach homogenen Schülergruppe ein höchst zweifelhaftes Unterfangen. (a. a. O. S.24,25)
… Die Gefahr der >Self-fulfilling Prophecy< ist groß. Will sagen: Wer z.B. am Ende der vierten Klassenstufe als leistungsfähig eingeschätzt und für das Gymnasium empfohlen wird, wird in der Regel alles daransetzen, dieses >Vorurteil< seiner Lehrer (und Eltern) zu bestätigen und gerät fast zwangsläufig in einen Aufwärtssog. Wer dagegen de Haupt- oder Förderschule zugeordnet wird, wird in der Regel ebenfalls geneigt sein, die entsprechende Negativ-Prognose zu bestätigen und gerät eher in einen Abwärtssog. Das sind fatale Wechselwirkungen…. Unsicherheiten und Ungerechtigkeiten… Heterogenität ist schlicht und einfach ein Faktum – und eine Herausforderung… Hier muss umgedacht werden. Heterogene Lerngruppen sind nicht nur normal, sie sind auch chancenreich… Je bunter das Spektrum der Schülerbegabungen und –interessen ist, desto größer sind in der Regel auch die daraus erwachsenden Synergieeffekte – vorausgesetzt, die einzelnen Unterrichtsstunden werden entsprechend anregend, handlungsbetont und kooperationsfördernd gestaltet… (a. a. O- S.29)  … Die gängigen Leistungsnormen werden in der Regel so stark kognitiv gefasst, dass Kinder mit anderen Begabungsschwerpunkten über Gebühr abgewertet werden. Leistungs- und entwicklungsfördernd ist das wohl kaum. Dadurch werden nicht nur Bildungschancen zerstört, sondern so manche persönlichen und familiären Dramen ausgelöst… Nach… Bildungsstatistiken …. gilt für die Gruppe der 15-Jährigen, dass erschreckende 24 Prozent von ihnen während der Schulzeit mindestens einmal sitzenbleiben. In der Hauptschule gilt das sogar für 42 Prozent der Probanden (vgl. Krohne/Meier, 2004, S.121). >Damit gehört Deutschland bei den Klassenwiederholungen zu den internationalen Spitzenreitern< (Tillmann 2004. S.7; vgl. außerdem PISA 2000, S.473 und S.413)…
Der oft unterstellte Fördereffekt wird durch das Sitzenbleiben in der Regel nicht erreicht, sondern eher das Gegenteil davon… (vgl. PISA 2000, S.473 ff.) …  Gleichzeitig verleiten die bestehenden >Abschiebemöglichkeiten< viele Lehrkräfte dazu, etwaige Problemschüler…  vorschnell ins Abseits zu stellen. Die eigentlich notwendigen Fördermaßnahmen werden guten Gewissens minimiert… Opfer des gegliederten Schulwesens sind aber nicht nur Schüler…, sondern immer wieder auch ambitionierte Lehrkräfte. Das gilt vor allem für den Hauptschulbereich, wo vielerorts mittlerweile eine Situation erreicht ist, dass selbst engagierte Pädagogen resignieren. Ihre pädagogischen Instrumente greifen kaum noch. Desinteresse, Mobbing, Absentismus, Aggressivität, Gewalt und andere Lern- und Verhaltensdefizite … (a. a. O. S.27)
… Nahezu ein Viertel der 15-Jährigen gilt heutzutage als nicht ausbildungsreif (vgl. PISA 2000;  Schlotmann/Sprenge 2008, S.19; Bildungsbericht 2006, S.67). Das ist wahrlich alarmierend! Doch was geschieht? Es wird weiter selektiert…

1.2       Elternwille und Schülerselektion

Die Beständigkeit des gegliederten Schulwesens ist u. a. eine Folge des Elternwillens. Das Gros der erziehungsberechtigten neigt unverändert dazu, die eigenen beruflichen und privaten Erfolge den Besonderheiten und Angeboten der jeweils besuchten Schulart zuzuschreiben. Da niemand weiß, was unter anderen Vorzeichen möglich gewesen wäre….
War das Gymnasium bis in die späten 1960er-Jahre hinein noch eine relativ exklusive Bildungseinrichtung für eine eng begrenzte >Oberschicht<, so hat sich das seither gravierend verändert. Während seinerzeit durchschnittlich sechs bis zehn Prozent eines Schülerjahrgangs zum Gymnasium gingen, sind es heute in vielen Bundesländern zwischen 40 und 50 Prozent… So gesehen ist das Gymnasium mittlerweile die am häufigsten gewählte Schulart – gefolgt von der Realschule, für die sich deutschlandweit 2006/2007 immerhin noch 24,8 Prozent der Eltern entschieden. …  (a. a. O. S.28) … Das führt … dazu, dass das Gymnasium zunehmend zur >Gesamtschule< wird – mit all den damit verbundenen pädagogischen und methodischen Herausforderungen. Der Trend geht deutlich hin zur Zweigliedrigkeit, mit dem Gymnasium auf der einen und der stärker praxisbezogenen >Realschule< auf der anderen Seite. Diese Entwicklungstrends unterstreichen die wachsende Bedeutung heterogener Lerngruppen – nicht zuletzt in den Gymnasien. …
Fachwissen allein reicht nicht. Soziale, methodische, sprachliche und andere Kompetenzen müssen zwingend hinzukommen. Dazu bieten heterogene Schülergruppen beste Lernchancen. …

1.3       Ernüchternde Forschungsbefunde

Das gegliederte Schulwesen ist alles andere als ein Erfolgsgarant. Das zeigt die Schul- und Unterrichtsforschung der letzten Jahre. … (a. a. O. S.29)
… Lernen in heterogenen Gruppen ist… gewiss kein >Leistungskiller<…
… Gerade dort, wo die Schüler… gemeinsam unterrichtet werden – also die Homogenität misslingt - … sind… die Schulerfolge besonders gut. Begründet liegt das u. a. darin, dass in heterogenem Gruppen gemeinhin sehr viel gezielter und konsequente gefördert wird als in vermeintlich homogenen Lerngemeinschaften. In heterogenen Systemen ist es für die Lehrkräfte beinahe selbstverständlich, dass sie differenziert fordern und fördern müssen. In gegliederten Systemen dagegen neigen viele eher dazu, die Förderaufgabe zugunsten der Selektion zurückzustellen. (a. a. O. S.30)  … Die Konsequenz sind mäßige Lernerfolge (vgl. OECD 2005, S.458).
Ein weiterer ernüchternder Befund ist der, das es das gegliederte Schulwesen offenbar nicht schafft, für die unterschiedlichen Kinder angemessene Chancengerechtigkeit zu gewährleisten. Die soziale Herkunft der Kinder determiniert nach wie vor in hohem Maße die Schulwahl und den Lernerfolg der Kinder. >In kaum einem anderen Land bestimmt die soziale Herkunft so sehr den Schulerfolg wie in Deutschland< (Prenzel 2005, S.81; vgl. außerdem PISA 2000 sowie Ratzki 2007, S.67)
… Bei gleich schwachen Schülerleistungen gelingt es Oberschichteltern signifikant häufiger, ihren Kindern den Besuch der Hauptschule zu ersparen als den Eltern aus der Unterschicht (vgl. Bildungsbericht 2006, S.50). Chancengerechtigkeit sieht anders aus.
Irritierend ist ferner, dass nur 12 Prozent der Arbeiterkinder, aber 70 Prozent der Beamtenkinder von der Grundschule zum Gymnasium wechseln. Eine ähnliche Unterrepräsentanz gilt für die Gruppe der Migrantenkinder. Nur neun Prozent von ihnen besuchen ein Gymnasium, aber 50 Prozent landen in der Hauptschule (vgl. Tillmann 2004, S.8; vgl. auch PISA 2000, S.373). Die Gruppe der Migrantenkinder trifft es demnach besonders hart…. Letzteres hängt zwar sicherlich auch damit zusammen, dass es Sprachbarrieren, Traditionen und bildungsferne Elternhäuser gibt… eine hinreichende Erklärung für die erwähnten Benachteiligungen ist das aber nicht. (a. a. O. S.31)
Dass es freilich auch anders geht, zeigen die positiven Erfahrungen mit sogenannten >Integrationsklassen<, wie sie seit vielen Jahren existieren. Diese Klassen sind trotz oder wegen ihrer ausgeprägten Heterogenität nicht nur relativ erfolgreich, sondern sie werden von den Betroffenen auch durchweg gut bewertet (vgl. Dumke/Schäfer 1993 sowie Ratzki 2007, S.67). Ähnlich positive Rückmeldungen erfährt der Grundschulbereich. Wie die Schulforschung zeigt, beweisen die Grundschulen seit Jahr und Tag, das integrierte Systeme erfolgreich zu arbeiten vermögen. Von ihren Lern- und Leistungsergebnissen her liegen die deutschen Grundschulen im internationalen Vergleich im obersten Viertel (vgl. Spiwak 2008, S.27). Das gilt auch für die in den IGLU-Studien ermittelte Lesefähigkeit. Hinzu kommt, dass es dem Grundschullehrer…n offenbar recht überzeugend gelingt, Lernfortschritt und soziale Herkunft der Schüler… zu entkoppeln und die unterschiedlichen Milieus und Kulturen zusammenzuhalten (vgl. ebenda). So gesehen bedarf die These von der Überlegenheit des gegliederten Schulwesens dringend der Revision….
Handlungsorientierung, Differenzierung und individuelle Förderung gehören seit Langem zum Standard im Primärbereich und tragen maßgeblich dazu bei, dass die Unterschiedlichen Kinder zum Zuge kommen… Den Gipfel der kumulativen Benachteiligung erlebt man in vielen Hauptschulen, wo es kaum noch Zugpferde und Vorbilder gibt…

1.5  Die Gesamtschule als Perspektive?

Die  Errichtung integrierter Gesamtschulen ist eine mögliche Antwort auf die skizzierten Problemlagen und Ungerechtigkeiten. Die erfolgreichen PISA-Länder legen es eigentlich nahe…. (a. a. O. S.32)
… Warum also nicht vollintegrierte Systeme nach skandinavischem Vorbild bis Klasse neun oder zehn auch in Deutschland einrichten?
Man muss kein Prophet sein, um den Widerstand absehen zu können…
Das beginnt mit der >Einheitsschule< als Aushängeschild der ehemaligen DDR, die an Drill und Indoktrination denken lässt, und reicht bis hin zum vermeintlichen Versagen der westdeutschen Gesamtschulen während der letzten Jahrzehnte… Verwiesen wird auf die mangelhaften Lern- und Leistungsergebnisse der Gesamtschulen…
Übersehen wird…, dass wir seit den 1970-Jahren im Sekundarbereich eigentlich nie wirkliche Gesamtschulen hatten, da immer auch andere Schularten zur Auswahl standen. [Fettdruck durch WW]
Die Gesamtschulen in Westdeutschland waren nie vollintegrierte, sondern immer nur teilintegrierte Systeme. Dementsprechend  fehlten die Leistungsspitzen aus ambitionierten Elternhäusern in hohem Maße. Die gleichzeitige Existenz von Realschulen und Gymnasien brachte es mit sich, dass das Gros der leistungsstarken Schüler… dorthin abwanderte. Das gilt bis heute. So gesehen finden sich in den betreffenden Gesamtschulen nur eingeschränkte Begabungs-, Leistungs- und Verhaltensspannen. Die Folge davon ist, dass es vielerorts an den nötigen Helfer…n und Miterzieher…n mangelt, von denen eine Gesamtschule mit ihrem erweiterten Integrations- und Förderbedarf unweigerlich zehren muss. Die Lehrkräfte alleine können die bestehende Heterogenität schwerlich meistern. Wenn jedoch die nötigen >Schülerassistenten< fehlen, dann gerät die immanente Balance und Integrationskraft des Systems Gesamtschule beinahe zwangsläufig ins Wanken. Und genau das ist seit Jahr und Tag der Fall. Von daher ist es unredlich, die Leistungspotentiale der Gesamtschulen mit denen der Gymnasien … die Leistungsabschlüsse und –ergebnisse… unmittelbar gleichzusetzen…
Die Perspektive müsste daher eigentlich die vollintegrierte Gesamtschule sein. Denn nur diese hat bei PISA, IGLU und anderen Studien aufgrund der ihr eigenen Förder-, Differenzierungs- und Integrationsmaßnahmen beste Noten erhalten. Doch ein solcher >Quantensprung< ist hierzulande aufgrund der bestehenden Traditionen, Denkweisen und Schulstrukturen derzeit eher illusorisch… (a. a. O. S.33)

1.6 Der Ruf nach neuen Schulstrukturen

Das Ende der Hauptschule naht… … >Kinder brauchen Lernanreize<, so heißt es in einem Positionspapier de Baden-Württembergischen Handwerktags. Allerdings sei es > […] mehr als fragwürdig, ob Selektion hierfür einen positiven Beitrag leistet… < (Baden-Württembergischer Handwerkstag 2002, S.25)…. Dahinter steht die berechtigte Einsicht, dass sich die moderne Informations- und Wissensgesellschaft schwerlich leisen kann, knapp ein Viertel der 15-Jährigen ohne hinreichende Ausbildungsreife ins Leben u entlassen. Diese >Risikogruppe< kann nachweislich weder sinnentnehmend lesen noch oberhalb des Grundschulniveaus rechen (vgl. Prenzel 2005, S.81)… (a. a. O. S.35)
… Die meisten Bundesländer haben die Hauptschulvariante längst zu den Akten gelegt. Brandenburg hat sie im Jahre 1990 erst gar nicht eingeführt…
Mag sein, dass die radikale Etablierung eines zweigliedrigen Schulsystems hierzulande noch nicht hinreichend konsensfähig ist…
Schaut man sich die real existierende… bildungspolitisch hoch gehandelte… Ganztagsschule genauer an, so stellt man ernüchtert fest, dass die meisten von ihnen eine verbindliche, differenzierte und rhythmisierte Lern- und Förderarbeit vermissen lassen. Die betreffenden Kinder können zwar ganztags bleiben, sie müssen es aber nicht. Die Folge ist, dass der Ganztagsbetrieb in der Regel nur von einem Teil der Schüler… genutzt wird, von denen viele nach Beginn der Pubertät dann ganz wegbleiben. Diese Unverbindlichkeit führt beinahe zwangsläufig zu pädagogische und schulorganisatorischer Halbherzigkeit. (a. a. O. S.36,37) Die Schüler… erhalten ihr Mittagessen in der Schule. Sie erfahren eine gewisse Betreuung bei den Hausarbeiten und können an der einen oder anderen Arbeitsgemeinschaft oder Projektarbeit am Nachmittag teilnehmen. Eine professionell geführte und gestaltete Ganztagsschule sieht freilich anders aus … verbindliche Schülerteilnahme sowie ein Mehr an professioneller Differenzierung, Rhythmisierung, Qualifizierung und Förderung im Unterricht…
Das Gymnasium ist und bleibt gesetzt, auch wenn es mittlerweile immer weniger mit dem zu tun hat, was ursprünglich mal als >elitäre Bildungsstätte für die deutsche Oberschicht< gedacht war. Das sich abzeichnende >Zwei-Wege-Modell< mit Gesamtschule bzw. Gemeinschaftsschule auf der einen und dem Gymnasium auf der anderen Seite dürfte wohl bei den meisten Lehrerverbänden und Bildungspolitikern als praktikable Kompromisslösung durchgehen. Mit diesem Kompromiss wird die skizzierte Selektionsproblematik zwar nicht wirklich behoben, wohl aber in ihrer Wirkung abgemildert. Das ist mehr als nichts, aber weniger als nötig.

1.7    Die Expansion des Privatschulsektors

Der skizzierte Schulstrukturwandel berührt nicht nur die Staatsschulen, sondern auch die Privatschulen. Viele Eltern sind irritiert und suchen nach Alternativen zur >Schule für jedermann<. Die Furcht vor den unberechenbaren Verhältnissen in den neuen Gemeinschafts-, Gesamt- oder Regionalschulen sowie das Unbehagen angesichts des Exklusivitätsverlusts vieler Gymnasien tragen unverkennbar dazu bei, dass eine wachsende Zahl von Eltern nach Privatschulen Ausschau hält. Zwar liegt der Anteil der privaten an den allgemeinbildenden Schulen in Deutschland bei gerade mal 7,5 Prozent (in Österreich sind es 11 Prozent, in Spanien 32 Prozent, in den Niederlanden sogar 70 Prozent), doch die Tendenz ist steigend. Besuchten z. B. 1991 gerade mal 445 000 deutsche Schüler… allgemeinbildende Privatschulen, so waren es 2006 immerhin schon 656 000 (vgl. Barthel 2007, S.73)… (a. a. O. S.37)
… Da sind zum einen die traditionellen kirchlichen oder reformpädagogisch ausgerichteten Privatschulen, zum Zweiten einige profilierte Schulneugründungen von Einzelpersonen oder auch von Privatunternehmen, z.B. die Phorms-Schulen…<
Die Phorms-Schüler… werden vielseitig und mit modernen Methoden gefordert und gefördert, ihre unterschiedlichen Talente zu entwickeln und ihre Erfolgsgewissheit zu stärken. Niemand  soll ausgebremst, aber auch niemand soll durchgeschleift werden … (vgl. Kahl/Otto 2007, S.71) Der Unterricht ist in der Regel zweisprachig. Die Kinder leben in einer englischsprachigen Umgebung. Es gibt pädagogische Assistentinnen und vergleichsweise kleine Klassen von ca. 20 Kindern (vgl. Heinemann 2007, S.14) Willkommen sind grundsätzlich Kinder aus allen Milieus, vorausgesetzt, das Leistungspotential stimmt und das obligatorische Schulgeld kann bezahlt werden… zwischen 200 und 900 Euro pro Monat – je nach Einkommen der Eltern (vgl. Kahl/Otto 2007, S.7). … Zur Schule gehen, wo nicht jeder hingeht, das ist für viele ‚Eltern ein durchaus ernstes Anliegen. Wenn noch ein innovatives pädagogisches Konzept hinzukommt, umso besser.
Diese Trends zeigen, dass Konventionen bröckeln und neue Handlungsperspektiven für ambitionierte und selektionsbedürftige Eltern entstehen … bisher dominieren die >Idealisten<. Rund 80 Prozent der deutschen Privatschulen sind von der katholischen oder evangelischen Kirche getragen und verfolgen keinerlei kommerzielle Interessen… (a. a. O. S.38)
Die Frage ist nur, ob die real existierenden Privatschulen die in sie gesetzten Erwartungen tatsächlich erfüllen können. Die bis dato vorliegenden Forschungsbefunde sprechen eher dagegen. Berücksichtigt man die soziale Herkunft der Privatschüler…, so gibt es offenbar keine großen Leistungsunterschiede zwischen Kindern in Privatschulen und anderen staatlichen Schulen… (vgl. Weiß/Preuschoff 2004, S.62; vgl. ferner Barthels 2007, S.73) Einen moderaten Leistungsvorteil gibt es lediglich für Schülerinnen an reinen Mädchenrealschulen, die offenbar erfolgreicher lernen, wenn sie unter sich sind…
Noch problematischer sieht es aus, wenn es um die Chancengerechtigkeit in Privatschulen geht. Was das staatliche Schulwesen nicht schafft, schafft der Privatschulsektor erst recht nicht, nämlich die Entkoppelung von sozialer Herkunft und Bildungschancen der Kinder. Der Degradierungs- und Ausgrenzungseffekt wird sogar noch größer. Warum? Vor allem wegen des Schulgeldes, aber auch deshalb. Weil von den betreffenden Eltern ausgeprägte Mitarbeit und Mitwirkung erwartet werden…
Andererseits attestiert die Schulforschung den Privatschulen durchaus auch Pluspunkte – insbesondere im pädagogisch-erzieherischen Bereich (vg. Weiß/Preuschoff 2004, S.59ff.) Diese Pluspunkte betreffen die Lehrerunterstützung wie die schulinterne Förderkultur, das Schülerverhalten wie das Lehrerengagement, die Elternarbeit wie die allgemeine Schulzufriedenheit der Eltern… Diesbezüglich wird einfach mehr getan und investiert… (a. a. O. S.39)

1.8    Der missverstandene Fördergedanke

Das Grundproblem hierzulande ist, die recht einseitige Sicht des Bildungs- und Förderauftrages. Die Schüler… zu fordern wird vor allem als Angelegenheit gesehen, der mit institutioneller Selektion zu begegnen ist…
Nur der Schein trügt…. Wenn nämlich alle Schüler…. ähnlich lernschwach sind, dann werden sie in der Regel nicht viel voneinander profitieren können. Und wenn alle … Überflieger und/oder fachliche Enthusiasten sind, dann werden sie vor lauter Einzelarbeit und Spezialistentum in der Regel kaum geneigt sein, die nötigen sozialen, kommunikativen, kreativen und emotionale Kompetenzen aufzubauen…  Die Opfer dieses Schubladendenkens sind sowohl die lernstärkeren als auch die lernschwächeren Schüler (vgl. Abschnitt 1.14). (a. a. O. S40,41)
Vor allem trifft es Letztere…. >Schüler, die unter ungünstigen sozialen oder kulturellen Bedingungen aufwachsen und dementsprechend häufiger als andere Schulschwierigkeiten haben, werden noch einmal benachteiligt, wenn sie extrem ungünstig zusammengesetzten Schülerpopulationen angehören…< (Schürmer 2004, S.102). Dieses Problem betrifft keineswegs nur die Hauptschulen…  Wer nachhaltige und schülergemäße Förderarbeit leisten will, der muss vor alle, eines tun, nämlich die unterschiedlichen Potenziale und Talente der Schüler… positiv aufnehmen und nutzen, ihre Stärken betonen und ihr Miteinander- und Voneinanderlernen so ausbauen, dass ein Mehr an Selbständigkeit und Selbstorganisation im Unterricht erreicht wird… (a. a. O. S.41)

  1. Von der Auslese zur Begabungsförderung

… Die Bertelsmann-Stiftung hat diese Option in die Worte gefasst: Eine Förderung aller Kinder und Jugendlichen setze voraus; > […] dass jedes einzelne Kind möglichst frühzeitig und unabhängig von seiner sozialen Herkunft auf vielfältige Art und Weise angeregt und herausgefordert wird.  Sie setzt weiterhin voraus, dass jedes Kind die Schule als einen Lern- und Lebensraum erlebt, in dem es sich mit seinen Fähigkeiten angenommen fühlt, in dem es Bestätigung erfährt und in dem ihm die Entwicklung seiner Fähigkeiten zugetraut wird< (Bertelsmann-Stiftung, o. J., S.4)….

2.1 Erinnerungen an die alte Volksschule

Bis in die 1960er-Jahre hinein ging das Gros der Schüler… in die sogenannte Volksschule. Sie umfasste in der Regel die Jahrgangsstufen eins bis acht. Daneben gab es ab der vierten Klasse nur noch eine ernsthafte Alternative: das Gymnasium. Zum Gymnasium gingen meist weniger als zehn Prozent des Schülerjahrganges. Das waren im ländlichen Bereich häufig sämtliche Kinder des Dorfes. So gesehen muss die >vollintegrierte Gesamtschule< hierzulande gar nicht neu erfunden werden; es gab sie bereits – zumindest in den kleinen Dörfern…
Sinkende Schülerzahlen und drohende Schulschließungen führen zu einer zaghaften Renaissance ländlicher Zwergschulen und jahrgangsübergreifender Lerngruppen… (a. a. O. S.42)
… Zwar ist bekannt, dass es unter den damaligen >pädagogischen Zehnkämpfern< auch so manche gab, die mit höchst autoritären und unpädagogischen Mitteln zu Werke gingen.. schlicht und einfach Ausdruck eines tradierten Erziehungsverständnisses, in dem >Zucht und Ordnung< über alles ging…
Keiner wurde abgeschrieben oder abgeschoben. Dazu gab es glücklicherweise gar keine ernsthafte Möglichkeit –sieht man einmal von der höchst seltenen Überweisung zur sogenannten >Hilfs- oder Sonderschule< ab… Sitzenbleiben machte schließlich keinen besonderen Sinn, das die fraglichen Schüler… meist im selben Klassenraum verblieben…
Diese anspruchsvolle Integrationsleistung wurde abgestützt durch entsprechende Formen und Vorleistungen der Lehrerausbildung… (a. a. O: S.43)
… Das alles habe ich selbst acht Jahre lang in unserer kleinen einklassigen Volksschule in Nordhessen miterleben dürfen (vgl. Vorwort zu diesem Buch). Acht Jahrgänge mit insgesamt ca. 25 Schüler..n saßen in einem einzigen Raum – heute kaum noch vorstellbar. (a. a. O. S.44,45) Jeder Schülerlehrgang war in einer Bankreihe platziert. Die Kleinen ganz vorne, die Älteren weiter hinten. Sitzenbleiben gab’s nicht, wohl aber ein höchst strenges und fruchtbares Voneinander- und Miteinanderlernen. Die älteren Jahrgänge bekamen immer wieder Vorbereitungs- und Helferaufgaben mit Blick auf die Jüngeren zugewiesen. So verfasste z. B. der sechste Jahrgang ein spezielles Diktat für die Schüler… des dritten Jahrgangs. Oder der siebte Jahrgang entwickelte einfache Bruchrechen- oder Prozentaufgaben für die Schüler der dritten bzw. fünfen Stufe. Wechselseitiges Helfen und erziehen waren selbstverständlich…
Meine heutige Bilanz: Ich habe vielleicht manches an Stoff >versäumt<; ich habe im Gegenzug aber viele >Schlüsselkompetenzen< erworben, auf die es i Rahmen meiner weiteren Bildungs- und Berufslaufbahn ganz entscheidend angekommen ist.

2.2. Auch schwache Schüler haben Stärken

Das entscheidende am skizzierten Bildungsverständnis ist die konsequent positive Sicht des Schülers. Kinder und Jugendliche werden nicht vorschnell in irgendwelche Leistungsschubladen gesteckt, sondern ganz grundsätzlich als entwicklungsfähige und förderungsbedürftige Wesen gesehen – wenn auch mit unterschiedlichen Entwicklungspotenzialen ausgestattet. Wichtig ist ferner, das die unterschiedlichen Entwicklungspotentiale … nicht gleich hierarchisiert und nach wertvollen und weniger wertvollen Begabungen aufgeteilt werden… Lernen ist entwicklungsoffen und muss daher entsprechend vielschichtig, konsequent und kleinschrittig angegangen und gefördert werden.
Wer sagt denn, dass jemand, der im logisch-mathematischen Bereich in einer bestimmten Altersphase Start- und/oder Abstraktionsschwierigkeiten hat, diese bei entsprechender Förderung nicht überwinden kann? Wer weiß denn zuverlässig vorauszusagen, dass Kinder, die phasenweise mehr Zeit brauchen und beim Lernen eher umständlich und eigenwillig vorgehen, am Ende nicht doch besser abschneiden werden als jene, die windschnittig durch den Lernstoff segeln und zweckrational vor allem das lernen, was ihnen von Lehrerseite nahegelegt bzw. vorgekaut wird?... (a. a. O. S.48)
Auffällig ist beispielsweise, dass viele Kinder mit ausgeprägter Rezeptionsfähigkeit, rasche Auffassungsgabe und untadeligem logisch-mathematischem Leistungsvermögen in Sachen Teamarbeit, Kommunikation, Präsentation, Empathie und Kreativität oft eher unambitioniert und daher auch vergleichsweise schwach sind… (a. a. O. S.46) …. Kaum ein Schüler ist so universal begabt, dass er keine Schwächen mehr hat. Und kein schwacher Schüler ist so grottenschlecht, dass er keine Stärken mehr besitzt..

2.3 Wie das Ausland Heterogenität meistert

Wie bereits angedeutet, ist es für die meisten OECD-Länder selbstverständlich, dass die Kinder und Jugendlichen bis zur 9. Oder 10. Klasse gemeinsam lernen., Vollintegrierte Systeme sind der Normalfall. Daneben gibt es in der Regel nur noch einige spezielle Sonderschulen sowie diverse Privatschulen, die aber wegen ihrer hohen Schulgebühren und ihrer strengen Eingangsprüfungen de facto nur für einen relativ kleinen Teil der Schülerschaft infrage kommen. Der ganz überwiegende Teil … geht zur obligatorischen >Einheitsschule<…
Das vorherrschende Selbst- und Aufgabenverständnis der Lehrkräfte ist sehr viel stärker als bei uns pädagogisch und entwicklungsbezogen ausgerichtet… (a. a. O. S.47) dem entspricht eine großzügige Lehrerversorgung mit Doppelbesetzungen und pädagogischen Zusatzkräften…
Die Unterrichtsmethodik selbst ist dort häufig noch konventionell. In Finnland wie in Japan stehen Frontalunterricht, Schulbücher und Stilarbeit nach wie vor recht hoch im Kurs. Da sind zahlreiche deutsche Schulen schon weiter. … >Kein Kind wird beschämt, jedes erfährt  sich wertgeschätzt als Lernender. Förderung ist Teil des individuellen Lernens. Die Schüler sagen: >Die Schule sorgt für uns<;>wir haben gute Lehrer.< – das prägt auch den Umgang zwischen den Lehrkräften.< (Ratzki 2005, S.43) …. >We celebrate the difference<, so lautet eine der zentralen Maximen in Kanadas Schulen. Bereits in der Grundschule beginn die syst4ematische Förderarbeit…. Kritische Denker kommen genauso zum Zug wie diejenigen, die gerne und gut in Gruppen arbeiten (vgl. Ratzki 2005, S.49)

2.4  Der Enrichment-Ansatz als Perspektive

Begabungsförderung wird hierzulande meist sehr eindimensional verstanden. Wer eine gute Auffassungsgabe besitzt und das abstrakt-logische Denken beherrscht, der wird oft vorschnell als Leistungsträger eingestuft und mit entsprechenden Aufgaben und Anforderungen konfrontiert. Die Folge: die vorhandenen Stärken werden ausgebaut, die latenten Schwächen eher unter den Teppich gekehrt. Dabei handelt es sich bei den besagten Fähigkeiten häufig um nichts anderes als um spezielle Teilbegabungen, die noch wenig darüber aussagen, wie es um die längerfristige Kompetenzentwicklung der betreffenden Schüler… tatsächlich bestellt sein wird. Warum? Begabungen sind sowohl in der Zeitachse als auch in der Breite veränderbar und entwicklungsbedürftig. Wenn ein Kind z.B. mit fünf Jahren bereits lesen, schreiben und/oder rechnen kann, dann besagt das noch lange nicht, dass dieses Kind >hochbegabt< ist.. (a. a. O: S.49,50) … Viele von ihnen sind eher einseitig begabt und weisen in anderen Intelligenzbereichen oftmals erhebliche Schwächen auf. Das gilt sowohl für die praktisch-künstlerische Ebene als auch für die sozialen, emotionalen, kommunikativen und musischen Intelligenzen…
>…. Reine Hochbegabtengruppen oder –klassen nehmen den Kindern wichtige Sozialisationschancen<, so … Detlef Rost ….(zitiert nach Dietrich 2006, S.87)…
Der renommierte amerikanische Intelligenzforscher Howard Gardner unterscheidet sieben menschliche Intelligenzbereiche … Logisch-mathematische / Sprachlich-linguistische
Interpersonale / intrapersonale
körperlich-praktische / räumlich-visuelle / Musische Intelligenz
Abb.1  [ enttabellarisiert WW ]… (a. a. O. S.50)
… Das aus den USA kommende Schulische Enrichment Modell (SEM) greift diese Überlegungen auf (vgl. Renzulli u. a. 2001). Im Mittelpunkt dieses Modells stehen
a) die systematische Entwicklung des Talentpotenzials der Schüler… mittels gestufter Qualifizierungsmaßnahmen sowie breit gefächerter Aufgaben und Förderangebote,
b) die Akzeptanz und Nutzung ethnischer und kultureller Diversität nach bester demokratischer Manier sowie
c) die Schaffung  und Pflege einer kooperativen Lern- und Schulkultur, die Schüler/innen wie Eltern, Lehrkräfte wie Schulleitungen nachdrücklich Partizipations- und Entscheidungsmöglichkeiten eröffnet.
Wichtig dabei ist: SEM setzt auf vielseitige Aktivierung der Schüler… und kommt dadurch allen Lernern zugute und nicht nur einigen wenigen Hochbegabten (vgl. Renzulli 2001, S.11)… (a. a. O. S.51)
… Kognitives Vermögen allein reich also nicht…

2.5 Differenzierte Lernaufgaben und –wege

…. Grundsätzlich gilt: Je breiter die Lernangebote sind, desto größer ist die Chance , dass die unterschiedlichen Schüler… Abschluss finden bzw. Anschluss halten können… (a. a. O. S.52)

Differenzierungsansätze im Überblick

 

Aufgaben

Methoden

Lernprodukte

Leseaufgaben
Knobelaufgaben
Paukaufgaben
Ordnungsaufgaben
Rechercheaufgaben
Visualisierungsaufgaben
Kommunikationsaufgaben
Kooperationsaufgaben
Strukturierungsaufgaben
Produktionsaufgaben
Präsentationsaufgaben
Entscheidungsaufgaben
Problemlösungsaufgaben
Planungsaufgaben
Projektaufgaben
Vortragsaufgabe

etc.

Einzelarbeit
Partnerarbeit
Gruppenarbeit
Unterrichtsgespräch
Stuhlkreis
Lernzirkel
Wochenplanarbeit
Werkstattarbeit
Projektarbeit
Rollenspiel
Planspiel
Talkshow
Debatte
Reportage
Befragung
Erkundung

etc.

Text/Aufsatz
Gedicht
Schaubild
Spickzettel
Mindmap
Karteikarte
Diagramm
Tabelle
Zeichnung
Plakat
Fragebogen
Werkstück
Protokoll
Referat
Wandzeitung
Folie (ppt)
etc.

Abb. 2


Je vielseitiger die Schüler… tätig werden können und je unterschiedlicher die an sie gestellten Anforderungen und Aufgaben anfallen, desto chancenreicher sind gemeinhin die entsprechenden Lernprozesse für alle Beteiligten…. (a. a. O. S.53)

2.6  Verstärkte Gewichtung der Lerntätigkeit

… Nach wie vor dominieren Lehrerdarbietungen und lehrergelenkte Unterrichtsgespräche. Das ist Gift für viele praktisch-anschauliche Lerner…
Was stattdessen gebraucht wird, ist eine möglichst systematische Umstellung der schulischen Lehr-und Lernkultur – weg vom lehrerzentrierten und verbal-abstrakten Unterricht hin zur kräftigen Ausweitung des aktiv-produktiven Lernens der Schüler…
Lernen statt Belehren, Produktion statt Reproduktion, Kooperation statt Einzelkämpfertum, Knobelaufgaben statt Schema-F-Arbeit, Prozessorientierung statt einseitiger Ergebnisfixierung – das sind einige der Weichenstellungen…  (a. a. O. S.54)
.. die Kultusministerkonferenz (KMK) hat diese Betonung des tätigen Lernens in ihren neuen Veröffentlichungen zu den Bildungsstandards nachdrücklich herausgestellt…..  Je versierter die Schüler.. sind, desto mehr müssen sie selbst organisieren, recherchieren, konzipieren, entscheiden. planen, problematisieren, konstruieren, präsentieren, reflektieren, kooperieren oder in anderer Weise tätig werden…. (a. a. O:S.55)

2.7  Ausweitung des kooperativen Lernens …. (a. a. O. S.56)

…  Gedeiliches Miteinander- und Voneinanderlernen  bedarf des gezielten Teamtrainings….

2,6  Breit gefächerte Kompetenzförderung … (a. a. O. S.57)

…  >Stoffhuberei< ist  bereits problematisiert worden. Mittlerweise wird davon aber längst abgerückt. Unter dem Motto >Auf den Output kommt es an<…. (a. a. O. S.58)

Kompetenzstufen im Bereich der Fremdsprachen

Hier: >mündliche Produktion allgemein<

C2

Kann klar, flüssig und gut strukturiert sprechen und seinen Beitrag so logisch aufbauen, dass es den Zuhörern erleichtert wird, wichtige Punkte wahrzunehmen und zu behalten.

 

C1

Kann komplizierte Sachverhalte klar und detailliert beschreiben und darstellen und dabei untergeordnete Themen integrieren, bestimmte Punkte genauer ausführen und alles mit einem angemessenen Schluss abrunden.

 

B2

Kann in einer großen Bandbreite von Themen mit seinen/ihren Interessengebieten  klare und detaillierte Beschreibungen und Darstellungen geben, Ideen ausführen und durch untergeordnete Punkte und relevante Beispiele abstützen.

 

B1

Knn relativ flüssig eine unkomplizierte, aber zusammenhängende Beschreibung zu Themen aus ihren/seinen Interessengebieten geben, wobei die einzelnen Punkte linear aneinandergereiht werden.

 

A2

Kann eine einfache Beschreibung von Menschen, Lebens- und Arbeitsbedingungen, Alltagsroutinen, Vorlieben und Abneigungen usw. geben, und zwar in kurzen listenhaften Abfolgen aus einfachen Wendungen und Sätzen.

 

A1

Kann sich mit einfachen, überwiegend isolierten Wendungen über Menschen und Orte ausdrücken

 


(Quelle: Kliene u. a. 2003, S.152)

2.9  Vom trägen zum intelligenten Wissen   … (a. a. O. S.59)

3.  Heterogenität als Chance und Verpflichtung

….

3.1  Zur anthropologischen Ausgangslage

… Sind Schüler… mit anderen Fähigkeits-, Verhaltens- und/oder Interessenprofilen nicht genauso wertvoll und förderungswürdig wie die >kognitiven Überflieger<, die nur zu oft vom stimulierenden Bildungsniveau in ihren Elternhäusern zehren? … (a. a. O: S.62,63)

3.2  Anregungen zur Gruppenbildung

Seine kern- und integrationsfördernde Wirkung kann kooperatives Lernen nur dann erfüllen, wenn die Gruppenbildung so erfolgt, dass eine hinreichende >soziale Balance< hergestellt wird… (a. a. O. S.128)
… Zunächst zu den Neigungsgruppen: Die meisten Schüler… (und Lehrer…) tendieren zur Gruppenbildung nach Sympathie und Neigung Damit verbinden sie die Hoffnung, dass auf diese Weise größtmögliche Harmonie und Leistungsfähigkeit gesichert werden können…
Gruppenbildung in diesem Sinne zementiert nur zu oft das Auseinanderdriften in einer Klasse…  Diese Gruppierungstendenzen sind insofern fatal, als sie … verhindern, dass etwaige Problemschüler… positiv eingebunden werden… (a. a. O. S.129)  …Neigungsgruppen induzieren immer auch >Randgruppen< … die en alltäglichen Unterricht empfindlich stören können…
Das Zufallsverfahren stellt sicher, dass in den einzelnen Gruppen tragfähige Leistungs- und Verhaltensspannen entstehen, die eine relativ wirksame Unterstützungs- und Erziehungsarbeit der Gruppenmitglieder gewährleisten… (a. a. O. S.130)
.. Die Vorteile des Zufallsverfahrens sind überzeugend: Die Schüler… lernen sich vielseitig kennen und nicht selten auch schätzen…
Selbstverständlich kann das Zufallsverfahren auch mit dem sogenannten Setzverfahren gekoppelt werden…  Diese Gruppenbildung kann z.B. so aussehen, dass von Lehrerseite sechs besonders leistungsfähige Schüler … identifiziert und durch Verlosen der Ziffernkarten 1 bis 6  den sechs entsprechenden Tischen zugeordnet werden. Damit wird erreicht, dass die betreffenden >Leistungsträger< gleichmäßig auf die einzelnen Gruppen verteilt werden und nicht zufällig geballt in der einen oder anderen Gruppe auftauchen… (a. a. O: S.131)..  Wichtig ist…, dass die zugrundeliegenden Setzkriterien werden veröffentlicht noch nähe erklärt werden…
Egal, wie das Zufallsverfahren auch immer angelegt wird. Es bedeutet nicht, dass die erwähnten Neigungs-, Nachbarschafts- und/oder Interessengruppen völlig in Abrede gestellt werden. Methodenvarianz ist auch bei der Gruppenbildung vonnöten (vgl. auch Mattes 2002, S.35)….

3.3  Teamentwicklung als Kernaufgabe

… Im Weiteren wird vorrangig auf das Entwickeln tragfähiger Regularien in der Gesamtklasse abgestellt, da die einzelnen Schülergruppen aufgrund des Zufallsprinzips doch recht häufig wechseln und bestenfalls für sechs bis acht Wochen in fester Formation zusammenbleiben…
… Stadien…[der] Teamentwicklung…  das Forming, das Storming, das Norming und das Performing… (a. a. O. S.133)
… Das vierte und letzte Stadium der Teamentwicklung betrifft das Performing. Damit ist die konkrete Regelumsetzung in den betreffenden Gruppen gemeint… (a. a. O. S.135)


3.6  Defensive Lehrerinnen und Lehrer

Das Gelingen der Gruppenarbeit ist freilich nicht nur eine Frage der Schülerkompetenzen, sondern auch und nicht zuletzt eine solche des Lehrerverhaltens… (a. a. O. S.142)
… Indem er sich der ersten Gruppe mit den Worten: >Na, kommt ihr zurecht?< anbietet, löst er in dieser Gruppe ein höchst fragwürdiges Maß an Arbeitsverlagerung aus. Die Fangfragen kommen prompt: Die erste Frage;>Was sollen wir genauer machen?< führt dazu, dass der Lehrer den bereits vorgestellten Arbeitsauftrag nochmals wiederholt und erläutert. Das Fatale dabei: Die betreffenden Gruppenmitglieder hören kaum zu, sondern überlegen eher krampfhaft, was sie denn noch fragen könnten. Der zweite Schüler trifft mit seiner >Fangfrage< denn auch ins Schwarz. Mit dem Hinweis >Ursachen, Ursachen – was meinen Sie denn damit?<y, löst er einen höchst detailreichen Lehrervortrag über all das aus, was die Gruppe eigentlich selbst hätte recherchieren sollen… Mit ein wenig Distanz hätte … der betreffende Lehrer… die Fallen… sicherlich erkannt. Nur, diese Distanz erreicht er nicht, da er gleich zu Beginn Blickkontakt sucht und sich von der ersten Hilfe suchenden Gruppe in Sekundenschnelle vereinnahmen lässt… (a. a. O. S.143)
.. Drei Varianten haben sich in praxi gut bewährt: erstens der Einsatz von Rot-Grün-Zeichen, zweitens der demonstrative Rückzug der Lehrkraft nach Erteilen des Gruppenarbeitsauftrags sowie drittens das Einführen einer klar gegliederten Verantwortlichkeitskette… Lernpartner… Nachschlagewerke… Rot heißt keine Sprechstunde… Rückzug kann z.B. so aussehen, dass sich die betreffende Lehrkraft … mit den Worten in den hinteren Teil des Klassenraumes begibt: >Ich gehe jetzt nach hinten an meinen Arbeitstisch, damit ich euch nicht störe.<

3.7  Tipps zum Umgang mit Störungen

Kooperatives Lernen läuft natürlich nicht immer glatt… (a. a. O. S.144)
… Grundsätzlich lässt sich sagen: Wenn in Gruppenarbeitsphasen ernsthafte Störungen auftreten, dann ist deren Behebung zunächst einmal Sache der Gruppenmitglieder selbst…
Was die Häufigkeit der Reflexionsphasen angeht, so lassen sich dazu schwerlich  generelle Ansagen machen. Je nach Klasse und Gruppenarbeitsfrequenz kann es unter  Umständen sinnvoll sein, einmal pro Woche oder einmal im Monat Bilanz zu ziehen und gruppeninterne Schwachpunkte lösungsorientiert reflektieren zu lassen….
Das beginnt mit der Analyse und versuchsweisen Lösung akuter Störungen in der eigenen Gruppe und reicht über >anstößige< Protokolle, Rollenspiele und Videomitschnitte zu problematischen Gruppensituationen..  gruppenintern benannte… Regelwächter, Zeitwächter, Fahrplanüberwacher oder Gesprächsleiter… (a. a. O. S.145)

Lernspirale
Die mehrstufige Erarbeitung eines bestimmten fachlichen Lerngegensandes bzw. Lehrerimputs durch die Schüler.. Die Lerner bohren sich in den jeweiligen Fachinhalt hinein. Sie durchlaufen mehrere Arbeitsschritte und praktizieren dabei unterschiedliche Lerntätigkeiten. Je versierter die Schüler… sind, desto anspruchsvoller werden die Lernspiralen bzw. Arbeitsschritte konzipiert. Typisch für die Erarbeitungsprozesse ist der konsequente Wechsel von Einzel-, Partner-, Gruppen- und Plenararbeit. Eine Lernspirale erstreckt sich in der Regel über ein bis zwei Unterrichtsstunden. (a. a. O. S.304)

… So gesehen ist der skizzierte Spiralansatz praktische Begabungs- und Kompetenzförderung in einem. Die Schüler… profitieren gleich doppelt: Sie erschließen sich zu einen wichtige methodische Werkzeuge und Strategien; zum anderen entwickeln sie grundlegende Einstellungen und Kompetenzen, die ihnen helfen, ihre unterschiedlichen Begabungen und Affinitäten ins Spiel zu bringen. Das begünstigt das Arbeiten in und mit heterogenen Gruppen… (a. a. O. S.188)

  1.  Zusammenfassende Tipps für die Praxis  …(a. a. O. S.219)


6.4  Wer zu viel hilft, ist selber schuld


6.5 Lob des >Trial and Error<-Prinzips

Lehren und Lernen werden in Deutschlands Schulen viel zu sehr daran gemessen, ob ein bestimmter Stoff mit bestimmten Ergebnissen abgeschlossen wird. Unterricht wird primär ergebnisorientiert aufgefasst und viel zu wenig prozessorientiert.. (a. a. O. S.228)
… Fehlerbearbeitung und Fehlerbehebung stehen… außer Frage. Was pädagogisch indes wenig Sinn macht, ist die apodiktische Fehlervermeidung, wie sie viele Lehrkräfte nach wie vor anstrebt. Fehler vermeiden kann letztlich nur derjenige, der erst gar keine Fehler zulässt… (a. a. O. S.229)

  1.  Unterstützende Maßnahmen der Politik

2.1  Mehr Sprachtraining vor Schuleintritt

Viele Lehrkräfte bewegen sich mit ihrer Förder- und Integrationsarbeit allein deshalb auf recht schwankendem Boden, weil nicht wenige Kinder eklatante Defizite in Sachen deutscher Sprache haben… (a. a. O. S.272)

2.3  Kleinere Klassen und mehr Freiraum

Ein weiteres bildungspolitisches Problemfeld ist die Klassengröße in den Schulen. Klassenstärken von 30 und mehr Schüler… sind hierzulande keine Seltenheit. Hinzu kommen relativ kleine Klassenräume, da die geltenden Schulbaurichtlinien entsprechende Limits vorgeben… Wenn aber die Klassenräume klein und die Schülerzahlen groß sind, dann bleibt im Schulalllag oftmals gar nichts anderes übrig, als eine problematische Frontalsitzordnung zu erstellen. Problematisch deshalb, weil die Ausrichtung der Tische und Schüler… zur Tafel hin beinahe zwangsläufig dazu führt, dass die Lerner zur lehrerzentrierten Einzelarbeit veranlasst werden… (a. a. O. S.277)

 

Karlheinz Barth
Lernschwächen früh erkennen
im Vorschul- und Grundschulalter

6. Durchgesehene Auflage
Ernst Reinhardt Verlag München Basel
ISBN 978-3-497-02328-8 (Print)
ISBN 978-3-497—60073-1 (E-Book)

 

Vorwort zur 1. Auflage

Der Anteil der Kinder, die an Beratungsstellen, Frühförderstellen, sozial-pädiatrischen Zentren oder bei Kinderärzten wegen Entwicklungsauffälligkeiten und schulischen Lernschwierigkeiten vorgestellt werden, ist beträchtlich. Meist sind diese Kinder bereits wegen der schon längere Zeit bestehenden Misserfolge frustriert, entmutigt, zeigen Verhaltensauffälligkeiten oder soziale Anpassungsschwierigkeiten. Je früher man die besonderen Schwierigkeiten dieser Kinder in ihrer Entwicklung erkennt, desto effektiver kann man ihnen und ihren Eltern Hilfen bei der Bewältigung ihrer Schwierigkeiten zuteilwerden lassen und umso geringer sind die negativen Auswirkungen auf ihre weitere Persönlichkeitsentwicklung.
Viele Kinder, die nach der Einschulung – oft trotz guter Intelligenz – Lernschwierigkeiten bekommen, fallen bereits in ihrer Kindergartenzeit auf… (a. a. O: S.5)

Kapitel 1
Vom Kindergarten zur Grundschule
Ein (un-)gelöstes Problem?
1.1. Ist die Schule reif für unsere Kinder?

….
Lassen Sie mich zunächst zwei Thesen aufstellen:
1. Der Übergang vom Kindergarten zur Grundschule hat in Deutschland bisher noch keine überzeugende Struktur und pädagogische Konzeption gefunden.
2. Viele Kinder versagen in der Grundschule, weil die Ursachen ihrer Lernschwierigkeiten zu spät erkannt werden.
Nun, knapp zwanzig Jahre, nachdem die Kultusministerkonferenz die Trennung von Elementar- und Primarbereich mit jeweils eigenständigem Erziehungs- und Bildungsauftrag beschlossen hat, ist der Übergang des Kindes vom Kindergarten zur Grundschule erneut in den Brennpunkt vielfältiger Diskussionen und Kontroversen geraten.. In einigen Ländern wie z. B. Brandenburg, Bremen, Hessen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen wird derzeit intensiv über eine konzeptionelle und organisatorische Neugestaltung des Übergangs nachgedacht und in Modellversuchen bereits erprobt… (a. a. O: S.11)

1.2.     Die Kooperation Kindergarten – Grundschule:
Wunsch oder Wirklichkeit?

…vorgeschlagen …. Wurden von der Kultusministerkonferenz..:

·        Die Bildung von Arbeits- und Gesprächskreisen zwischen Erzieherinnen und Grundschullehen mit dem Ziel, Inhalt und Methoden der jeweils anderen Einrichtung kennenzulernen

·        Gemeinsame Durchführung von Elternabenden

·        Besuch und Hospitationen der schulpflichtigen Kinder vor der Einschulung in ihrer neuen schule

·        Gemeinsame Hospitationen von Erzieherinnen und Lehrern

·        Gemeinsame Fortbildungen

… Vergleicht man aber Anspruch und Wirklichkeit, so zeigt sich vielerorts doch ein eher ernüchterndes und enttäuschendes Bilds  Mader (1989, 189) analysierte …. Die Kooperation… in Nordrein-Westfalen… spricht gar von einem offenkundigen Misserfolg der Zusammenarbeit… (a. a. O. S.12)
[auch] …mangels institutionelle und pädagogischer Verzahnung…

1.4        Ausleseintensive Einschulungspraxis

Zu den ungeklärten Problemen des Übergangs Kindergarten – Grundschule gehört ferner, dass die derzeitigen Einschulungsregelungen sich als sehr ausleseintensiv erweisen und relativ viele Kinder als >nicht schulfähig< vom Schulbesuch zurückgestellt werden und eine entsprechende vorschulische Einrichtung besuchen müssen. Je nach Bundesland  und pädagogische Ansatz gibt es z. B. den Schulkindergarten, die Grundschulförderklasse oder die Vorschule… Die Quote der als >nicht schulfähig< definierten Kinder schwankt dabei von Bundesland zu Bundesland erheblich, aber auch von Grundschule zu Grundschule. Der Anteil zurückgestellter Kinder stagniert bei ca. 8 bis 12 % eines Jahrgangs, wobei Schleswig-Holstein mit einer Zurückstellungsquote von 17 % (im Schuljahr 1993/94)  den höchsten Anteil hat, Bayern mit ca. 4,3 % die geringste Zurückstellungsquote aufweist.
Die Höhe der Zurückstellungsquote ist auch abhängig vom Vorhandensein bzw. Nichtvorhandensein einer vorschulischen Einrichtung… An Grundschulen mit Schulkindergarten werden ca. 16% der Kinder zurückgestellt, ohne Schulkindergarten nur ca. 7 % ….  Jungen sowie ausländische Kinder sind häufiger von Zurückstellung betroffen. Der Anteil zurückgestellter Jungen an der Gesamtrückstellungsquote beträgt 60 bis 70 %. Mädchen werden gegenüber Jungen häufiger und vorzeitig (5 %) und seltener verspätet (4%) eingeschult… (a. a. O. S.13)

1.5        Überalterung der Schulanfänger

Die Folge dieser ausleseintensiven Einschulungspraxis ist, dass deutsche Schulanfänger im Vergleich deutlich später eingeschult werden als ihre Alterskameraden in anderen europäischen Ländern. Während in verschiedenen europäischen Staaten Kinder bereits mit fünf Jahren schulpflichtig  sind, liegt das durchschnittliche Einschulungsalter  inzwischen in der Bundesrepublik  durchschnittlich bei sechs Jahren und sieben Monaten… Der Anteil der Früheinschuler …[–] Kinder die in der Zeit vom 01.07 bis 31.12  das sechste Lebensjahr vollenden.. [–ging] von knapp 6 % im Jahre 1971 auf 3 % im Jahre 1990 zurück…
Die Auswirkungen von Früheinschulungen auf den Schulerfolg versuchte eine Studie der Universität Essen >Bildungsforschung/Bildungsplanung“ (Bellenberg 1996) zu beantworten. Die Ergebnisse sind recht interessant:
a) …. Von den vorzeitig eingeschulten Schüler…n sind bis Abschluss der zehnten Jahrgangsstufe 30 % mindestens einmal sitzengeblieben. In der Gruppe der altersgemäß eingeschulten Kinder sind nur 18 % Sitzenbleiber. …
b) Früheingeschulte … wiederholen auch häufiger als regulär Eingeschulte gleich zwei Schuljahre bis Ende ihrer Schulzeit…  (a. a. O.  S.14)

1.6        Integration statt Aussonderung

Unser Erziehungs- und Bildungssystem ist aber auch aufgrund eines veränderten Welt- und Menschenbildes, einer veränderten Kindheit und sich permanent wandlenden ökologischen Lebensbedingungen in Bewegung geraten. Eine zunehmende Bedeutung gewinnen dabei Integrationskonzepte. Diesen liegt die Kernaussage zugrunde, dass alle Kinder in Kooperation miteinander auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau spielen und lernen. Die Integrationsbewegung wird als eine der neuen sozialen Bewegungen – neben Emanzipations- bzw. Frauenbewegung, Umweltschutz und Friedensbewegung – des letzten Viertels unseres  Jahrhunderts  bezeichnet.  Charakteristisches Merkmal des Integrationsgedankens  ist das gemeinsame  Unterrichten von behinderten und nichtbehinderten Kindern in Regelschulen, die Öffnung von Schule und Unterricht für behinderte Kinder….
Auf dem Hintergrund dieses Integrationsgedankens ist es somit nur schwer zu begründen, warum in ein und derselben Klasse Kinder mit Behinderungen (z.B. Körperbehinderung, Lernbehinderung) aufgenommen, auf der anderen Seite aber entwicklungsverzögerte Kinder oder Kinder mit einem begrenzten Förderbedarf als nicht schulreif abgewiesen werden…  Es gibt inzwischen vielerorts Modellklassen, in die alle schulpflichtigen Kinder ohne Feststellung ihrer Schulfähigkeit aufgenommen werden. (a. a. O. S.15)

1.6. Schützt eine Zurückstellung vor dem Sitzenbleiben?

… Diese Hoffnung ist aber nur für einen Teil der Kinder berechtigt. Die Einweisung in eine schulvorbereitende Einrichtung kann sich bei den jüngeren der schulpflichtig gewordenen Kinder relativ günstig auswirken… Zurückgestellte [ältere] Kinder weisen die höchste Wiederholungsquote bis ins vierte Schuljahr auf…. Auf jeden Fall  aber sollte eine Ausschulung aus dem laufenden ersten Schuljahr (z. B. nach einer sechswöchigen Beobachtungsphase des Kindes) aus pädagogischen und psychologischen Gründen vermieden werden…

1.7. Bessere Lernvoraussetzungen durch vorschulische Einrichtungen?

… In Schulkindergärten und Förderklassen werden häufig nicht nur Kinder mit Entwicklungsrückständen eingewiesen, sondern auch sozial depravierte Kinder, verhaltensauffällige Kinder und ausländische Kinder mit meist nur geringen Deutschkenntnissen. So besteht die Schwierigkeit, dass sich in den Vorschulklassen schwierige Erziehungsprobleme massieren und die fördernden Anregungen einer leistungsmäßig heterogenen Lerngruppe nicht zum Tragen kommen… (a. a. O. S.17)
In welchem Ausmaß die Schulkindergartenförderung  die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen kann, ist empirisch nur wenig überprüft. Jansen (1994) … ging insbesondere der Frage nach, ob durch den Besuch des Schulkinderartens die Kinder bessere Voraussetzungen für das Lesen- und Schreibenlernen in den Anfangsunterricht mitbrächten. … Sein Fazit: >Die schulische Schriftsprachenwicklung … wird… nicht  positiv verändert (S.22). Auch für die Rechenleistungen ergibt sich nach Jansen ein ähnliches Ergebnis….

1.7        Veränderte Kindheit, veränderte  Familien- und Gesellschaftsstrukturen

Auch angesichts des Wandels von Familienstrukturen, des Wertewandels und veränderter Kindheitsbedingungen von Familien und eine Zuwanderung aus anderen Ländern sind Überlegungen zur Verbesserung des Schulanfangs dringend erforderlich… (a. a. O: S.18,19)

… Kindheit in der Postmoderne kann  charakterisiert werden durch:

Der Handlungsraum, in dem Kinder konkrete Umwelterfahrungen erwerben können, ist deutlich enger geworden…. Vermehrter Lärm, Hektik, Umweltverschmutzung und ungesunde Ernährung, eine zunehmende Konsumorientierung, bei der das Selbstwertgefühlt der Kinder über das Tragen von Kleidungsstücken bestimmter Marken definiert wird…. (a. a. O. S.18)


… All diese Veränderung haben zu einer Vergrößerung der Unterschiede bei den Entwicklungs-, lern-, und Verhaltensvoraussetzungen von Schulanfängern
geführt…

1.8       Schulreife – Schulfähigkeit: Vom Wandel des Begriffs

… Bis in die 60er Jahre hinein vertrat man die Auffassung, dass die Kinder aus sich heraus >heranreifen<…  Korn (1951) sah als wesentliches Kriterium der Schulreife die >Gliederungsfähigkeit< des Kindes, die nach seiner Meinung mit ca. 6 Jahren abgeschlossen sei. Unter >Gliederungsfähigkeit< verstand er den Übergang vom globalen Erfassen optischer Gestalten zur klar gegliederten Formwahrnehmung… Schulversagen führte er auf eine verfrühte Einschulung zurück… (a. a. O. S.20,21)
… Im Laufe der 60er Jahre wurde der Begriff der >Schulreife< zunehmend durch den der >Schulfähigkeit< ersetzt. Maßgeblich dafür war die Ablösung des reifungsorientierten durch ein lernorientiertes Entwicklungskonzept. Dies ging davon aus, dass die Entwicklung eines Kindes stark von der Qualität und Vielfalt seiner Entwicklungsanregungen im vorschulischen  Alter beeinflusst wird…
Die Erwartungen, die in … Frühförderungsprogramme gesetzt wurden, haben sich aber nicht erfüllt. Stattdessen sind sie in heftige Kritik geraten und als  zu einseitig und zu kognitiv orientiert abgelehnt worden….
Lange Zeit hinweg wurde Schulfähigkeit definiert als Zusammenwirken kognitiver, motivationaler und sozialer Voraussetzungen des Kindes…
Es zeigt sich aber, dass letztlich die Kriterien… von Eltern, Schulleitern oder Schulärzten … herangezogen…  wenig objektiv sind,,, (a. a. O. S.21)
Die relativ hohen Zurückstellungsquoten nicht schulfähiger Kinder widersprechen  letztlich auch dem Bildungsauftrag der Grundschule, eine Schule für alle Kinder zu sein….
Die heute oft gängige Praxis, jede Diagnose müsse vermieden werden, das sie zur >Aussonderung< führe, ist [jedoch] kritisch zu hinterfragen.  Gerade Kinder mit Entwicklungsauffälligkeiten bedürfen besonderer Aufmerksamkeit und Förderung…

1.9       Lösungsansätze: Konzepte zur Neugestaltung der Schuleingangsphase

…. (a. a. O. S.25)

1.10    Integrativer Unterricht

Ziel ist es, so wenig wie möglich  Kinder vom Schulbesuch zurückzustellen und nach Möglichkeit alle schulpflichtigen Kinder einzuschulen….
Die Gefahr, dass Kindern  gleich zu Beginn ihrer Schulzeit Misserfolge erleben, würde damit reduziert…. 
Zukünftig soll auch die Integration behinderter  Kinder in die Regelschule weiter fortgeführt und erweitert werden…
Diese neuen Ansätze der Integration betreffen vor allem auch Lehrer…n, die sich oft gar nicht auf diese neue Aufgabe vorbereitet fühlen… (a. a. O: S.26)

1.12     Flexible Schulbesuchszeiten

Der integrative Schulanfang erfordert, dass die Verweildauer Von Kindern im Schuleingangsbereich flexibel geregelt wird. Kinder, die mehr Zeit zum Lernen brauchen, wird eine verlängerte Verweildauer im ersten und zweiten Schuljahr ermöglicht …   [Die Anfangsphase]  ….kann … bei Bedarf aber auch in drei Jahren, in Einzelfällen in vier Jahren durchlaufen werden. ..
In Einzelfällen können deshalb leistungsstarke Kinder die beiden ersten Grundschuljahre in einem Jahr durchlaufen,
In einigen Modellversuchen werden die Klassen jahrgangsübergreifend geführt, d. h. in der Schulanfängerklasse werden Kinder des ersten und zweiten Schuljahres gemeinsam unterrichtet…

1.13  Einbindung sozialpädagogischer Fachkräfte in die Grundschule

Durch die Schaffung eines integrativen Schulanfangs, bei dem auf Rückstellungen und Einweisung in schulvorbereitende Einrichtungen verzichtet wird, wird eine sozialpädagogische Förderung von Schulanfängern nicht überflüssig. Im Gegenteil, die Kompetenzen der SozialpädagogInnen und ErzieherInnen aus den Schulkindergärten und Grundschulförderklassen wird zur Diagnostik und Förderung entwicklungsbeeinträchtigter Kinder dringend benötigt. … Vorgesehen ist, dass SozialpädagogInnen des Schulkindergartens gleichberechtigt und in enger Kooperation mit den LehrerInnen der Grundschule zusammenarbeiten…
Die Doppelbesetzung erlaubt auch, das die Klassen geteilt werden können, was für manche Unterrichtsinhalte von Vorteil ist. Durch die Anwesenheit einer zweiten Lehrkraft haben die Erstklässler einen zusätzlichen Ansprechpartner… (a. a. O. S.28)

1.14    Veränderungen des Unterrichts

Durch den Verzicht auf Rückstellungen werden die Entwicklungsunterschiede, mit denen der Erstklassenlehrer konfrontiert wird, größer…  Die Kinder müssen mehr Möglichkeiten und Gelegenheit zum selbständigen Arbeiten erhalten. Gerade entwicklungsbeeinträchtigte Kinder brauchen veränderte Unterrichtsmethoden, in denen durch konkretes Handeln Lerninhalte erlebbar und damit interessant werden. Dies kann geschehen durch:

a)  Arbeitsplanunterricht, bei dem die Kinder Aufträge zum Erforschen und Erkundigungen nach eigenem Tempo und Rhythmus bekommen. Dazu gehört ein vielfältiges Angebot von Materialien und Inhalten, so dass die Kinder Interessenschwerpunkte bilden können.

b)  Freiarbeit und Projektarbeit. Lehrerinnen und Kinder wählen gemeinsam ein Thema aus. Die Kinder können innerhalb des von ihnen mitbestimmten Themas Interessenschwerpunkte setzen, ihe Arbeit zunehmend selbständig planen und organisieren und verlässliche und produktive Arbeitsbeziehungen zu ihren Mitschülern aufbauen.

c)   Durch Partner/Gruppenarbeit sollen die Kinder am Modell der Klassengemeinschaft die Bedeutung des Miteinander erleben. Einander vorlesen, sich vorrechnen, sich gegenseitig helfen fördert das Sozialverhalten und die soziale Kompetenz der Kinder.

… Der Gleichschritt und die Gleichheit  des Lerninhaltes und der Lernziele sind Unterrichtsformen, die der Komplexität und der Heterogenität der heutigen Schulanfänger nicht mehr gerecht werden. (a. a. O. S.29,30)
Kinder lernen effektiver, wenn sie ihr Lernen aktiv mitgestalten können….
a. a. O. S.30)

…. Letztendlich geht es bei allen reformpädagogischen Bemühungen immer auch um die Beantwortung der Fragen:

KAPITEL 2
Früherkennung schulischer Lernstörungen
Geht das und hilft das den Kindern?

2.1  Ein neuer Lebensabschnitt beginnt

… Die Erfahrungen, die Kinder vor und in der Eingangsphase in der Grundschule machen, prägen ihre weitere persönliche Entwicklung entscheidend mit (Einsiedler 1988)…. (a. a. O: S.32)
….
2.2. Lernprobleme schon in der Schultüte?
Während sich für die Mehrzahl der Kinder die erhofften Lernerwartungen erfüllen, gelingt es einigen nicht, mit dem Gros der Klasse Schritt zu halten und die angestrebten Lernziele zu erreichen. Tietze und Roßbach (1993) berichten, dass nahezu jedes fünfte Kinde, d. h. 20% der Kinder bis Ende des vierten Grundschuljahres, mindestens einmal segregiert, d.h. zurückgestellt wird, eine Klasse wiederholen muss oder auf eine Sonderschule überweisen wird. Etwa 7 % dieser Kinder werden als >nicht schulfähig< zurückgestellt, wobei der Prozentsatz dieser Kinder von Bundesland zu Bundesland, aber auch von Schule zu Schule beträchtlich variiert. 1,8 % der Kinder wiederholen die erste Klasse und 3,3  % die zweite Klasse. Die Klassen drei und vier wiederholen weitere 3 % der Kinder. Zwischen 0.5 % und 1 % der Kinder werden auf eine Sonderschule überwiesen. Diese Zahlen belegen eindrucksvoll, dass der Schwerpunkt des schulischen Versagens der Kinder eindeutig innerhalb der ersten beiden Grundschuljahre liegt…
Aus zahlreichen wissenschaftlichen Untersuchungen wissen wir, dass ca. 10 bis 15 % der Kinder isolierte Lese /Rechtschreibschwierigkeiten entwickeln, wobei  ca. 4 bis 6 % der Kinder davon besonders schwer betroffen sind. Auch Breuer und Weuffen (1994) belegen den hohen Anteill von ca.  1 bis 20 % von Kindern, die im Anfangsunterricht beständige Schwierigkeiten beim Lesen- und Schreibenlernen aufweisen. Bei ca. 6 % der Kinder (Lorenz 1993) manifestieren sich ausgeprägte Rechenstörungen. Gaddes (1991)  referiert  epidemiologische Studien, denen zufolge in verschiedenen Ländern übereistimmend nahezu 10 bis 15 % aller Kinder an behandlungsbedürftigen Lernstörungen leiden. (a. a. O: s.33,34)

2.4  Die langfristige Entwicklung von Kindern mit Lernstörungen

… Studie von Esser und Schmidt (1993)  … aus einer repräsentativen Stichprobe achtjähriger Kinder…, deren Entwicklung bis ins Erwachsenenalter verfolgt werden konnte..

 

Mittendrin e. V. (Hrsg.)

Eine Schule für alle
Inklusion umsetzen in der Sekundarstufe

Verlag an der Ruhr, Müllheim an der Ruhr 2012
ISBN 978-3-8346-0891-8
Geeignet für die Klassen 5 – 13

1 Zu Beginn: Schlüssel zur Inklusion

Vorwort
Deutschlands Schulen stehen vor einem Wandel. Mit der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sollen nun auch hierzulande Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf gemeinsam mit den anderen Schülern lernen…
Wer das Lernen normiert, verschleudert Talente. Diese Erkenntnis hat schon Jahre vor der aktuellen Inklusionsdebatte dazu geführt, dass z.B. das Land Nordrhein-Westfalen die >individuelle Förderung< der Schüler im Schulgesetz verankert hat. Es ist nun an der Zeit, dies in den Schulen umzusetzen. …  (a. a. O. S.8)
Inklusion – das selbstverständliche Zusammensein und –lernen ganz unterschiedlicher Menschen – ist ein hoher Anspruch…
Dies beginnt damit, dass zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches unter allen Bundesländern nur Hamburg Schülern mit Behinderung das Recht auf den Besuch einer allgemeinen Schule zugestanden hat…
… Überall in Deutschland werden Schüler mit Behinderung einem amtlichen Gutachtenverfahren unterzogen und im Ergebnis dessen mit einem >Förderschwerpunkt< etikettiert… Auch dies widerspricht jedoch der Inklusion, weil es Normalität verhindert und den Schüler amtlich zu einem Sonderfall macht… Die Entwicklung einer inklusiven Pädagogik wird dadurch massiv behindert. (a. a. O. S.9)
… Nach fünfzig Jahren Ausbau des Systems der Sonderschulen gibt es in den allermeisten Schulen seit Jahrzehntgen schlichtweg keine Schüler mit Behinderung… (a. a. O. S.10)

WER WILL DENN SCHON NORMAL SEIN?
Zum Begriff der Behinderung
>So wie der eine blond ist, habe ich eben das Down-Syndrom
<
Pablo Pineta, Pädagoge und Schauspieler, Die Presse vom 17.7.2010

Wir werden in diesem Buch den Begriff Behinderung benutzen, wohl wissend, wie umstritten er ist – ganz einfach, weil es bis heute keinen unumstrittenen besseren und nicht diskriminierenden Begriff gibt… Auch der Ersatz … durch den Begriff Beeinträchtigung ist kein wirklicher Quantensprung. Ebenso wenig die Verwendung von Anglizismen wie Handicap oder Umschreibungen wie >anders begabt< oder >besonders begabt<. Der Kern des Problems mit dem Begriff Behinderung liegt an anderer Stelle. Er liegt in der Unterscheidung von Menschen >mit< und >ohne< und damit in der Konstruktion von zwei unterschiedlichen Gruppen, von denen die eine als normal definiert ist und die andere eben als nicht normal….
>Niemals würde ein Mathematiklehrer einen Tierpfleger wegen seiner wahrscheinlich nicht übermäßig vorhandenen Mathekenntnissen als behindert bezeichnen… (a. a. O. S.11) … Ich kenne keinen contergangeschädigten Menschen, der alle anderen, die nicht z. B. mit den Füßen schreiben oder essen können,  als behindert bezeichnet….

Die Bewegung der Menschen mit Lernschwierigkeiten hat dies auf den Punkt gebracht, indem sie ihre Organisationen >People first< …hierzulande >Mensch zuerst< genannt hat… (a. a. O: S.12)
Es geht nicht darum, Schüler mit Behinderung so weit zu bringen, dass sie sich den Bedingungen einer Schule anpassen, die für imaginäre Durchschnittsschüler konzipiert ist. Es geht darum, dass Schulen ertüchtigt werden, sich auf die Bedürfnisse jedes einzelnen Schüles einzustellen und Barrieren für seine Teilhabe einzureißen. …

DAS LEBEN IST VIELFÄLTIG – DIE SCHULE WIRD ES AUCH
Schritte zum pluralistischen Lernen in einer >Schule für alle<

… je nach Bundesland … für sieben amtlich festgestellte Behinderungsformen… um Gruppen zu erhalten, die dann im Gleichschritt lernen können…  Die einen Schüler langweilen sich, die anderen sind überfordert. Dem Lehrer bleibt die unbefriedigende Pflicht, dies möglichst >gerecht< mit Noten zu dokumentieren, und schnell regiert in den Klassenzimmern der Frust. Unnötig zu erklären, dass unter diesen Bedingungen kein Schüler optimal gefördert wird. (a. a. O. S.13)

…. Aus dem Lernen im Gleichschritt wird ein pluralistisches Lernen: Individuelle Lernziele, individuelle Lernwege müssen gleichberechtigt miteinander lebbar sein, damit jeder Schüler sich an seinem Ort >richtig< fühlen kann. (a. a. O. S.14)

… Pluralistisches Lernen berücksichtigt die Einmaligkeit jeder Person und basiert auf der Überzeugung des für alle Menschen gleich geltenden Rechts, diese Einmaligkeit auch ausdrücken zu können. Ein Schulsystem, das diese Einmaligkeit nicht berücksichtigt ignoriert die Person mit der es zu tun hat… bestehend aus einem einmaligen multi zellularen Code, ohne auch nur ein einziges humanes Äquivalent (vgl. HECHT 2002, BOBAN & HINZ 2008),,,,

Because we can change the world< Mario SAPON SHEVIN, Professorin für inclusive Pädagogik
Die Veränderung der Mikrokosmen hin zu willkommen heißenden, stärkenden Gemeinschaften ist machbar. Und (nur?) so kann es auch zu >Großtaten< auf gesellschaftlicher Ebene kommen. Wir müssen entscheiden, welche Werte und welche Ziele unser Handeln bestimmen sollte – und daraus Konsequenzen ziehen. (a. a. O. S.15,16)

SCHÜLER MIT BEGABUNG

Das Thema Hochbegabung ist ein sehr komplexes Thema, viele verschiedene Anzeichen können auf Hochbegabung hindeuten…
… Aufschluss bringt ein Intelligenztest bei einem Psychologen, der Erfahrung mit Hochbegabung hat. Es gilt natürlich den Hochbegabten zu erkennen, und seinen individuellen Eigenschaften im Unterricht bestmöglich entgegenzukommen und die Lernfreude und Motivation durch ständige Herausforderungen zu erhalten. (a. a. O. S.183)

Christiane Poschlad ist Grundschullehrerin und bietet bei der DGHK Lehrerfortbildungen zur Begabtenförderung an.
…. Spezifische Schwierigkeiten wie…

… Eltern erhalten z. B. Hilfe bei der Deutschen Gesellschaft für das hochbegabte Kind. (a. a. O. S.184)
… Prinzipiell unterscheidet man zwischen der so genannten Akzeleration, das heißt einer Beschleunigung der Schullaufbahn (z.B. durch Überspringen von Klassen), und der Anreicherung des Unterrichts, dem sogenannten Enrichment… (a. a. O. S.183)

Drehtürmodell
Beim Drehtürmodell ist es dem Schüler erlaubt, dem stundenplanmäßigen Unterricht in klar definierten Teilen fernzubleiben. Der Schüler arbeitet dann nach festen Regeln an einem Thema/Projekt, das nach seinen besonderen Begabungen angelegt ist… (a. a. O. S.187)

GEHÖRLOSE UND SCHWERHÖRIGE KINDER
Magdalena Grzyb ist Studentin der Sonderpädagogik (auf Lehramt) mit den Förderschwerpunkten Lernen (LE) und Hören und Kommunikation (HK) und hat an der Gerricus-Förderschule in Düsseldorf unterrichtet.

Gehörlose Schüler
Ein gehörloses Kind kommt in ihre Klasse?
– Viele dieser Kinder, die zumeist hörende Eltern haben, haben kein vergleichbar ausgebildetes Sprachsystem, wie es hörende Schüler haben. An der Lautsprache können sie nicht teilhaben; eine Sprache, die ihren Bedürfnissen angemessen wäre (Gebärdensprache), beherrschen die Eltern in der Regel nicht. Somit kann keine adäquate Erstsprache vermittelt werden. Allein die Kinder gehörloser Eltern haben die Möglichkeit, durch interaktive Kommunikation in der Familie die Gebärdensprache altersgemäß zu erlernen. Aus der Sprachwissenschaft ist bekannt, dass Kinder ohne ausgebildete Erstsprache eine weitere Sprache – hier die deutsche Lautsprache – nur schwer erlernen können.
Oft lernt ein gehörloses Kind >seine< Gebärdensprache erst in der Schule. Entweder im oder durch den Unterricht, je nachdem, wie das pädagogische Konzept der Schule aussieht, oder durch Mitschüler auf dem Schulhof.
Auch für die Sekundarstufe gilt deshalb: Ein gehörloser Schüler in Ihrer Klasse hat einen unbekannten Sprachstand, den Sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht überprüfen können. Ein einziger Test kann in einem aufwändigen Verfahren die Gebärdensprachkompetenzen von Kindern erfassen (Aachener Testverfahren zur Deutschen Gebärdensprache , AFG). …. (a. a. O. S.198) … Fragen Sie die Eltern, Frühförderer, Erzieher und im besten Fall eine gehörlose gebärdensprachkompetente Person, wie die (Gebärden-)Sprachkompetenz des Kindes aussieht.
Ein sehr komfortabler Zustand ist, wenn dem gehörlosen Schüler ein Dolmetscher zur Verfügung steht, der die Inhalte des Unterrichts und jegliche Kommunikation und im umgekehrten Fall die Äußerungen des Kindes versprachlichen kann. Falls dies gewährleistet ist, sollte darauf Acht gegeben werden, dass der Schüler nicht über den Dolmetscher Kontakt mit den anderen Schülern hat, sondern sie sollen von sich aus in Kommunikation treten. So erlernen die anderen Schüler, mit dem gehörlosen Kind zu kommunizieren, und es können sich dauerhafte Freundschaften bilden. Falls allerdings kein Dolmetscher zu Verfügung stehen wird, sind einige Dinge zu beachten.
… Gehörlose Menschen sind … immer auf visuelle Reize angewiesen, auch was das Absehen betrifft. Absehen bedeutet, Lautsprache vom Mund >abzulesen<. Manche gehörlose Menschen können das sehr gut, andere wiederum nicht so sehr. Dennoch ist ein deutliches Mundbild immer eine Unterstützung der gesprochenen Sprache, weshalb man stets Blickkontakt halten sollte.
Auf den Klassenraum bezogen bedeutet dies, dass Sie bitte nicht sprechen, wenn Sie sich zur Tafel drehen, bzw. beim Tafelschrieb selbst… Auch die anderen Schüler sollen so sprechen, dass der Gehörlose die sprechende Person sehen kann. Am besten funktioniert dies, indem Sie die Schüler in einem Halbkreis anordnen. Falls das nicht möglich ist, wäre ein Drehstuhl nützlich, mit dem der Schüler schnell reagieren und sich zuwenden kann. Setzen Sie den gehörlosen Schüler mit dem Rücken zum Fenster. So schaut er nicht ins Licht, und die anderen Personen können gut gesehen werden. Bitte achten Sie darauf, dass Sie nicht überartikulieren, denn so wird das Mundbild verzerrt… Benutzen Sie unterstützend natürliche Gestiken und Mimiken… Um zu überprüfen, ob der Schüler einen Sachverhalt verstanden hat, lassen Sie ihn wiederholen.
einem Unterricht, in dem nur gesprochen wird, wird er auf Dauer nicht folgen. Zum einen versteht er nicht, worum es geht und was behandelt wird, zum anderen ist es immens anstrengend, sechs Stunden oder mehr am Tag von den Lippen zu lesen ... (a. a. O. S.199,200)  Unterricht ohne die Deutsche Gebärdensprache oder mindestens lautsprachbegleitende Gebärden wird aller Voraussicht nach nicht erfolgreich funktionieren.
Die Deutsche Gebärdensprache  (DGS) ist eine eigene Sprache mit eine eigenen Grammatik etc.
Viele gehörlose Menschen haben bis ins Erwachsenenalter, durchaus auch ein Leben lang Schwierigkeiten mit der Schriftsprache. Sie können texte zwar lesen, doch haben sie oft Schwierigkeiten beim Textverständnis….
Sinnvoll ist ein konstanter und bilingualer  Deutschunterricht. Sprachen miteinander zu vergleichen… Die Empfehlung hierbei ist, dass Sie zwei Lehrer einsetzen: einen hörenden und sprechenden für den Deutschunterricht und einen gehörlosen für den Unterricht der Deutschen Gebärdensprache – und als Vorbild…  Wenn Sie Filme zeigen, müssen es Filme mit Untertitel sein.. (a.  a. O. S.200)  …

Schwerhörige Schüler

Bei schwerhörigen Schülern verhält es sich in vielen bereits geschilderten Punkten ähnlich. Schwerhörige Kinder / Jugendliche haben unterschiedlichen Hörstatus, das bedeutet, dass sie unterschiedlich gut (oder schlecht) hören…  Zusätzlich muss darauf geachtet werden, dass Störgeräusche, so weit wie möglich, ausgeschaltet werden. Nebengeräusche, wie z. B. Straßen-, Kinder- oder Baustellenlärm, können mehr Aufmerksamkeit  beim Kind erregen als der Unterricht. Um den Nachhall in der Klasse zu verringern, ist es ratsam, einen Teppich auszulegen. Falls Sie die Möglichkeit haben, benutzen sie einen Klassenraum, der nicht quadratisch oder rechteckig ist, damit der Schall nicht immer zwischen zwei Wänden, sondern mehrfach reflektiert wird, was Nachhall verringert. Ebenso hilft das Anbringen von Gardinen, Stoffen oder Styropur an der Wand… (a. a. O. S.201) Eigentliche Voraussetzung zur besseren Ausnutzung der Hörreste des Schülers sollte eine bewusste Gesprächstaktik innerhalb der gesamten Klasse sein. Hierbei gilt, dass immer nur eine Person spricht und deutlich wird, welche Person als Nächstes sprechen wird…
Jedes menschliche Ohr brauch seine Ruhepausen… Diese kann z.B. die Phase der Einzelarbeit sein…

Fazit

Gehörlose oder schwerhörige Schüler sind kognitiv oft gleichauf mit ihren hörenden Mitmenschen gleicher Jahrgangsstufe….
www.audiotherapie-blochius.de/downloads/netzwerkbakurz.pdf 

[sehr lesenswerter Betroffenenbericht] (a. a. O. S.202)

SCHÜLER MIT SCHWERSTEN EINSCHRÄNKUNGEN

Renate Metzner ist Sonderpädagogin und hat in integrativen Klassen der Sophie-Scholl-Oberschule in Berlin gearbeitet

Sie erfahren: Ihre Klasse wird einen Schüler mit >Mehrfachbehinderung< haben. Was hat das zu bedeuten?  >Schwer< und auch noch >mehrfach< Vermutlich ist Ihr erstes Gefühl Angst vor dem Unbekannten…
Genauso ging es vor einigen Jahren den Eltern dieses Kindes. Auch sie waren auf einmal mit der Tatsache konfrontiert, ein Kind mit mehreren sehr schweren Behinderungen zu haben. Sie haben es im Laufe der Zeit gelernt, dieses Kind zu lieben, so wie es ist und so mi ihm umzugehen, dass es sich wohl fühlt und sich im Rahmen seiner Möglichkeiten entwickeln kann….
Zunächst werden Sie bemerken, was dieser Schüler – immer im Vergleich mit den anderen – nicht kann… (a. a. O. S.203)
Um… Perspektiven für die Entwicklung und Förderung dieser Kinder und Jugendlichen zu gewinnen, sprechen wir von >Kindern/Jugendlichen mit elementaren Lernbedürfnissen<.

Beobachtung einzelner Bereiche

….Hier kommt es auf sorgfältige Beobachtung in den einzelnen Bereichen an:

(a.          a. O. S.204)  … Die Mitschüler werden bei der Kontaktaufnahme nach und nach sensibler werden. Vielleicht finden sie schneller als die betreuenden Erwachsenen heraus, was ihr Mitschüler gern hat… Sie sind unbefangen und robust im körperlichen Umgang…

BEISPIELE FÜR MÖGLICHE ZIELSETZUNGEN

Aus all diesen Beobachtungen folgt ein individueller Plan für die Förderung in den jeweiligen Bereichen der Motorik, Kommunikation und sozialen Beziehungen, Autonomie und Versorgung usw. Ein paar Beispiele  für mögliche Zielsetzungen:

·         Der Schüler soll lernen, eindeutig ein „Nein“ zu signalisieren.

·         Der Schüler soll lernen, einen Gegenstand abzutasten und ihn von anderen Gegenständen zu unterscheiden.

·         Der Schüler soll lernen, beim Ausziehen seine Arme locker zu halten:

·         Der Schüler soll lernen, Vibrationen eines Musikinstruments wahrzunehmen.

·         Der Schüler soll eine bestimmte Person kennen lernen.

Generelle Ziele sind die Teilhabe an allen Aktivitäten der Lerngruppe, das permanente Lernen über alle Sinne und das Erhalten sowie geben von Zuwendung,
…Leitgedanke: Wie kann mein Schüler im Rahmen der gesamten Klasse oder einer Teilgruppe an der Lernsituation teilhaben und davon profitieren? Die Möglichkeit variieren je nach Fach und Thema… (a. a. O: S.205) … Befinden sich mehrere Schüler mit Behinderung in einer Klasse oder n der Schule. So können Sie zusätzliche Lernangebote im lebenspraktischen Bereich einführen. Bewährt haben sich die Bereiche Hauswirtschaft (Einkaufen, Kochen, Waschen usw.), Theater und Rollenspiele, Gartenarbeit, Bewegung im Wasser. Diese Einheiten können parallel zum regulären Unterricht stattfinden. Dabei sollten ein Schüler mit elementaren Lernbedürfnissen, Schüler mit anderen Beeinträchtigungen uns Schüler ohne Behinderung in einer Kleingruppe von sechs bis acht zusammenarbeiten …

Welche personellen und räumlichen Rahmenbedingungen sind erforderlich?

Es wird ein Pädagogenteam gebraucht.. Für einen Schüler mit elementaren Lernbedürfnissen muss mindestens ein Mitarbeiter überwiegend zuständig sein… mindestens eine weitere Person… sollte … dem betroffenen Schüler nahestehen und ihn gegebenenfalls versorgen können. Dieser Schüler braucht konstante Beziehungen noch mehr als andere… (s. s. O. S.206) Der Klassenraum sollte mit Arbeitsecken für verschiedene Tätigkeiten eingerichtet sein…  der Kontakt zwischen Schule und Eltern… muss… unbedingt gepflegt werden… Kontakte der Eltern untereinander… Tag der offenen Tür… Der Schüler bekommt ein Zeugnis mit verbaler Beurteilung über seine Aktivitäten und Lernfortschritte…. Sie können Situationen fotografieren und filmen. Aus diesem Material können Sie zusammen mit einigen Mitschülern Bücher herstellen…
Der Schüler mit elementaren Lernbedürfnissen wird in seiner Klasse einen abwechslungsreichen Schultag erleben, mit vielen Sinneseindrücken und persönlichen Kontakten. Er genießt damit eine hohe Lebensqualität. Alle Pädagogen und Schüler können erfahren, was Leben alles bedeuten kann. Sie kommen vielleicht zu der Erkenntnis, dass ein Mensch nicht permanent etwas leisten muss, um anerkannt, wertgeschätzt und geliebt zu werden. So kann das gemeinsame Leben und Lernen zu einer Bereicherung für alle werden. (a. a. O. S.207)

NACHTEILAUSGLEICH

…..

BEISPIELE FÜR EINEN NACHTEILAUSGLEICH

…. (a. a. O. S.208)

       

UNTERRICHTSEINHEIT: WIR SIND ALLE VERSCHIEDEN VERSCHIEDEN …
(a. a. O. S.229)
… Unsere Interpretation: Besonders das letzte Beispiel … Fabian ist 16. Mit Hilfe eines Computers verständigt er sich mit anderen Menschen…
scheint zu verdeutlichen, dass vor allem junge Schüler durch den Umgang mit den Besonderheiten ihrer Mitschüler eben diese Besonderheiten als zu einem Menschen gehörig erleben. Dies eröffnet ihnen die Möglichkeit mit großer Offenheit und Toleranz  anderen zu begegnen… (a. a. O. S.233)

….

EXKURS / SCHWERBEHINDERTES PERSONAL
Anette Kellinghaus-Klingenberg ist Diplom-Sozialpädagogin an der
Gesamtschule Köln-Holwiese

Ich bin schwerbehindert und auf den Rollstuhl angewiesen. … Ich messe ca. einen Meter, trage Hörgeräte, fahre selbständig Auto, bin verheiratet und habe im Beruf Arbeitsassistenz und im Haushalt eine Haushilfe…
Das gemeinsame Leben von Menschen mit und ohne Behinderung gewinnt für die Schüler erheblich an Überzeugungskraft, wenn es auch für die Erwachsenen selbstverständlich ist… (a. a. O. S.311)



Micha Brumlik, Stephan Ellinger, Oliver Hechler, Klaus Prange
Theorie der praktischen Pädagogik
Grundlagen erzieherischen Sehens, Denkens und Handelns

W. Kohlhammer GmbH + Co. KG., Stuttgart 2013
ISBN 978-3-17-023661-S
1 Einführung
Stephan Ellinger und Oliver Hechler
Die >Pädagogik ist die Wissenschaft, deren der Erzieher für sich bedarf< (Herbart 1964, 22). So führt Johann Friedrich Herbart 1806 in seine Abhandlung über >Allgemeine Pädagogik, aus dem Zweck der Erziehung abgeleitet< ein. So knapp diese Feststellung daherkommt und so trivial sie sich liest – das, was Herbart 1806 formulierte, ist bis heute weithin Forderung geblieben… (a. a. O: S.7)
… Der Überblick zu den aktuellen Werken zur theoretischen Pädagogik bleibt unvollständig und auch in theoriegeschichtlicher Hinsicht werden viele >große< Namen und Werke der Pädagogik nicht genannt… (a. a. O. S.8)
… Zum anderen geht es in den folgenden Ausführungen gar nicht um eine weitere Allgemeine Pädagogik, sondern vielmehr um einen weiteres enzyklopädisches Werk, sondern vielmehr um einen Tatbestand, den Kühnel 1920 mit Blick auf die pädagogische Theorie und erzieherische Praxis folgendermaßen umreißt: >Genau in dem Maße, wie die Wissenschaft der Medizin – in Verbindung mit der Praxis – den Arzt >macht<, so >macht< die theoretische Pädagogik – in Verbindung mit der Praxis – den Erzieher (Kühnel 1920, 21)….
Der pädagogische Blick des Erziehers, folgt man sinngemäß Corvisart (1808), >der so oft über die umgängliche Gelehrsamkeit und die solideste Ausbildung den Sieg davon trägt. Ist nur das Resultat des häufigen, methodischen und richtigen Gebrauchs der Sinne…
Und Herbart bringt den angedeuteten Sachverhalt bereits im Jahre 1802 auf den Punkt, indem er feststellt:>Nun schiebt sich aber bei jedem noch so guten Theoretiker, wenn er seine Theorie ausübt […], zwischen die Theorie und Praxis ganz unwillkürlich ein Mittelglied ein, ein gewisser Takt [kursiv im Original] nämlich, eine schnelle Beurteilung und Entscheidung, die nicht wie der Schlendrian, ewig gleichförmig verfährt, aber auch nicht, wie eine vollkommen durchgeführte Theorie wenigstens sein sollte, sich rühmen darf, bei strenger Konsequenz und in völliger Besonnenheit an die Regel, zugleich die wahre Forderung des individuellen Falls ganz und gar zu treffen< (Herbart 1802, 44)…. (a. a. O. S.9)
Taktvolles Handeln der erzieherischen Persönlichkeit äußert sich  … Jakob… Muth zufolge als die Fähigkeit zur Situationssicherheit, als dramaturgische Fähigkeit, als improvisatorische Gabe und als Wagnis zu freien Handlungsformen. Ein >taktvoller< Erzieher ist damit in der Lage, eine gelassene Haltung einzunehmen, die ihn für Unvorhergesehenes offen hält (Muth 1967, 77)… Dann verweist Muth (ebd.) auf die Bedeutung der Natürlichkeit des Handelns des Erziehers. Auf der einen Seite muss es dem Erzieher möglich sein, sein erzieherisches Handeln im Sinne einer >Seins-Autorität< (Fromm 1976) zu verwirklichen und nicht im Sinne einer >Habens-Autorität< (ebd.) künstlich zu kultivieren. >Der springende Punkt ist, ob man Autorität hat oder ob man eine Autorität ist< (Fromm 1976, 298)… Schließlich geht es um die Vermeidung von Kränkungen im erzieherischen Verhältnis… (a. a. O. S.10)
… Vom Säugling bis zum alten Menschen ist es unhintergehbar das menschliche Lernen mit all seinen Schwierigkeiten, auf das es die Pädagogik und die Erziehung abgesehen haben. In einem zweiten Schritt geht es dann darum, gewissermaßen in differentialdiagnostischer und differentialindikativer pädagogischer Absicht, diese Probleme des Lernens auf ihr Wesen hin zu befragen, um Erkenntnis darüber zu erlangen, welcher  Lernbedarf dem Lernproblem zu Grunde liegt. ..-. Wissen darüber…., was der Mensch im Angesicht der Anforderungen seiner  Lebenspraxis und vor dem Hintergrund seines Lebenslaufs bisher gelernt hat, was bislang noch nicht gelernt wurde, aber nötig wäre oder was noch in Zukunft gelernt werden soll,,, (a. a. O. S.11)
… Erst durch die lernende Aneignung von Fertigkeiten, von Wissensbeständen und von Willenseinstellungen gelingt es dem Menschen, sukzessiv sein Leben, soweit es möglich ist, in personaler Selbstbestimmung zu gestalten… (a. a. O. S.12)
… Wäre sozialisatorische Interaktion die einzige Antwort auf die Erziehungsbedürftigkeit des Menschen, würde der Mensch nicht überleben. Weder die anlagebedingten noch die umweltbedingten Aktions- und Reaktionsbereitschaften könnten angemessen auf die Erziehungsbedürftigkeit es Menschen reagieren. Dies vermag ausschließlich die Erziehung… (a. a. O. S.13)
.. Und somit stellt das erzieherische Verhältnis, in dem Themen mit Blick auf aneignendes Lernen zeigend vermittelt werden, den  zentralen Parameter der Personwerdung dar, der sich kategorial
 von den psychischen Parametern, den biologischen Parametern und den sozialen Parametern unterscheidet…
Ob nun Mündigkeit begriffen wird als die Fähigkeit zum Eigendenken (Kant), als herrschaftsfreier Vernunftgebrauch auf der Basis der Selbstreflexion (Habermas), als die individuelle Bewährung in der Gemeinschaft (Rousseau) oder als gebildete Individualität (Humboldt), immer geht diesem Zustand ein Lernprozess voraus…. (a. a. O. S.14)
… Im Zentrum dieser Ausführungen steht zunächst die Darstellung des pädagogischen Aufbaus der Person als Ensemble von Themen aus den Lernbereichen des Könnens, Wissens und Wollens. Wirkt der Aufbau der Person zunächst noch sehr statisch, so wird dieser durch zwei Sachverhalte dynamisiert. Zum einen bewegt sich der Mensch in einem Kreislauf von Lernen, Lernhemmungen und Lernhilfen (Loch 1999)… Zum anderen bewegt sich der skizzierte Kreislauf gewissermaßen über den Lebenslauf und die Lebensalter hinweg. Das heißt, dass zum Beispiel die (Lern-)Themen des Könnens im Kleinkindalter völlig andere sind als im Jugend- oder späten Erwachsenenalter…
Schließlich muss noch das >Pädagogische Ethos< (Kapitel 4) oder bessere: auf das Ethos der Erziehung eingegangen werden… (a. a. O. S.15)

… Auch besteht darüber hinaus unter Fachleuten kein Konsens hinsichtlich der Aufrechterhaltung und Weiterverwendung des Begriffs Pädagogik. Verflüchtigte sich dieser schon im Laufe der 1960er Jahre – aus der >alten< (geisteswissenschaftlichen) Pädagogik wurde die >neue< (sozialwissenschaftlich ausgerichtete) Erziehungswissenschaft –, so geht heute der Trend in Richtung (empirischer) Bildungswissenschaft. Durch Entsorgung des Pädagogischen, nämlich der Erziehung, ist, so scheint es zumindest, der Anschluss an eine sich selbst empirisch-naturwissenschaftlich (miss-)verstehende  Humanwissenschaft möglich geworden. Ob diese Entwicklung dem gattungsspezifischen Phänomen der Erziehung gerecht wird oder mit dieser gar nichts mehr zu tun hat und haben will, bleibt abzuwarten. Für dieses Buch gilt aber die begründete Annahme, dass es die Pädagogik in zweierlei Hinsicht gibt. Zum einen als Wissenschaft und zum anderen als professionelle Berufspraxis. Dass ein Großteil der ‚Erziehung‘ von pädagogischen Laien – ganz voran die Eltern – geleistet wird, bleibt von dieser Bestimmung unberührt… (a. a. O. S.16)

2         Pädagogisches Wissen
2.1 Grundlagen einer pädagogischen Anthropologie
Micha Brumlik

2.1.1. Drei Mythen und ihre Kritik
… Die drei Mythen, die … Steven… Pinker …in… >Das unbeschriebene Blatt… zerstören will, sind die des Menschen als eines leeren Blattes, eines unbegrenzt lernfähigen und konditionierbaren Wesens, des >Dualismus von Geist und Körper<, also der Mythos vom >Geist in der Maschine<, sowie schließlich des >Edlen Wilden< …. So stehe der Empirismus John Lockes für die Überzeugung des menschlichen Geistes als einer tabula rasa, der Mentalismus des René Descartes für einen Leib/Geist Dualismus und Jean Jacques Rousseau für den Glauben an einen von Natur aus guten, von keinerlei angeborenen aggressiven Impulsen getriebenen Menschen…. (a. a. O. S.19,20)
… David Rowe (1997) … konnte… in seiner bahnbrechenden Studie über >Genetik und Sozialisation (1997) nachweisen, dass die meisten sozialisationstheoretischen Studien bezüglich des Einflusses des Elternhauses wenn schon nicht falsch, so doch zumindest wertlos sind, da sie in den allermeisten Fällen den möglichen genetischen Einfluss nicht überhaupt mitkontrolliert haben. Demgegenüber können Zwillings- und Adoptionsstudien den erheblichen Einfluss genetischer Faktoren in wesentlichen Dimensionen beweisen… Der von Pinker kritisierte zweite Mythos, der Geist/Körper ‚Dualismus, …., ist in den letzten Jahren nicht zuletzt durch die experimentell verfahrende neurobiologische Hirnforschung widerlegt worden, die die relative Spezifität von Kompetenzen und Dispositionen in Bezug auf bestimmte Hirnareale nachweisen konnte Damit sei – so Pinkers weitergehende Schlussfolgerung  – die Hoffnung, im menschlichen Gehirn ein besonders leistungsfähiges, sich im Lauf der Sozialisation ständig flexibel weiterentwickelndes Lernorgan sehen zu können, widerlegt. (a. a. O. S.20,21) … Schließlich – was den dritten Mythos vom guten Wilden im Sinne des Rouseauismus betrifft – können sowohl Zwillings- als auch Adoptionsforschung, vor allem aber evolutionstheoretische und evolutionspsychologische Annahmen Folgendes plausibel machen: dass Aggressivität – also zumal bei männlichen Gattungsangehörigen angelegte Dispositionen zur Erweiterung ihres  Territoriums, zum aktiven Werben um Weibchen und zum Kampf gegen Konkurrenten – eine nicht nur für die Gattung homo sapiens und ihre Mitglieder sinnvolle Verhaltensdisposition ist… (Plomin 1999; Pinker 2003, 425f.)
Pinkers naturwissenschaftlich gestützter Abschied von der Traditionslinie Locke, Descartes und Rousseau lenkt den Blick auf deren Antipoden, nämlich auf Leibniz, Spinoza und Hobbes, also auf jene Philosophen des Rationalismus, die auf der relativen, durch Lernen nicht modifizierbaren Undurchdringlichkeit jeder Individualität, ihrer strikten Zugehörigkeit zur Natur sowie ihrer unausrottbaren, allenfalls einschränkbaren Aggressivität bestehen. Dem sind neuere Trends in der Sozialwissenschaft gefolgt…(Luhmann/Schorr 1982; Luhmann 2002¸Radtke 2003)… (a. a. O. S.21)

2.1.2  Hermeneutik der Naturgeschichte

… in Kants Vorlesungen über Pädagogik … heißt [es]: >Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muß […]<. Disziplin oder Zucht ändert die Tierheit in die Menschheit um… Der Mensch braucht… eigene Vernunft. Er hat keinen Instinkt… Die Menschengattung… >soll die ganze Naturanlage der Menschheit, durch ihre eigene Bemühung, nach und nach von selbst herausbringen.< (Kant 1970, 697) … der Mensch… >… ist nichts, als was die Erziehung aus ihm macht< … Wäre im Sinn dieser Wissenschaften … von Soziobiologie, Zwillingsforschung, neurobiologischer Gehirnforschung… nicht viel eher zu behaupten, dass der Mensch das ist, was die Evolution aus ihm gemacht hat?... (a. a. O. S.22)
Diese Frage zu beantworten , bedarf es einer >Hermeneutik der menschlichen Naturgeschichte, wie Jürgen Habermas diese Thematik genannte hat.. (Habermas 1999,30) Dem Spannungsverhältnis von >Natur< und >Kultur< galten schon die Reflexionen der klassischen antiken Philosophie…. Diese Überlegung verdichtet sich bei Platon und Aristoteles in dem Gedanken, dass insbesondere menschliche Gewohnheiten zu Natur werden, mehr noch, dass am Ende – so der hellenistisch-jüdische Philosoph Philo – andauernde Gewohnheit stärker sei als Natur…  bei Cicero (1989, V.25, 74) wird dann der Begriff einer anderen, einer zweiten Natur explizit artikuliert… (a. a. O. S.23)
Rousseaus Rede von der Mithilfe der menschlichen Freiheit bei der Aufrechterhaltung der menschlichen Maschine, d.h. des biologischen Substrats, bezieht sich systematisch auf jenen Übergang von Natur zu Kultur, von der ersten zur Zweiten Natur, der sich nicht nur vor Millionen Jahren phylogenetisch ereignet hat, sondern sich in menschlichen Lebensläufen in der Ontogenese bei jeder Geburt mehr oder minder gelungen vollzieht… (a. a. O. S.25) Während die natürliche Evolution nichts anderes darstellt als einen außerordentlich langsam verlaufenden, zufallsgesteuerten … auf Selektion beruhenden Prozess, verläuft die kulturelle Evolution nicht nur schneller, sondern bedient sich auch anderer Mechanismen. Betrachtet man den Hominisationsprozess insgesamt und damit die Tatsache, dass sich die Gattung>Homo< vor sechs Millionen Jahren von anderen, artverwandten Affen abspaltete und das es wiederum 250 000 Jahre her ist, dass  der >Homo sapiens< entstanden ist, muss es verwundern, dass es diese Gattung in nur 15 000 Jahren gelungen ist, vom Hersteller einfacher Pfeilspitzen zur Konstruktion von Weltraumfahrzeugen… von irgendwie regelhaft beigesetzten Gebeinen zu hochkomplexen, wohlstrukturierten symbolischen Ordnungen wie wissenschaftlichen Theorien zu gelangen. (a. a. O. S.26)
… Freilich – und das kompliziert den Fall – wissen wir  inzwischen, dass die Gattung >Homosapiens< keineswegs die einzige biologische Art ist, die Verhaltensweisen und die ihnen zugrundeliegenden kognitiven und affektiven Dispositionen kulturell, d. h. über Imitationslernen überträgt…
Im evolutionären vergleich ist freilich der Vergleich mit den Menschenaffen, mit denen die Gattung >Homosapiens< mehr als 99% des Erbguts teilt, deswegen besonders aufschlussreich, weil sich hier… entsprechend höherstufige kulturelle Artefakte nicht herausgebildet haben… Allen Formen aber liegt eine besondere Form sozialer Kognition zugrunde, die in der neurobiologischen Forschung inzwischen als naive >theory of mind< bezeichnet wird, d.h. als nun in der Tat angeborene Disposition, andere Angehörige der Gattung als Wesen seinesgleichen zu schematisieren, d.h. sie als Wesen zu verstehen, die ebenfalls Intensionen haben, die nachvollziehbar sind und in die man sich hineinversetzen kann… (a. a. O. S.27) Die Fähigkeit, Verhaltensweisen kulturell,, d.h. durch <lernen zu tradieren, impliziert also bei Angehörigen der Gattung >Homo sapiens< die Disposition zur Ausbildung von Sinnverstehen, wenn wir denn >Verweisungszusammenhänge<, die als solche wahrgenommen werden,, als >Sinn< bestimmen wollen…
Laut Sigmund Freud und seinen Nachfolgern, bis hin zu Theoretikern, die einen nicht missbräuchlich konnotierten Begriff der Verführung als Basisoperation aller Erziehung und aller Sozialisation ansehen (Laplanche 1988)…  Ebenso sehr ist es endlich doch die der Gattung eigene menschliche Fähigkeit, Symbole zu verwenden und sich dabei tentativ in die Erwartungen, das Wissen und die Gefühle anderer hineinzuversetzen, die das Thema pädagogischer Anthropologie ist…. (a. a. O. S.28)
Der Mensch stellt ein animal symbolicum (Ernst Cassirer) dar, das … über die Ontogenese geführt…, ein nicht nur imitatorisches, sondern ein kreativ-distanziertes Weltverhältnis hat…. Wenn es zutrifft, dass jene Dispositionen, die symbolisches Handeln und Sinnverstehen ermöglichen, einschließlich der Fähigkeit, Sprachkompetenz auszubilden und Sprachperformanz zu entfalten, nur und ausschließlich durch Interaktionen in der Ontogenese aktiviert werden können, dann sind Erziehung und Sozialisation –ganz im Sinne Kants – für die Menschwerdung des Menschen tatsächlich unverzichtbar… (a. a. O. S.29)
Dass der Mensch von Natur aus gut ist und ihn lediglich die Zivilisation verdorben habe, dieser Auffassung können wir … eine modifizierte … Lesart geben: dass nämlich die kulturelle  Evolution die sozialen und technischen Destruktivkräfte in einem ebenfalls exponentiellen Ausmaß gestiegen ist. Somit wäre die Menschheit also besser beraten, die ja ebenfalls genetisch angelegten und evolutionär ja ebenfalls außerordentlich erfolgreichen sorgenden und zuwenden Verhaltensdispositionen im privaten und öffentlichen Leben durch Erziehung und Bildung zu kultivieren…

2.1.3  Menschen: Leiblichkeit und Generation

… Jede Reform erzieherischer Praxis setzt – spätestens seit Rousseau – eine zwar normativ bestimmte, aber doch auch aufs biologische Substrat bezogene Perspektive voraus Diese Perspektive muss normativ sein, sonst könnte sie ihrem kritischen Anspruch nicht gerecht werden, sie muss aber auch biologisch gerichtet sein, da sie sonst ihre Phänomene verlöre… (a. a. O. S.31) … Das genealogische Generationenverhältnis ist allen anderen Generationsverhältnissen vorgelagert. Es ist unlösbar verknüpf mit der körperlichen Zweigeschlechtigkeit des Menschen. >Geschlechterdifferenz ist Voraussetzung für Generativität und Generation< (Winterhager-Schmidt 2000, 26)

2.1.4  Sinn und Funktion generationeller, sexueller Fortpflanzung

Die Replikation des Erbguts durch zwei unterschiedlich spezialisierte, eingeschlechtliche Exemplare einer Gattung hat sich im Zuge der Evolution aus zwei Gründen… durchgesetzt: Erstens ermöglicht die Zweigeschlechtlichkeit eine größere Variation des Erbguts. Zweitens räumt die Spezialisierung auf die alleinige Produktion von Eizellen hier und Spermien dort den jeweiligen Exemplaren größere Replikationschancen ein, als wenn sie zwittrig wären. Spermienproduzenten – Männchen – können hinfort die Verbreitung ihres Erbguts nicht mehr nur durch Begattung, sondern auch durch Kampf und Ausschaltung des Nachwuchses anderer befördern, ohne sich um Aufzucht und Pflege kümmern zu müssen…
Unter Bedingungen riskanter, das Überleben unwahrscheinlich lassender Umwelten erscheint die schnelle und häufige Zeugung von Nachwuchs unter Inkaufnahme einer nicht intensiven Brutpflege optimal. Hingegen prämieren stabile Umwelten seltener auftretende und langsamer verlaufende Zeugungs- und Gebärstrategien… (a. a. O. S.33)
Dem entspricht die evolutionäre Bedeutung jener bei der Gattung ebenfalls besonders langen Lebensphase vor dem reifungsbedingten Einsetzen des Fortpflanzungsapparats, der hier als >biologische Kindheit< bezeichnet wird. Deren Sinn besteht darin, eine lange Lehrzeit für das erfolgreiche Funktionieren als Erwachsener zu ermöglichen.
[Hierzu…] resümiert Asthanasios Chasiotis … >… Die kindliche Pflegebedürftigkeit wird daher als Voraussetzung gesehen, mit der der Mensch seine Nachkommen zu >besseren, reproduktiv überdurchschnittlich erfolgreichen Erwachsenen großzuziehen in der Lage ist . Um dieses Ziel zu erreichen, ist in den ersten ungefähr fünf Lebensjahren von einer sensitiven Periode auszugehen, in der das Kind die Fortpflanzungsstrategien  der erwachsenen Familienmitglieder übernehmen lernt […]< (Chaniotis 1999, 14; vgl. auch Blasffer-Hrdy 2000)
… die relevanten Bezugspersonen Neugeborener – in der überwiegenden Mehrheit die Mutter– …verhalten… sich… ihren neugeborenen Kindern gegenüber in einer eigentümlichen Mischung von vorbewussten Selektionsstrategien, moralischen Imperativen und partnerschaftsbezogenen Lebensentwürfen… (a. a. O. S.34,35) Entsprechend lautet das Fazit der evolutionspsychologisch arbeitenden Anthropologin und Evolutionspsychologin Sarah Blaffer-Hrdy zum Rätsel der Adoption ausgesprochen schwächlicher Kinder
>Im Gegensatz zu anderen Tieren sind Menschen in der Lage, bewusst Entscheidungen zu treffen, die ihren Eigeninteressen zuwider laufen…<


2.1.5  Grundbegriffe: Interaktion und Kommunikation

… Unter >Interaktionismus< wird… eine Theorie der Wechselbeziehungen von Personen verstanden, die allemal auf einer bestimmten Kommunikation beruht… (a. a. O. S.35)
… Die Beziehung der Gattungsgenossen untereinander, ihre dem eigenen Überleben geschuldete dienliche Kooperation,  wird nach… George Herbert Mead (1863-1931)… [in] >Mind, Self and Society<…  vor allem durch >Gesten< gesteuert, die einem zunächst angeborenen Repertoire entstammen. Bei Angehörigen der biologischen Gattung Mensch wird die Koordination von Handlungen und Verhaltensweisen indes vor allem durch auditive, durch vokale Gesten gesteuert…. Durch genau diesen Mechanismus verfügt die Gattung nach Mead über die Fähigkeit zur Antizipation und das heißt zur Übernahme  der Perspektiven Anderer… (a. a. O. S.36) .. Entscheidend ist, dass jedes >Selbst< immer auch auf künftige Reaktionen anderer eingestellt ist, dass Selbstbewusstsein, Identität Und intersubjektive Handlungen unauflöslich, aber analysierbar miteinander verflochten sind. Der Mensch als jenes Wesen also, das sich selbst in symbolischer Interaktion bildet, erfährt unter den genannten Bedingungen den Prozess seines Heranwachsens als einen Prozess der immer differenzierteren Übernahme von Rollen, d.h. von antizipierten Erwartungen, genauer noch von Erwartungserwartungen… aus einer Beobachter-und einer Teilnehmerperspektive… (a. a. O. S.37)
… Von besonderer erziehungswissenschaftlicher Bedeutung sind dann die sozialisatorischen Interaktionen in Peergroups verschiedenen Alters, in Eltern-Kind sowie Lehrer-Schüler Interaktionen, wobei die Eltern-Kind Interaktion jedenfalls gemäß der Theorie von Mead schon deshalb Vorrang hat, weil sie in aller Regel, im statistischen Normalfall, am häufigsten vorkommt… (a. a. O. S.38)
… Die Aufgabe dieser Annahmen [des Integrationstheorems , des Identitätstheorems und des Konformitätstheorems gemäß der Einwände Jürgen Habermas‘] führt dann zu der schon im Interaktionismus angelegten interpretativen Rollentheorie, demgemäß alle Interaktionen zwischen Menschen – auch und sogar in eingespielten, routinierten und institutionellen Kontexten – eine von unterschiedlichen Ressourcen gestützte Aushandlung sind, die, soll sie erfolgreich sein, den Interaktionsteilnehmern vier bestimmte >Grundqualifikationen des Rollenhandelns< (Krappmann 1971) abverlangt: >Rollendistanz< als individuell erkannte Differenz zwischen dem Individuum und der je situativ von ihm geforderten Rolle; >Ambiguitätstoleranz< als Fähigkeit, bei zwei gleichzeitig erfahrenen, in der Sache einander entgegengesetzten Rollenerwartungen, eine eigene Perspektive beibehalten zu können; >Empathie< als die Fähigkeit, sich in die Situation und Perspektive anderer so weit wie möglich hineinzuversetzen, d.h. sie tendativ zu übernehmen, sowie schließlich die Fähigkeit, die als >Darstellungskompetenz< bezeichnet wird, d.h. die Fähigkeit, den jeweiligen Interaktionspartnern mitzuteilen bzw. sie zu informieren, das man über Rollendistanz, Ambiguitätstoleranz und Empathie verfügt. (a. a. O. S.39,40)
Wenn es jedoch um Mitteilungen bzw. das Geben von Informationen geht, ist man auch beim Begriff der >Kommunikation< und damit bei der Frage  dem Verhältnis der Begriffe >Interaktion< und >Kommunikation<….
beim Philosophen Karl Jaspers als durch Mitteilung erwirkte >Gemeinschaft gegenseitigen bewussten Verständlichwerdens<  (Jaspers 1960,72) …(a. a. O. S.40) … seit 1971 als >Habermas-Luhmann< (Habermas/Luhmann 1971) Kontroverse bekannt geworden… [ist] die Frage, ob >Sinn< … prinzipiell auch einem einsamen Individuum zur Verfügung stehende Intentionalität, oder ob sich der Begriff des Sinns grundsätzlich überhaupt nur vor dem Hintergrund einer intersubjektiv möglichen Sprechsprache erläutern lässt. Tatsächlich unterscheidet die neuere Philosophie zwischen >Sinn< und >Bedeutung<: >Bedeutung< bezeichnet dabei Objekte oder Zustände, auf die sprachliche Ausdrücke verweisen. Der Begriff >Sinn< hingegen umfasst die Regeln, nach denen sprachliche Ausdrücke verwendet werden…
Der Prozess der Kommunikation aber fasst drei Selektionsmodi sozialer Systeme zusammen, nämlich Information, Mitteilung und Verstehen. Das >Verstehen<wird hierbei als vorrangige oder doch mindestens erste Leistung eines sozialen Systems aufgefasst… (a. a. O. S.41)
Unwahrscheinlich ist gelingende Kommunikation zwischen Menschen deshalb, weil Menschen und ihr Bewusstsein – ihr psychisches System – wie alle Systeme in sich operational geschlossen sind und ihre wechselseitige Beobachtung hochgradig kontingent ist. Das heiß, dass es letztlich auf Zufällen beruht, ob  eine subjektiv vermeinte Intention eine andere Person (alter) mit demselben Sinngehalt tatsächlich erreicht. Dass es dennoch möglich ist, gelingend zu kommunizieren, liegt an der evolutionären Herausbildung symbolischer generalisierender Kommunikationsmedien, also zunächst der Sprech- und Schriftsprache, dann aber auch der Kommunikationsmedien >Macht<, >Liebe<, >Wahrheit<, >Geld< und >Kunst<….. (a. a. O. S.42)
… Damit bleibt freilich noch immer die erziehungs- und sozialisationstheoretische Frage offen, wie Angehörige der Gattung >Homo sapiens< ontogenetisch individuell die Fähigkeit zur Teilnahme an derartigen Sprachspielen erwerben und welches die dazu gattungsspezifischen, biologischen Voraussetzungen sind. Die neuesten Ergebnisse der Humananthropologie (namentlich die Forschungen von Michael Tomasello) gehen nicht nur davon aus, das die je einzelnen Exemplare der biologischen Gattung Mensch im Unterschied zu allen anderen höheren Primaten über das verfügen, was die Hirnforschung als >theory of mind< bezeichnet, also ein Bewusstsein davon, dass alle anderen Angehörigen derselben Gattung ebenfalls über Wissen und Bewusstsein verfügen. Stattdessen wird angenommen, dass Individuen dieser Gattung prinzipiell auf die Inanspruchnahme und Gewährung von Hilfe durch andere Exemplare der Gattung angelegt sind (Tomasello 2010a)… Andererseits … kann Tomasello theoretisch und empirisch gestützt nachweisen, dass es die vorsprachliche Fähigkeit zu gestischem Zeigen und Verstehen des Gezeigten ist, die der menschlichen Kommunikationsfähigkeit zugrunde liegt… (a. a. O. S.43)
Eine pädagogische Anthropologie, die die Ergebnisse der Psychoanalyse – ohne sie in allen Aspekten übernehmen zu müssen – vernachlässigte, wäre eine Anthropologie, die wesentliche Elemente der Leiblichkeit, allemal das Begehren, die Triebhaftigkeit sowie kulturell nicht zugelassene Wünsche überginge und damit halbiert bliebe. Ein Überblick auf Sigmund Freuds eigene Überlegungen zur Pädagogik soo dieses Theorieelement zumindest in Erinnerung bringen.

2.1.6   Leiblichkeit und Psychoanalyse

Am Ende seiner berühmt gewordenen Darstellung der >Analyse eines fünfjährigen Knaben<, des >Kleinen Hans<, muss Sigmund Freud einräumen, dass sie mäandernde Darstellung des Falles >dem Leser einigermaßen undurchsichtig geworden< sei und er sich deshalb gehalten sieht, Deutung und Darstellung schon zu straffen, um endlich doch >allgemein Wertvolles für Kinderleben und Kindererziehung< (Freud 1999a,372) mitteilen zu können…
>Dass die Erziehung des Kindes einen mächtigen Einfluss machen kann, zugunsten oder zuungunsten der bei dieser >Summation< in Betracht kommenden Krankheitsdisposition, ist zum mindesten sehr wahrscheinlich, aber was die Erziehung anzustreben und wo sie einzugreifen hat, das erscheint noch durchaus fragwürdig. Sie hat sich bisher immer nur die Beherrschung, oft richtiger Unterdrückung der Triebe zur Aufgabe gestellt; der Erfolg war kein befriedigender und dort, wo es gelang, geschah es zum Vorteil einer kleinen Anzahl bevorzugter Menschen, von denen Triebunterdrückung nicht gefordert wird.< (Freud 1999a, 376) Damit scheint  Freud, jedenfalls der des Jahres 1909 – seinem ihm immer wieder nachgesagten Konservatismus und Realismus zum Trotz – >Erziehung< als eine durchgängig repressive, in ihrer ihm in diesem Fall keineswegs notwendig kulturbildende Praxis angesehen zu haben. Freud will daher auch gar nicht erst danach fragen, >auf welchem Wege und mit welchen Opfern die Unterdrückung der unbequemen Triebe erreicht wurde. Substituiert man dieser Aufgabe eine andere, das Individuum mit geringsten Einbußen an seiner Aktivität kulturfähig und sozial verwertbar zu machen, so haben die durch die Psychoanalyse gewonnen Aufklärungen über die Herkunft der pathogenen Komplexe und über den Kern einer jeden Neurose eigentlich den Anspruch, vom Erzieher als unschätzbare Winke für sein Benehmen gegen das Kind gewürdigt zu werden. (Freud 1999a, 377)
Wenn überhaupt, so wird hier allenfalls von einer Art negativer Erziehung gehandelt, freilich nicht im Sinnen Rousseaus, sondern eher im Sinne eines Falsifikationsprinzips, d. h. einer gesteigerten Aufmerksamkeit für das, was auf jeden Fall zu unterbleiben hat. (a. a. O. S.45,46)…
… Auf der Linie Rousseaus, dessen Werk und Leben Freud ebenso kannte wie das Schleiermachers (Freud 1999b, 29), plädiert Freud für einen Pädagogie der Verschonung, deren praktische Ausarbeitung indessen seiner psychoanalytischen Theorie nicht unmittelbar zu entnehmen ist, denn: >Welche praktischen Schlüsse sich hieraus ergeben, und inwieweit die Erfahrung die Anwendung derselben [nämlich der Triebunterdrückung als Erziehungsideal oder der psychoanalytischen Theorie?] innerhalb unserer sozialen Verhältnisse rechtfertigen kann, dies überlasse ich anderen zur Erprobung und Entscheidung< (Freud 1999a,377)…
Tatsächlich – so Freud – kommt es bei Kindern gelegentlich zu sexuellen Äußerungen, die sich der Sublimierung entzogen hätten; gelegentlich fänden sich sogar bei vorpubertären Kindern regelmäßige Formen sexueller Betätigung… (a. a. O. S.46) … Aber was ist >Sexualität< und vor allem: Was unterscheidet die Sexualität Erwachsener von der Sexualität vorpubertärer Kinder (Quindeau/Brumlik 2012)?...
Die kindliche Sexualäußerung weist – untersucht man sie am Beispiel des >Lutschens< drei wesentliche Merkmale auf: Sexualität entsteht nach Freud im Kindesalter in Anlehnung an eine >lebenswichtige (!) Körperfunktion<, kennt kein (externes) Sexualobjekt und steht unter der >Herrschaft< einer erogenen Zone. Die kindliche Sexualität ist demnach wesentlich >autoerotisch< und äußert sich in späteren Phasen sowohl in analer wie auch in genitaler Masturbation, einschließlich einer frühen >Säuglingsonanie<, von der Freud meint, dass ich >kaum ein Individuum< (Quindeau/Brumlik 2012, 89) entgeht. (a. a. O: S.47,48) …
Verführung und Erziehung
.. das heute so genannte Problem des >sexuellen Kindermissbrauchs<, also der sexuellen Kontakte zwischen Erwachsenen und Kindern… Für eine pädagogische Theorie… wie sie Freud vorschwebte, wäre dann von Anfang an festzuhalten, das auch die >Verführung< lediglich tiefer >ausprägen< kann, was bereits angelegt ist.. Freud ist spätestens 1905 von der endogenen Kraft der kindlichen Sexualität überzeugt: >Es ist selbstverständlich, dass es der Verführung nicht bedarf, um das Sexualleben des Kindes zu wecken, dass solche Erweckung auch spontan aus inneren Ursachen vor sich gehen kann (Masson 1984, 91). (a. a. O. S.48)
…die Ausführung findet darum geringe Widerstände, weil die seelischen Dämme gegen sexuelle Ausschreitungen, Scham, Ekel und Moral, je nach Alter des Kindes noch nicht ausgeführt oder erst in Bildung begriffen sind. Das Kind> – so nun die bemerkenswerte Schlussfolgerung – >verhält sich hierin nicht anders als etwa das unkultivierte Durchschnittsweib, bei dem die nämliche polymorph perverse Veranlagung erhalten bleibt< (M
asson 1984, 92). .. Zu Kultur und Zivilisation , gleich in welchem Lebensalter und für welches Geschlecht, gehört für Freud ein gerüttelt Maß an Scham, Ekel und Moral… (a. a. O. S.49)
>Während dieser Periode totaler oder bloß partieller Latenz werden die seelischen Mächte aufgebaut, die später dem Sexualtrieb als Hemmnisse in den Weg treten und gleich wie Dämme seine Richtung beengen werden. (der Ekel, das Schamgefühl, die ästhetischen und moralischen Idealanforderungen). Man gewinnt beim Kulturkind den Eindruck, dass der Aufbau dieser Dämme ein Werk der Erziehung ist. In Wirklichkeit ist diese Erziehung eine organisch bedingte, hereditär fixierte und kann sich gelegentlich ganz ohne Mithilfe der Erziehung herstellen. Die Erziehung verbleibt durchaus in dem ihr angewiesenen Machtbereich, wenn sie sich darauf beschränk, das organisch Vorgezeichnete nachzuvollziehen< (Freund 1999c, 78)… (a. a. O. S. 50)

2.1.7  Das Ende des Menschen – Ende der Pädagogik?
Die historischen Wissenschaften schienen bisher einzulösen, was Michel Foucault in seiner Ordnung der Dinge 1966 postuliert hatte: dass nämlich ein undurchschaut normativer Begriff des >Menschen< eine neuzeitliche Erfindung sei und ebenso verschwinden werde wie ein menschliches Antlitz, das am Meeresufer in den Sand gezeichnet wurde. (a. a. O. S.54,55) Foucaults Absage an Sartre, in der er 1966 begründete, warum gerade um der einzelnen Menschen willen der Begriff des >Menschen< und mit ihm der >Humanismus< als Ideologie  destruiert werden müsse, endet mit einem programmatischen Aufruf:
>Der Versuch, der gegenwärtig von einigen unserer Generation unternommen wird, besteht daher nicht darin, sich für den Menschen gegen die Wissenschaft und gegen die Technik einzusetzen, sondern deutlich zu zeigen, dass unser Denken, unser Leben, unsere Seinsweise bis hin zu unserem alltäglichsten Verhalten Teil des gleichen Organisationsschemas sind und also von den gleichen Kategorien ab hängen wie die wissenschaftliche und technische Welt.< (Foucault 1969, 207) … Foucault proklamierte bekanntlich im Rückgriff auf die antike, griechische Philosophie eine >Ethik der Selbstsorge<, in dem der Andere, die anderen eben nicht vorkamen… Es steht außer Frage, dass Foucault diese –jüdisch-christlichen – Grundhaltungen für ein zu überwindendes Dispositiv der Disziplinierung  hält.
>Für die Griechen ist sie nicht deshalb ethisch, weil sie Sorge um die anderen ist. Die Sorge um sich ist ethisch in sich selbst, aber sie impliziert komplexe  Beziehungen zu anderen in dem Maße, in dem dieses Ethos der Freiheit auch eine Weise darstellt, sich um andere zu sorgen… (a. a. O. S.54,55) … indem die Sorge um sich dazu befähigt, in der Polis, in der Gemeinschaft oder in den Beziehungen zwischen den Individuen den gebührenden Platz einzunehmen…< (Foucault 2005, 281f.)
Wenn das aber so ist, folgt aus diesem Umstand zwingend, … dass auch die Ethik der Selbstsorge letzten Endes nichts weiter darstellt, als eine weitere Spielart von letztlich unterdrückerischen Formen der (Selbst)disziplin…
2.1.8  Anthropologie des Idealismus und Pädagogik der Anerkennung

Schließlich zeigt sich: Weder auf den ersten Blick rein rationale Moralen, die ihre Imperative nicht durch starke Annahmen einer vorgegebenen menschlichen Natur oder einer verbindlichen Güterlehre bestimmen, noch eine negative Anthropologie im Sinne Foucaults kommen ohne einen minimalen Begriff des Menschen und einer aus diesem Begriff folgenden Moral aus. Die Pädagogik des Idealismus ging dabei von Kants praktischer Philosophie aus: >Das oberste Prinzip der Tugendlehre ist:< – so Kant in der >Metaphysik der Sitten< – >handle nach einer Maxime der Zwecke, die zu haben für jedermann ein allgemeines Gesetz sein kann. - Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, dass er weder sich selbst noch andere als bloße Mittel zu brauchen befugt ist (dabei er doch gegen sie auch indifferent sein kann), sondern den Menschen. (a. a. O. S.55,56) Überhaupt sich zum Zwecke zu machen ist an sich selbst des Menschen Pflicht < (Kant  1968, 526). … Das von Kant artikulierte moralische Achtungsgebot steht unter der Bedingung, dass die Angehörigen dieser biologischen Gattung zu autonomen Individuen gebildet werden, und das dem Umstand zum Trotz, dass sie dies über eine nicht ganz geringe Spanne ihrer Lebenszeit noch nicht sind oder einmal nicht mehr sein werden.  (a. a. O. S.56,57)
… Das grundsätzliche erkenntnistheoretische Spannungsverhältnis von naivem Realismus und radikalem Konstruktivismus schlägt sich in den Sozial- und Erziehungswissenschaften als Spannungsverhältnis von Beschreibungen und Zuschreibungen nieder…
Eine bildungstheoretisch informierte Theorie der Anerkennung wird sich… zu Recht vor allem auf die von Hegel in der >Phänomenologie des Geistes< entfaltete Theorie des Kampfes um Anerkennung sowie die von ihr geprägte Theorie der Bildung beziehen (Siep 2000. 101f. und 189ff.)… (a. a. O. S.58)
… Vor Hegel … hat  sich bereits Johann Gottlieb Fichte in seiner >Grundlage  des Naturrechts nach Principien der Sittenlehre< im Jahre 1796 dieser Frage zugewendet. Fichtes Überlegungen sind für eine pädagogische Theorie in mehrfacher Hinsicht von Interesse:
1. Fichte hat –klarer als Hegel – seine Anerkennungstheorie unmittelbar auf die Intersubjektivität hin angelegt und darauf verzichtet, seine Theorie … zugleich religionstheoretisch und gesellschaftsgeschichtlich einzubetten…
4. Fichtes intersubjektivistische Theorie der Freiheit und der Selbstbestimmung ist von Anfang an im weitesten Sinne >pädagogisch<. Menschliche Wesen, die gar nicht anders können, als sich wechselseitig die Befähigung zum freien Handeln zuzuschreiben, kommen auch nicht umhin, sich zur freien Selbsttätigkeit aufzufordern… (a. a. O. S.58)
Schließlich erweist sich Fichte als Theoretiker einer Pädagogik der Anerkennung und Freiheit im Anschluss an Kant… (a. a. O. S.59)
.. die zentralen Begriffe von Fichtes Denken: Ich, ursprüngliche Selbsttätigkeit, Selbsterschaffung, Trieb, Realität, Selbstbewusstsein, Freiheit, Unendlichkeit. Freilich scheint Fichte in dieser Passage [sie wurde von mir ausgelassen WW]   auch eine Borniertheit auf diese Größen anzudeuten; dass ein Bewusstsein also in der Täuschung lebt, das sich zunächst absolute Ich, das ursprünglich selbsttätig ist und sich als solches selbst erschafft und gleichsam von Natur aus dazu getrieben wird, sich als frei, absolut und eben selbst erschaffen anzusehen. So sehr also Fichte der Philosoph der Selbsterschaffung des Bewusstseins, der absoluten Freiheit und Autonomie des Bewusstseins ist, so wenig war er mindestens in seinem späteren Denken der Au8ffassung, dass das Bewusstsein diesen Glauben an sich selbst zu erschaffen sich selbst verdankt. Erst die Einsicht, dass in und durch diese Tätigkeiten an einem allgemeinen göttlichen Grund teil hat, wird ihm Beruhigung – ein seliges Leben in der Wahrheit – bescheren. … – im Zeitalter der Sozialwissenschaften … eigentümlich unzeitgemäß. Aber sofern man an die Stelle des >göttlichen Grundes< das Ensemble menschlicher, gesellschaftlicher Interaktionsweisen setzt, gewinnt das Argument seinen guten Sinn… (a. a. O. S.60)

2.2  Erziehung als pädagogischer Grundbegriff
Stephan Ellinger und Oliver Hechler    (a. a. O. S.64)
2.2.3  Erziehung in metaphorischer Hinsicht (a. a. O. S.71)
… Orientierung an heilenden Motiven
Der >Erzieher als Arzt der Seele ist ein … altes Motiv …so kann festgestellt werden, dass  in vielen Kulturen, auch in Europa, den Heilkundigen nicht selten auch die Aufgabe zukommt zu erziehen. Dies verwundert auch nicht weiter, eignet sich der Arzt doch mit seinem Wissen über den Menschen und seinem interventionspraktischen Können gerade dazu, Hinweise auf eine gesunde Lebensführung zu geben. Etwas anders verhält es sich mit der Entfaltung des Motivs in Richtung erzieherischer Tätigkeit…
Als aktuelles Beispiel …In Anlehnung an Paul Moors heilpädagogische Maxime Nicht gegen den Fehler, sondern für das Fehlende (Moor 1974, 317ff.) hat Miriam Stiehler (2007a¸2007b) die Symptome der ADHS als Hinweis für einen Lernbedarf im Bereich der Aufmerksamkeit gedeutet und entsprechend auf die Notwendigkeit einer Aufmerksamkeitserziehung hingewiesen. Stiehler kritisiert die zunehmende Delegation erzieherischer Aufgaben und Anforderungen an die Medizin und Ärzteschaft…. (a. a. O: S.74,75) … Es ist ein Konzept der Diätetik, das die pädagogische Dimension ärztlichen Handelns und die medizinische Dimension erzieherischen Handelns ausmacht. In theoriegeschichtlicher Hinsicht kann für die Medizin der Anspruch ausgemacht werden, >alle Lebensumstände und die gesamte Lebenseise (diaita) des Menschen zu beurteilen und im Interesse seiner individuellen Gesundheit nach Regeln zu ordnen< (Sünkel 1994, 29). Und für die Pädagogik und die Erziehung gilt, >dass die Pädagogik nie etwas anderes war als Anleitung zur Lebenskunst< (Zirfas 2007, 165)… (a. a. O. S.75)
Zeigen als die didaktische Seite der Erziehung   (a. a. O: S.78)
Lernen als die anthropologische Seite der Erziehung  (a. a. O. S.81)                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                  Modalitäten des Lernens … (Göhlich/Zifas 2007)

Dimensionen des Lernens   …vier Dimensionen… Erstens das Wissen-Lernen, zweitens das Können-Lernen, drittens das Leben-Lernen und viertens schließlich das Lernen-Lernen… (a. a. O. S.83,84)
Lernen als Prozess… (a. a. O: S.85)
… Prozessmodell des Lernens … (Roth 1966) …
1. Lernschritt: >Stufe der Motivation<…
2. Lernschritt: >Stufen der Schwierigkeiten< … (a. a. O. S.86)
3. Lernschritt: >Stufe der Lösung< .. .
4. Lernschritt¨>Stufe des Tuns und Ausführens< … (a. a. O. S.87)
5. Lernschritt<. >Stufe des Behaltens und Einübens< ….
6. Lernstufe: >Stufe des Bereitstellens, der Übertragung und de Integration des Gelernten< … (a. a. O. S.88) … Bildung oder Selbstbildung meint im Grunde nichts anderes als die Versubjektivierung von Lerninhalten..  das, was das Phänomen Erziehung also hervorbringt, ist das Zusammenspiel von Zeigen und Lernen im  Hinblick auf ein Thema. Über das didaktische Dreieck hinaus, müssen also nich nur der Erzieher, der Zögling und ein Thema gegeben sein, um von einer erzieherischen Situation zu sprechen. Vielmehr muss  der Erzieher… dem Zögling ein Thema so zeigen, dass dieser potentiell in der Lage ist, sich die Inhalte des Themas lernend anzueignen…

2.2.6  Räume der Erziehung  (a. a. O. S.89)
… Familie
Erziehung beginnt zunächst und zu allererst in und durch die Familie… (a. a. O. S.90)
Schule
… Das, was den Eintritt in die Schule aus entwicklungspädagogischer Sicht so bedeutsam macht, ist, dass hier der Übergang von der Familie zur Gesellschaft prototypisch und institutionalisiert stattfindet…  dass sich die Welt in großem Stile zur Darstellung bringen lässt… (a. a. O. S.91)
Selbsterziehung
… Der Mensch ist .. aufgefordert, seinem Leben in Auseinandersetzung mit den Anderen, der Welt und sich selbst eine individuelle Form zu geben…. (a. a. O. S.92)

4  Pädagogisches Ethos
Klaus Prange

4.3        Moral – Ethik – Ethos

Das Moralische versteht sich keineswegs von selbst, wie Ernst Theodor Vischer gemeint hat. Im Gegenteil: An der Moral entzünden sich Konflikte und Streitpunkte. Offenbar gerade deshalb, weil wir bei Moralfragen mit dem Bewusstsein völliger Gewissheit auftreten. Das gehört sich nicht!  Warum nicht? Weil es sich einfach nicht gehört. Das sagen wir auch den Kindern: Das tut man nicht, das gehört sich nicht usw. Und tatsächlich behandeln wir dann auch Heranwachsende und unsere erwachsenen Partner in Wahrheit wie Kinder, wenn wir mit moralischer Gewissheit argumentieren. Mit anderen Worten: Moral ist polemogen (vgl. Luhmann 2009, 280). >Moral […] hat eine Tendenz, Streit zu erzeugen oder aus Streit zu entstehen und den Streit dann zu verschärfen< (ebd.).Sie eignet sich dazu, Gegner zu identifizieren und sich Feinde zu machen, um eben dadurch auch die eigenen Reihen zu schließen oder sich überhaupt erst eine Gefolgschaft zu schaffen. (a. a. O. S.117,118) So ist der politische Rivale eben nicht nur im Irrtum, er macht nicht nur Fehler, sondern er taugt nichts, von vornherein und ganz unabhängig davon, was er an Gründen und Belegen für seine Sache vorbringen mag.
Darin liegt zugleich ein weiterer Vorteil. Man kann Sachgründen bequemer ausweichen, wenn man erst mal den Kontrahenten moralisch disqualifiziert. Und im Übrigen haben moralische Urteile den großen Vorzug, die reichlich unübersichtliche Welt in eine gute und eine schlechte, wenn nicht gleich böse Seite aufzuteilen. Moral vereinfacht Sachlagen und ermöglicht Entscheidungen auch bei mangelnder oder gänzlich fehlender Sachkenntnis. Die Guten haben eben deshalb recht, weil sie gut sind, und die Bösen können nicht recht haben, sie sind ja niederträchtig und verlogen, herzlos und was noch alles. Insofern ist der moralisch getönte Diskurs ein beliebtes Übungsfeld für Unterstellungen und Verleumdungen…
Deshalb Vorsicht, wenn Moral in Diskurse eingeführt wird, und Vorsicht, wenn das Moralisieren an die Stelle ethischer Begründungen tritt….
Die Berufung auf Moral sichert Konsens, wo Instabilität und Ungewissheit an der Tagesordnung sind….  Was die Erziehung angeht, ergibt sich die Intransparenz aus dem, was in der modernen Diktion als >Technologiedefizit der Pädagogik< beschrieben worden ist (vgl. Luhmann/Schorr 1982). Die Pointe ist: Das Erziehen ist zwar eine Technologie, und zwar in dem Sinne, dass es ein Verfahren zur Veränderung von Personen darstellt, aber eben ein solches, das leider oder Gott sei Dank nicht ergebnissicher ist. (a. a. O. S.118,119) Wir erklären etwas, aber die Schüler hören nicht zu oder verstehen das Gemeinte anders, als wir es meinen. Unsere Mahnworte sind in den Wind gesprochen…  Unter >Ethik< soll hier nach einer heute üblichen und nützlichen Unterscheidung die Theorie der Moral verstanden werden (vgl. dazu und zum Folgenden Prange 2010). In der Ethik geht es darum, die normativen Grundlagen des moralisch vertretbaren Handelns zu erkennen und zu bestimmen… Und >Ethos<? Was soll gemeint sein, wenn wir allgemein von einem Ethos  und in unserem Fall speziell vom Ethos der Erziehung sprechen? … Die Antwort ergibt sich aus der Abstraktheit allgemeiner Normen. Sie bedürfen einer Ergänzung derart, dass die Umstände und Kontexte berücksichtigt und in den Blick gebracht werden, in denen sie zur Geltung gebracht werden. (a. a. O. S.119,120) Tatsächlich finden sich im alltäglichen Sprachgebrauch vielfältige Wendungen, in denen dieses Dimension des Verhaltens zum Ausdruck kommt und die das zur Sprache bringen, was hier mit >Ethos< gemeint sein soll. So sprechen wir von Arbeitsmoral oder auch von Zahlungsmoral, um damit die Haltung oder Gesinnung zu kennzeichnen, die sich in einem Verhalten zeigt. Oder die Rede ist von der Kampfmoral einer Fußballtruppe… In der Tradition des ethisch-moralischen Diskurses firmieren diese Formen eines Ethos unter dem Titel der Tugenden, sowohl allgemein als das Viergespann der Kardinaltugenden: Klugheit (prudentia), Maßhalten (temperantia), Tapferkeit (fortitudo) und Gerechtigkeit (iustitia) wie auch speziell als die Tugenden eines Standes, des Geschlechts, des Lebensalters, eines bestimmten Berufs … (a. a. O. S.120) … Es ist nicht anzunehmen, dass damals oder heute oder überhaupt jemals ein einzelner all das verkörpern könnte, was sich hier zusammengestellt findet. Lässt man die Ehrfurcht gebietenden Namen beiseite und hält sich an die Eigenschafen, für die sie stehen, dann bleiben Gesundheit und Kraft, Scharfsinn und Gemüt, Begeisterung und Klarheit, Beredsamkeit, Kenntnisse, Weisheit und schließlich in letzter Steigerung die Liebe. Das ist viel, allzu viel des Guten…. Schon vor Diesterweg hatte Gotthilf Salzmann in seiner >Anweisung  zu einer vernünftigen Erziehung der Erzieher<, dem >Ameisenbüchlein< von 1806, seinen Überlegungen das so genannte >Symbolum< vorangestellt. … >… Von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge muß der Erzieher den Grund in sich selber suchen<… (a. a. O. S.121) .. Das braucht nicht wirklich zuzutreffen; denn, so Salzmann, >meine Meinung ist gar nicht, als wenn der Grund von allen Fehlern und Untugenden seiner Zöglinge in dem Erzieher wirklich läge: sondern ich will nur, daß er ihn in sich suchen soll<.
Die Pointe dieser Bestimmung des pädagogischen Ethos liegt in Folgendem: Im erzieherischen Verhältnis ist zugleich auch das Verhältnis des Erziehenden zu sich selbst eine Komponente…
Es gibt auf der einen Seite beobachtbare Fakten  des Umgangs miteinander in erzieherischen Konstellationen und auf der anderen Normen und Werte, die der Faktenlage teils entsprechen, teils opponieren. (a. a. O. S.122,123) Insgesamt stellt sich dann das Erziehungsgeschehen als ein Aggregat von disparaten Faktoren dar: für die eine Seite ist die empirische Forschung zuständig, für die andere eine von Meinungen, Interessen und Ideologien geprägte Programmatik … (a. a. O. S.123) …

4.2.      Erziehung als Gewissens- und als Rechtspflicht

Vor dem Ethos komm die Ethik, in der es um die Verbindlichkeit von Aufgaben, Vorschriften und normativen Erwartungen geht… Ohne Ethik kein Ethos, wenn das Ethos mehr sein soll als die Behauptung persönlicher Einstellungen und Überzeugungen…. Das Ethos ist diskursfähig und auch diskursbedürftig…
In jüngster Zeit haben die bekannt gewordenen Missbrauchsfälle in renommieren Erziehungseinrichtungen einen Anlass der allgemeinen Empörung über pädagogisches Fehlverhalten geboten. (a. a. O. S.124,125) wenn man… den Blick auf das pädagogische Problem richtet, das sich in den aktuellen Fällen zeigt, so ist unabweisbar, dass die Frage nach der Eigenart und den ethischen Implikationen des pädagogischen Verhältnisses oder wie auch vielfach formuliert wird: die Frage nach dem pädagogischen Bezug neu zu überdenken ist. Sie betrifft die Stellung der Eltern zu ihren Kindern, der Lehrerinnen und Lehrer zu ihren Schülerinnen und Schülern, der Heimerzieher zu ihren Schutzempfohlenen, der Ausbilder und Übungsleiter, Trainer und Meister zu ihren jeweiligen Lerngruppen; in einer weiteren Perspektive auch das Verhältnis der Dozenten zu den Studierenden. Diese unvollständige Aufzählung mag verdeutlichen, dass es den pädagogischen Bezug in einer einfachen und schlichten Form nicht gibt; er zeigt sich vielmehr in vielfältigen Facetten und durchaus verschieden in unterschiedlichen Kontexten. Gemeinsam ist diesen Varianten, dass es in ethischer Hinsicht dabei immer auch darum geht, was die Erziehenden dürfen, was sie sollen und was sie gerade nicht dürfen… [wenn] es sich ja zuerst einmal um Unmündige handelt. Das allein ist schon ein Sonderfall des Rechts und der Moral. Üblicherweise behandelt die Ethik als Theorie der Moral die Beziehungen zwischen Erwachsenen… (a. a. O. S.125) …Fangen wir also mit den Pflichten gegenüber den Kindern an. Da sind es zuerst die Eltern, die wir ins Auge fassen müssen, und zwar ausdrücklich die natürlichen, leiblichen Eltern, Vater und Mutter… Elternschaft ist weder eine Rolle noch ein Beruf, sondern gewissermaßen ein Naturereignis mit moralischen Implikationen…
was man auch sonst noch an psychologischen oder wirtschaftlichen Gründen anführen mag, ist noch gar keine normative Begründung.
Wie eine solche Begründung aussehen kann, können wir von Kant lernen. Er hat in der Tat in seiner >Metaphysik der Sitten< von 1796 eine normative Antwort vorgelegt; sie besteht kurz gefasst darin, das die Eltern >eine Person ohne deren Einwilligung in die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herübergebracht haben< (Kant 1966b, 394). Sie haften gewissermaßen für ihre Kinder und sind deshalb verpflichtet,>sie so viel in ihren Kräften steht, mit diesem Zustande zufrieden zu machen< (ebd.). … (a. a. O. S.126) …diese Grundnormen der elterlichen Erziehung …sind … zu beachten. Der aktuelle Titel für diesen normativen Grundkatalog lautet: Menschenrechte. Es sind vorgesetzliche, vorstaatliche Gebote der Vernunft; sie gelten überall und unter allen Himmeln, auch wenn sie nicht eigens formulier sind. Das Übliche ist inzwischen, dass man sich ausdrücklich verpflichten kann, sie zu beachten; sie müssen artikuliert und positiviert werden; aber man kann sie eigentlich nicht erfinden…(a. a. O. S.127) Ganz anders verhält es sich mit den Pflichten, die sich nicht direkt und indirekt aus dem Eltern-Kind-Verhältnis ergeben.  Hier haben wir es mit vertraglichen Vorgaben und Vereinbarungen zu tun, die ihren Ursprung nicht in der Gewissenspflicht der Eltern haben, sondern in der staatlich verbürgten Rechtsordnung.. In Artikel 7, Absatz 1 heißt es lapidar: >Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates<…  Es gibt deshalb auch keine natürlichen Pflichten wie im Falle der Eltern gegenüber ihren Kindern, vielmehr ergeben sich die Pflichten des Erziehungspersonals, wie jeder weiß, aus den Vorgaben und Anweisungen der Erziehungseinrichtungen… (a. a. O. S,128) … Wir haben es mi einer doppelten Legitimation zu tun, mit zwei Formen der Erziehungsbefugnis, einmal das natürliche Recht der Eltern und zum anderen als gesellschaftlich gesetztes Vertragsrecht… Solange Elternhaus und Schule in ich ihren pädagogischen Vorstellungen übereinstimmen, ist alles schön und gut Was aber… wenn zum Beispiel in der Schule die Evolutionslehre vertreten wird, die Eltern dagegen am Schöpferglauben… festhalten…? Als Musterfall kann die Entscheidung in der Frage der sexuellen Aufklärung angesehen werden. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben Hamburger Eltern gegen die Schulbehörde geklagt und für sich die Aufgabe der Sexualerziehung reklamiert… (a. a. O. S.129)… Das Gericht hat salomonisch, wenn auch nicht besonders logisch entschieden (vgl. Maskus 1979). Die Schule darf über den Geschlechtsakt, auch über Verhütungspraktiken und sexuelle Sonderwege informieren, doch ohne Empfehlungen zu geben oder gar moralische Direktiven mit der Instruktion zu verbinden. Die bleiben Elternsache… De facto behauptet der Staat als rechtlich verfasste Form der Gesellschaft den Primat in der Erziehung, mit der Folge, dass inzwischen auch den Eltern Vorschriften gemacht werden, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben. Sie werden gewissermaßen Zug um Zug pädagogisch enteignet und das vorstaatlich Naturrecht außer Kraft gesetzt…. Als Pädagogen sollen wir darauf aufmerksam machen, dass die Vergesellschaftung der Familien zu quasi-staatlichen Einrichtungen und Vollzugsorganen der untersten Organisationsebene der Erziehung eine Stütze entzieht, ohne die sie nur schwer vorzustellen ist

4.3  Die Moral des Zeigens als Kern pädagogischer Beziehung

Mit der Angabe der Erziehungspflichten ist der erste Schritt getan, um das Ethos der Erziehung zu erfassen… (a. a. O. S.130)
…Der Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist: Ohne etwas zu zeigen, keine pädagogischen Operationen (vgl. Prange/Strobel-Eisele 2006)…. Welches sind die Maßstäbe für das Zeigen?  … aus der Verfahrensweise des Zeigens.. []heraus?] … (a. a. O. S.131)
… Gibt es viele oder womöglich eine unabsehbare Mannigfaltigkeit von Maßstäben? … Das Minimum für moralisch vertretbares Zeigen besteht in drei Maßgaben. Was immer wir zeigen, damit es gelernt werden kann, sollte erstens verständlich, zweitens zumutbar und drittens anschlussfähig sein. Mehr nicht… (a. a. O. S.132) … Damit soll zunächst einmal wieder etwas sehr Einfaches gemeint sein: Was immer wir zeigen,  es sollte etwas sein, womit die Lernenden etwas anfangen können, und zwar nicht nur im Moment, sondern vor allem für die nächsten Lernschritte und überhaupt für die Zukunft… (a. a. O. S.135)

4.4        Ethos im Kontext: Gesichtspunkte der Pädagogischen Ethik

Grundsätze und Maßstäbe des Erziehens allein genügen nicht, um es inhaltlich in einer vertretbaren Weise zu gestalten… Tatsächlich handelt es sich bei den angegebenen Maßstäben für das Zeigen eher um Grenzsetzungen, gleichsam rote Linien, die wir nicht überschreiten sollen… Es bedarf noch eines >Mittelgliedes<, wie Kant sagt, das zwischen den allgemeinen Maßstäben und dem steht, was hier und jetzt gelernt werden sollte. Das hierfür erforderliche Können bezeichnet Kant als Urteilskraft, wie wir sie auch in der Ausübung des ärztlichen Handelns und der Anwendung rechtlichen Wissens benötigen… (a. a. O. S.138)
… Das Problem, das sich hier stellt, besteht darin, dass es beim Übergang von den Begriffen zur Anschauung einer Orientierung durch geeigneter Gesichtspunkte bedarf, gleichsam einer Übersetzungshilfe, die dazu dient, dass die Ansprüche der Theorie auch wirklich eingelöst werden …. Tatsächlich gibt es auch immer schon und oft durch unvordenkliche Traditionen gefestigt solche Orientierungen; wir finden sie in Redewendungen wie; „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“… Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Oder auch altgriechisch: Wer nicht geschunden wird, wird nicht erzogen… (a. a. O. S.139)
.. Dem korrekten wissenschaftlichen Bewusstsein sind [solche] Slogans ein Graus. Sie verwischen … die Unterscheidung von Beschreibung und Bewertung, von Norm und Tatsache… Dennoch sind solche Slogans nicht von vornherein zu verwerfen… Man kann sich sogar fragen, ob sie überhaupt zu vermeiden sind… ergibt sich daraus, dass wir im Ernst gar nicht beschreiben können, ohne dabei Prädikate zu benutzen, die eben auch eine bewertende Perspektive enthalten... (a. a. O. S.140)  … Hier ist ein wichtiger Unterschied festzuhalten: der Unterschied zwischen Norm und Wert… Normen sind Vorschriften… Werte dagegen sind Sachverhalte, die mehr oder weniger gegeben sind und die man mehr oder minder genau beschreiben kann. Gesundheit ist so gesehen ein Wert, Ansehen und Eigentum; aber keineswegs für alle. In der Geschichte des Christentums hat es immer wieder Einzelne und Gemeinschaften gegeben, für die Armut und Bedürfnislosigkeit ein Wert darstellten und die den Ruhm der Welt verachteten… (a. a. O. S.11)
… Normierung ist zu verstehen als ein Verfahren der Stabilisierung und Legitimierung von Werten, damit sie für alle oder einen bestimmten Lebenskreis gelten. (a. a. O. S.141,142) … Das moralische Pendant zu solchen Werten ist in der Tradition als Tugend gefasst worden. Bei Tugenden handelt es sich um diejenigen Haltungen, durch die Werte realisiert werden. Tugend- und Wertethik gehören zusammen. Dass sie in der Moderne ihre hervorragende Bedeutung verloren haben, ist der Korrosion einst unbefragter Institutionen zuzuschreiben…. (a. a. O. S.142)
… Der Anlass für die Schrift… „Führen oder Wachsenlassen“ … Theodor Litt… 1927… Litts Intervention auf einem Pädagogischen Kongress in Weimar, mit der er sich gegen die Einseitigkeit und den Überschwang reformpädagogischer Aspirationen wandte… Wachsenlassen hat einen Wert, aber Führen ebenso, je nach Lage der Dinge. Dabei handelt es sich eigentlich nicht um unverrückbare Prinzipien, sondern eher um Klugheitsregeln nach Gesichtspunkten, in denen jeweils die konkrete Lage berücksichtigt wird…. So haben wir nach Schleiermacher zwischen >Unterstützen< und >Gegenwirken< abzuwägen, gemäß neuerer Einsicht zwischen >Fördern< und >Fordern< … (a. a. O. S.143)

4.8  Deformationen des pädagogischen Ethos

…>.. Daher die Warnung; nicht zu viel zu erziehen< (Herbart  … 1806… 1989a,Bd.2,25) … (a. a. O. S.164) … Wie im Vorangehenden dargestellt, gibt es in pädagogischer Hinsicht nicht >das< pädagogische ‚Ethos, sozusagen absolut und abgelöst von den Kontexten des familiären Umgangs, der organisatorisch vermittelten sozialen Umwelten und der je besonderen Lebensgeschichte… (a. a. O. S.165)

5     Ausblick: Pädagogik zwischen Selbstbewahrung und Entwicklung
Klaus Prange

Wir wissen, dass wir nicht wissen, was wir wissen werden… (a. a. O. S.170) … So gesehen bewegen wir uns wie selbstverständlich in dem Spannungsfeld zwischen Fortschritt und Tradition, und pädagogisch gesprochen zwischen Selbstbewahrung und Entwicklung… (a. a. O. S.171)
… Ob zu Recht oder zu Unrecht, sei hier dahingestellt; auf jeden Fall kann man sehen, dass Reform dem pädagogischen Bewusstsein eingeschrieben erscheint…  So gesehen geht mit der Reform der Erziehung der Anspruch einher, der Zukunft eine erwünschte Gestalt zu geben, ihr Dunkel aufzuhellen und sie gewissermaßen im pädagogischen Raum vorwegzunehmen… Das geschieht zumeist in der Weise, das die Gegenwart unter rational begründete Imperative gestellt wird, deren Einlösung den Menschen den großen Schritt in ein allgemein menschengerechtes Dasein verschafft. (a. a. O. S.172,173)
Moderne ist dann nicht nur etwas, das sich ergeben hat, sondern ausdrücklich gewollt wird, gar als >Projekt< (Habermas), das in der Aufklärung angelaufen und jetzt mit der gehörigen moralischen Energie weiterzuführen ist. Es ist üblich, um nicht zu sagen: Mode geworden, diese Prozesse, ob als Entwicklungen oder ausdrückliche Projekte, mit dem Begriff des Lernens zusammen zu bringen. So ist die Rede von >Geschichte als Lernprozess< (vgl. Eder 1991) und von der >lernenden Gesellschaft< vgl. Schon 1971), desgleichen von >lernenden Organisationen< wie der >lernenden Kirche< oder der >lernenden Schule<. Selbst Regionen werden zu >lernenden Regionen<, wenn es lediglich darum geht, mehr Geld für Verbesserungen im Schulwesen in die öffentlichen Haushalte zu erwirken. ..
Das mutet in der Tat reichlich überspannt und sachlich verfehlt an, wenn man sich vor Augen hält, was sich tatsächlich in der Wirklichkeit der Erziehung abspielt und womit auch in Zukunft zu rechnen ist. Denn was sich wirklich beobachten lässt, sind Anpassungen an Wandlungen, die im Wesentlichen woanders ihre Ursachen und ihren Ursprung haben. Betrachtet man diese Wandlungsprozesse unter dem Gesichtspunkt der Modernisierung, dann wird man sagen dürfen, dass die Erziehung eher unter dem Druck von Modernisierungen steht als diese aktiv zu betreiben… weil der Erziehung… eine eher bewahrende Aufgabe zufällt. Das Lernen gehört auf die Seite der retardierenden, konservativen Elemente der sozialen Systeme, das den Trends und große Tendenzen mit einem gewissen Abstand folgt, ehe es sich darauf einstellt. (a. a. O. S.173)
Wenn man die Pädagogik als Bewusstsein, das die Erziehung begleitet, mit anderen Disziplinen vergleicht, zum Beispiel de Physik und der Biologie, sieht man wesentliche Unterschiede. Dor haben in den letzten 150 Jahren tief eingreifende Veränderungen und Neuorientierungen bis in den Bereich der Grundbegriffe stattgefunden und zu ganz neuen Einsichten geführt, ohne … als >Reform-Physik< oder >Reform-Biologie< aufzutreten…
Die Aufgabe der Pädagogik besteht darin, Lebensprobleme in Lernaufgaben zu transformieren, um sie einer erzieherischen Behandlung zuzuführen… [wobei] das Erziehen eine Weise ist, auf das Lernen zu reagieren. Und das Lernen und die Bedürfnisse des Lernens sind allemal weniger beweglich als die Aspirationen des Erziehens… Das Erziehen lässt sich leichter reformieren als das Lernen… (a. a. O. S.174)
Wenn es überhaupt eine wirkliche Revolution in der Geschichte der Erziehung gegeben hat, dann besteht sie darin, dass Schule zur Bürgerpflicht für alle geworden ist…
Dabei hat das Tempo der Änderungen sich rasant beschleunigt… Wir altern nicht mehr nur, sondern wir veralten wie die Produkte des industriellen Fortschritts und werden wenigstens partiell zu Auslaufmodellen… (a. a. O. S.175)
diese Skizze wäre allerdings unvollständig, wenn unbeachtet bliebe, was wir alles nicht mehr zu lernen und zu können brauchen, weil uns technisches Gerät zur Verfügung steht, sozusagen als mechanische Sklaven und Dienstboten unserer Lebensführung. Der Taschenrechner ersetzt das Kopfrechnen oder mit Papier und Bleistift; das Navigationsgerät tritt für die Ortskenntnis und die Fähigkeit ein, Karten lesen zu können; das Orthographieprogramm des PC entlastet von der buchstäblichen Genauigkeit und erlaubt >kreatives< Schreiben, wie denn überhaupt die alten Tugenden der Korrektheit und individuellen Gedächtnis- und Könnensleistungen angesichts des immensen Datenanfalls ihre Funktion verlieren und überboten werden von der Speicherkapazität mehr oder minder großen Rechner…  Schon jetzt lässt sich erkennen, dass an die Stelle gründlich-dauerhaften Lernens eine Art flüchtigen Lernens tritt, die vorübergehende Kenntnisnahme von Mal zu Mal aktueller Information, von der man weiß, das sie alsbald und durch neue Informationen abgelöst sein wird… (a. a. O. S.176)

 

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Stephan Ellinger

Förderung bei sozialer Benachteiligung
Reihe: Fördern lernen/Intervention, Band 1
Verlag W. Kohlhammer Stuttgart
ISBN 978-3-17-0211806-2

Einführung…
Das Problem

>Soziale Benachteiligung< stellt keine eigene sonderpädagogische Fachrichtung dar. Genau genommen könnten unter bestimmten Umständen wahllos alle Kinder davon betroffen werden – egal wie begabt, kräftig und gutaussehend sie sind. Die gute Nachricht: Es gibt selbst im differenzierten Schulsystem Deutschlands keine eigene – separierende – Institution für diese Problemklientel. Sozial benachteiligte Kinder sind mit keiner einschlägigen sonderpädagogischen Diagnostik zu bestimmen und zu fördern… (a. a. O. S.9)

1 Soziale Benachteiligung

1.1       Grundmuster sozialer Benachteiligung

…soziale Benachteiligung.. entsteht und stabilisiert sich… durch die Prioritätensetzung derjenigen, die mehr oder weniger zufällig wohlhabend sind. Soziale Benachteiligung ist die Kehrseite sozialer Bevorzugung in einer Gesellschaft oder Weltgemeinschaft. Sie ist in einigen Fällen leicht zu erkennen, weil Glaubensgemeinschaften, ethnische Gruppen oder ein einzelnes Geschlecht bevorzugt werden… in jeder wohlhabenden Gesellschaft mehr oder weniger häufig. (a. a. O. S.14)
Der geneigte Leser ist deshalb im Folgenden eingeladen, über Beispiele eines zweifelhaften Umgangs der industrialisierten westlichen Welt mit Mensch, Tier und Natur nachzudenken…

a)  Wie unsere Handys und Computer die Menschen in Afrika quälen

Weltweit besitzen mehr als 5 Milliarden Menschen ein Mobiltelefon (Obert 2011). Der Journalist Frank Poulsen (2011) berichtet, dass potentiell jeder Handy-Besitzer mit dem Erwerb seines Mobiltelefons den Krieg im Kongo angeheizt hat, der in den letzten 10[?] Jahren 5 Millionen Menschenleben kostete (Oert 2011). Für einen Lohn von wenigen Cents graben und leben die Kinder oft tagelang in dunkeln Tunneln tief unter dem Tageslicht. Für die Produktion von Handys werden spezielle Mineralien benötigt, unter ihnen Coltan. .. 80 % Weltvorkommnisse liegen … im Kongo… (a. a. O. S.15) Das berühmteste Symbol der geplanten Obsoleszenz ist die Glühbirne. Nach der Erfindung der Glühbirne 1879 erreichten die industriell produzierten Glühbirnen schon bald eine Lebensdauer von über 2500 Stunden… An Weihnachten 1924 … beschloss…. Ein Kartell der damals führenden Glühbirnenhersteller der Welt.. in einer Geheimsitzung in Genf, die Lebensdauer der Glühbirne einheitlich auf 1000 Stunden zu begrenzen (Dannowitzer 2011)…. Viel freiwilliger fügt sich der moderne Mensch allerdings in die geplante ästhetische Obsolesvenz. Auch hier reichen die Wurzeln in die 1920er Jahre zurück. Henry Ford steht in dieser Zeit für die Entwicklung der Massenproduktion durch das Fließband. Sein Ford T wurde in legendär hoher Stückzahl gefertigt und galt als außerordentlich robust…   General Motors… führte als Mittel gegen den unverwüstlichen Ford T das Konzept der Jahresmodelle ein… Im Jahr 1927 wurde  das Modell mit dem 15-millionsten Ford T vom Markt genommen und auch Ford stieg auf das Jahresmodellkonzept um. (a. a. O. S.19)
.. Der Chemiker Michael Baumgart entwickelt das Alternativkonzept >Cradle to Cradle<, was so viel heißt wie >Von der Wiege bis zur Bahre<. Sein Konzept sieht vor, dass alle hergestellten Produkte wiederverwendet werden… (a. a. O. S.20) … Während früher soziale Werte im Mittelpunkt standen – eine Selbstdefinition also über die Freunde und Familie stattfand -, scheint heute der Konsum identitätsstiftend zu sein. Die Menschen glauben irrtümlich daran, dass materieller Besitz über die Qualität des Lebens entscheidet….

b)  Warum in Amerika die Elektroautos sterben mussten

…Merkwürdig…, das es vor 100 Jahren einmal mehr Elektroautos auf den Straßen gab, als solche mit Benzinmotoren. Seit 1888 sind Elektroautos nachgewiesen (Schrader 2002)… (a. a. O. S.21)
… Di eindrucksvolle Dokumentation von Chris Paine (2006) über den Aufstieg und Niedergang der Elektroautos in Kalifornien berichtet davon, dass 1996 überall auf Kaliforniens Straßen Elektroautos fuhren… Zu diesem Zeitpunkt begann eine beispiellose Intrige der Ölkonzerne gegen die Elektroautos und gegen das Emissionsgesetz (Paine 2006)…. (a. a. O: S.22)… GM hatte zwischenzeitlich dem Erfinder und Entwickler Stanford R. Ovshinsky den Prototyp einer produktionsreifen Hochleistungsbatterie abgekauft  und die Technik…  an Texaco verkauft, wo sie in der Versenkung verschwand (Paine 2006)…  (a. a. O. S.22)
… die Welternährungsorganisation (FAO) … geht … davon aus, dass weltweit täglich mindestens 25.000 Erwachsene und 10.000 Kinder verhungern. Von den weit über 15 Millionen Menschen, die jährlich durch armutsbedinge Ursachen sterben, könnte ein Großteil ohne hohen finanziellen Aufwand gerettet werden… (a. a . O. S.23)
Unabhängig von der weltweiten Hungerproblematik klafften auch in unserem Land Armut und Reichtum noch nie so weit auseinander wie heute. Während die einen mehr Bildung, mehr Technik, mehr Wohlstand und mehr Rechte genießen, sehen sich zunehmend viele Menschen existentiell bedroht, weil soziale Standardrisiken wie Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit privatisiert werden und der Staat zunehmend versucht ist, dich zugunsten einer geforderten >Eigenverantwortung< zurückzuziehen. Eigenverantwortung in einem geschlossenen System unter Herrschaft der Finanzen wird allerdings schnell zur Farce.
Zum Grundmuster sozialer Benachteiligung in einer Gesellschaft lassen sich folgende Leitlinien festhalten:
a) Soziale Benachteiligung wächst im Klima geduldet Einflussnahme und zunehmender Gleichgültigkeit
Besitz und Einflussnahme bilden wesentliche Strukturelemente westlicher Gesellschaften. Interessenverbände hebeln zentrale gesellschaftliche Werte wie Mitmenschlichkeit, Anerkennung, Zuverlässigkeit und materielle Langlebigkeit aus und verhindern offen und nahezu ungehindert Umweltschutz und Fortschritt. (a. a. O. S.24,25)  … Von stabilen Verhältnissen durch freie Marktwirtschaft kann … nicht die Rede sein.

b) An sozialer Benachteiligung sind mächtige Nutznießer beteiligt

Nicht Gerechtigkeit, Mitmenschlichkeit, Gleichheit und Naturverbundenheit scheinen die Politik der demokratischen Staaten zu bestimmen, sondern in weiten Teilen Gewinnmaximierung einzelner Interessengruppen, die sich die Politik gefügig gemacht haben… Selbst der Bildungssektor und das Gesundheitswesen werden mittlerweile verbreitet wie Wirtschaftsunternehmen behandelt, die monetäre Gewinne (Drittmittel) erwirtschaften müssen…

c)  Soziale Benachteiligung erfolgt im gesellschaftlichen Konsens darüber, dass Wirtschaftswachstum von zentraler Bedeutung sei

d) Wirtschaftliches Wachstum wird zum entscheidenden Faktor zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit erklärt… (a. a. O. S.25) …

e) Soziale Benachteiligung wird von den Zuschauern mit innerer Distanz zu den Betroffenen hingenommen …

f) Soziale Benachteiligung geht einher mit öffentlich vorgetragenen Erklärungen über die Mitschuld der Betroffenen an ihrer Situation … Besitz und Milieuzugehörigkeit werden in unserem Staat zu großen Teilen unverdient vererbt… (a. a. O. S.26)

g) Grundlage der sozialen Benachteiligung ist die Überzeugung Einzelner, dass die eigene Wahrnehmung objektive Wirklichkeit und einzig richtige Sichtweise sei

h) Im Großen wie im Kleinen entspringt die Beurteilung von Soziallagen und gesellschaftlichen Bedingungen individuellen Weltanschauungen und Weltbildern… Während den eigenen Erfahrungen häufig umfassende Gültigkeit zugesprochen wird, sind Durchschnittsbürgern oft gesellschaftliche oder weltpolitische Entwicklungen unbekannt ….

i) Soziale Benachteiligung und soziale Bevorzugung stehen in einem Verhältnis komplementärer Schismogenese [Buchstabenreihung geändert]

… Schismogenetische Systeme haben die Neigung, in eine Entwicklungsrichtung außer Kontrolle zu geraten…. Während die symmetrische Schismogenese eine endlose Auseinandersetzung zwischen grundsätzlich gleich starken Parteien beschreibt, führt die komplementäre Schismogenese zur fortschreitenden Unterwerfung der schwächeren Partei… Vermögen vermehrt sich und Armut wird ärmer… (a. a. O. S.27)
… Bereits die Annahme, dass zu einer sozialen Benachteiligung logisch auch eine soziale Bevorzugung  gehört, kann uns vor einem zu engen Blick auf vermeintliche Versagenskinder bewahren…  (a. a. O: S.28)

1.2       Soziale Benachteiligung in Deutschland

1.2.1.        die soziale Spaltung in Deutschland ist beschreibbar

Steigen wir ein mit einem konkreten Beispiel, auf das Joachim Schroeder (2007d) hinweist: Untersuchungen zur Sozialstruktur Hamburgs zeigen, dass in der Hansestadt nicht mehr als acht von 179 Ortsteilen sozial und ethnisch „durchmischt“ sind, also verschiedene Schichten und Lebenslagen miteinander in einem Viertel leben. Ansonsten gibt es entweder bürgerliche Viertel mit einer Konzentration vermögender und sehr vermögender Bevölkerungsgruppen oder Armutsquartiere, in denen vorwiegend die Deklassierten leben. Es gibt 26 Ortsteile, in denen jeweils unter 5 % der Anwohner Hartz-IV beziehen und wo zudem der Ausländeranteil überwiegend weniger als 3% beträgt. Andererseits gibt es 15 Stadtteile mit 40-80% Hartz-IV-Beziehern und einem Migrantenanteil etwa in derselben Höhe…. Unter 31 entwickelten Ländern der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) belegt Deutschland hinsichtlich der sozialen Gerechtigkeit einen Platz im Mittelfeld hinter Großbritannien und Tschechien… (Henning 2011) ...
… soziale Ungleichheit und Verarmung in Deutschland als Folge einer verfehlten Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Integrationspolitik… (a. a. O. S.29) … Längst reichen viele regulären Beschäftigungsverhältnisse nicht mehr aus, um ein zeitgemäßes altersentsprechendes Leben zu führen, so dass vollbeschäftigte Familienväter und –mütter Nebenjobs annehmen müssen, um ausreichend Einkommen zu erwirtschaften (vgl. Strengmann-Kuhn 2003)… (a. a. O. S.30) .. Statt aber z. B. die rund 200 Milliarden vererbten Euro jährlich (!) angemessen zu besteuern, wird Lohnerwerb- und Mehrwertsteuer erhoben, die der arbeitende oder auch nicht (mehr) arbeitende Mensch zu zahlen hat… (a. a. O: S.31)
… Hier soll selbstverständlich auch nicht einer Enteignung oder deinem kommunistischen Gesellschaftssystem das Wort geredet werden…
Der renommierte Verwaltungswissenschaftler Herbert von Arnim (2009) … beschreibt, dass sich auch die Willensbildung in Deutschland verändert habe. (a. a. O. S.32,33) Während grundsätzlich das Volk fachkundige Vertreter einzelner Bereiche und konstruktiver Strategien wählen solle, entscheiden die Parteien längst völlig eigenmächtig und offensichtlich im Einvernehmen mit den großen Wirtschaftsverbänden und Finanzinstituten, wer welche Entscheidungen treffen darf und welche Subventionen wohin fließen sollen…

3.2.2  Die Armut in Deutschland hat Gesichter (a. a. O. S.33)

… Dabei wird deutlich, in welchem Ausmaß der Faktor >Kinderhaben< in Deutschland zum Armutsrisiko geworden ist. Kinder führen in den meisten Fällen nicht zu einem höheren Einkommen, benötigen aber sowohl Zeit der Erziehungsberechtigten als auch Geld für ihren Lebensunterhalt… (a. a. O. S.38)
… Durch eine rein formale vertikale Darstellung ist es nicht möglich, Unterschiede zwischen den Lebensentwürfen und Lebensvorstellungen zu erfassen, die nicht in erster Linie etwas mit Geld, Formalbildung oder Arbeit zu tun haben, sondern z. B. mit Gewohnheiten, Vorlieben, Prioritäten und den Geschmack der Menschen einschließen. Insbesondere als Grundlage für pädagogische Überlegungen interessiert uns, welche Dinge Menschen in bestimmten Lebensgruppen wichtig, angenehm oder völlig unmöglich finden. Es interessiert uns sogar mehr, wie sie eingerichtet sind, als dass wir wissen wollten, ob ihr Vater auch schon Metzger war. (a. a. O. S.42) Wenn wir etwas pädagogisch Nennenswertes über das Leben der Menschen erfahren wollen, brauchen wir einen anderen Zugang… (a. a. O. S.43)

Nachdem Jörg Ueltzhöffer und Berthold Flaig gemeinsam den Begriff der >sozialen Milieus< entwickelt hatten (… 1992), setzt Gerhard Schulze im Jahr 1992 mit seinem Buch Die Erlebnisgesellschaft… bei der Betrachtung der Lebensweisen einen sehr pragmatischen Schwerpunkt… (a. a. O. S.43)

  1. Zu den klassisch gehobenen Leitmilieus zählen…

Konservative (4 % der Bürgerinnen und Bürger)
Sie stellen das deutsche Bildungsbürgertum dar und verstehen sich selbst als moralische und gesellschaftliche Autorität. Gepflegte Umgangsformen, klare Vorstellungen vom richtigen und falschen Leben und leidenschaftliches Interesse  an der moralischen und funktionalen Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zeichnen das Milieu aus. (a. a. O. S.45,46) Zentrale Werte sind Pflichterfüllung, Disziplin, Erfolg und gute Vernetzung. Für Konservative gibt es mit dem jungen Erwachsenenalter eine klar benennbare Lebensspanne, in der wichtige Entscheidungen getroffen werden. Sie betreffen die persönlichen Lebenswerte und insbesondere die Wahl des Berufes und des Partners. Ein Wechsel in diesen Formalia ist nahezu undenkbar.

Etablierte (5 % der Bürgerinnen und Bürger)
Sich selbst verstehen sie als professionelle und kreative Querdenker. Die besonders gegen traditionalistische Unbeweglichkeit vorgehen. Das Mileu legt großen Wert auf Stil und gute Kleidung. Im Beruf liegt die Betonung auf Eigenverantwortung und den Führungsanspruch. Eine Führungsrolle wird allerdings unkonventionell z.B mit >Lockerheit< gefüllt. Die Etablierten arbeiten an sich und ihren Meinungen über verschiedene Aspekt des Lebens und schätzen sich beruflich als äußerst diszipliniert und fokussiert ein.

Postmaterielle (9 % der Bürgerinnen und Bürger)
Aufgeklärte Bildungselite mit individualistischer und liberaler Grundhaltung. Die Alltagsphilosophie gründet in der Kritik und der Entschlossenheit, dem Schein der Masse nicht zu trauen. Die kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Zeitströmungen und eine beständige Suche nach neuen Lösungen, nach sozialer Gerechtigkeit, Weltverbesserung und kognitiver Auseinandersetzung mit Zuständen und Meinungen prägen das Leben der Postmateriellen. Dabei suchen sie immer eine optimale Form der Selbstverwirklichung, sprich: der Umsetzung ihrer Fähigkeiten und Neigungen.

  1. Zu den jungen und gehobenen Milieus zählen …

Performer (14 % der Bürgerinnen und Bürger)
Das Selbstwertgefühl speist sich im Wesentlichen aus dem, was man noch zu leisten plant. Mit stets aktuellem Wissen auf höchstem Niveau und technischer Perfektion sollen die hohen beruflichen Positionen und Verantwortungen zu neuen internationalen Allianzen verbunden werden. (a. a. O. S46,47) Kompetenzerweiterung, Fortbildung und Vernetzung sind zentrale Elemente des Lebens. Eine Selbstdefinition findet auch über den vollen Terminkalender und den ausgefallenen un hochwertigen Lebensstandard statt. Dabei stehen die eigene Welterfahrung, die Flexibilität, die Mobilität und das geforderte Selbstmanagement in diesem Leben im Mittelpunkt der Wahrnehmung.

Expeditve (8 % der Bürgerinnen und Bürger)
Sie sind nicht bereit, mit dem Mainstream zu leben – aber haben auch keine Ambitionen, die Welt zu verbessern (anders als die Postmateriellen). Expeditive konstruieren sich mehr als andere Milieus ihre eigene Welt. Sie sind Lebenskünstler und wollen ihre eigenen Grenzen kennenlernen und ggf. erweitern. Ihre hohe Bildung und gehobene Positionen ermöglichen es ihnen jedoch zugleich, ein >normales< – und in gewissem Rahmen stabiles Leben zu führen und damit trotz ihrer unkonventionellen Einstellung feste Lebensbezüge zu erstellen (Heirat, Familie, eigenes Haus etc.). Diese festen Lebensbezüge sind allerdings dann häufiger einem Wechsel unterzogen, als dies in anderen Milieus der Fall ist.

  1. Zu den Milieus im konventionellen Mainstream zählen…

Traditionelle (15  % der Bürgerinnen und Bürger)
Das Milieu erstreckt sich in vertikaler Hinsicht über drei Schichten und vereint drei Submilieus. Zum einen ist mit den Traditionsverhafteten die Sicherheit und Ordnung liebende Nachkriegsgeneration zu beschreiben, die lokal in einer Art kleinbürgerlicher Welt verwurzelt ist. Sie identifizieren sich mit der Region, mit der Kirche, mit den Vereinen und wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. Die zweite Gruppe bilden die jungen Traditionellen, die einerseits traditionsbewusst leben (auch eine klassische Rollenverteilung pflegen) und lokal verortet sind, sich aber andererseits von den Moralvorstellungen ihrer Eltern lösen wollen. Sie erben von den Eltern (z.B. einen Bauplatz), sind fleißig, haben enge Bindungen zu ihren Arbeitgebern und schätzen die eigene Familie sehr. Ihre einzige Sorge: Die Region verlassen zu müssen, um beispielsweise eine andere Arbeitsstelle einzunehmen. Zum dritten Submilieu der zurückgezogenen Traditionellen  gehören alte Menschen. Sie warten im Wesentlichen auf die Abfolge der Tagespunkte im festen Rhythmus des Alltags – wie etwa auf die Mahlzeiten, die Spaziergänge, eventuell den Besuch, einen Anruf oder die Verabredung zum Kaffee. Zurückgezogene Traditionelle fühlen sich >jetzt übrig< und leben häufig räumlich entfernt von ihren Kindern und Eltern.

Bürgerliche Mitte (18 % der Bürgerinnen und Bürger)
Das statusorientierte Bürgertum stellt ein Submilieu dar, das sich mit Gütern, Bildung und Prestige gut ausgestattet sieht und insgesamt in beruflich und familiär stabilen Verhältnissen lebt. Ihr Grundstreben gilt dem Erhalt dieser Situation. Anzeichen dafür sind ihre Statussymbole: der dargestellte materielle Wohlstand. Ihr Engagement bringen sie in die regionale Gemeindearbeit ein und sind in den verschiedenen Bezügen meistens Wortführer. Ihre Kinder werden nach Kräften in Schule und Ausbildung oder Studium gefördert und unterstützt. Das moderne Harmoniemilieu als zweites Submilieu der Bürgerlichen Mitte stellt eher die kleinbürgerliche Welt qualifizierter Handwerker, Angestellter  und kleiner Selbständiger mit ihrer modernen Form des genügsamen Lebensstils dar. Ihr Motto ist „Anschluss  halten“ durch Streben nach Modernität – aber kein Risiko eingehen, und nichts übertreiben. Obwohl ein stiller Begleiter die stille Sorge ist, den Arbeitsplatz zu verlieren und sozial abzustürzen, hat sich im modernen Harmoniemilieu Zufriedenheit breit gemacht. Sie schätzen sich fortschrittlicher und moderner ein als die ähnlich situierten jungen Traditionellen. Insgesamt ist allerdings in der Bürgerlichen Mitte der Gesellschaft ein zunehmendes Absetzen von allzu kritischen, kompetenzerweiternden und nach Weiterentwicklung strebenden Gruppierungen zu beobachten. Damit zeigen sich Distinktionslinien zwischen der Bürgerlichen Mitte und etwa den Postmateriellen und den Performern. Es wird deutlich, das „die Mitte der Gesellschaft“ zugunsten einerseits aufstrebenden und andererseits zunehmend randständiger Milieus in Auflösung begriffen ist. (a. a. O. S.48)

  1. Zu den Milieus der modernen Unterschicht zählen …

Benachteiligte (16 % der Bürgerinnen und Bürger)
Die stark materialistisch geprägten Konsum-Materialisten verfolgen das Ziel, von den „normalen“ Bürgern Anerkennung zu erfahren und an der lokalen Gesellschaft teilzuhaben. Grundgefühl ist die Jagd nach Normalität und demonstrativem Konsum, um zu zeigen, das man noch nicht ganz unten angekommen ist. Hierzu zählen (günstige) Reisen, demonstrative Anschaffungen (z.B. von Kleidung und Konsumgütern)und Besuch von Freizeitparks und öffentlichen Events. Das Rollenverständnis ist klassisch und tendenziell machohaft. Die Mitglieder des defensiv-prekären Submilieus sind dagegen in der Öffentlichkeit kaum wahrzunehmen. Sie empfinden sich von der Gesellschaft ausgeschlossen und weisen einen hohen Anteil von Langzeitarbeitslosen und Hartz-IV-Empfängern auf. Dominantes Gefühl im Submilieu der Defensiv-Prekären: >Ich bin nichts wert<. Zur Erinnerung: Im Submilieu der zurückgezogenen Traditionellen: >Ich bin jetzt übrig<. Sie meiden jede Situation, in denen sie anderen Menschen oder fordernden Situationen ausgesetzt sind.

Hedonisten (11 % der Bürgerinnen und Bürger)
Die Lifestyle-Hedonisten suchen nach aufregenden Erlebnissen, nach neuen Medien und nach ununterbrochener Kommunikation mit Freunden und der Welt. Beruflich leben sie diese Neigung ebenfalls aus: Sie tendieren zu Jobs mit Erlebnischarakter und befristete Beschäftigungsverhältnissen. Dadurch können sie Lebendigkeit und erotische Ausstrahlung demonstrieren. Allerdings sind Lifestyle-Hedonisten jederzeit mit der bürgerlichen Gesellschaft in Kontakt. Anders das zweite Submilieu der Hedonisten; Die Subkulturellen Hedonisten leben bewusst am Rand der Gesellschaft. Sie leben radikal die eigene Freiheit und riskieren Extremes und Tabubrüche. Im Alltag wollen sie sich dem Leistungsdruck und den Erwartungen der Bürgerlichen nicht beugen.
Durch biografische Interviews konnte in begrenztem Umfang der Frage nachgegangen werden, inwiefern im Lebenslauf Milieuwanderungen einzelner Personen oder Milieugruppen nachvollzogen werden können… (a. a. O. S.49) … Wippermann (2011, 87) [Die Abbildungen über Milieumobilität und Dominante Milieupfade und Milieuaffinitäten wurden weggelassen (a. a. O. S.50]

… Migranten in Deutschland sind in vielen Fällen einem der im Delta-Modell beschriebenen Milieu zuzuordnen. Das Sinus-Institut (Beck & Perry 2007) … kam zu folgenden Ergebnissen:

Ein problematischer Teilhabe-Status ergibt sich ganz parallel zu den deutschen Milieus in den Bereichen der Unterschicht im religiös verwurzelten Milieu, im entwurzelten Flüchtlingsmilieu und im hedonistisch subkulturellen Milieu. (a. a. O. S.51)

1.2.4  Traumatisierende Biographien inmitten einer Wohlstandsgesellschaft
(a. a. O. S.52)

… Bis zum Juli 2012 wurden in Deutschland insgesamt 33 457 Asylanträge gestellt. Die Quote der Antragsstellung ist stark rückläufig. 1995 baten noch 166 951 Menschen um Aufnahmegenehmigung (Statista 2012c).
Die Flüchtlinge kommen in der Mehrzahl aus Afghanistan, Serbien, Iran und Syrien – Länder, in denen Krieg und Not herrschen. Die Hälfte der Antragsteller ist jünger als 16 Jahre. In Deutschland haben in den letzten Jahren allein 250 000 ehemalige Kindersoldaten Zuflucht gesucht… (Rister 2003) (a. a. O. S.53)

1.2.5  Risikofamilien und bindungsbenachteiligte Kinder
… In Deutschland werden derzeit mehr als 7 % der Haushalte von alleinerziehenden Frauen und rund 2 % von alleinerziehenden Männern bestritten. Im Jahr 1010 lebten rund 1,6 Millionen Alleinerziehende im Bundesgebiet (BMFSF 1011), davon 5,8 % Mütter und 0,4 % Väter mit drei oder mehr Kindern, 23 % Mütter und 1,9% Väter mit zwei Kindern… (a. a. O. S.57)

1.3  Soziale Benachteiligung im deutschen Schulsystem

3.31  Die zunehmende soziale Spaltung in Deutschland

… Die Ergebnisse dieser Studie … IfS… unterstreichen die Erkenntnis, dass Kinder armer und sozial marginalisierter Eltern nach wie vor in allen Bundesländern deutlich geringere schulische Chancen haben als Kinder von deutschen Akademikern. Auch Kinder mit Migrationshintergrund…. (a. a. O. S.60)

1.3.2  Kinder aus armen Verhältnissen werden abgehängt
In der Schule ist Armut … die permanente Erfahrung von Ausgrenzung und Missachtung…  Äußerlichkeiten … der Kleidung, der Musik, des Hobbys, der elektronischen Ausstattung… führen u. U. zu mangelnder Akzeptanz in einer Gemeinschaft oder seitens der Kinder zu scheuem Rückzug aus der Gruppe…. (a. a. O. S.61)

1.3.3  Soziale Milieus unterscheiden Lehrer und Schüler

Sozialer Milieus. Migrationshintergrund und Lebensstilgruppen beschreiben Wahrnehmungsmuster und Wertorientierungen, die sozial benachteiligte Kinder aus den unterschiedlichen Milieus maßgeblich von den Lehrkräften unterscheiden…. (a. a. O. S.63)

.. Wenn die Nachkommen von Bürgern aus der gesellschaftlichen Mitte bereits auf dem „ersten Bildungsweg“ gefördert werden und begabte Kinder aus bildungsfernen Familien auf aufwändigere Schullaufbahnen und den „zweiten Bildungsweg“ angewiesen sind, darf diese Notlösung nicht als Chancengleichheit dargestellt werden….  Initiative  http://www.arbeiterkind.de/http://www.arbeiterkind.de/

… rund 4000 ehrenamtliche Tutoren….
… Noch dramatischer stellt sich die Lage im Blick auf Personen mit Migrationshintergrund dar. 11,6 % der Bürger… mit Migrationshintergrund erreichen keinen allgemeinbildenden Schulabschluss und 46,8 % schließen keine Berufsausbildung ab (zum Vergleich: 1, 6 % und 20.1 %  ohne Migrationshintergrund.) Im Jahr 2008 lebten 15,6 Millionen .. mit Migrationshintergrund … in Deutschland… (a. a . O. S.64)

… in der europäischen Sozialcharta Artikel 17 Satz 2 … ist… die Pflicht des Staates festgeschrieben: „Kindern  und Jugendlichen eine unentgeltliche Schulbildung in der Primar- und Sekundarstufe zu gewährleisten… (a. a. O. S.66)

1.3.5  Risikokinder haben schlechte Rahmenbedingungen für die Schule

2  Pädagogische Förderung als Beruf … (a. a. O. S.70)

… Selbst die Forderungen nach gebundenen Ganztagsschulen und sinnvollen Konzepten für inklusive Schulen haben nicht zu wesentlichen Veränderungen in der Schullandschaft geführt, weil offensichtlich doch nicht so viel Geld ausgegeben werden soll. Es wird bei der Förderung also auf die Lehrkräfte und ihre ganz individuelle Arbeit ankommen… (a. a. O. S.71)

2.2  Berufsfeld zwischen Familienerziehung und Selbsterziehung … (a. a. O. S.67)

2  Pädagogische Förderung als Beruf

2.1  Zur Beschaffenheit  von Nährböden für soziale Benachteiligung … (a. a. O. S.70)

Lehrerinnen und Lehrer sind Profis…  (a. a. O. S.72)

Wer im Rahmen seiner beruflichen Aufgaben handelt, tut dies demnach dann professionell, wenn er seine besondere Handlungskompetenz durch Formalbildung, durch reflektierte Berufserfahrung und durch die Kenntnis aktueller Theorien und neuerer Forschungsergebnisse erworben hat u nd ständig erwirbt…
Ein guter und professionell arbeitender Pädagoge ist also in dieser Auffassung ein effektiver Erklärer bzw. Unterrichter… (Hermann Giesecke, 1993; Jochen Kade, 1997)… Klaus Prange und Gabriele Strobel-Eisele (2006)  wollen allerdings den Begriff des pädagogischen Handelns erweitert wissen. Sie verwenden >pädagogisches Handeln< und >Erziehen< synonym. Die verschiedenen Formen pädagogischen Handelns lassen sich dann sowohl in schulischer Lehre als auch in der Verhandlung über Lebenswandel und ethische Grundsätze – und sogar im Einüben von Tugenden. (a. a. O. S.73,74) Unter >Erziehung< verstehen wir konsensfähig all diejenigen Maßnahmen, die einem Menschen helfen, Mündigkeit und Autonomie zu erlangen (vgl. Böhm 2000)
… Andererseits reagiert Erziehung aber auch auf Missstände. Sie interveniert, wenn Verhalten auffällig ist, und sie wird aktiv, wenn im sozialen Miteinander oder in der individuellen Verarbeitung von Erlebtem etwas schief läuft… Dazu gehören dann Lernstrategien ebenso wie norm- und wertorientierte Entscheidungen, Gewohnheiten und Vorlieben… (a. a. O. S.74) … Die einzelne Person folgt der inneren Logik ihres Sinnsystems, welche unterschiedliche Kausalitäten, die Beziehung der einzelnen Elemente untereinander sowie Weltdeutung vorgibt bzw. ermöglicht. … Die in der Kindheit und Jugend entstehenden Verarbeitungs-, Bewertungs- und Motivationsmechanismen werden in den weiteren Jahren kontinuierlich ausgebaut, verfeinert und auch umgebaut. Verbunden mit der Entwicklung einer solchen Plausibilitätsstruktur ist die Transzendierung einzelner Werte, die damit in die Sphäre der Undiskutierbarkeit rücken und nicht neu überdacht werden müssen (vgl. Berger 1991). Das bedeutet: Ein „transzendierter Wert“ wird als >gesetzt“ behandelt und muss nicht mehr rational begründet werden. Wir sollten sogar zuspitzen: er darf nicht mehr rationale begründet werden. Wenn in einer Gesellschaft z. B. Menschlichkeit und Gleichwertigkeit gültige Werte sind, werden in der jeweiligen Erziehung entsprechende Normen abgeleitet. Normen setzen Werte im Alltag um. Das heißt: Der Wert Gleichwertigkeit aller Menschen wird in der Erziehung und im Alltag – wenn alles gut läuft – durch die Norm Hans und Anton dürfen nicht vor Anna und Christine bevorzugt werden umgesetzt. Sie müssen genau so oft mit dem Tafeldienst an der Reihe sind wie Anna und Christine. (a. a. O. S.75,76) Und das, obwohl sie selbst Jungs, und zudem ihre Väter vielleicht  Schulleiter oder Bürgermeister sind. Der Gleichberechtigungsgedanke, der ja zudem auch in der Normensammlung namens Grundgesetz festgelegt ist, darf nicht diskutiert werden. Er ist auf diese Weise transzendiert – aus unserer unmittelbaren Immanenz der Diskussionsmöglichkeit genommen Die Norm – also die Festlegung dessen, wie der Wert im Alltag umgesetzt wird – kann allerdings diskutiert werden. Sie ist nicht absolut, sie ist gewissermaßen relativ…  (a. a. O. S.76)

… Der Prozess der Transzendierung von Werten hat nun für die Erziehung im Kontext sozialer Benachteiligung insofern Bedeutung, als neben den gesellschaftsübergreifenden auch milieuspezifische Werte und Prägungen transzendiert werden. (a. a. O. S.76,77) Sie werden ebenso wenig offen diskutiert wie die gesellschaftsübergreifenden und sind deshalb für einen Teil der Mitmenschen aus anderen Lebensstilgruppen nicht gleichermaßen erkennbar und nachvollziehbar. Auf der Handlungsebene ist allenfalls die Umsetzung von Normen erkennbar… (a. a. O. S.77) …

                                                                                                                                                                                                                                         
1. These: Schulerziehung tritt als feinfühlige, aufmerksame, demütige Haltung und nicht als spezifische Tätigkeit auf… Öffentliche Abfragen, kommentierte Rückgaben von Schulaufgaben vor der gesamten Klasse und spitze Bemerkungen nehmen den betroffenen Schülern ihre Würde und demütigen sie nachhaltig… (a. a. O. S.78)
2. These: Schulerziehung stellt ein gegenseitiges Aushandeln von Handlungsmöglichkeiten und kein einseitiges Durchsetzen von Machtansprüchen dar.
4. These: Schulerziehung stellt grundsätzlich einen themenzentrierten Diskurs und keine gegenstandbezogene Produktion dar. …

Persönliche Autorität wird einer Person freiwillig zugesprochen. Sie verdient Respekt und wird aufgrund ihrer persönlichen Ausstrahlung und Vertrauenswürdigkeit als Autoritätsperson anerkannt. Diese Beschreibung deckt sich weitgehend mit dem Begriff der auctoritas…. (a. a. O. S.82)
… Schulerziehung – wenn sie den Maßstäben der Professionalität entsprechen soll – verlangt Vertrauen und persönlichen Respekt…
Als Fortsetzung der Familienerziehung und zur Vorbereitung auf die Phase der Selbsterziehung zielt die Schulerziehung im Wesentlichen auf spezifische Inhalte des Wollens, z. B. der Lerndisziplin, auf spezifisches Wissen, nämlich Inhalte unterschiedlicher Fächer und drittens auf spezifische Inhalte des Könnens, wie z.B. den Erwerb grundsätzlicher Problemlösungskompetenzen und später der selbstgesteuerten Wahrnehmungsveränderung… (a. a. O. S.83)
… In der Schulerziehung geht es nun darum, dass sich das Kind ein Sachwissen über die Welt aneignet… (a. a. O. S.84)
… Wer erziehen will, muss verstehen. Wer erziehen will, muss anerkennen… (a. a. O. S.85)

2.3 Pädagogisches Handeln zwischen Theorie und Praxis

Kommen wir zu einem zweiten denkbaren Nährboden für soziale Benachteiligung. In der öffentlichen Anerkennung des Lehrerberufs scheint – wie auch im Falle anderer Berufe – ein denkwürdiger Entwertungsprozess im Gang zu sein Obwohl die sehr verantwortungsvolle und gesellschaftlich zentrale Rolle der Lehrer und der Bildungsinstitutionen unbestritten ist …. Das jeweilige Laienwissen erlebt in unseren Tagen quasi exponentielles Wachstum… [etwa durch das] Internet... (a. a. O. S.86)
Weil Erziehungskompetenz und pädagogisches Deutungswissen in der Einschätzung vieler Menschen offensichtlich auf wundersame Weise irgendwie im Zeugungsakt erworben werden, treten viele Eltern gegenüber den professionellen Pädagogen in der Schule relativ respektlos auf… (a. a. O. S.88) … Die beste Praxis ist eine gute Theorie. Professionell arbeitende Pädagogen kennen sich hinsichtlich zentraler erziehungswissenschaftlicher Theorien und Konzepte aus und gestalten ihr Engagement und die Entscheidungen in diesem Sinne theoriegeleitet… (a. a. O. S.91) … Das intuitive Handeln rückt … ins Zentrum der gelungenen Verknüpfung von Theorie und Praxis – und gewinnt damit auch große Bedeutung für den Lehr-Lernprozess und die Förderung bei sozialer Benachteiligung…  Der Mensch findet in sich das, was über ein rationales Erkennen hinaus reicht. Er, der in der Gefahr steht, seine Gefühle lediglich zu denken, statt sie zu empfinden, erlebt Intuition und Bewusstseinserweiterung, indem er aufhört, Gefühle nur zu denken… (a. a. O. S.97)

2.3  Pädagogische Grundsätze für die Arbeit in der Schule … a. a. O. S.100)

1. Anerkennung und Achtung haben etwas mit Interesse füreinander zu tun

… Tipp: Ein behutsames Öffnen kann über die Einladung erfolgen, in ein vom Lehrer für jedes Kind angeschafftes hübsches Tagebuch jeden Tag in der Schule eine Eintragung zu machen. Hierfür werden jeden Tag im Rahmen des Unterrichts stille Zeiten eingeräumt, die die Schüler nutzen sollen, um ein paar Sätze zum vergangenen Wochenende, zum gestrigen Tag oder auch über die Ferien, die Zeit von der Einschulung oder ein Erlebnis in der Familie zu schreiben. Es muss jeden Tag etwas sein. Der Anfang wird möglicherweise nicht einfach und die zugesagte Diskretion, dass die Tagebücher nach der jeweiligen Schreibzeit in einem abgeschlossenen Fach für andere Schüler unerreichbar aufbewahrt werden, muss in jedem Fall eingehalten werden. (a. a. O. S.103,104) Selbstverständlich ist vereinbart,, das der Lehrer der einzige Mensch sein wird, der die Tagebücher liest… (a. a. O. S.104)

2         Schulische Förderung bei sozialer Benachteiligung

Herbert Goetze (1991a; 1991b) stellt in einer ausführlichen Literaturanalyse die amerikanischen Untersuchungen zu Unterrichtssituationen mit förderbedürftigen Kindern zusammen. Die Befunde wirken ernüchternd… Im Blick auf die Förderung sozial benachteiligter Schüler werden wir im Folgenden davon ausgehen, dass es sich bei dieser [negativen] Einstellung … förderbedürftigen…. Schülern gegenüber… um ein spezifisch amerikanisches Phänomen handelt, das in einem inklusiven deutschen Schulsystem nur in wenigen Ausnahmen anzutreffen sein wird… (a. a. O. S.108)
… Es geht bei aller sozialer Förderung und der Betonung der lebensweltlichen Bezüge im Endziel um Bildung, schulische Leistung und das Erreichen konkreter Bildungsziele… (a. a. O. S.109) …

  1. Beeinträchtigungen des idealtypischen Lernprozesses im Bereich der Motivation

a) Martin Seligman (2011) beschreibt mit dem Phänomen der erlernten Hilflosigkeit einen Motivationszustand, in dem Kinder nicht (mehr) erwarten, dass ihr persönliches Erleben von eigenen Aktivitäten abhängig ist… (a. a. O. S.114) … Jede Form der Gruppenarbeit ist für Kinder, die unter erlernter Hilflosigkeit leiden kontraindiziert… Die individuelle Bezugsnorm … gibt Raum für kindbezogene positive Würdigung des persönlichen Fortschritts…
Die b) Motivationslabilität (Kobi 1980,28) beschreibt einen Zustand, der zeitweise überschießende Motivation und geradezu überbordende Aktivität beinhaltet – und kurz darauf in Motivationsschwäche verfällt, die einem Zusammenbruch gleicht… (a. a. O. S.115)
Tipp: Kinder mit Motivationslabilität sind verzweifelte und verunsicherte Kinder, die sich gegen ihr Versinken in der Handlungsunfähigkeit auflehnen. Sie brauche Hilfe in der Strukturierung ihrer Aufmerksamkeit und hinsichtlich ihrer Arbeitsstrategien…
Die c) Motivationsaberrationen … Die betreffenden Kinder sind motiviert. Eventuell sind sie sogar hochmotiviert.. Der Lehrer bringt einen Gegenstand mit und erläutert kurz die Aufgabenstellung… Aber er tut dies eventuell an der aktuellen Lebensgeschichte und Lebensproblematik seines Schülers oder sogar verschiedener Schüler vorbei, weil er nicht ermessen kann, welche Entwicklung im Leben der Schüler welche Assoziationen in welche Richtung auslösen (vgl. hierzu Heckhausen & Heckhausen 2010).… (a. a. O. S.116)
Die d) Motivationsgebundenheit stellt eine >extreme bzw. nicht mehr altersgemäße soziale Gebundenheit der Leistungsmotivation an bestimmte Personen“ dar (Kobi 1980, 29) … Motivationsgebundenheit kann sich auch hinsichtlich eines Raumes, einer Uhrzeit oder einer Schülergruppe entwickeln… (a. a. O. S.117)
Tipp: Motivationsgebundenheit gründet in dem Wunsch nach Sicherheit durch menschliche Nähe… erleben, dass es sichere Bindung gibt… Einen weiteren Schritt stellt die Doppelbesetzung der Arbeitssituation durch zwei Lehrkräfte dar…  (a. a. O. S.117,118)
… Eine fünfte Form der Motivationsbeeinträchtigung ergibt sich aus dem negativen Selbstbild, das viele sozial benachteiligte Schüler entwickelt haben. Fortan bauen sie grundsätzlich auf e) Risikovermeidung und beziehen dies auch auf jede Form des Lernens… (a. a. O. S.118)

2. Beeinträchtigungen des idealtypischen Lernprozesses im Bereich des Widerstanderlebens

  1. Im idealtypischen Lernprozess entsteht eine Dissonanz zwischen dem Beobachteten und Gehörten und dem, was ich schon weiß. Ich gerate ins Stocken, weiß nicht weiter, beginne zu rätseln und suche eine Erklärung für „das Neue“. Dieser für das Lernen wichtige Widerstand wird bei Schulkindern auf unterschiedliche Weise erlebt… (Kobi 1980,33).. (a. a. O. S.119) …
  2. Beeinträchtigungen des idealtypischen Lernprozesses im Bereich der Problemlösung… (a. a. O. S.122)
  3. Beeinträchtigungen des idealtypischen Lernprozesses im der Übung/der Verfestigung … (a. a. O. S.123) …
  1. Beeinträchtigungen des idealtypischen Lernprozesses im Bereich des Transfers
    Ziel eines schulischen Lernprozesses ist in der Regel die Fähigkeit des Schülers, über den allzu trivialen Lerneffekt hinaus ein Prinzip festzuhalten, eine Regel zu beherzigen oder den gelernten Sachverhalt auf andere – ähnliche – Problemlagen übertragen zu können… (a. a. O. S.124)  …

3.2 „Sozial benachteiligt“ ist keine homogene Gruppe

3.2.1  Soziale Spaltung entsteht außerhalb der Schule …

Sozial benachteiligte Kinder… wurden von unserem selektiven Schul- und Betreuungssystem bisher in keiner eigenen Sonderschule oder sonstigen Institution >aufgefangen<… (a. a. O. S.125)

3.2.2  Förderung armer Kinder … (a. a. O. S.127)

3.2.3  Förderung von Kindern aus unterschiedlichen Milieus  … (a. a. O. S.129)

Die Erziehungsstile unterscheiden sich stark nach dem Bildungsniveau der Eltern. Mit steigender Bildung werden die Praktiken weniger autoritär (Koch 20078a, 112). So stellen z.B. offene Lernformen allgemein anerkannte und entwicklungsfördernde Alternativen zu den eher direktiv und autoritär scheinenden frontalen Unterrichtsformen dar, bergen aber für Kinder aus instruktionslastig erziehenden Elternhäusern erhebliche Schwierigkeiten. Sie lernen u. U. unkonzentrierter, weil sie nicht ad hoc mit viel Freiheit und Selbstorganisation im Lernprozess umgehen können… (a. a. O. S.131)  …

3.2.4  Förderung traumatisierter Kinder  … (a. a. O: S.232)

 3.2.5  Förderung von Flüchtlingen und Kindern mit Migrationsintergrund

… (a. a. O. S.136)
…Jüngere Flüchtlinge benötigen eigene bilinguale Schulangebote, die von der Primarstufe bis zum Schulabschluss auch mit der Unterstützung einer Muttersprachenlehrkraft einen Schulabschluss ermöglichen (Schroeder 2007d). Kinder und Jugendliche, die ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland leben, bedürfen wiederum Bildungsangebote, in denen die erzwungene oder freiwillige Rückkehr mitbedacht wird… sowohl als Integration in die deutsche Gesellschaft wie auch als Reintagration in die Herkunftsgesellschaft und als Vorbereitung für Weiterwanderung… (a. a. O. S.137)
… 2. Phase interkultureller Pädagogik: Vom Beginn der 1980er Jahre an wird auf breiter Ebene und in verschiedenen Fachdisziplinen das Modell einer >multikulturellen< Gesellschaft diskutiert. … Nicht die Betroffenen müssen sich dem Bildungssystem anpassen, sondern die real existierende Schule muss sich in der Gestaltung ihrer Konzepte und der Angebote an den Lebenslagen und kulturellen Identitäten orientieren. Das Augenmerk der Unterrichtsgestaltung liegt also auf dem Merkmal der >Differenz< und das Grundverständnis auf Mehrperspektivität und Anerkennung verschiedener kultureller Prägungen und körperlich/kognitiven Fähigkeiten. Für das gleichberechtigte Miteinander in einer multikulturellen Gesellschaft sind Toleranz und die Bereitschaft, sich auf das Verständnis anderer Plausibilitäten einzulassen, von zentraler Bedeutung. Interkulturelle Pädagogik rechnet mit dem dauerhaften Zusammenleben unterschiedlicher kultureller Prägungen in der deutschen Gesellschaft…. Fremdsprachigkeit muss nicht ausschließlich ein Problem darstellen, es birgt in einer global zusammenwachsenden Welt unschätzbare Potenziale… Schulische Integration darf nicht vorwiegend auf dem Niveau der Förder- und Hauptschule angestrebt werden, sondern muss auch Zugang zu höheren Lern- und Qualifikationsniveaus ermöglichen… (a. a. O. S.140)
… Auf schulischer Ebene fordert Ulf Preuss-Lausitz (2003, zit. Nach Holzbrecher 2004,64f.): a) die stärkere Einbeziehung von Lehrern aus zentralen Herkunftsländern, b) Einbeziehung von Künstlern, Geschäftsleuten, Sportlern und sozialen Aktivisten aus Herkunftsgruppen, c) mehrspektivische Curricula, d) Kooperationsprojekte mit Migranten-Vereinen, e) Nachhilfekurse durch qualifizierte Migranten für Migranten, f) regelmäßige regionale Auswertungskonferenzen. (a. a. O. S.141,142) …

3.2.6 Förderung von Risikokindern … (a. a. O. S.242)

… Speziell für diese Schülergruppe und vor dem Hintergrund der angestrebten Inklusion benachteiligter und behinderter Kinder in die Regelschule ist der konsequente Ausbau von inklusiven gebundenen Ganztagsschulen notwendig (Ellinger et al. 2007). Es liegen eine Reihe empirischer Befunde vor, die nachweisen, dass gebundene Ganztagsschulen einen wesentlichen Beitrag zur sozialen Entwicklung auffälliger Kinder, zur Verbesserung der Schulleistungen und zur Entwicklung eines positiven Selbstbildes leisten (Ellinger et al. 2009, Fischer et al. 2011). In einer gebundenen Ganztagsschule erhalten Risikokinder die Möglichkeit, nicht nur als Schulversager aufzutreten –, sondern in anderen Fähigkeitsbereichen auch Stärken zu zeigen… (a. a. O. S.143) …
Da die gebundene Ganztagsschule weder Kinder aus armen Verhältnissen noch Risikokinder aus ihren Familien lösen will, gehört eine intensive Elternarbeit fest zum Aufgabenbereich des Teams…

3.3 Milieusensible Ganztagsschulen als Vision inklusiver Schulentwicklung

Die vorgestellten schul- und unterrichtsorganisatorischen Konzepte können allerdings nur in einem allgemeinen Rahmen Förderung und Bildung ermöglichen. In vielen Fällen werden solche didaktischen Hilfen den tatsächlichen Bedarfen sozial benachteiligter Schüler nicht völlig gerecht. Joachim Schroeder plädiert deshalb in seiner Stellungnahme zur Frage nach inklusiver Schulentwicklung für den Aufbau >milieusensibler kommunaler Bildungslandschaften< (Schroder 2007d). Auch Gotthilf Hiller fordert eine Schullandschaft, die aus einem Netz aufeinander abgestimmter Schulen besteht. Diese Institutionen folgen in ihrer inneren Differenzierung, die an den  Bildungslagen der Kinder orientiert sind. (a. a. O. S.147,148)
… Ausgehend von den Bedarfen und von den Potenzialen der verschiedenen Gruppen sozial benachteiligter Kinder und Jugendlicher kann einen gesellschaftliche Inklusion nur im Rahmen einer gebundenen Ganztagsschule gelingen (Ellinger et al, 2007). Diese Ganztagsschulen arbeiten dann effektiv im Sinne der Förderung und Unterstützung der Schüler, wenn sie jeweils einen bedarf- und zugleich potentialorientierten Schwerpunkt ausgebildet haben. Gebundene Ganztagsschulen in einer kommunalen milieusensiblen Bildungslandschaft können jeweilige lebenslagenorientierte Curricula entwickeln und zugleich Netzwerke ausbilden, die eine Integration der sozial benachteiligten Kinder und Jugendlichen in die deutsche Gesellschaft unterstützen. Ulrich Heimlich (2012) weist in seinen Überlegungen zu schulischen Organisationsformen sonderpädagogische Förderung auf dem Weg zur Inklusion auf die Bedeutung von Netzwerkstrukturen hin. Insbesondere die bereits seit etlichen Jahren bestehenden Förderzentren können als Beispiel für die angedachten neuen Ganztagsschulen innerhalb sozialraumbezogener Netzwerke gelten.
Die Netzwerke können aus Einzeleinrichtungen bestehen, die unterschiedliche Schwerpunkte bilden und mit diesen bei Bedarf die übrigen Ganztagsschulen unterstützen, z. B.

Die einzelne schwerpunktmäßig ausgerichtete gebundene Ganztagsschule sollte grundsätzlich für Schulbesuch aller Kinder offen stehen…
Die gesellschaftlich angestrebte Integration von Schülergruppen, die ohne körperliche Einschränkung und ohne Intelligenzmangel aufgrund weltweiter und innerdeutscher Benachteiligungsmuster zu den Verlieren zählen, bedarf möglicherwiese für eine bestimmte Zeit eines Schonraumes, der sich an Sozialräumen orientiert. Eine Integration in die Kreise derjenigen, durch deren Lebensstile, Prioritäten und Wertesysteme sie erst benachteiligt wurden, ist im Blick auf viele Schicksale ein zu ehrgeiziges Ziel. Ohne strukturelle Veränderungen wird die Integration sozial Benachteiligter nicht erfolgreich sein.
>Es gibt kein richtiges Leben im falschen“, sagte Theodor W. Adorno. (a. a. O. S.149)


Verlagsinformationen W. Kohlhammer GmbH. zur Reihe Fördern lernen:

Roland Stein
Förderung bei Ängstlichkeit und Angststörungen

2012, 180 Seiten, ISBN 978-3-17-021978-6

Hannah Schott
Förderung bei Sucht und Abhängigkeiten

2011, 116 Seiten,  ISBN 978-3-17-021558-0

 

 

Ulrich Heimlich
Gemeinsam von Anfang an

Inklusion für unsere Kinder mit und ohne Behinderung
Ernst Reinhardt Verlag München Basel
ISBN 978-3-497-02294-6 (Print) ISBN 978-3-497-60074-8 (E-Booki)
ISSN 0720-8707
Inklusion hat positive Auswirkungen für alle Beteiligten

Liebe Leserin, lieber Leser!
Inklusion ist in aller Munde. Manche sprechen sogar von einem Megathema der Bildung. Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit und ohne Behinderung sollen von Anfang an gemeinsam spielen, lernen und leben.
Von der Kindergrippe bis zum Abitur – und darüber hinaus im Beruf, im Wohnviertel und in der Freizeit. Seit vielen Jahren wird dieses Modell bereits in Deutschland praktisch erprobt. Die praktischen Erfahrungen und die wissenschaftliche Forschung seit den 190er-Jahren haben in Deutschland und in vielen anderen Ländern gezeigt, dass mit der Inklusion ein sehr erfolgreiches Modell mit vielen positiven Wirkungen für alle Beteiligten entstanden ist.

Aber immer noch ist nur knapp ein Fünftel der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung in Regeleinrichtungen. …
Inklusion hat positive Auswirkungen auf alle Beteiligen (a. a. O. S.7)
Viele Eltern wollen, dass ihre Kinder mit Behinderung möglichst intensiv mit anderen Kindern zusammen sind. Und das am liebsten so früh wie möglich. Aber es gibt auch viele Eltern, die daran zweifeln, ob es sinnvoll ist, dass Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderung gemeinsam lernen. Macht mein Kind auch genug Lernfortschritte, wenn es mit Kindern mit Behinderung zusammen in die Schule geht? Leidet es nicht darunter, wenn es tagtäglich im Kindergarten oder in der Schule mit einer Behinderung konfrontiert wird? Ist es nicht viel besser, wenn Kinder mit möglichst gleichen Fähigkeiten zusammen lernen? Wird mein Kind nicht vernachlässigt, wenn sich die Erzieherinnen oder die Lehrkräfte mehr um Kinder mit Behinderung kümmern müssen? … Von diesen Fragen und möglichen Antworten handelt der vorliegende Ratgeber…
Inklusion betrifft alle Bildungseinrichtungen 
…Auch Eltern von Kindern ohne Behinderung haben deshalb ein berechtigtes Interesse daran zu erfahren, wie eine inklusive Bildungseinrichtung aussehen sollte, welche Vorteile das für  ihre Kinder bringt und was sie zum Gelingen dieser Idee beitragen können…  (a. a. O. S.8,9)
„Unterschiede zwischen Menschen sind interessant. Wir freuen uns an ihnen“ (Hartmut von Hentig 2001, 77)
Bislang geht in Deutschland die überwiegende Zahl der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung in Förderschulen* und andere Sondereinrichtungen. Viele Eltern von Kindern mit Behinderung fragen sich nun, warum ihre Kinder mi anderen gemeinsam spielen und lernen sollen. Ist es nicht besser, wenn sie in eine beschützende Einrichtung gehen und dort unter sich sind? Manche Eltern befürchten, dass ihre Kinder mit Behinderung im Regelkindergarten oder in der Schule von anderen gehänselt werden. Aber es hat sich in den Jahren seit 1970 auch in Deutschland gezeigt, dass sich Kinder mit Behinderung ebenso gut im Regelkindergarten oder in der allgemeinen Schule entwickeln und dort n einigen Bereichen sogar besser lernen können.
Noch zu häufig werden Menschen mit Behinderungen ausgesondert und an den Rand gedrängt… (a. a. O. S.12… Sogar berühmte Philosophen wie Platon (428-3489 v. Chr.) und Aristoteles (384-322 v. Chr.) fanden es gerechtfertigt, behinderte Säuglinge zu töten…
Wir mussten leider draußen bleiben..  Exklusion: Kinder mit Behinderung waren im 18. Jh. Aus Bildungseinrichtungen ausgeschlossen

Im Jahre 1825 erfand der damals 16-jährige, selbst durch einen Unfall erblindete Louis Braille (1809-1852) die Blindenschrift… (a. a. O. S.14)
Bereits 1771 hatte ebenfalls in Paris der Abbé de l’Épee (1712-1789) die erste Schule für taube Kinder eingerichtet und dort mittels Zeichensprache unterrichtet… Die Idee der .. der >Separation< … war…, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung einen >Schonraum< benötigen, in dem sie intensiv gefördert werden…. Alle Menschen benötigen auch Schonräume!... (a. a. O. S.15) … Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entstanden erste Nachhilfeklassen, die jene Kinder fördern sollten, die in der Volksschule nicht mithalten konnten. Ziel war hier noch die Rückführung dieser Kinder in die Volksschule… Erst ab 1881 setzte die Gründung eigenständiger Hilfsschulen, z. B. durch Heinrich Kielhorn (1847-1913) in Braunschweig ein… (a. a. O. S.16) … Die … sogenannten >Lernbehinderten< machen bis heute die größte Gruppe unter den Schülern mit Behinderung aus. Kinder mit Sprachbehinderungen wurden ab 1880 zunächst in Sprachheilkursen an Volksschulen gefördert, die sich allerdings später ebenfalls über Sprachheilklasse zur eigenständigen Sprachheilschule weiterentwickelten… (a. a. O. S.17)
Mittendrin von Anfang an
Im Jahre 2006 verabschiedeten die Vereinten Nationen nun die „Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen“ (VN BRK). Die Bundesregierung hat diese Konvention 2008 unterzeichnet und im März 2010 bei den Vereinten Nationen in New York hinterlegt…
„1. Die Vertragsstaaten erkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung und Erziehung an. Mit Blick auf Realisierung dieses Rechts ohne Diskriminierung und auf der Basis von Chancengleichheit stellen die Vertragsstaaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen und lebenslängliches Lernen  sicher mit dem Ziel. Die menschlichen Möglichkeiten sowie das Bewusstsein der Würde und das Selbstwertgefühl des Menschen voll zur Entfaltung zu bringen und die Achtung vor den Menschenrechten, den Grundfreiheiten und der menschlichen Vielfalt zu stärken.
Menschen mit Behinderungen ihre Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre Kreativität sowie ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltungen zu lassen.
Menschen mit Behinderungen zur wirklichen Teilhabe an einer freien Gesellschaft zu befähigen.“ (Vereinte Nationen 2009. Übersetzung von mir, U. H.). …(a. a. O: S.21)
Während wir bei der Integration dafür sorgen mussten, dass Kinder mit und ohne Behinderung , die getrennt gefördert wurden, wieder zusammen kommen können, sollen in inklusiven Bildungseinrichtungen Kinder mit und ohne Behinderung erst gar nicht getrennt werden… Die Unterschiedlichkeit der Kinder soll in inklusiven Einrichtungen nicht eine Belastung sein. Die Unterschiedlichkeit … ist vielmehr der Reichtum der Einrichtung und die Grundlage des gemeinsamen Spielens und Lernens….
Jedes Kind hat Fähigkeiten, eigene Interessen und Bedürfnisse (a. a. O: S.22) … Der entscheidende Kern der Inklusion bleibt das Voneinander-Lernen und das Gemeinsam-Spielen… Der Motor dieser Entwicklungsanregung ist der Wunsch aller Kinder – auch Kinder mit Behinderung – neben den Eltern ebenso mit anderen Kindern zusammen sein zu können.. Sie müssen täglich zusammen sein können, um das Potential der Beziehungen zu Gleichaltrigen (sog. Peergroup) auszuschöpfen (Cloerkes 1997)… (a. a. O. S.23) Auf diesem Weg der Inklusion im Bildungssystem – so die Hoffnung – soll letztlich auch mehr Inklusion in der Gesellschaft entstehen… (a. a. O. S.24)   … Viele Eltern von Kindern ohne Behinderung würden ihre Kinder jederzeit wieder in eine inklusive Kindertagesstätte oder Schule geben, weil sie erlebt haben, welche Bereicherung das Miteinander für alle Beteiligten sein kann.
Tipp Eltern die unsicher sind, ob die Inklusion der richtige Weg für ihr Kind mit Behinderung ist, sollten einmal einen inklusiven Kindergarten oder eine inklusive schule besuchen…   Gleichwohl sollte auch der Wunsch der Eltern respektiert werden, die sich für eine Heilpädagogische Tagesstätte oder ein Sonderpädagogisches Förderzentrum entscheiden.    Deshalb werden wir dem >Geist der VN-BKR auch am ehesten gerecht, wenn wir die Wahlmöglichkeiten der Eltern bezogen auf den Förderort entsprechend gesetzlich absichern. Aber ebenso gilt, dass Eltern, die eine inklusive Bildungseinrichtung für ihre Kinder wünschen, in gleicher #Weise Unterstützung erfahren müssen. (a. a. O. S.25)
Checkliste   Wie Eltern die Entscheidung für die Inklusion vorbereiten können:

Behinderung oder Förderbedarf? – Was Etiketten bewirken
Heutzutage haben Menschen mit Behinderung in der Regel gelernt, mit ihrer Behinderung zu leben. Deshalb wird heute auch nicht mehr davon gesprochen, wie behindert ein Mensch ist, sondern davon, wie er behindert wird. (a. a. O. S.29)
… Wenn Kinder mit und ohne Behinderung im Kindergarten oder in der Schule zusammenkommen, steht zu Anfang meist die Behinderung im Vordergrund. Es ist interessant zu beobachten, wie Kinder im Kindergarten damit umgehen. (a. a. O. S.30)  
Beispiel In der integrativen Kindergruppe eine Kindergartens in Nordrhein-Westfalen ist das gleitende Frühstück langsam von allen Kindern wahrgenommen. Yannis hat schwer zu kämpfen mit seinem klein geschnittenen Frühstück, das er nur mit Mühe aus der bunten Plastikdose heraus zum Mund führen kann. Aber er will das unbedingt selbst können… Da im Gruppenraum vieles auf dem Teppich stattfindet, fällt es gar nicht weiter auf, dass Yannis fast immer auf dem Boden spielt. Aber er möchte unbedingt aufstehen und laufen können, wie die anderen auch. Auch heute zieht er sich wieder mühsam am Regal hoch… Annika hat das aus der Entfernung beobachtet… Sie stellt sich im Abstand von etwa zwei Metern gegenüber Yannis auf und fängt seinen Blick auf. Nun winkt sie ihm mit beiden Händen zu und fordert ihnen auf zu kommen. Mit großer Mühe zieht Yannis das linke Bein nach vorn. Seine Arme fuchteln dabei wild herum, weil er Mühe hat das Gleichgewicht zu halten… Nach dem dritten Schritt ist erst einmal Schluss für heute und Annika kann ihm gerade noch ihre Hände reichen, damit er nicht umfällt…  (a. a. O. S.31)

Tipp Beobachten Sie einmal, wie Kinder mit und Ohne Behinderung zusammen spielen. Besonders bei Kindern im Alter vor der Schule geht es dabei meist um die Ideen aller Kinder für das gemeinsame Spiel.
Nicht die Schwäche oder die mangelnden Fähigkeiten stehen für sie im Vordergrund, sondern das, was der andere kann… (a. a. O. S.32)


Kinder mit Behinderung sind in erster Linie Kinder – wie alle anderen auch
(a. a. O. S.33)
Außenstehende – besonders andere Eltern – fragen meist erst nach dem Schweregrad der Behinderung. … versuchen Sie, sich nicht zurückzuziehen, fangen Sie ein Gespräch an. Reden Sie über die Behinderung, aber auch über all das, was ihr Kind schon gelernt hat….
Es hat … den Anschein, als sei Behinderung eine Krankheit.. Es gibt aber viele Kinder mit Behinderung, die kerngesund sind… Wir gehen heute davon aus, dass die Behinderung keine Eigenschaft des Menschen ist. Auch seine soziale Umgebung hat Anteil an der Behinderung. (a. a. O. S.34)
Wer behindert wen? Behinderung ist keine Eigenschaft des Menschen, sondern die Aussonderung aus der Gesellschaft so die WHO.
Die WHO empfiehlt letztlich, die gesamte Lebenssituation eines Menschen mit Behinderung unter die Lupe zu nehmen und neben der unleugbar vorhandenen  Schädigung  auch seine aktiven Handlungsmöglichkeiten und seine Teilhabechancen zu berücksichtigen…  (a. a. O. S.35,36)
Ein Mensch wird dann behindert, wenn er sozial ausgegrenzt ist (a. a. O. S.37) … Betroffene lehnen es ab, als Behinderte bezeichnet zu werden…
Ist das Etikett Behinderung erst einmal „aufgeklebt“, so folgt daraus meist die Überweisung in eine spezielle Einrichtung …. (a. a. O. S.38)
Der Begriff Behinderung steht in der Kritik
Wenn sich der >Teufelskreis Behinderung< geschlossen hat, dann ist die abwertende Haltung der Gesellschaft gegenüber Menschen mit Behinderung  zu einem Bestandteil der Persönlichkeit geworden…(a. a. O. S.39)
Tipp: Wenn der Förderbedarf Ihres Kindes festgestellt werden soll, dann fragen Sie gezielt nach den Fördermaßnahmen, die für Ihr Kind ergriffen werden sollen. Lassen Sie sich diese Fördermaßnahmen genau erklären.
Eltern und Kinder sind kompetente Ansprechpartner im förderdiagnostischen Prozess
Die individuelle Förderung sollte genau geplant und überprüft werden mithilfe des sog. Sonderpädagogischen Förderplans (Popp/ Melzer Methner 2011)… (a. a. O. S.41)
… Ein Kind mit Lern- und Entwicklungsproblemen hat … in der Regel mehrere Schwerpunkte, in denen es gefördert werden muss, insofern stehen auch Sonderpädagogen immer mehr unter dem Problem, dass sie ihre unterschiedlichen fachlichen Fähigkeiten in einen Prozess der Kooperation einbringen müssen.. (a. a. O. S.44)
… Seit den 1970er Jahren haben in Deutschland zahlreiche Kindertageseinrichtungen gute Erfahrungen mit der gemeinsamen Erziehung gemacht. Denn diese individuelle pädagogische Arbeit kommt allen Kindern zugute. Zu Beginn ist es besonders wichtig, dass die Eltern stark mit einbezogen werden…
Kinder brauchen in der Eingewöhnungsphase in die Kita unterschiedlich viel Zeit (a. a. O. S.49)
Der Fokus soll nicht auf die Schwächen des Kindes gerichtet sein, sondern auf die Stärken … (a. a. O. S.50)
… In jüngster Zeit wird zwar der Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen wieder stärker betont und durch entsprechende Bildungs- und Erziehungspläne abgesichert. Noch immer gilt allerding, dass das Spiel die zentrale Lebensäußerung von Kindern in den ersten … sechs …Lebensjahren ist… (a. a. O. S.51)
Im Spiel sind Kinder mit und ohne Behinderung gemeinsam aktiv (a. a. O. S.52) … Es hilft den Kindern beim gemeinsamen Spielen, wenn im Gruppenraum Spielmaterialien in offenen Regalen … für alle Kinder… frei zugänglich sind… (a. a. O. S.53) … Spielmaterialien für viele Sinne… Spezielle therapeutische Spielmaterialen sprechen oft alle Kinder an … (a. a. O. S.54) … Auch andere Kinder haben Spaß daran, mit großen Gymnastikbällen zu hüpfen… (a. a. O. S.54)
An einem Strang ziehen  Die pädagogische Arbeit in inklusiven Kindertagesstätten sollte von einem Team getragen werden… (a. a. O. S.56) Beispiel:  Melanie ist 3 Jahre alt und gerade in den Kindergarten aufgenommen worden. Sie hat das Downsyndrom und wurde von den Kindern in der Gruppe nach Vorgesprächen freundlich aufgenommen… Sie ist immer gut gelaunt und schnell bei allen beliebt… Aber sie spricht bislang kein Wort… Besonders erstaunt sind alle darüber, dass die Eltern bereits nach wenigen Wochen… berichten können, wie Melanie zu Hause jetzt häufiger versucht, sich mit Lauten und Gesten verständlich zu machen… (a. a. O. S.57)
Beispiel  So sind Torben und seine Mutter von der offenen Haltung der Kindergartenleitung überrascht worden… Nun muss noch der Träger des Kindergartens überzeugt werden, weil mit Torben zusammen eine inklusive Gruppe gegründet werden kann und dann auf jeden Fall eine Heilpädagogin mit halber Stundenzahl (also ca. 20 Wochenstunden) in die Gruppe kommen muss… (a. a. O. S.61)
Inklusion ist schon im Krippenalter möglich   …bis zu drei Jahren … (a. a. O. S.63)

Für viele Eltern von Kindern mit Behinderung ist die Vereinbarkeit von Familie und Beruf wichtig. (a. a. O. S.65)
Groß angelegte internationale Untersuchungen haben… gezeigt, dass Kinder vom Besuch einer Kindergrippe und eines Kindergartens im gesamten weiteren Verlauf ihres Bildungsweges profitieren (Largo 2010). Das gilt sowohl für ihre sozialen Fähigkeiten als auch für die Vorbereitung auf den Schuleintritt…  (a. a. O. S.65)
Sich helfen lassen…  Inklusive Kindertageseinrichtungen können dieses anspruchsvolle Entwicklungsprogramm nicht nur aus eigener Kraft bewältigen…(a. a. O. S.66)
Schulen für alle? Oder: Vielfältige Bildungswege?
Inklusive Schulen heißen alle Schüler willkommen und stellen ihren gesamten Unterricht auf die unterschiedlichen Bedürfnisse und Fähigkeiten von Schülern ein. Am besten gelingt das, wenn sich die ganze Schule an dieser Aufgabe beteiligt. Das gilt sowohl für Grundschulen als auch für die weiterführenden Schulen (a. a. O. S.71)
Lehrer müssen heute auf unterschiedliche Schüler individuell eingehen
In inklusiven Schulen lernen Kinder nicht nur von Lehrern, sondern voneinander.
Eltern erwarten… von den Lehrkräften, das sie nicht nur ihr Lehrpensum laut Lehrplan herunterspulen, sondern Kinder unterrichten, Kinder müssen in der Schule von heute nicht nur Lesen, Schreiben und Rechnen lernen und sich ein möglichst vielseitiges Weltwissen aneignen. Sie müssen ebenso lernen, wie man lernt, wie man mit anderen zusammenarbeitet und wie man für ein Problem möglichst selbständig und kreativ eigene Lösungen entwickelt… (a. a. O. S.73)
Grundschule als „Einheitsschule“?
Fragt man Eltern, ob sie eine „Einheitsschule“ wollen, so antwortet die Mehrheit ablehnend. Würde man jedoch weiterfragen, was eine Einheitsschule tatsächlich ist, so würden sich in der Regel große Informationslücken offenbaren…  es ist die vierjährige (in Berlin und Brandenburg sechsjährige) Grundschule als Schule für alle Kinder…
In der Reichsschulkonferenz von 1920 war das ein Ergebnis der mehrtägigen Beratungen über die sog. Einheitsschule als Schule für alle von der Vorschule bis zur 9. Bzw. 10. Klasse. Wenigsten in den ersten vier Schuljahren sollten die Kinder alle zusammenbleiben, so lautete der Kompromiss… im Reichsgrundschulgesetzt… (a. a. O. S.75)… Die Grundschule war die erste Schulform, die … in den 1970er Jahren… ihre Unterrichtskonzepte und Kooperationsformen so veränderte, dass auch Kinder mit Behinderung aufgenommen werden konnten… (a. a. O. S.75)
Hilfe! Die Kinder werden immer unterschiedlicher.
… Die Antwort liegt in einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel

 In den letzten 30 Jahren… Noch in den 1950er-Jahren konnten Kinder auch in städtischen Wohngebieten einfach so zum Spielen auf die Straße gehen und fanden dort ausreichend Spielpartner… und waren häufig ganze Nachmittage unbeaufsichtigt… Heute findet die Kindheit häufig in der elterlichen Wohnung statt… Die Kinder sind ständig unter Aufsicht. In Ermangelung von Spielmöglichkeiten außerhalb der Wohnung erhalten die neuen elektronischen Medien wie Fernsehen, Computer und Handy einen hohen Reiz…. Nur noch Erfahrungen aus „zweiter Hand“… Die Zahl der Scheidungen ist  seither rapid geschieden. Immer mehr Kinder wachsen allein ohne Geschwister auf oder nur mi einem Elternteil… (a. a. O. S.77)
Tipp
Eltern müssen in allen Phasen der Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs mit einbezogen und informiert werden…
Der Erfolg der Fördermaßnahmen soll überprüft werden …
(a. a. O. S.81)

Vom „Lernen im Gleichschritt zur Öffnung des Unterrichts“
Viele Grundschulen sind bereits seit geraumer Zeit darin erprobt, ihren Unterricht auf die veränderten Bedürfnisse von Schülern einzustellen. Sie haben den „7G-Unterricht“, in dem jeder Schüler zur verlassen gleichen Zeit, den gleichen Lerninhalt, dem gleichen Lernmaterial, dem gleichen Lernergebnis und der gleichen Lernhilfe bewältigen mussten. Es lässt sich schlicht in der heutigen Schule nicht mehr realisieren… Zu kurz sind die Aufmerksamkeitsspannen der Schüler, zu unterschiedlich ihr Lerntempo, zu individuell ihre jeweiligen Lernstile… (a. a. O. S.82)
… Joachim … passt auf, dass Michael nicht zu lange herumtrödelt, bis er mi seinem Arbeitsblatt endlich anfängt. Michael hat gelernt, dass man mit Michael manchmal etwas streng sein muss. Michele träumt gern einfach so herum…  (a. a. O. S.83)
Tipp
Wenn sie herausfinden wollen, ob eine Schule auch inklusiv arbeitet, lassen Sie sich auch einmal einen Klassenraum zeigen und achten Sie darauf, dass es vielfältiges Lernmaterial gibt und diese in unterschiedlichen Ecken des Klassenraums für alle Schüler zugänglich sind…
Im inklusiven Unterricht sollte ein Sonderpädagoge mit der Lehrkraft zusammenarbeiten …
Manchmal ist aufgrund eines besonders hohen Förderbedarfs auch ein Integrationshelfer (bzw. Schulbegleiter) zusätzlich erforderlich…
(a. a. O. S.84)
Alle Schüler sollen lernen, ihr Lernen mit Unterstützung der Lehrkraft selbst zu planen. 
… Hier sollte sich die Lehrkraft nicht scheuen, zum Einstieg auch einmal ein bis zwei Schulwochen damit zu verbringen, ausschließlich Lernmethoden zu üben. (a. a. O. S.85,86)

Kein Feld für Einzelkämpfer
Die zusammenarbeitenden Lehrkräfte stimmen die Unterrichtsplanung miteinander ab. Regelmäßige Teamsitzungen der Lehrkräfte sind hilfreich.
(a. a. O. S.87)
… Tipp
Gerade in Bezug auf das Schulleben gibt es vielfältige Möglichkeiten für Eltern sich aktiv einzubringen. Häufig hilft ein Förderverein… mit Spenden…  (a. a. O. S.92)

Freunde suchen / Inklusive Schulen öffnen sich nach außen und lassen sich von ihrem Umfeld anregen…
Selten gewordene Berufe wie Imker und Schmied werden z.B. in der Schule vorgestellt. Oder Schulklassen verlassen das Schulgebäude, um Väter und Mütter an ihrem Arbeitsplatz aufzusuchen… (a. a. O. S.94)
Was erwartet uns ab Klasse 5?
… Müsste nicht vielmehr das dreigliedrige System abgeschafft werden, so wie in Finnland? Dort gehen alle Schüler in eine gemeinsame Schule von der ersten bis zur achten Klasse. Noten sind abgeschafft. Auch das Sitzenbleiben gibt es nicht. Und dann erreichen finnische Schüler in den PISA-Studien auch noch regelmäßig internationale Spitzenleistungen? Warum also nicht auch so bei uns in Deutschland? … Viele Eltern wollen unbedingt am Gymnasium mit der Möglichkeit des Abiturs und des Hochschulzugangs festhalten. Die Zahl der Eltern, die ihre Kinder zum Gymnasium schicken wollen, steigt sogar weiter an… (a. a. O. S.98)
Ob inklusive Schule oder Förderzentrum – das sollten die Eltern selbst bestimmen können…. (a. a . O. S.99)
Durch den Vergleich mit anderen lernen Kinder mit Behinderung, ihre Fähigkeiten einzuschätzen. …
Selbstverständlich haben nicht alle Schüler mit Behinderung die Möglichkeit die Schulabschlüsse der jeweiligen Schule zu erreichen… (a. a. O. S.100)
Inklusiver Unterricht im Gymnasium
Schüler übernehmen die Rolle des Tutors für Schüler mit Behinderung .. Beispiel
In der Klasse 5 des Gymnasiums in G. ist heute das Stundenthema „Entdecke den Zusammenhang von Herzschlag und Atemfrequenz“…. Die Schüler mit dem Förderschwerpunk geistige Entwicklung  sollen die Stationen 1 und 2 bearbeiten und dabei die Organe des Herz-Kreis-Lauf-Systems erkennen und benennen können sowie die Kernbegriffe lesen und schreiben können… (a. a. O. S.103)
Und das sagt die Forschung!
… es hat sich gezeigt, dass Schüler ohne Behinderung im inklusiven Unterricht keine Nachteile bei den Schulleistungen haben – auch im Vergleich zu gymnasialen Anforderungen nicht. Sie erweitern aber zusätzlich ihre soziale Kompetenz. Darüber hinaus lassen sich auch solche hochgesteckten Ziele wie Toleranz im Umgang mit anderen, Verantwortung für Mitmenschen in inklusiven Schulen erreichen… (a. a. O. S.107)
Es folgen in diesem Ratgeber Hinweise für die berufliche Eingliederung, für Wohnen in einem Behindertenwohnheim oder im Eigenheim zusammen mit  anderen behinderten Mietern, ausgewählte Rechtsgrundlagen, Kontaktadressen wie „Bundesarbeitsgemeinschaft Unterstützte Beschäftigung“ sowie Literatur- und Filmempfehlungen.(a. a. O. S.111-156)

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Klaus Metzger/Erich Weigl (Hrsg.)
Inklusion – eine Schule für alle
Modelle . Positionen . Erfahrungen

Lehrerbücherei Grundschule Kompakt

Cornelsen Scriptor GmbH & Co KG, Berlin, 2010

Vorwort
… Bewusst exponiert am Anfang des Bandes steht ein Gespräch zwischen Mutter und behinderter Tochter: PETRONILLA und VERONIKA RAILA geben einen aufwühlenden Einblick in „Zeiten voller Schmerz“ und „Zeienb des puren Glücks“… (a. a. O. S.7)
1  Bin ich schon drin?
Petronilla und Veronika Raila
… Wir mussten uns in Sack und Asche hüllen; standen dann aber im grellen Scheinwerferlicht. Die Ursache dafür liegt
weniger in der Behinderung meiner Tochter (sie hat Autismus mit einer sehr schweren Körperbehinderung) als in der teils sehr schmerzhaften Auseinandersetzung der Gesellschaft mit ihr.
Früher wollte ich stets den Normen der  Gesellschaft, die festlegt, wie ein Mensch im Äußeren und im Inneren zu sein hat, entsprechen. Mit dem Tag der Geburt meiner Tochter wurde diese Werthaltung bis ins Mark erschüttert, meine Tochter entsprach keiner  Norm
Das kleine Bündel, das mich so schmerzte und dennoch so freute, entwickelte sich im Lauf der Zeit zu einem Energiepaket. Anfänglich brauchte sie mich, wie jedes Kind eine Mutter braucht, ich nahm sie bei der Hand. Später nahm sie mich an die Hand und führte mich kraft ihres Willens durch viele Institutionen, zu vielen Terminen und Gesprächen. Gespräche vor denen ich oft Angst hatte, die ich aber dennoch durchstand, weil eine enorm starke Eigenständigkeit hinter mir stand oder mich zog. Durch die wurde ich auch animiert, die rein naturwissenschaftliche Art und Weise meines Denkens – ich hatte Chemie und Ökotrophologie studiert – aufzugeben und mich der Pädagogik zuzuwenden. Inzwischen bin ich mit diesem Studium fast fertig und Veronika  [?] wird 18 Jahre alt… (a. a . O. S.9)

Die schlimmsten Erlebnisse waren für mich, dass man mich anders behandelte.

… Weißt du, Mama, das ging bereits los, als du mich im Kindergarten anmelden wolltest. Kannst du dich an die Frau erinnern, die mich einfach übersehen hatte, so als ob ich Luft wäre? ....
Das nächste Erlebnis, das für mich noch präsent ist, fand im integrativen Kindergarten statt. Dort hatte man mich letztlich gezwungen aufgenommen und wollte mich auf die Abteilung abschieben, in der die Kinder nur noch auf die Grundbedürfnisse hin versorgt werden….
Kannst du dich noch an die Sonderpädagogin erinnern, die mich kurz in der Gruppe angeschaut hat? … die fast gar nichts von mir wusste, außer dass ich nicht sprechen und keinen Stift in der Hand halten konnte. Die sagte über mich, dass ich eine Intelligenz von null habe, das hat mich sehr getroffen. Da habe ich zum ersten Mal Angst bekommen. (a. a. O. S.10)
Angst warum?
Angst, dass es nie mehr aufhört, dass Menschen über mich urteilen. Angst, mich dessen nicht mehr wehren zu können, und letztlich Angst um dich.
Angst um mich? Das verstehe ich jetzt nicht, bitte erkläre es mir.
Ich habe geschehen, wie deine Augen auf einmal ins Leere blickten, wenn sie mich ansahen. Ich sah auf dem Grund deiner Augen die Angst schreien…
Was war dann das auslösende Ereignis, dass du gemerkt hast, dass ich mich nicht auf die andere Seite ziehen lasse?
Weißt du noch, wie du mit deiner Freundin telefoniert hast und sie von einem anderen Kind erzählte, das nur durch die Eltern lesen gelernt hat. Darauf hast du gesagt, ich bringe Veronika das Schreiben und Lesen bei und wenn es 100 Jahre dauert und ich dafür barfuß nach China laufen muss…
Von da an ging es mir und dir wieder gut…(a. a. O. A.11)
Ich freute mich so auf die Schule.. Ich war so stolz… Im Kindergarten war ich die Einzige, die nicht sprechen … nicht laufen konnte. Ich freue mich darauf, neue Freunde zu finden…
Ich konnte niemand zum Freund gewinnen, aber dies war noch nicht das Schlimmste. Bald merkte ich, dass man uns behandele, als wären wir nicht da…
… damals war ich aber gezwungen, dich dorthin zu schicken, weil die Sonderpädagogin dich so eingestuft hat.
… Außerdem lernte ich viel zu wenig, ich wollte immer mehr wissen, aber man traute es mir nicht zu… Von dieser Schule habe ich mich nach ein paar Monaten innerlich verabschiedet, ich zog mich in meinen Kokon zurück. Dass dies keine Lösung war, wurde mir schnell klar. Ich beschloss zu kämpfen.
Ich merkte damals nur, dass du sehr oft krank warst, teilweise warst du wochenlang bettlägerig. (a. a. O. S.12)
Ich wollte unter normalen Kindern sein, als Mensch angesprochen werden und möglichst viel lernen…
Das Tolle war, dass du einen Schulpsychologen zu Rate gezogen hat, der sehr lange mit mir arbeitete und zur Feststellung kam, dass ich auch auf eine Regelschule gehen kann. Das gab mir neuen Mut. In keiner schönen Erinnerung blieb mir aber das ganze Prozedere bei de Montessori-Schule…
Aber diesen seltsamen Elternabend werde ich nie vergessen , als eine andere Mama sagte. >Wenn so ein Kind (damit meinte sie mich) in die Klasse komm, schafft meines dann noch das Abitur?<

… Ich bin dann zum Schulrat gegangen.
Ja, und du hast durchgesetzt, dass ich in die Regelschule komme, gleich hier am Ort, man konnte zu Fuß hinlaufen bzw. hinrollen. Hier habe ich Freunde finden können, die mich so nahmen, wie ich war. Freunde, die mich zu Hause besuchten… Ich lernte viel über die „Normalen“ und im Vergleich dazu auch viel über mich.  Am meisten lernte ich, wenn ich die anderen über Ereignisse sprechen hörte, bei denen ich auch anwesend war. Ich musste feststellen, welcher Unterschied in der Wahrnehmung bestand –das war zunächst ein Schock für mich…. (a. a. O. S13)
Ja, das weiß ich schon noch, weil dieses souveräne Selbst mir dann den Auftrag gegeben hat, ein Gymnasium zu suchen, das dich aufnimmt.
Obwohl die letzte Zeit in der Grundschule stark vom Einfluss der Sonderschule getrübt war.
… Gott sei Dank stand uns in diesen schweren Zeiten immer Dr. Thoma vom FISS-Seminar zur Seite…
Wie war es dann auf dem Gymnasium bei Maria Stern?
Spitzenmäßig! Hier waren wir Mädchen unter uns Die Lehrer haben sich unglaublich für mich eingesetzt…
(a. a. O. S.14)
… Wie war es dann, als dir die Zeitverlängerung bei den Prüfungen nicht mehr reichte und du aus dem Notensystem ausgeschert bist?
Auch das haben viele Lehrer einfach mitgetragen, das war für mich so entlastend, denn die Zeitverlängerung um 25  Prozent reichte mir einfach nicht aus. Durch diesen Zeitstress ist mein ganzes Nervensystem zusammengebrochen…
… Wie fühlst du dich jetzt an der Uni?
Du kannst es dir nicht vorstellen. Es ist unglaublich gut. Hier fühle ich mich am besten angenommen, respektiert, ja besonders geachtet wegen der Fähigkeiten, die ich aufgrund meiner Behinderung entwickelt habe. Hier kann ich meine Art, Dinge zu betrachten und zu interpretieren, ausleben. Hier werde ich nicht mehr in ein Kästchen gesteckt… Der einzige Wermutstropfen ist, dass die jetzigen Statuten der Universität nicht erlauben, mir einen Abschluss zu geben…
was müsste deiner Meinung nach getan werden…?
… Es müsste das Leistungssystem an jedes Kind angepasst werden, und nicht die Kinder an das System. (a. a. O. S.15)
Oft wird das Leben unterschätzt, ebenso die Kreativität im Umgang mit Problemen. An dieser Schnittstellte zwischen den sogenannten Normalen und den „Nichtnormalen“ kann viel Neues durch gegenseitige Befruchtung entstehen… Ich wünsche mir, das wir alle in einer Gesellschaft leben, in der die Menschen ob ihrer Besonderheiten geschätzt werden. (a. a. O. S.16)

2  Die UN-Konvention, Artikel 24: ein Kommentar
Georg Theunissen

…[Das] Konzept der Institutionalisierung bedeutete soziale Segregation, Isolation und Fremdbestimmung behinderter Menschen und… zugleich eine soziale Benachteiligung, die mi Diskriminierung einherging.

Daher kam es vor etwa 40 Jahren in führenden westlichen Industrienationen zu Protestbewegungen, indem Menschen mit Behinderungen, Eltern behinderter Kinder, Bürgerrechtler und Fachleute aus dem fortschrittlichen Lager der Behindertenarbeit das bisherige Verständnis von Behinderung als Krankheitskategorie sowie die institutionsbezogene, aussondernde Praxis scharf kritisierten (vgl. Theunissen 2009) …  Die Leitprinzipien lauteten Normalisierung und gesellschaftliche Integration… (a. a. O. S.21)  … nach wie vor dominieren Interessen von mächtigen Organisationen, Trägern und Einrichtungen der Behindertenhilfe, Kostenträger und Berufsverbände der Heil- und Sonderpädagogik, die die Behindertenpolitik durch ihre institutionsbezogenen (nicht selten konservierenden) Vorstellungen zu bestimmen suchten…
Rechtliche Änderungen
Die … Empowerment-Initiativen führten zum Schulterschluss mit Fachverbänden 1994 zur Aufnahme eines Benachteiligungsverbots aufgrund von Behinderung im deutschen Grundgesetz (Artikel 3), im Jahre 2001 zum Neunten Sozialgesetzbuch (SGB IX), welches für eine selbstbestimmte Teilnahme behinderter Menschen am gesellschaftlichen Leben die rechtliche Basis liefert, 2002 zu einem eigenen Behindertengleichstellungsgesetz und schließlich im August 2006z zu einem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz mit weitreichendem Diskriminierungsschutz am Arbeitsplatz und im Bereich des privaten Geschäftsverkehrs.. Die meisten Bundesländer… aber… ließen z. B. das Schulrecht… weiterhin unangetastet…  In Anbetracht solcher Unzulänglichkeiten konnte sowohl national als auch international >die Stimmer der Betroffenen“ als „Experten in eigner Sache nicht mehr übergangen werden. (a. a. O. S.23,24) Genau an dieser Stelle hat die von den Vereinten Nationen am 13. Dezember 2006 verabschiedete Konvention über die Rechte behinderter Menschen ihren Platz, die hierzulande seit dem 26. März 2009 verbindlich ist….
… ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit …“ (vgl. Artikel 24, Abs.2)  Als menschenrechtswidrig gelten z. B. ein unfreiwilliger Ausschluss eines behinderten Kindes vom Unterricht mit nichtbehinderten Kindern einer allgemeinen Schule, eine unfreiwillige Beschulung behinderter Kinder in Sonderschulen, eine Verweigerung einer unterstützten Beschäftigung eines jungen Erwachsenen mit Behinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt zugunsten einer Unterbringung in einer Behindertenwerkstatt (vgl. Artikel 27) oder die Verweigerung eines unterstützten, häuslichen Wohnens in einer eigenen Wohnung mit dem Verweis auf freie Plätze in einem Wohnheim (vgl. Artikel 19). (a. a. O. S.23) … Ein solches im Bewusstsein der Menschenwürde rechtlich kodifiziertes Gesellschaftsprinzip verträgt sich nicht mit dem traditionellen Bild eines behinderten Menschen als anleitungs-, versorgungs- oder behandlungsbedürftigen Defizitwesens. Demgegenüber geht die UN-Konvention von einem „Diversity-Ansatz“ aus, der Behinderung als Bestandteil menschlicher Normalität, wie es in jüngster Zeit z.B. Autisten deutlich zum Ausdruck bringen (vgl. THEUNISSEN/PAETZ  2010)…

Umsetzung kritisch prüfen
Angesichts der hohen Staatsverschuldung könnte einigen Bundesländern und Kommunen die dilettantische Übersetzung und Auslegung von Inklusion als Einbeziehung statt Nicht-Aussonderung und unmittelbare Zugehörigkeit willkommen sein, um ein Festhalten an ihrer bisherigen segregierenden Schulpolitik zu legitimieren. Gestattet sei die kritische Rückfrage, ob dies womöglich politisch gewollt ist… (a. a. O. S.26)
In Anbetracht dieser Sichtweise, die eine Abkehr vom traditionellen psychiatrisch-medizinischen (Rehabilitations-)Modell und eine Hinwendung zu sozialwissenschaftlich orientierten Erkenntnissen bedeutet, ist es konsequent, wenn die UN-Konvention die Förderung und Entfaltung eines „Bewusstseins der Würde und des Selbstwertgefühls“ nicht nur zum Programm für Personen mit Behinderungen erklärt, sondern davon ausgeht, dass eine „inklusive Gesellschaft“ nur dann gedeihen kann, wenn ebenso alle anderen Bürgerinnen und Bürger ein entsprechendes Bewusstsein, eine positive innere Einstellung behinderten Menschen gegenüber entwickeln. (a. a. O. S.24,25)

4  Der bayerische Weg der Inklusion durch Kooperation
Erich Wiegl
..Klang des Diskurses… ein Werk der Vielstimmigkeit.

Inklusion – ein Kind der Aufklärung erlangt seine Identität

.. Die Französische Revolution markiert die politische Dimension des Beginns der sogenannten Moderne, die einen Zeitraum von 200 Jahren umschreibt. Die Aufklärung als geisteswissenschaftliche Dimension der Moderne hat bis heute großen Einfluss auf den postmodernen Bildungsdiskurs des 21. Jahrhunderts…. Oft genannte.. Vorläufer (Salamanca-Erklärung 199, Erklärung der Weltkonferenz „Bildung für alle“ 1990, UN-Kinderrechtskonvention 1989 bis hin zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 198) hinaus… (a. a. O. S.29)

Inklusion – von der modernen Idee zur postmodernen Einlösung in Deutschland    (a. a. O. S.30)

Anspruch auf individuelle Bildung, Förderung und Unterstützung
Zielsetzungen sind eine umfassende Persönlichkeitsentwicklung und der Erwerb eines Schulabschlusses entsprechend den individuellen Möglichkeiten. Gemäß Art. 2 soll der Förderort die allgemeine Schule sein… (a. a. O. S.31)
„Vielfalt ist Bereicherung, nicht eine Bürde“. Die Bildungssysteme sowie die jeweiligen Schulsysteme in den Ländern sind im Sinne der bereichernden Vielfalt der Kinder zum Wohle aller zu gestalten.

.. Dabei ist die Kompetenz der sonderpädagogischen Förderung von grundlegender Bedeutung. Das Zentrum sonderpädagogischer Professionalität  is die Förderschule. Ihr besonderer Auftrag ist es, mit hoher Diagnose-Kompetenz, qualifizierten Förderangeboten und professionellem Unterricht dem Förderbedarf  jedes einzelnen Kindes oder Jugendlichen auf sehr individuelle Weise gerecht zu werden…. (a. a. O. S.36) Ziel und Aufgabe der Sonderpädagogik ist es, eine möglichst weitgehende soziale, berufliche und gesellschaftliche Teilhabe zu gewährleisen. Dies kann sowohl an der Förderschule als auch mit Unterstützung durch die Förderschule an der allgemeinen Schule geschehen…

Geöffnete Klassen  – Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf an Förderschulen
Förderschulen, die nach den Lehrplänen für die allgemeine Schulen unterrichten, nehmen auch Kinder ohne sonderpädagogischen Förderbedarf auf. Diese Form des gemeinsamen Unterrichts gibt es derzeit an Förderzentren für die Schwerpunkte Hören, Sehen sowie körperliche und motorische Entwicklung. (a. a. O. S.37,38)

Einzelintegration und Unterstützung durch die Mobilen Sonderpädagogischen Dienste (a. a. O. S.38)

Außen Klassen
Außenklassen sind vor allem Klassen der Förderschule an einer allgemeinen Schule, die Kinder mit sonderpädagogischen Förderbedarf besuchen. Hier arbeiten eine Klasse der Förderschule und eine Klasse der allgemeinen Schule zusammen. Art und Umfang des gemeinsamen Unterrichts stimmen die Lehrkräfte miteinander ab… (a. a. O. S.39)

Kooperationsklassen
Kooperationsklassen sind Klassen der allgemeinen Schule, die Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Föarderbedarf besuchen. Eine Lehrkraft der Förderschule bereut die Kooperationsklasse mit mehreren Stunden pro Woche (im Rahmen des MSD [Mobiler Sonderpädagogischen Dienstes]) … mehrere Möglichkeiten …:

5   Inklusiver Unterricht – (wie) geht das?
Cornelia Rehde

„Beim Recht auf inklusive Bildung darf niemand zurückgelassen werden“ –so die Offenbacher Erklärung der Bundesvereinigung Lebenshilfe e. V“ (in: Grundschule aktuell. Heft 109, 25)
Unterricht in dem Bemühen um Inklusion rechnet vorab mit großen Unterschieden der Schüler in der Klasse. Die Bandbreit e r eicht von den „Hochbegabten“ bis zu Kindern „mit Förderbedarf“…
Viele Gemeinsamkeiten … zeigen sich vor allem hinsichtlich ihrer elementaren Bedürfnisse und Fähigkeiten. Dazu gehören die Bedürfnisse:

Unterricht, der die Heterogenität der Kinder im Unterricht produktiv zu nutzen versucht, bewegt sich demnach im Spannungsfeld von Gemeinschaft und Individualität, d. h.: Neben allen Unterschieden ist zunächst von diesen Gemeinsamkeiten auszugehen … (a. a. O. S.42)

A  ist ein Junge mit Downsyndrom. Seine Eltern wollen, dass er mit den Kindern zusammen in die Schule geht, die er aus seinem (integrativen) Kindergarten und aus der Nachbarschaft kennt….
Jeden Morgen wird A. von einigen Kindern seiner Klasse abgeholt, die auch in seiner Straße wohnen. Mit ihnen bewältigt er selbständig den Schulweg und trifft sich mit ihnen auch nachmittags zum Spielen. In der Schule erwartet ihn seine Integrationshelferin. AS. Beginnt – wie die anderen Kinder auch  mit Tätigkeiten der freien Arbeit: Er richtet seine Hausarbeiten ein, setzt sich zu einigen Kindern in die Leseecke, heute lässt er sich etwas vorlesen. In der Wochenplanarbeit, die für alle Kinder thematisch mit „Zeit und Kalender“ zusammenhängt, hilft ihm seine Schulbegleiterin… Nach der Pause, die A. selbstverständlich mit den anderen Kindern verbringt, werden in Gruppenarbeit Sanduhren hergestellt und geeicht. Die Kinder experimentieren mit unterschiedlichen Größen und Durchmessern und stoppen die Zeit, die der Sand braucht. A arbeitet eine Weile mit… wirkt konzentriert und interessiert, auch dann noch, als die Gruppen im Kreis ihre Ergebnisse vorstellen. Dann aber scheint es ihm zu viel zu werden, er verlässt kurz den Raum mit seiner Integrationshelferin, die mit ihm draußen ein wenig Ball spielt. A. kommt erholt wieder herein und ist bereit, im Singspiel um die großen und kleinen Uhren die Glocke zu schlagen. Stolz macht er mit und freut sich über die Anerkennung der anderen. (Dieser Schultag wurde im Unterricht von Frau IRIS SCHÄFFLER erlebt..) (a. a. O. S.43)
Neben A. lernen in dieser Klasse weitere zwanzig Kinder….

Entwicklungsorientierter Unterricht
(Grund-)Schule hat den Auftrag das Lernen jedes Kindes >in Obhut zu nehmen<, d. h. seine Lernfähigkeit zu unterstützen und sein Lernen hilfreich zu begleiten. Dazu baucht es – neben der täglichen Lernbeobachtung –passende Instrumente und geeignete Aufgabenstellungen… Lernstandanalyse – ILeA – unter:
www.wirtschaft.brandenburg.de/sixcms/detail.php/bb2.c.426294.de  (a.a. O. S.44)
… Beispiel 1: Arbeitsbogen  zur Selbstevaluation
Ich kann Buchstaben abschreiben/schreiben

 

Druckschrift

 

Schreibschrift

 

einige

 

 

 

 

die meisten

 

 

 

 

alle

 

 

 

 


Ich kann diese Buchstaben nach Diktat schreiben:

A    

B

C

D

E

F

G

H

I

J

K

L

M

N

O

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

P

Q

R

S

T

U

V

W

X

Y

Z

Ö

Ü

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

a

b

c

d

e

f

g

h

i

j

k

l

m

n

o

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

p

q

r

s

t

u

v

w

x

y

z

ä

ö

ü

ß

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich kann von einem Wort schreiben, was ich höre

Den ersten

 

 

 

 

 

 

 

einzelne
Buchstaben

 

 

 

 

 

 

 

Die meisten
Buchstaben

 

 

 

 

 

 

 

Alle Laute,
die ich höre

 

 

 

 

 

 

 


Die freien Kästchen sind für das jeweilige Datum vorgesehen (a. a. O: S.47)
Ich kann, wie ich höre, schreiben:

Sätze

 

 

 

 

 

 

Briefe

 

 

 

 

 

 

Geschichten

 

 

 

 

 

 


Diese Wörter kann ich schon schreiben:

meinen
Namen

 

 

 

 

 

andere
Namen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Was ich noch schreiben kann:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich kann diese Regeln beim Schreiben anwenden:

REGEL

manchmal

meistens

immer

 

am Satzanfang groß-
schreiben

 

 

 

 

 

Am Satzende ein
 Satzzeichen setzen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

(a.         a. O. S.48)

…Kooperatives Lernen vollzieht sich überwiegend an gemeinsamen Themen oder Aufgabenstellungen, wozu jeder Schüler seinen Beitrag nach seinem Vermögen leistet … sogenannte „gute“ Aufgaben sind komplex, anspruchsvoll und bieten immer mehrere Lösungsmöglichkeiten.. (a. a. O. S.31)

6     Inklusive Regelschule – ein Beispiel aus Rheinland-Pfalz
Christian Donie

… Ivan kann zu Beginn der ersten Klasse kein Wort  Deutsch sprechen… und zählt in … Russisch … bis fünf…
Jens stammt aus einer bildungsnahen Familie, liest einfache Texte bereits sinnverstehend und rechnet im Zahlenraum bis 100 erstaunlich flexibel. Diese Kenntnisse hat er wohlgemerkt mit in die Schule gebracht. (a. a. O. S.54)
Pädagogische Grundhaltung
Der Klassenlehrer und die Sonderpädagogin vertreten eine gemeinsame inklusive Überzeugung abseits der „Differenzlinie Gesundheit“ (Kopp 2009)unter dem Motto „Jedes Kind braucht spezifische Förderung!“…
Ein Tag im gemeinsamen Leben einer ersten Klasse
… orientiert an einer Videoaufnahme, die in der vorletzten Schulwoche als Erinnerung für die Kinder gedreht wurde…
Offener Anfang
Die ersten Kinder betreten den Klassenraum um 3.50 Uhr. Einige schalten ihren eigenen PC an, manche machen es sich mit einem buch auf einem luftgefüllten Fußballsitzkissen gemütlich. Nicole und zwei ihrer Freundinnen mikroskopieren. Sie untersuchen vorgefertigte Objektträger mit einem Fliegenbei, einem Holzquerschnitt und Stofffasern. Anschließend bereiten sie selbst Objektträger vor und nehmen eigene Haare, Spucke und ein kleines Blatt.. (a. a. O. S.55) Jens schraubt konzentriert – er baut am Werktisch den Lüfter aus einem PC aus, den er anschließend Vanessa übergibt, die damit beschäftigt ist den sechsten kleinen Ventilator mit einer Batterie zu verbinden, und sich an dem zunehmenden Luftstrom erfreut. Michael spielt gemeinsam mit zwei Freunden an seinem PC ein Schachlernprogramm für Kinder.  Sie diskutieren jeden weiteren Schritt heftig…. Zwei Kinder zeigen dem Klassenlehrer stolz, was sie gestern in ihren Deutsch- und Mathemappen zu Hause gemacht haben.
Ein Kind hält den beiden Wüstenrennmäusen im Klassenraum Körner hin… Claudia und ihre Freundin spülen Geschirr, das am Vortag im Spülbecken liegen blieb. Peter sitzt an einem PC und arbeitet mit Audiolog (Programm zur Förderung der auditativen Wahrnehmung und zentralen Sprachverarbeitung) und wird dabei von der Sonderpädagogin beobachtet… Ben, Kirthi und Eva sortieren kleine silberne Kaffeepäckchen, die der Klassenlehrer soeben geöffnet hat.. Beim letzten Mal waren 103 Stück in der Packung, auf der ein Inhalt von nur 100 angegeben war.
Nebenan wirkt Nils sehr konzentriert, als sie einen Holzturm aufstellt… Roland schaut von seinem Comic, in dem er seit zwei Tagen liest, und lächelt seine Mitschüler an, erfreut über das Ergebnis ihrer Bemühungen….
Michael sitzt unbeeindruckt vom lebhaften geschehen an einem der vier „stillen Arbeitsplätze“ im Flur vor dem Klassenraum und arbeitet an seiner Schreibmappe… (a. a. O. S.56)
Blitzlicht
Um 8.15 Uhr ruft der Klassenlehrer die Kinder zusammen. Nach zwei Minuten sitzt die gesamte Klasse im Kreis und der Lehrer begrüßt nochmals alle. Dann beginnt „Blitzlicht“. Jedes Kind darf sagen, wie es ihm geht und was  es sich für den heutigen Tag vorgenommen hat. Manche Kinder haben Gegenstände in den Sitzkreis mitgebracht und unter ihrem Stuhl plaziert… Nicht alle möchten sich an diesem Morgen laut äußern; manche schweigen und berühren den Nachbarn am Arm, was diesem signalisiert, dass er an der Reihe ist.
Gerade Kinder, die zu Hause kein Deutsch sprechen, nutzen diese Zeit, um andern zuzuhören und Sätze nachzusprechen…
Schüler 1: „Ich habe einen Vorschlag“
Lehrer: „Was möchtest Du denn machen?“

Täglich schlagen die Schüler eine Vielzahl von Ideen für sich selbst … oder die ganze Klasse vor wie z.B. gemeinsames Schachspielen, Ziele für Wandertage, Durchführung einer Lesenacht. Jeder Vorschlag wird dabei als wertvoll erachtet, ernst genommen und nach Möglichkeit umgesetzt.
Schüler 2: „Ich möchte ein Experiment machen.“
Lehrer: „Hast du dir schon ein Experiment herausgesucht?“
Anschließend erklären die Kinder Bilder aus den Experimentierbüchern und beschreiben, welche Gegenstände sie …brauchen. Oftmals fragen sie auch in die Runde. „Wer möchte mi mir ein Experiment machen?“ oder fragen den Lehrer, ob er etwas “vorzaubern“ könne… z.B. einen Zaubermagneten, den er nur aufgrund einer Zugkraft von 30 kg lösen kann..
Schüler 3: „Darf ich vor der Tür arbeiten?“
Lehrer: „Damit ist der erste von vier Arbeitsplätzen draußen belegt“……
  im Flur… darf … nur geflüstert werden. (a. a. O. s.57)
Schüler 4:  „Darf ich ans Keyboard?“
Lehrer: Sehr gerne. Du darfst als Erster für 15 Minuten ans Keyboard.“… ermöglich den Kindern das Nachspielen einzelner Melodien mittels leuchtender Tasten
Schüler 5: „Darf ich den Tierpflegedienst übernehmen?“
Lehrer: „Sehr gerne. Möchtest du dir einen Helfer auswählen?“
Schüler 5: „Wer möchte mit mir den Tierpflegedienst übernehmen?“
Schüler 6: „Kannst du mir den Torso vom Regal runter holen?“… (a. a. O. S.58) … Der obere Teil des Mathematikregals ist dem Thema „Mensch“ gewidmet. Ein naturgroßer Torso mit herausnehmbaren Organen… neben dem 65cm hohen Skelett… daneben findet sich ein Herz, das geöffnet werden kann, und die Nachbildung eines Auges samt angrenzenden Muskelsträngen… (a. a. O. S.66)
[Fotos illustrieren die Raumverhältnisse: Fünf Kinder um einen u-förmig zusammengestellte kleine Tische, auf dem noch eine große Topfpflanze steht; einliegendes Kind auf dem Bodenteppich; Kinder beim Bau und Einsatz eines Luftkissenfahrzeugs aus Holzplatte mit Löchern, aufgetackerter Plane und dem Laubgebläse des Hausmeisters, Neun auf Stühlen in einer Reihe nebeneinander sitzende Kinder vor je eigenem Bildschirm.]
Kindernachrichten „Logo“ des ZDF … bringt auch viele Impulse in den Klassenraum. So kam z.B. in einer Sendung ein Hovercraft vor …gemeinsam mit dem Lehrer … wurden.. auf www.youtube.de Luftkissenboote gesucht.. So entstand eines der größeren Projekte im Rahmen des letzten Schuljahres…. (a. a. O: S.62)
 
Schüler 78: „Druckst du mir eine Flagge aus? Ich möchte etwas zu meinem Land schreiben.“ Die Kinder bringen regelmäßig Eindrücke und Vorstellungen aus ihren Heimatländern ein…
Schüler 8: „Dürfen wir den Storchenfilm sehen?“… (a. a. O. S.58) Dieses Kind darf den Storchenfilm, den die ganze Klasse schon in Ausschnitten gesehen hat, an seinem PC ansehen, wo es ihn immer wieder anhalten kann, um ein Storchenbild auf das eben durchflogene Land zu kleben.
Schüler 9: „Können wir ‚Logo‘ gucken?“ Die ZDF-Kindernachrichten „Logo“ sieht die Klasse seit der ersten Schulwoche jeden Tag…
Arbeitsphase 1
.. Sie gehen vor die Tür zu ihren Schulranzen, nehmen sich das benötigte Material, suchen sich einen Platz im Klassenraum und beginnen mit ihren individuellen Arbeiten… (a. a. O. S.59)
… Die Ergebnisse lassen sich die Schüler vom Klassenlehrer oder der Sonderpädagogin abzeichnen. Unklare Stellen (z.B. fehlerhafte Antworten) werden markiert und von den Kindern nochmals überdacht…  Es gibt zuweilen Aufgaben.. die einzelnen Kindern nicht logisch erscheinen oder ihr Können in dem Moment noch übersteigen. Diese Aufgaben werden aussortiert. Ist die „Zone der nächsten Entwicklung“ (VYGOTSKU 1987) noch nicht erreichbar, wird dies auf die Aufgabe zurückgeführt, jedenfalls dem Kind gegenüber: „Diese Aufgabe erscheint mir auch komisch. Lass sie mal weg!“ Dadurch wird Druck genommen…
Im Laufe des Schuljahres haben die Kinder gemeinsam mit dem Lehrer vereinbart, das jeder täglich mindestens eine Seite rechnet und eine Seite schreibt. Viele Kinder arbeiten wesentlich mehr….
Wenn sich ein Kind … aus der Arbeitsphase herauszieht und sich z.B. in eine Ecke verkriecht, fällt das direkt auf und signalisiert dem Lehrer, dass etwas nicht stimmt…. (a. a. O: S.60)
Falls ein Kind die anderen während der Arbeitsphase stört und dies trotz Aufforderung seines Mitschülers nicht unterlässt, weist der Lehrer den Störenden an, sich einen neuen Platz zu suchen…
Frühstückspause
Sobald der Klassenlehrer beginnt, auf seinem elektrischen Klavier zu spielen, wissen die Kinder, dass es Zeit für das Frühstück ist…. Bis zur Hofpause von ca. 9.40 Uhr bis 10.00 Uhr …
Pause
In der Pause können jene Kinder, die Dienste übernommen haben, unter Aufsicht des Klassenlehrers im Klassenraum bleiben.. (a. a. O. S.61)
„Logo“
Die Kindernachrichten.. kostenlos als Podcast zu beziehen… wird mittels Beamer an das … Whiteboard projiziert. Sobald die Wetterkarte erscheint, melden sich die Kinder, die den Heimatort anzeichnen wollen…. (a. a. O. S.60)
Arbeitsphase 2
Nach den Nachrichten starten die Kinder in die zweite Arbeitsphase… In dieser Phase wird besonders intensiv geforscht, erfahren, gerätselt, gebastelt, gemalt, gespielt, geschrieben, gerechnet und gelesen…
Reflexion
In einem abschließenden Sitzkreis darf jedes Kind vorstellen, was es am Morgen geschafft hat… (a. a. O. S.64)

7     Fallbeispiel „P“ aus Sicht einer Sonderpädagogin
Heidi Scholz-Weber  … (a. a. O. S.68,69)

8     Integration durch Kooperation –ein Erfahrungsbericht
Anne Fischer-Kautzsch/Sabine Herrmann  (a. a. O. S.70-74)

9     Die Chancen des Miteinanders
Gabriele Wolff/Björn O. Stuber
… Bernd versucht gerade, aus einem mi Wasser gefüllten Glas die Hälfte in ein anderes Glas umzufüllen (Abb.1). Vorsichtig nimmt er das Glas – schwupp ist das ganze Wasser im anderen Glas…. Da nimmt Thomas das volle Gals…“Schau, Bernd, du musst rechtzeitig aufhören!“, erklärt er und zeigt ihm die beiden halbgefüllten Gläser… (a. a. O. S.70,71) Bernd besucht die G2, die zweite Klasse der Notkerschule Memmingen, eines Förderzentrums für Kinder mit Schwerpunkt geistige Entwicklung. Seine beiden Partner Robin und Thomas sind Schüler der 2k, der Kooperationsklasse, und gehören eigentlich zur Elsbethenschule, einer Memminger Grundschule. Aber wenn man die beiden fragt, dann ist „ihre Schule“ die Notkerschule. Dort haben sie ihren ersten Schultag erlebt und dort gehen sie täglich zur Schule…. Dazwischenliegender[r] gemeinsamer Gruppenraum… „Täglich eine gemeinsame Aktivität!“, das haben wir Lehrkräfte uns vorgenommen und die Stundenpläne der beiden Klassen aufeinander abgestimmt… Sport- und Kunsterziehung (Ab.3)  oder… Musikunterricht… teils gemeinsam, teils in zwei gemischten Gruppen… (die Hälfte… aus der Förderklasse, die andere Hälfte aus der Grundschulklasse)… (a. a. O. S.71)

10   Die Chancen im Miteinander
Gabriele Wolff/Björn O. Stuber (a. a. O. S.75-81)
.. Unterrichtssequenz als Beispiel
… Beispiel Lernumgebung „Grundrisse und Seitenansichten“ anhand des Spiels „Schauen und Bauen“… (a. a. O. S.72)
…Im Hinblick auf die inklusive Schule wäre es denkbar und wünschenswert, dass alle Schüler dieselbe Klasse besuchen..  (a. a. O. S.81)
10  Erfahrungen einer Grundschullehrerin mit Inklusion
Barbara Adleff (a. a. O. S.82-85)
Für jedes Kind die beste individuelle Förderung (a. a. O. S.84
…… Dieser Anspruch gilt aber in gleichem Maße auch für Kinder mit Handicap. Ihnen darf die Möglichkeit nicht verwehrt werden, an der Regelschule lernen zu können. Dies kann meines Erachtens aufgrund der breiten Unterschiedlichkeit der individuellen Lern- und Leistungsdispositionen der Kinder in der Regelklasse unter Umständen besser gelingen als in einer
Klasse an einem sonderpädagogischen Förderzentrum… (a. a. O. S.85)

11    Gelungene Inklusion –vom ersten bis zum vierten Schuljahr
Iris Schäffler (a. a. O. S.86-92)
Im September 2006 schulten wir einen Jungen mit Down-Syndrom in die erste Klasse unserer Grundschule ein – inzwischen besucht er die vierte Klasse. In früheren Jahren hatten wir bereits mehrere Kinder mit körperlichen Handicaps an unserer Schule, deren besondere Bedürfnisse ohne großen Aufwand berücksichtigt werden konnten… (a. a. O. S.86) …

Zielformulierung
Die soziale Integration des Kindes in der Regelschule durch die gemeinsame Teilnahme am täglichen Schulleben sowohl vormittags in der Schule als auch nachmittags in der Freizeit zusammen mit den Mitschüler..n aus dem Wohngebiet wurde als oberstes Ziel definiert. Außerdem beschlossen wir die Erarbeitung eine vorläufigen Lösung für die Schuleingangsphase… (a. a. O. S.87)
Rahmenbedingungen
Noch vor Aufnahme des Kindes wurden die Rahmenbedingungen durch Schulamt und Regierung verbindlich festgelegt:

·         Die Inklusionsklasse des Kindes dürfe maximal 21 Schulanfänger bekommen

·         Die wöchentliche Förderung des Kindes und die Beratung der Lehrkraftdurch den Mobilen Sonderpädagogischen Dienst (MSD) müsse gewährleistet sein.

·         Die Eltern seien verantwortlich für die Bereitstellung eines Integrationshelfers, der die pflegerischen Aufgaben zu übernehmen habe. … (a. a. O. S.88)

Entwicklung bis zur vierten Klasse
Bereits im Laufe des zweiten, besonders aber in der dritten und vierten Klasse unterschied sich der Lernfortschritt der meisten Kinder zunehmend von Martins Entwicklung. Dies war vor allem in den Kernfächern der Fall…
Martin arbeitet … auf einem ganz anderen Niveau, benötigt viel Ruhe, längere und häufigere sich wiederholende Übungssequenzen in abwechslungsreichen Organisationsformen. Die wöchentliche Stunde mit der Kollegin vom MSD ist wertvoll, aber nicht ausreichend…. Es ist zwingend notwendig, dass Martin mit der äußerst engagieren Integrationshelferin mehrmals für zeitlich begrenzte Phasen in den Gruppenraum ausweicht. Dort kann seinen besonderen Bedürfnissen entsprochen werden. (a. a. O. S.90) ..  Ein längerfristiges Planen ist nicht möglich.. Meine am wenigsten erwartete und immer wieder faszinierende Erfahrung ist die positive soziale Eigendynamik innerhalb der Gruppe. Die Kinder einer Inklusionsklasse erleben sich selbst und ihre Beziehungen zueinander sehr intensiv und bewusst. Alle Kinder lernen, mit ihren eigenen Schwächen umzugehen, eigene Fähigkeiten für sich und die Gemeinschaft gewinnbringend einzusetzen und die Bedürftigen zu respektieren und zu unterstützen. (a. a. O. S.91)

12    Inklusion ein sperriger Begriff – und geht doch mitten ins Herz
Peter Zickgraf/Farah Lenser

… Inklusion erscheint als sperriger Begriff: includere Präposition in und dem Verb claudere (deutsch: schließen), hat die Bedeutung von „einschließen, einfügen“ und „hemmen, zurückhalten“ ….
Jemanden in eine Umarmung einschließen oder in eine Gemeinschaft einfügen bedeutet Anerkennung, Anteilnahme, Schutz und Sicherheit. Doch da ist auch schon die zweite Konnotation der Hemmung und Zurückhaltung angelegt. Wir spüren den Druck der Anpassung an eine Norm, eine Umarmung kann auch als Fessel wahrgenommen werden…(a. a. O. S.91)

Menschen sind immer anders als die Norm

Hinter dem Begriff und der Absicht zur Inklusion , wie er in Artikel 24 der (N-Konvention formuliert iwrd, steht ein bestimmtes Menschenbild, das die Unterschiedlichkeit der Menschen würdigt und anerkennt, dass „Menschsein“ sich gerade auszeichnet, dass es nicht in eine bestimmte Norm oder in ein vorhersagbares Verhaltensmuster gepresst werden kann… (a. a. O. S.94)
„Man muss nur eine Kleinigkeit ändern: alles!“
… der UN-Sonderberichterstatter, VERNOR MUN=Z VILLALOBOS::: erklärte auf dem Kongress:.. 2010 in Köln, dass nicht einmal jedes fünfte Kind gemeinsam mit nicht behinderten Kindern zur Schule geht…

Kein Schubladendenken
„In der Reformpädagogik“, sagte OTTO HERZ, einer der Reformpädagogen der ersten Stunde, … im Deutschlandfunk, „gibt es natürlich weniger Diktate. Wenn wir zusammen Theater spielen… kann sich… jeder … mit seinen Fähigkeiten und Begabungen einbringen und zum Schluss sagen dann alle: ‚Gemeinsam haben wir eine tolle Aufgabe vollbracht‘ – das ist Reformpädagogik.“ Und eine Lehrerin ruft beim Sender an…: „Früher gab es in der DDR gemeinsames Lernen bis zur 10. Klasse. Davon haben auch die Leistungsstarken einen Gewinn, ich habe die ‚Einser‘ neben die ‚Dreier‘ gesetzt, damit sie gemeinsam ihre Arbeiten korrigieren. So haben beide mehr gelernt. (a. a. O. S.95) Außerdem sind die ‚Einser‘ in Deutsch und Mathe nicht unbedingt die ‚Einser‘ in Sport – da gibt es doch ein ständiges Geben und Nehmen.“

Schule sieht heute anders aus
Die Vision einer Ganztagsschule als logistisches Zentrum, das organisiert, wo Menschen hingehen, um zu lernen, ist vielleicht gar nicht mehr fern…
Kulturelle Diversität an Ganztagsschulen und die Einbeziehung von Kunst sind wesentliche Bestandteile von Inklusion… (a. a. O. S.96)
„Amaro Kher“, was in der Sprache der Roma so viel bedeutet wie „unser Haus“, erwies sich als zentrale Station auf der zehntägigen Deutschlandreise des UN-Gesandten… im Jahr 2006. Das Kölner Projekt zur Integration und Förderung de Kinde von Roma und Sinti , das im Juli 2004 initiiert wurde, hinterließ… nachhaltigen Eindruck… (a. a. O. S.98)
Vier Jahre später: „Amaro Kher“ revised‘
… Die Kinder werden am frühen Morgen aus den Flüchtlingsheimen abgeholt und pünktlich zur Schule gebracht. Dort werden die Schülerinnen und Schüler in zwei jahrgangsgemischten, extrem heterogenen Gruppen unterrichtet… (a. a. O. S.99) .. die Kinder der jüngeren, altersgemischten Gruppe sind schwer zu bändigen, reagieren impulsiv, können sich nicht lange auf den Bänken halten. Es herrscht ein produktives Chaos… (a. a. O. S.100)

13   Der „Vorkurs“ als Wegbereiter einer inklusiven Schulpädagogik
Ramona Häberleln-Klumpner (a. a. O. S.106-111)

Der Vorkurs dient in Bayern der Sprachförderung und ist vor allem für Kindergartenkinder mit Migrationshintergrund oder mi verzögerter Sprachentwicklung vorgesehen. Ein Teil der Fördermaßnahmen findet ab dem letzten Jahr vor der Einschulung statt und wird von einer Grundschullehrkraft … im Rahmen von drei Wochenstunden in einer kleingruppe von ca. acht Kindern abgehalten… (a. a. O. S.107)
… Allerdings sei angemerkt, dass die Förderdiagnose auch eine Gefahr des Manipulierens in sich birgt, denn sie kann allgemein sehr unterschiedlichen Zwecken dienen. Man spricht im Rahmen einer meist defizitorientierten Sicht von einem „besonderen Förderbedarf“ und damit einhergehend von einer Einweisung in eine „Sonderschule“. Im Rahmen einer ressourcenorientierten Feststellung dagegen werden Könnensstrukturen fokusiert, um die Förderung an den Lernentwicklungsstand anzupassen. Es macht einen großen Unterschied, ob Festschreibungen von Defiziten oder ob Ressourcen im Mittelpunkt stehen…  Die Annahme der Lernfähigkeit aller Kinder ist dem Verständnis der inklusiven Pädagogik implizit… (a. a. O. S.108)

Das kindliche Denken und Wahrnehmen berücksichtigen
Beobachtet man das kindliche Denken und Wahrnehmen – besonders im Vorschulalter –, so stellt man fest, dass es bei Kindern kaum rational-logisch stattfindet. Lernprozesse geschehen im Sinne des Konstruktivismus durch innere Filterung und Verarbeitung von Informationen aus der Umwelt: z.B. körperliche, gefühlsmäßige und atmosphärische, um in Anlehnung an SCHÄFER (vgl. SCHÄFER 2003,15) die wichtigsten zu nennen… (a. a. O. S.111)

14  Schulbegleitung als Inklusionshilfe
Timm Hasselmeyer  (a. a. O. S.114-121)
… Während die Sozialgesetzgebung die Grundlagen für die Notwendigkeit und Finanzierung der Schulbegleiter legt, findet ihr Einsatz im schulischen Umfeld statt und damit im Zuständigkeitsbereich schulrechtlicher Gegebenheiten…. (a. a. O. S.114) [Es] sollen einige denkbare Konflikte angegeben werden. Ein Schulbegleiter… soll den Schüler von den eigenen Leistungen unabhängig machen. Sein Ziel wäre es entsprechend, sich selbst überflüssig zu machen und sich damit … eventuell sogar den eigenen Lebensunterhalt zu entziehen. Häufig wird der Schulbegleiter als der letzte Ausweg gesehen, um den Schüler in der Regelschule belassen zu können… Die inklusive Unterrichtung eines Schülers mit sonderpädagogischem Förderbedarf in einem System, das noch nicht als inklusiv bezeichnet werden kann, ist für die Lehrkräfte sehr belastend…. Viel Zeit für den Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf bedeutet weniger Zeit für das Gros der Schüler… Und: Der Schulbegleiter ist da und hätte vielleicht sogar Zeit. Ihm vor diesem Hintergrund keine schulischen Aufgaben zu übertragen [was ja rechtlich nicht sein darf], mag für den Schüler mit Förderbedarf richtig und wichtig sein, ist zunächst aber nicht im Interesse der ganzen Klasse. … (a. a. O. s.116) Viele der oben genannten Aufgaben eines Schulbegleiters erfordern ein sonderpädagogisches Knowhow… (a. a. O. S.117) …
Erziehungsberechtigte können in vielen Regionen Deutschlands Schulbegleiter direkt einstellen, die dann über den Sozialhilfeträger refinanziert werden. Eine Einstellung durch einen größeren Träger (etwa durch eine karitative Einrichtung oder eine Förderschule) bietet demgegenüber jedoch Vorteile. Für einen größeren Träger ist eine kompetente und angemessene Fort- und Weiterbildung der Schulbegleiter leichter zu bewerkstelligen… (a. a. O. S.118)
… Der Schulbegleiter muss nicht zwingend neben dem Schüler sitzen…
Besonders bei Schülern, die eine pflegerische Begleitung benötigen, ist die Einstellung eines Schulbegleiters entsprechend des Geschlechts der Schüler zu empfehlen… Nahe Verwandte kommen als Schulbegleiter grundsätzlich nicht in Frage…
Begleitschreiben für Schulbegleiter [mit Aufstellung der rechtlichen, der Verantwortungsaspekte und Aufgabenbereiche] (a. a. O: S.120,121)
15  Sonderpädagogische Förderung in Kleingruppen
… Bewährt hat sich, Schüler mit ähnlichem Förderbedarf zu Kleingruppen zusammenzufassen und diese gezielt zu fördern … pro Woche eine Schulstunde… Eine Kleingruppe läuft meist für 10 Wochen; anschließend wird gemeinsam mit der Klassenleitung die Entwicklung besprochen… Manchmal löst sich eine Kleingruppe nach 10 Stunden auf, manchmal ändert sich auch die Zusammensetzung… (a. a. O. S.122)

Förderung der Selbststeuerung (ADHS-Schüler)
Zahlenmäßig an den Grundschulen stark vertreten… Förderstunden für diese Kinder… (a. a. O: S.12)
Adäquater Umgang mit Aggressionen … (s. s. O. S.124)
Förderung sozial unsicherer Kinder  … (a. a. O. S.125)

16  das „Forum für inklusive Strukturen an Schulen in der Region“ (FISS)
Pius Thomas
Integrative, wohnortnahe Beschulung von Kindern mit Behinderung – dieser Wunsch von Eltern wird zunehmend häufiger und dringender geäußert…  die Bildungspolitiker… handeln… (vor allen die der konservativ regierten Bundesländer) in die Gegenrichtung. Sie sehen in einem differenziert gegliederten und konsequent separierenden Schulsystem die günstigeren Voraussetzungen für erfolgreiche Bildungskonzepte. Dabei gehen sie von zwei Fiktionen aus:

Beide Annahmen sind nicht haltbar und empirisch widerlegt (vgl. ROSSBACH 2001; PREUSS-LAUSITZ  2002; WOCKEN  2005)…
… zu wenig Fortschritte bei der Integration behinderter Kinder an allgemeinen Schulen… (a. a. O. S.130)  Dieser … Aufforderung an die Zivilgesellschaft verpflichten wir uns im FISS (für Interessierte und Ratsuchende: www.fiss-inklusion.de ) (a. a. O. S.131)  … Augsburg…
Aus der Kooperation des Lehrstuhls mit dem Verein elwela wuchs nach einigen Jahren die Idee der Gründung eines Kompetenz- und interesssenbündelnden Gremiums…  (a. a. O. S.132)
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Otto Speck

Schulische Inklusion aus heilpädagogischer Sicht
Rhetorik und Realität

2. Auflage 2011 Ernst Reinhardt Verlag München Basel
ISBN 978-3-497-02229-8
Vorwort
Der auf Menschen mit Behinderung oder mit besonderen Bedürfnissen bezogene Begriff Inklusion hat es gegenwärtig zu einer auffallenden Geltung auch in der allgemeinen Öffentlichkeit gebracht… Wiederum andere, vor allem solche, die sich bisher schon um mehr Gemeinsamkeit bemüht hatten und dabei den Leitbegriff der Integration verwendet hatten, fragen, was eigentlich neu sei am Begriff „Inklusion“.
Es ist ein ausgesprochen heißes Thema, d. h.  es ist hoch aufgeladen mit z. T. gegensätzlichen Emotionen…. An sich ist die allgemeine Schule der eigentliche Adressat des neuen Gesetzes. Bis jetzt bewegt sich diese aber relativ wenig… Es muss zu denken geben, wenn es nach wie vor fast ausschließlich Sonderpädagogen sind, die sich für ein inklusives Schulsystem einsetzen. (a. a. O. S.7)
… Aus heilpädagogischer Sicht geht es vor allem darum, dass der nun beginnende inklusive oder integrative Umbauprozess des Bildungssystems in einer Weise erfolgt, dass Kinder und Jugendliche mit erheblichen Lernproblemen wirklich zu ihrem Recht kommen und nicht samt ihren Eltern und Lehrern zu Opfern einer Illusion werden, indem man die Schulen mit ihren Aufgaben und Problemen allein lässt. Schließlich sind die Rahmenbedingungen der Schule weiterhin von den Prioritäten abhängig, die von der Gesellschaft gesetzt werden…
Tragbare Lösungen für die Schule der Vielfalt (II) lassen sich eher finden, wenn dabei die Vielfalt der Einstellungen auch in der Weise beachtet wird, das man das Eine tut, ohne das Andere lassen zu müssen. (a. a. O. S.8)

Einleitung: Schulische Integration/Inklusion
Der pädagogischen Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Lernhindernissen stellt sich seit jeher eine Doppelaufgabe: Zum einen geht es um die Förderung der individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten, also um das Erlernen von Kompetenz und Selbstbestimmung trotz der gegebenen Lernhindernisse, und zum anderen um das Ermöglichen und Sichern sozialer Teilhabe, mit anderen Worten, um personale und soziale Integration (Speck 1974)…
In diesem Sinne wurden seit den 1970er Jahren Begriffe wie Integration, soziale Eingliederung und Kooperation zu neuen Leitbegriffen in der heilpädagogischen und öffentlichen Diskussion. Sie zielte darauf ab, die institutionelle Separation abzubauen und Kinder und Jugendliche mit Behinderungen möglichst in die allgemeinen und normalen Institutionen einzugliedern… (a. a. O. S.9)
Im Vergleich zu anderen Ländern ist die Integrationsbewegung in Deutschland vergleichsweise spät in Gang gekommen. Dies hing u. a.  mit der Unterbrechung der heilpädagogischen Entwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit zusammen… (a. a. O. S.10)
I  Der lange Weg zum gemeinsamen Lernen
1  Erste Ideen und Versuche
Als erster Protagonist einer „Schule für alle“ wird häufig der große Pädagoge …, Johann Amos Comenius, aus seinem Werk „Große Didaktik“ (entstanden 1627-132) .. zitiert: „Wir versprechen, die Schulen so einzurichten, das die gesamte Jugend […] dort gebildet wird --- mit Ausnahme höchstens derer, denen Gott den Verstand versagt hat“ (zit. nach Flitner 198,66). ..zwar abgestuft nach Graden der Erkenntnis, aber für alle gemeinsam als Ziel, „dass der Mensch wirklich Mensch werde“. (a. a. O. S.11,12) … Schulen sollten sich als „Werkstätten der Menschlichkeit“ verstehen…  Johann Jakob Guggenbühl, … fasste seine Beobachtungen von der anregenden Wirkung fähigerer, besser entwickelter Kinder auf Kinder mit geistiger Behinderung in seiner Anstalt auf dem Abendberg bei Interlaken wie folgt zusammen (1853, 109): „Die Behauptung, als sei der Aufenthalt von gesunden und unentwickelten Kindern beieinander nachteilig, gehört zu den vielen Vorurteilen, welche der Sache Unkundige aufgebracht haben.“ … Die gemeinsame Erziehung der „körper- und geistesschwachen‘“ Kinder zusammen mit „gesunden, kräftigen und vollsinnigen“ Kindern gehörte  … auch.. zu[m] pädagogischen Programm… [der] Begründer der „Heilpädagogik“ .. Georgens und Deinhardt … (Georgens 1858, 3 und 36).. (a. a. O. S.12)
… derartige integrative Gedankengänge wurden Ende des 19. Jahrhunderts durch das Vordringen sozialdarwinistischer Ideologien immer mehr zurückgedrängt. Sie führen nach dem ersten Weltkrieg u. a. zum Programm einer „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ und schließlich zur Katastrophe in der Zeit des Nationalsozialismus…
Engagierte Volksschulpädagogen sprachen sich [beim]  sich ausbreitenden Ausbau des segregierenden Hilfsschulwesens seit der Wende zum 20. Jahrhundert… „gegen jedes Sortieren der Kinder“ und gegen „besondere Klassen“ aus (Ellger-Rüttgardt 2008, 170)
… preußischer Kreisschulinspektor und außerplanmäßiger Professor an der Universität Bonn Johann-Heinrich Witte … (1901) [schrieb]…
Es sei wenig menschenfreundlich, „den schwachen Schüler von dem begabteren Mitschüler zu trennen, ihn nur mit seines Gleichen zusammenzubringen, den Schwachen an den Schwachen zu koppeln und solche Schüler dem belebenden Einflusse sowie der anregenden Beispiele des befähigten Mitschülers und gelenkeren Geistes, mithin auch dem anspornenden Wetteifer mit ihm zu entziehen“ (Witte, 1921, 7) … (a. a. O. S.13)

2  Soziale Eingliederung als Ziel separierter Bildung

Unter dem Druck gesellschaftlicher Distanz und Nötigung zur Separation konnte soziale Eingliederung lange Zeit nur als Ziel der sonderpädagogischen Spezialschulen praktiziert werden… (a. a. O. S.14)
Das Ziel der Hilfsschulpädagogik in den 1920er Jahren sah u. a. der Berliner Schulrat Arno Fuchs in der Ausbildung „für das Leben und die Arbeit in der Gesellschaft“ bzw. in „Gesellschaftsfähigkeit und Erwerbsfähigkeit“ (1022, 30) … b(a. a. O. S.15)

Soziale Eingliederung durch Normalisierung
… das Programm der „Normalisierung“ stammt aus Skandinavien (Bank-Mikkelsen 1976; Nirje 1974) … Das dänische Fürsorgegesetz von 1959 hatte „ […] ein Leben so nahe an normalen Lebensbedingungen als möglich gefordert“ (Bank-Mikkelsen 1976)…  Konkret war Normalisierung darauf gerichtet, behinderte Menschen aus ihren Sonderrollen herauszuholen und sie am normalen Zusammenleben mit anderen Menschen teilhaben zu lassen… Normalisierung ist als Prinzip und zugleich als allgemeiner moralischer, politischer und pädagogische Imperativ verstanden worden… das Normalisierungsprinzip war grundsätzlich auch gefährdet, es konnte in Frage gestellt und unwirksam gemacht werden, z. B. durch ökonomische-utilitaristische Normen der Gesellschaft. (a. a. O. S.16)
… Soziale Zugehörigkeit ist ein natürliches Grundbedürfnis jedes Menschen, unabhängig von der Ausprägung seiner psycho-physischen Individualität. Integration kann nur gelingen, wenn sich beide Teile aufeinander zubewegen, um ein neues Ganzes zu bilden. Das Verbindende lässt sich u. a. aus den Grundwerten und den allgemeinen Menschenrechten ableiten, insbesondere aus der im Grundgesetz verankerten Achtung der Menschenwürde jedes Menschen… (a. a. O. S.19)
Die Integrationsbewegung war sich von Anfang darüber im Klaren, dass vor allem „die Gesellschaft“ als ein grundlegend wichtiger Bedingungsfaktor in Frage kommt. … Nun ist die Gesellschaft als soziales System ein höchst komplexes Phänomen, dessen Differenzierung und Komplexität durch Veränderungen ständig zunimmt. Es steigert sich damit die Diversität, d. h. die Vielfalt der Einzelsysteme und damit auch die Verschiedenheit der dabei wirksamen Wertsysteme; diese sind in der postmodernen Gesellschaft weitgehend individualisiert…. (Luhmann 1987, 435)… (a. a. O. S.25)

3. Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung …

Die Ergebnisse von Untersuchungen über die Einstellungen gegenüber behinderten ergeben kein klares Bild (Cloerkes 185; 2001) … (a. a. O. S.26) … Da mit einer Verbesserung der sozialen Reaktionen gegenüber behinderten Menschen kurz- oder mittelfristig nicht zu rechnen ist, gelte es in erster Linie, die Handlungskompetenz dieser Personen zu stärken…  Gesellschaft und Politik zeigen sich hilflos angesichts schrumpfender Ressourcen und wachsende Armut. …(a. a. O. S.27,28) … So wurde u.a. aus Schweden berichtet, besorgte Eltern ließen angesichts der kritischen wirtschaftlichen Entwicklung (Arbeitslosigkeit) und des damit verbundenen erhöhten Leistungs- und Wettbewerbsdrucks ihre nichtbehinderten Kinder in zunehmendem Maße in Privatschulen unterrichten, die nicht integrativ organisiert sind…. (Kriwer 1996) .. (a. a. O. S.28) … Die Dynamik seiner Umsetzung [gemeint ist das Integrationsprinzip] hat sich zwar etwas abgeschwächt: zugleich aber hat sich auch die Solidarisierung um das normative Prinzip der Integration/Inklusion weltweit deutlich verstärkt…

4.   Soziale Integration als pädagogische Aufgabe

… Möglich werden solche sozialen Anpassungen an veränderte gesellschaftliche Bedingungen im Besonderen dann, wenn sie durch Erziehung angebahnt und unterstützt werden…. Auch ein gut vorbereiteter und überlegt angesetzter Unterricht bringt nicht bei allen Schülern unbedingt bessere Lernerfolge und persönliche Befriedigung hervor… (a. a. O. S.29) Integration setzt ein entsprechende soziales Klima in der Lernumgebung voraus… Zumindest dürfen die Hindernisse für mehr integrative Verständigung nicht zu groß sein. Dies könnte insbesondere dann der Fall sein, wenn das Leistungsprinzip überbetont wird, sodass in der Lerngruppe konkurrierende Einstellungen und Intentionen beherrschend werden.

5  Schulische Integration – eine kritische Zwischenbilanz
… Die bisherigen Versuche und Ansätze [für] ein klares und verallgemeinerbares Bild von der Realität schulischer Integration… unterscheiden sich allzu sehr aufgrund der im Einzelfall gegebenen Bedingungsvariablen, z.B. Behindertenarten, Lehrerpersönlichkeiten, Lehrerkollegin, äußere schulische Ausstattung, Unterstützung durch die Schulbehörde, durch die Eltern etc. (Prell/Link 1974; Muth et al. 1976¸1982; Feuser 1995; Feuser/(Meyer 1987; Reiser et al. 1986; Speck 1976¸Speck et al. 1978¸Wocken/Anto 1987; Bleidick 1988; Eberwein 1995; Heimlich 1999). … (a. a. O. S.31)
a)  Unbefriedigende Zahlen (a. a. O. S.32-42)
… Zum einen sind es Probleme der Klassifizierung als „behindert“, und zwar speziell im Sinne einer damit verbundenen Notwendigkeit, eine Förderschule zu besuchen. Dies zeigen schon die enormen Unterschiede der Förderschulbesuchsquoten zwischen alten und neuen Bundesländern…
… Was die Schulen für „geistig Behinderte“ („Förderschwerpunkt geistige Entwicklung“) betrifft, so ist bereits darauf hingewiesen worden, das sie in Deutschland auch von schwerst- und mehrfachbehinderten Kindern besucht werden, die in anderen Ländern nicht in der Schulstatistik auftauchen, weil sie in Heimen untergebracht sind… [Auch] wäre anzumerken, dass es die deutsche Klassifikation  als „lernbehindert“  und damit die entsprechenden Schulen für „Lernbehinderte“  („Förderschwerpunkt Lernen“) i anderen Ländern überhaupt nicht gibt…
Zweitens ist festzustellen, das die allgemeinen Schulen – jedenfalls in Deutschland und bis zum Jahr 2010 – nur in begrenztem Maße in der Lage sind integrativen Unterrichte „für alle“ einzuführen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie dürften weniger an eine Mangel an integrativer Mentalität liegen als vielmehr daran, dass das Ausmaß der alltäglichen Anforderungen an allen Schulen groß ist… (a. a. O. S.42)
.. Die Statistik verzeichnet Bundesländer mit relativ hohen I-Quoten aber gleichzeitig hohen F-Quoten (Tab.3). … Dieser Widerspruch… hängt zunächst damit zusammen, dass der unklare Begriff „sonderpädagogischer Förderbedarf“ auch für Schüler gilt, die Förderschulen besuchen…. Demnach müsste die Förderschulbesuchsquote umso niedriger sein, je höher die Integrationsquote liegt. In Wirklichkeit weisen Länder mit einer hohen Integrationsquote zugleich eine hohe Förderschulbesuchsquote auf…  Beispiel…. Hansestadt Bremen, [die] die höchste I-Quote aller Bundesländer … fast 45% … erreicht… [Doch] in Bremen… besuchen… prozentual ebenso viele Schüler Förderschulen wie beispielweise in Bayern, obwohl hier die I-Quote wesentlich niedriger ist…. (a. a. O. S.43,44) … sind alle „besonderen Lernbedürfnisse“ „sonderpädagogische“, d. h. fallen sie alle nur in den Kompetenzbereich der Sonderpädagogen?..  Hat es die allgemeine Schule nicht auch mit [anderen] besonderen Lernbedürfnissen zu tun?...  Außerdem dürfte sich durch die UN- Behindertenrechtskonvention (2006) eine neue Situation ergeben…  Auch in den Fällen, in denen dann bei einzelnen Kindern eine Aufnahme in eine Förderschule doch angezeigt ist, fiele die dazu nötige Entscheidung nicht primär und einzig in die Zuständigkeit der Förderschule, wie etwa früher die Feststellung einer „Sonderschulbedürftigkeit“ allein Sache der Sonderschule war. (a. a. O. S.44,45) Vielmehr hätte die allgemeine Schule als „integratives Bildungssystem“ nachzuweisen, das eine  Ausnahme von der Regel inklusiver Schulbildung vorliegt…

 b)  Unzureichende Bedingungen
… eine Untersuchung von Sharon Vaughn und Jeanne Shay Schumm (1995) von der University of Miami über „Responsible Inclusion for Students with Learning Disabilities“. Die beiden Autorinnen werteten bisher vorliegende empirische Befunde zur „Inclusion“-Diskussion in den USA aus… Auf der einen Seite habe man es mit unqualifiziertem Enthusiasmus für eine vollständige inclusion und mit einer großen Begeisterung für die philosophy of inclusion zusammen mit persönlichen Glaubensüberzeugungen, beruhend auf moralischen und menschenrechtlichen Verantwortlichleiten (Gerechtigkeit und Gleichheit), zu tun und auf der anderen Seite mit einem geringen empirisch dokumentierten Nachweis der Effekte  einer vollen schulischen Eingliederung.  Was an Befunden vorliege, lasse vielmehr darauf schließen, dass Schüler mit Lernschwierigkeiten (learning disabilities) in Regelklassen unterrichtlich nicht gut vorankommen, dass hier ein undifferenzierter Groß-Gruppenunterricht die Norm sei. Trotz dieses eindeutigen Dissenses fänden aber Vorteile und Erfolge von inclusion vor allem bei Eltern und Professionellen Anklang, die es mit schwerer geschädigten Kindern zu tun haben. (a. a. O. S.45)
[geforderte Bedingungen:]

1)   Die individuelle Beurteilung der Förderlichkeit gemeinsamen Unterrichts hat Priorität  vor dem Prinzip der bloßen Platzierung in einer Regelklasse.

2)   Die Lehrer entscheiden sich selbst für integrativen Unterricht, werden also nicht verpflichtet.

3)   Die entsprechend nötigen Ressourcen für gemeinsamen Unterricht müssen vor der Platzierung verfügbar sei, dürfen also nicht erst nachträglich beschafft werden.

4)   Es muss von vornherein Klarheit herrschen, dass gemeinsamer Unterricht erhebliche Ressourcen an Personal und Lernmaterial beansprucht, wenn er erfolgreich sein soll. (a. a. O. S.46)

5)   Modelle gemeinsamen Unterrichts werden nicht von oben vorgegeben, sondern von der schulischen Basis entwickelt.

6)   Es müssen zusätzliche Förderungsangebote, wie sie individuell angemessen sind, zur Verfügung stehen, eine bloße Platzierung in der Regelklasse wäre unverantwortlich.

7)   Die getroffenen Maßnahmen und Modelle werden fortlaufend bzgl. ihrer Wirksamkeit und Angemessenheit evaluiert…

8)   Notwendig ist eine kontinuierliche Weiterqualifizierung der Mitarbeiter.

9)   Das Integrationskonzept muss integrierter Bestandteil de Schulkonzepts sein, damit genügend Akzeptanz unter allen Schülern gesichert ist.

10)    Das Inklusionskonzept muss den Lernbedürfnissen aller Schüler, auch der durchschnittlich und überdurchschnittlich lernenden, gerecht werden.

11)    [von den 11 Punkten als „wichtige Bedingungen und allseits dienliche Gemeinsamkeit des Lernen“ zitiere ich: WW]
3) eine Schülerschaft pro Klasse, deren nichtbehinderter Teil hinreichend akzeptanz- und unterstützungsbereit ist bzw. dies lernen kann und für deren im Lernen behinderter Teil das curriculare Fortschreiten der Klasse nicht zum frustrierenden Problem wird… (a. a. O. S.47)

Fehlende finanzielle Ressourcen
Die Einsparungen durch den Wegfall der Kosten für das Sonderschulsystem würden nicht einmal ein Drittel des neuen Kostenumfangs für ein inklusives Schulsystem ausmachen. (a. a. O. S.48,49)… Dies geht u. a. aus einer Untersuchungen des Forschungsinstitutes für Bildungs- und Sozialökonomie (Fibs) 2009 in Berlin hervor… (a. a. O. S.48) Das Gutachten war im Auftrag der Partei Bündnis90/Die Grünen im Bundestag in Auftrag gegeben worden. Sie tritt für die Abschaffung der Förderschulen ein.   

Gesamtkosten für ein inklusives Schulsystem
Einsparung durch Wegfall der Sonderschulkosten‘
Restbetrag für ein inklusives Schulsystem

49 Mrd. €
15  Mrd. €
34 Mrd. €

In der von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegebenen Studie von Klaus Klemm „Sonderweg Förderschulen: Hoher Einsatz, wenig Perspektiven“ (2009) … werden für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems niedrigere Kosten… angesetzt. Diese würden im Anfang 2,6 Milliarden Euro betragen. Diese Summe ergibt sich jedoch allein aus der damit verbundenen Einsparung von Personalkosten für die Schulen für Lernbehinderte. Der pädagogische Ertrag wären 2,4 Wochenstunden mehr pro Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf in der „inklusiven“ Schule. Bedeutet aber eine Verlagerung des Dienstortes und der Tätigkeit der Förderschullehrer mit zwei bis drei Wochenstunden pro Klasse an verschiedenen Schulen schon einen „integrativen“ oder „inklusiven“ Unterricht? … Das Thema Bildungsreform ist an sich ein Dauerthema der föderalen Schulpolitik in der Bundesrepublik. Dabei hatte sich diese die längste Zeit nicht gerade auf die Integration behinderter Schüler fokussiert. Im Vordergrund standen und stehen vielmehr Fragen der Schulleistungssteigerung, und diese ist ohne Zweifel im Zusammenhang mit der erklären politischen Absicht einer „Sicherung des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ zu sehen und genießt, durch den Druck des globalen Wettbewerbs bedingt, Priorität… (a. a. O. S.49)

Personalmangel
Schulische Integration erfordert mehr und differenzierter qualifiziertes Personal. Diese Notwendigkeit ergibt sich zum einen aus der Vermehrung der Klassen, in denen behinderte Kinder unterrichtet werden, und zum anderen aus der Vielfalt besonderer und individueller Förderbedürfnisse… (a. a. O. S.50)
… In der Propagierung einer pädagogisch wichtigen Vielfalt kann man eine pädagogisch verständliche Reaktion auf das überzogene Selektions- oder Sortierungsprinzip im Schulwesen sehen. Es hatte zu der verführerischen Maxime geführt: Je homogener eine Lerngruppe, umso besser die Lernerfolge!... Pädagogisch vernachlässigt wurde dabei die jeder Schule, zumal jeder Pflichtschule, zukommende Aufgabe, auch die im Lernen schwächeren Schüler gezielt zu unterstützen und das soziale Lernen zu pflegen. In den Hintergrund trat die Einsicht und Chance, dass individuelle Lernerfolge auch wesentlich von der Lernumwelt abhängig sin, vor allem von den emotionalen
Beziehungen zueinander und der gegenseitigen Akzeptanz. Die Frage ist nun, ob wirklich alle Kinder gemeint sind, wenn von einer willkommenen, d.h. grenzenlosen Heterogenität die Rede ist (Wember 2009, 90f.).. Vielfalt an sich ist noch kein Wertbegriff. Dem Prinzip der Gleichheit, das der Pädagogik der Vielfalt zugrunde lieg, entsprechen zu wollen („alle Kinder haben gleiche Rechte“), heißt noch nicht, dass alle Ungleichheiten unwirksam und unwichtig werden, wenn Vielfalt erzeugt wird. Nicht jede Vielfalt lässt sich in erfolgreicheres Lernen umsetzen.
Sozialwissenschaftliche Untersuchungen in integrativen Klassen erbringen differente Ergebnisse. Vielfalt erzeugt naturgemäß mehr Reibungen… (a. a. O. S.73)
Dass wachsende Heterogenität in den Schulklassen den Beruf des Lehrers nicht gerade attraktiver macht, geht u.a. aus einem Bericht über die am 5. Oktober 2009 abgehaltene Internationale Tagung der „Teacher Education for Inclusion“ in Dublin hervor (Schäfer 2010) In den USA hätten fast 50% der Junglehrer die Schule nach fünf Jahren verlassen und sich einem anderen Beruf zugewandt…
In welchem Maße Überforderungen der Lehrenden zu Erkrankungen aufgrund von Hilflosigkeit, Resignation und Erschöpfung führen können, ergab eine Studie in der Universitätsklinik Freiburg i. B. (Leitung Prof. J. Bauer und Th. UnterbrinK; Pressemittteilung v. 10.07.2008). Das Spektrum der ermittelten Belastungen reichte von provozierende Lernunlust, schweren Beleidigungen und offener Feindseligkeit auf der Basis von Beziehungslosigkeit bis zu kaum erträglicher Aggressivität und Mobbing. Es ist also generell schwierig, eine Schulklasse als wert- und sinngebundene Einheit zu gestalten und zu unterrichten, vor allem dann, wenn die Lehrer mit diesen gesteigerten Problemen allein gelassen werden… Laut KMK-Statistik  [Kultus-Minister-Konferenz-Statistik] hat sich der Anteil von Kindern und Jugendlichen in Förderschulen mit dem „Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung“ von 1998 bis 2006 mehr als verdoppelt… (a. a. O. S.74)
In einer jüngst erschienen Studie über „Belastung und Bewältigung in integrativen Klasse“ (Hedderich/Hecker 2009) wird bestätigt, dass die integrative Arbeit mit höheren Anforderungen an die Lehrer und Lehrerinnen, mit einer hohen Verausgabungsbereitschaft , also mit einem höheren Belastungspotenzial, verbunden ist, wobei diese Faktoren vor allem auf unzulängliche und extern bedingten Rahmenbedingungen zurückgeführt werden, weniger auf Verhaltensstörungen der Schüler…
die genannte Untersuchung… wurde … zumeist an privaten Schulen durchgeführt.. Diese verfügen im Allgemeinen über bessere Bedingungen… (a. a. O. S.75) Unter pädagogischem Aspekt ist zu fragen, worin angesichts des hohen Ausprägungsgrades individualistischer und geradezu gemeinschaftsfremder Werthaltungen und Verhaltensweisen in der pluralistischen Gesellschaft eine solche „Sinn stiftende Klammer“ gesehen werden und wieweit sie im Alltag praktiziert werden kann…
Der italienische Inklusionspädagoge Dario Ianes (2009) sieht in bestimmten Lehr- und Lernstrategien und –techniken eine Möglichkeit um der Probleme Herr zu werden.
Task Analysis, Prompting und Fading. Modeling. Positive Verstärkung und extrinsische Motivation, Shaping und Chailing bzw. Selbstregulierung des Verhaltens. Die Frage ist, wie weit solche Techniken auch im Alltag einer Schulklasse praktikabel sind… Verwiesen wird auf einzelne beispielhaft Belege… Bei näherem Hinsehen handelt es sich um Musterschulen…   Die Vorstellung, für alle Lehrer seien lediglich kurzgefasste  heilpädagogische Propädeutiken innerhalb des allgemeinen Lehrerstudiums  ausreichend, dürfte nach bisherigen Erfahrungen irreal sein… (a. a. O. S.76)
… Nicht nur das gesamte Schulsystem müsste neu geordnet werden, sondern auch die gesamte Gesellschaft!  … wenn Inklusion wirklich gelingen soll; eine geradezu paradiesische Vorstellung! ....
Gegenwärtig sperrt sich die stark ausgeprägte Individualisierung und normative Pluralität in der Gesellschaft gegen vereinheitlichende Veränderungen….  (a. a. O. S.81)
…Es gibt zwar auch Gleichheit aller vor Gott, aber nicht Gleichheit aller in ihrer Identität und in der interindividuellen und komplexen Wirklichkeit….
Schule ist auch insofern ein Sonderfall für Inklusion, als sie primär keine
soziale Einrichtung ist, wie z.B. der Kindergarten, sondern ganz bestimmten Bildungsaufgaben und Lernanforderungen (Curricula) unterworfen… Allzu groß scheint auch die Vielfalt der Interessen innerhalb der verschiedenen Gruppen zu sein. (a. a. O. S.82)

4  Inklusion als sozialpolitischer Kampfbegriff
.. Wissenschaftlich-rationale Erwägungen haben weniger Chancen.. Dominant werden mehr universale, normativ-allgemeine Forderungen, z.B. der Bezug auf die allgemeinen Menschenrechte. … Die Widerstände können sich versteifen, wenn die ideologischen Begriffe, z.B Inklusion und Exklusion , moralisierend und aggressiv in die Diskussion eingebracht werden, wenn die Unterschiede zwischen real Möglichem und Realitätsfremdem verdeckt werden. Wenn Gegenargumente ausgeblendet oder diffamiert werden und wenn man den Eindruck erhält, es lasse sich alles Gewünschte eins zu eins in nächster  Zukunft („unverzüglich“) umsetzen, womöglich mit der Brechstange des Gesetzes..  Auf jeden Fall kann auf diese Weise, d. h. durch die Medien, Inklusion zu einem Trendwort werden, dem eine geradezu „selbstverständliche“ allgemeine Geltung zu komme… (a. a. O. S.67)

 

5        Inklusion als Menschenrecht – zur UN-Behindertenrechtskonvention (a. a. O. S.83-93)

Zunächst ist festzustellen, dass Inhalt und Zweck dieser Behindertenkonvention … nicht nur auf die schulische Bildung abgestellt sind, sondern auch über sie hinauseichen, nämlich ganz allgemein darauf, „die volle und gleichberechtigte Ausübung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle behinderten Menschen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung ihrer angeborenen Würde zu fördern“ (Art.1) …
Artikel 24 (Bundesgesetzblatt Jg. 2008 Teil II r.35, 31. Dezember 2008)
…(a. a. O. S.83)
5. Die Vertragsstaaten stellen sicher, dass Menschen mit Behinderungen ohne Diskriminierung und gleichberechtigt mit Anderen Zugang zu allgemeiner Hochschulbildung, Berufsausbildung, Erwachsenenbildung und lebenslangem Lernen haben…

Der offizielle englische Begriff … ist „inclusive education system“. Diese Formulierung ist ins Deutsche offiziell mit „integratives Bildungssystem“ übersetzt worden. Die gab Anlass zu Verschwörungstheorien.. (a. a. O. S..85) … Es ist sicherlich ein großer Fortschritt, wenn integrative/inklusive Bildung und Teilhabe nun als Rechtsnorm verbindlich gelten, also nicht mehr von administrativen Interessen des Staates abhängig sind… Die Eltern brauchten nicht mehr als Bittsteller aufzutreten…  Sie sind nun mit einem Rechtsanspruch ausgestattet.. (Wocken 2009)… „Das Ethos eines sozialen Humanismus wird nun ersetzt durch die rechtlich kodifizierte Gleichwertigkeit aller Menschen“ (13). (a. a. O. S.88)
Verlieren damit humanistische oder karitative Einstellungen an Geltung? Wird damit nicht auch der Begriff der Hilfe, der immer auch persönlich bestimmt ist, obsolet? … Müssten die persönlichen Motivationen zum Helfen nicht aus der Übung und aus der Mode kommen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden?... Inklusion wird letztlich nicht durch Rechtsansprüche gestaltet und gesichert, sondern durch Menschen, die immer wieder neu das Mitmenschliche in der Praxis gegensätzlicher Wertnormen und Motive selbstbestimmt zu verwirklichen suchen…. (a. a. O. S.89) ..l.
Die UN-Konvention schreibt… keine Zwangsaufnahme aller behinderten Kinde in allgemeinen Schulen vor, sondern sichert dem Kinde bzw. seinen Eltern das Recht auf Zugang zum allgemeinen Schulsystem, wenn sie eine solche Aufnahme wünschen (Bielefeldt 2010). Sie können auch die Aufnahme in eine Förderschule beantragen…. Aus der Praxis wird immer wieder berichtet, dass ein Kind mit ausgeprägten Lernhindernissen aufgrund eine Entscheidung seiner Eltern jahrelang eine allgemeine Schule  besuchen und dort eine Minderung seiner mentalen, sozialen und psychischen Entwicklung erlegen musste, d.h. gehindert war, seine Fähigkeiten zu entfalten… (a. a. O. S.90)
… Bei aller Notwendigkeit, das Schulsystem integrativ/inklusiv umzubauen, wäre es sozial ungerecht, Sonder- und Förderschulen auf Kosten ihrer Schüler und Lehrer finanziell schlechter zu stellen, und z.. durch personelle Einsparungen deren Klassenstärken zu erhöhen… (a. a. O. S.91)
„Nicht nur jene besonders intensiv und aufwendig zu fördernden Kinder (in Sonderschulen) unterstreichen, dass es eigene Einrichtungen weiter geben soll, sondern auch die professionelle Kompetenz der Sonderpädagogen wird durch die Arbeit dieser Einrichtungen und die mit ihnen verbundene Ausbildung und Forschung gestützt“… (Krappmann et al. 2003, 7811) … Diese spezialisierte Kompetenz zum Wohle ganz bestimmter Menschen samt ihrer Institutionen ist ein Kulturgut, um das uns andere Länder beneiden.. (a. a. O. S.92)

7  Internationale Praxiserfahrungen mit Inklusion/Integration

… Ob Deutschland in Sachen Inklusion gegenüber anderen Ländern wirklich und in jeder Beziehung weit zurückliegt, wie man in den Medien immer wieder lesen kann, ist durchaus die Frage.

.. Immerhin hat beispielsweise Großbritannien zwar die UN-Konvention generell angenommen; sie hat jedoch in einem Zusatzprotokoll den Art.24 ausdrücklich ausgenommen:“… The United Kingdom reserves the right for disabled children to be educated outside their local community where more appropriate education provision is available elsewhere. Nevertheless, parents of disabled children have the same opportunity as other parents to state a preference for the school at which they wish their child to be educated.” Deklariert wird (UN Enable 2009). … (a. a. O. S.93)
Total ablehnend hat sich die Regierung von El Salvador gegen eine Änderung der eigenen Gesetze und Vorschriften ausgesprochen (UN Enable 2009)…. Bei den europäischen Staaten fehlen u. a. Frankreich, Griechenland, Russland, Ukraine oder Weißrussland. Bedenkt man vor welchen Komplikationen und finanziellen Problemen die Umsetzung der UN-Konvention in unserem relativ reichen Land steht, dann verwundert es, wenn scheinbar selbstverständlich andere Staaten … auffällig viele sogenannten Entwicklungsländer… mit weitaus weniger finanziellen Potenzen zugestimmt haben… (a. a. O. S.94)
Die Begriffe „Integration“ und „Inklusion“ sind weder klar definiert, noch werden sie inhaltlich einheitlich verwendet (Bürli et al- 2009).
Man hat vielmehr von einem ganzen Spektrum von Verständnissen zu rechnen… In einigen Ländern bezeichnen sich Schulen als „Schulen für alle“ bereits dann, wenn dort Sonderklassen unter einem Dach zusammen mit Regelschulen untergebracht sind, ohne dass ein gemeinsamer Unterricht stattfindet (Dorn 2009, 205)… (a. a. O. S.96)  … Eigene Sonderschulen bestehen in allen vergleichbaren Ländern, also etwa in Skandinavien, Island, den Niederlanden, der Schweiz, in Österreich,.., Spanien. Frankreich oder Osteuropa… Großbritannien…  Aktuell fällt auf, dass die Zahl der in Sonderschulen [G]eförderten … in den letzten Jahren auch in anderen Ländern gestiegen ist… (a. a. O. S.99)… Kinder und Jugendliche mit schwersten und mehrfachen Behinderungen werden – wie selbstverständlich – den Sonderschulen oder Heimen zugeordnet…

…auf dem 6. Internationalen Symposion „Menschen mit Down-Syndrom“ in Palma de Mallorca (2005).. wurde… u.a. von deutlichen Gegensätzen zwischen den Wünschen der Eltern von Kindern mit Down-Syndrom und denen „der anderen“ Eltern berichtet (Randel 2005). Nach Studien von Laura Lota (Padua) hätten sich folgende Differenzen ergeben, die insofern von besonderem Interesse sind, als Down Kinder nach allgemeiner Auffassung am ehesten mit sozialer Akzeptanz rechnen können:

·        „Eltern von Regelschülern, die Gelegenheit hatten, Integration zu erleben, standen ihr ablehnend gegenüber, auch wenn sie auf Grund sozialer Überlegungen die Integration befürworten.

·        Lehrer, die die Vorteile einer Inklusion für die geistige und soziale Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom erkannten, ließen sich dennoch nicht dafür gewinnen, selbst eine Inklusionsklasse zu übernehmen.

·        Regelschüler versuchten, ihre Klassenkameraden mit Down-Syndrom eher zu meiden. Diese Tendenz nahm mit der Dauer der Integration noch zu. Sie waren eher bereit, Kindern mit geistiger Behinderung zu helfen, als ihnen ihre Freundschaft zu geben. Dabei stellte eine körperliche Behinderung eine viel geringere Barriere dar.

·        Kinder mit einer Behinderung nannten häufig Klassenkameraden als ihre Freunde, die dies ihrerseits nicht so empfanden…

.. Es wird – vor allem auch aus Ländern mit längerer Integrationserfahrung z.B. Skandinavien – berichtet, dass es in den inklusiven Klassenzimmern zu ganz spezifischen Spannungen bzw. Dilemmata kommen kann. Susan Tetler, Dozentin an der Universität Aarhus, Dänemark, nennt vier Bereiche (2009,191f.):

·        Individuen und Klassengemeinschaft

·        Sonderpädagogen und Allgemeinpädagogen

Wertschätzung der Vielfalt und Streben nach einem standardisierten Curriculum sowie schulisch-fachlicher Dimension und sozialer Dimension (191f.)
So komme es als Folge der priorisierten Individualisierung und damit verbundenen Berücksichtigung der besonderen Erziehungsbedürfnisse behinderter Kinder dazu, dass ein spezielles curriculares Programm parallel zum Regelcurriculum durchgeführt wird („Sonderpädagogik in der Regelklasse“!) Die Teilung der Verantwortung zwischen den beiden Lehrkräften könne zu neuen Formen der Segregation und zu einer Isolierung der behinderten Kinder führen. Es werden Kinder beobachtet, die sich einsam, ausgeschlossen und minderwertig erleben (Tetler 2009,188)  Der von der Öffentlichkeit zunehmend ausgeübte Druck auf die Einführung von Bildungsstandards erschwere die Praxis eines wirklich gemeinsamen Lernens . … Unter dem Druck der verschlechterten wirtschaftlichen Situation werden in jüngster Zeit sogar mehr denn je behinderte Kinder aus dem normalen Unterricht ausgegliedert (Kreuzer 1999). Die Zahl der Kinder, die „umfassenden Sonderunterricht“ erhalten, sei in Dänemark seit 1985 um 75% gestiegen. Für Jugendliche mit Verhaltensstörungen würden wieder vermehrt spezielle Einrichtungen geschaffen. Aus Finnland, dem Land, dessen Schüler… in der PISA-Studie 2000 am besten abschnitten, wurde berichtet, das sich inzwischen der Staat genötigt sehe, seine finanziellen Aufwendungen zu reduzieren und den integrativen Förderunterricht für lernschwache Kinder einzustellen (Süddeutsche Zeitung v. 28.05.0)… 
Die Vorrangigkeit des Prinzips der sozialen Partizipation rückt die Aufgabe der speziellen Förderung bei relativ ausgeprägten individuellen Lernhindernissen in den Hintergrund… (Biewer 2009,172f). Möglicherweise liege dieser verminderten Zuwendung zu „behinderten“ Kindern ein Inklusionsverständnis zugrunde, nachwelchem das sogenannte „medizinische Modell“ zugunsten eines sozialwissenschaftlich begründeten Ansatzes überwunden werden soll … (a, a, O. S.101) … (173) …
Das Recht auf Bildung, in diesem Falle auf notwendige spezielle Förderung „darf nicht dem Recht auf Teilhabe geopfert werden!...“ (Wocken 2009,15)
… Es wurde geltend gemacht , dass es für die Lernentwicklung eines behinderten Kindes wichtig sei, vorzubeugen und es nicht erst belastende und schädigende Schulerfahrungen machen zu lassen. Ein umstrittenes Argument, da der Begriff der Vorbeugung unzureichend definierbar und ein Missbrauch nicht ausgeschlossen ist… [Es] ist neben einer sorgfältigen Beobachtung der Lernfortschritte des Kindes auch eine professionelle Beratung der Eltern erforderlich… (BVerfGE24.144) Es fehlt an empirischen Längsschnittuntersuchungen über die tatsächliche ablaufenden Prozesse und die Effekte  und Bedingungen integrativer bzw. inklusiver Schulsysteme. Dazu gehörten u.a. auch Befunde über gesundheitliche Belastungen für die Lehrer. So zeigten sich bei Sonderschullehrern, die im mobilen sonderpädagogischen Dienst an Regelschulen arbeiten, beachtlich höhere Risikowerte, die bis zum Burnout-Syndrom reichen (Schmid 2009)…. (Schaarschmidt 2005)…
(a. a. O. S.102)
… Eine zunehmend sperrige Rolle bei der inklusiven Praxis spielen Kinder und Jugendliche mit intensiven Verhaltensstörungen, also emotionalen und sozialen Entwicklungsproblemen. Es ist auffallend und widerspricht der Idee, dass in der allgemeinen Inklusionsdebatte die quantitativ zunehmende Exklusion dieser Kinder und Jugendlichen mehr oder weniger ausgeklammert wird. Stehen sie der Inklusion der anderen Schüler in besonderem Maße im Wege? Werden sie damit deren Opfer? In diesem Zusammenhang wäre anzumerken, dass es aus Sicht der Neurobiologie Verhaltensstörungen gibt, die nicht korrigierbar sind und auf die man deshalb nur mit „Wegsperren“ reagieren sollte, also mit Exklusion (kritisch dazu Speck 2009).
Angesichts der nun in der Alltagspraxis auftretenden Schwierigkeiten und Probleme stellen sich bei Lehrern und Eltern Ernüchterungen ein. Inklusion sei „eher ein Ideal als eine Praxis“, und diese Praxis verfehle oft ihr Ziel (Tetler 2009,188)… Aus den USA wird berichtet, dass die Sonderpädagogik dort aufgrund der aufgrund der aufgetretenen Unzulänglichkeiten eine neue Richtung suche. … (Reynolds/(Fletcher-Janzen, zit. In Biewer 2009, 175). Damit dürfte impliziert sein, was man hierzulande als Kosten-Nutzen-Rechnung bezeichnet. (a. a. O. S.103)

8  Diskussion der bisherigen Entwicklung
… Generell stellt das normative Prinzip von Integration/Inklusion eine grundlegende, wichtige und rechtlich bindende Herausforderung des gesamten Schulsystems einschließlich der Förderschule dar. Inklusion kann von der Idee her als eine weiterentwickelte Integration verstanden werden. Sie beinhaltet das Recht behinderter Kinder und Jugendlicher auf Zugang zur allgemeinen Schule. Wie weit sich die normative Zielvorstellung einer „Schule für alle“ und damit ein grundlegend verändertes Schulsystem verwirklichen lassen, bleibt offen.
Die hier berichteten internationalen Erfahrungen mit der Praxis von Integration/Inklusion, zumal aus Ländern mit einer längeren Integrations- bzw. Inklusionserfahrung lassen erkennen, dass der Verwirklichung… gewichtige Hindernisse im Wege sehen, dass es zwischen der proklamieren Idee und der Wirklichkeit echte Probleme gibt… (a. a. O. S.104) … Fünfzehn Jahre nach der Verabschiedung der Salamanca-Erklärung fand am gleichen Ort eine globale Konferenz zum Thema „<Inklusion“ statt. Das Fazit fiel ernüchternd aus… (a. a. O. S.105)
… Da das System nur voll funktionsfähig ist, wenn es seine Systemkohärenz erhalten und sein Agieren gemäß seinen legitimierten Aufgaben selber regeln und bewältigen kann, kann es sinnvollerweise von der Umwelt her nicht genötigt werden, eine Änderung vorzunehmen, die sich mit der eigenen Funktion und Organisation unter gegebenen Umständen nicht vereinbaren lässt. Solange es keine Möglichkeit sieht, der externen Veränderungsabsicht zu entsprechen, wird es einen Strukturen zu erhalten versuchen; es muss sie in der Auseinandersetzung mit der Umwelt selbst erarbeiten, um sie auch verantworten zu können; es verliert sonst seine Systemautonomie…. Die Kompatibilität von Leistungssicherung und sozialer Erziehung wird zu einem schwierigen Spagat. Die entstehende Zunahme von Komplexität oder Verflochtenheit der verschiedenen Strukturelemente ist nur schwer zu reduzieren, da alles mit allem zusammenhängt. Zirkuläre Verflechtungen erschweren Veränderungen….  Es ist irreführend … den gravierenden Unterschied der Bedingungen in Modellschulen und den üblichen Schulen eines Landes zu ignorieren oder zu bagatellisieren. …(a. a. O. S.106,107)
Das Prinzip der sozialen Partizipation stößt… durchaus nicht auf bloße Zustimmung … Skepsis ist angezeigt und legitim, wenn als Bedingung für eine künftige Realisierung von Inklusion eine inklusive Gesellschaft gefordert wird. Eine solche umfassende Vision ist eine verständliche und wichtige Vision; sie ist aber zugleich auch Ausdruck des Leidens an einer Gesellschaft, die sich immer mehr in Gewinner und Verlierer aufspaltet, in der dominante Egoismen das Rivalisieren gegeneinander fördern und Werte und Normen des Miteinanders und Füreinanders in den Hintergrund drängen. Darunter leidet auch die Gemeinwohlorientiertheit, sodass die Idee „einer Schule für alle“ im Wesentlichen als Antithese zu kritischen gesellschaftlichen Entwicklungen zur Geltung gebracht werden kann…
Die schulische Inklusion behinderter Kinder wird nur von einem Teil der Gesellschaft eingefordert… Darüber hinaus mehren sich auch Anzeichen dafür, dass sich innerhalb der Gesellschaft ein Trend zu mehr pragmatischen Normen und Einstellungen ausbildet, für den organisatorische und technische Praktikabilität sowie ein Abbau von kompliziertem und kostspieligem personellen Aufwand zugunsten konkreter Nützlichkeit für den Einzelnen wichtiger sind… (a. a. O. S.107)
… „Je größer das Leiden an der Gegenwart, desto höher der Utopiebedarf“ (Graf 2007,176).  … Wenn beide pädagogische Aspekte [es werden hier im Buch tabellarisch multiple Kriterien auf S. 111 zusammengestellt] im Sinne der individuellen und besonderen Bedürfnisse zu ihrem Recht kommen sollen, dann kommt als Weg nur ein ausgewogenes Lösungsmodell von Integration/Inklusion in Frage. Aus dem Englischen wurde dafür in verschiedenen Wissenschaften der Terminus „balanced approach“ übernommen. Gemeint ist ein Ansatz oder Modell, bei dem kein Teilaspekt auf Kosten eines anderen dominant wird… (a. a. O: S.110)

9  Desiderate und offene Fragen (a. a. O. S.111)

a)   Primäre Verantwortlichkeit der allgemeinen Schule

.. Falls die Zahl der in förderschulische Einrichtungen aufzunehmenden Kinder sinkt, es also weniger entsprechende Schulen gibt, wird sich die Entfernung dorthin vergrößern. Die Folge wären längere Schulwege als bisher bzw. die Wiederbelebung der Internate. Was die ambulant tätigen Sonderpädagogen betrifft, so werden sie längere Zeit auf den Straßen verbringen. Die primäre Verantwortlichkeit der allgemeinen Schule würde untergraben, wenn in erster Linie das System der Förderschulen ins Visier genommen und deren Ressourcen abgebaut würden…. (a. a. O. S.112)
.. Fragwürdig erscheint u. a. der Pauschalbefund gegen Förderschulen, dass 77,2% der Förderschüler… keinen Hauptschulabschluss erreichten, zumal sich diese Zahl nur auf Schüler der Schule für Lernbehinderte bezieht und die gemeinten Schüler wegen unzureichender Schulleistungen und sonstiger Schulprobleme an der Hauptschule gescheitert waren (Klemm 2009)  Nahezu jeder Arbeiter in der WdB („Werkstatt für Behinderte“)  gilt als „nicht vermittelbar“ für den allgemeinen Arbeitsmarkt. Was nützte Jugendlichen  mit einer geistigen Behinderung ein formaler „Schulabschluss“ an einer allgemeinen Schule? ..… (a. a. O. S.113) … Der Masse der Eltern geistig behinderter Kinder ist die … Argumentation mit den größeren Chancen ohne Sonderschulen für ihre Kinder nicht zu vermitteln. Sie haben diese Schulen zum Teil selbst aufgebaut und wissen aus unmittelbarer Erfahrung um deren Notwendigkeit (Pertringer 1989)…. [Das] Münchener „Integrationszentrum für Cerebralparesen (ICP)“ … hatte 18 Grundschulen angeschrieben und gefragt, ob sie bereit wären, ein körperbehindertes Kind aufzunehmen. Alle sahen sich dazu außerstande. Die Einrichtung wird nun selbst eine hauseigene integrative Grundschule errichten. – Die gleiche negative Erfahrung hatte eine andere Münchener Einrichtung für körperbehinderte Kinder und Jugendliche machen müssen… (a. a. O. S.115) Hans Wocken, mit dessen Namen die Etablierung des seit mehr als zwei Jahrzehnen bestehenden und weithin anerkannten Systems „integrativer Regelklassen“ in Hamburger Grundschulen verbunden ist, muss feststellen, eine Diskussion um Inklusion „findet in der allgemeinen Pädagogik schlechtweg nicht statt“ (2009,8). Der inklusionspädagogische Diskurs beschränke sich bislang auf behindertenpädagogische Zirkel…

b)  Die subsidiäre Funktion der Heil- oder Sonderschulpolitik

Gegen die pauschale Unterstellung einer Bremser-Funktion der Heil- und Sonderpädagogik spricht die Tatsache, dass es in erster Linie Sonderpädagogen waren, die das Integrationsmodell in die pädagogische Diskussion eingebracht haben und die auch heute als die stärksten  Befürworter des Integrations/Inklusionsansatzes fungieren…(a. a. O. S.115) Dass diese Integrationsdebatte vor allem von Sonderpädagogen in Gang gesetzt wurde und bis heute auch gehalten wird, dürfte damit zusammenhängen, das die Sonderschulpädagogik immer schon in der  Spannung zwischen ihrer strukturell bedingten Sonderrolle und einem „schlechten Gewissen“ bezüglich der Separierungszwänge zu agieren hatte… Ihre konstitutionelle Grundbedingung, nämlich der separierte Unterricht, ist stets ihr schwacher und wunder Punkt gewesen… (a. a. O. S.116) … In der soziologischen Terminologie gibt es längst  einen Begriff für Menschen, die heute in steigender Zahl ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind, und zwar gleichgültig, ob sie einen qualifizierenden Schulabschluss haben oder nicht: Sie gelten (wirtschaftlich) als „Überflüssige“ oder „Nutzlose“ (Castel 2000) … (a. a. O. S.117)
… Gegen eine formalistische Pauschalierung der Begriffe 2Inklusion“ und „Exklusion“ im Sinne eines Schwarz-Weiß-Verhältnisses spricht nicht nur die Tatsache, dass jede Regel ihre Ausnahme hat, sondern auch die soziologische und psychologisch Einsicht, dass nicht jede Nicht-Zugehörigkeit zu bestimmen sozialen Gruppen als eine Verletzung des Inklusionsprinzips empfunden wird. Jeder Mensch hat seine ganz persönlichen Inklusionsbedürfnisse…

c)   Flexible Schuleingangsstufe – Grundschule oder Förderschule?

Seit Jahren ist die Einführung einer flexiblen Schuleingangsstufe ein Hauptthema in der Grundschulpädagogik (Speck-Hamdan 2010). Es geht u die optimale Nutzung der Schulpflichtzeit, d. h. um die Vermeidung von Zurückstellungen und Wiederholungen einerseits und um die Flexibilisierung des Schuleintrittsalters und der Verweildauer andererseits. (a. a. O. S.118,119) … Es kann sich dabei auch um jahrgangsübergreifende Lerngruppen handeln…  In den meisten Bundesländern sind diese Eingangsklassen oder Lerngruppen doppelt mit Lehrern besetzt und verfügen auch über sozialpädagogisches Personal wie Kindergärtnerinnen. Dieses flexible Eingangsstufensystem schließt unter dem Aspekt des nun aufzubauenden „integrativen Bildungssystems“ auch die Möglichkeit ein, lernbeeinträchtigte Kinder, die sonst die Schule für Lernbehinderte besuchen müssen, in der Grundschule behalten zu können. Die längsten Erfahrungen mit dem FLEX-Modell hat das Land Brandenburg. Die dortigen FLEX-Lerngruppen oder –Klassen sind hier doppelt mit Lehrern besetzt und werden mit fünf Wochenstunden auch durch Sonderpädagogen unterstützt… (Speck-Hamdan 2010). In Bayern gibt es seit dem Schuljahr 1984/85 sogenannte sonderpädagogische Diagnose- und Förderklassen… Sie sind… den Förderschulen zugeordnet und insofern ein Unikum in den Bundesländern. Sie sehen ebenfalls eine Verlängerung der Verweildauer um ein Jahr vor… (a. a. O. S.119)
… Im Schuljahr  2003/2004 existierten in Bayern 995 derartige Klassen mit insgesamt 11.601 Schülern… Sie werden von Sonderschullehrern geleitet… Die Attraktivität der damals neuen Sonderpädagogischen Diagnose- und Förderklassen stützte sich u. a. auf eine bessere personelle Ausstattung und eine durch den wissenschaftlich klingenden Namen verringerte Stigmatisierung…. Ihre Ressourcen an Lehrerstunden wurden inzwischen derart reduziert, das die ursprünglich zugeteilten speziellen Aufgaben nicht im vollen Umfang erfüllt werden können…. (a. a. O. S.120)
Derartige De-facto-Förderschulklassen wären nicht mit mi dem Inklusionsauftrag des neuen Gesetzes vereinbar, das festlegt, dass jedes Kind in der Regel die allgemeine Schule zu besuchen hat…  (a. a. O. S.122)

d)   Institutionelle Exklusionen und Inklusionshilfen

Das Integrations/Inklusionsprinzip schließt temporäre „Exklusionen“ nicht aus…. Sind Wohnheime für geistig behinderte oder psychisch kranke Menschen schlechthin exkludierende Einrichtungen? Wo sollen sie sonst wohnen, wenn sie nicht selbständig für sich sorgen können, oder im Falle von Heimen für behinderte Kinder, wenn es die Eltern zu Hause nicht mehr schaffen?... (a. a. O. S.123) … Heime, psychiatrische Einrichtungen oder Förderschulen bilden als Ausnahmen von der Regel der offenen Integration an sich noch keinen Widerspruch zum Prinzip der Integration/Inklusion. Sie sind für viele Menschen dieser Gesellschaft der einzige Ort, wo sie ein menschenwürdiges Leben führen  bzw. sozial geschützt und geachtet ein Fähigkeiten gemäß lernen können….
Immer beliebter werden private Schulen, übrigens auch für behinderte Kinder… in den USA schon seit längerem zu beobachten.. . (a. a. O: S.124)

e)  Chancen auf eine inklusive Gesellschaft?

… Im Sinne einer möglichst ungehinderten Teilhabe an der Gesellschaft ergeben sich u. a. Konsequenzen für eine Neugestaltung der „Eingliederungshilfe“ (SGBIX), und zwar in der Weise, dass diese sich konsequent als Beitrag zum Aufbau einer „inklusiven Bürgergesellschaft“ versteht (Haas/Treber 2009). Damit werden Aufgabe und Ziel inklusiver Bildung erweitert und unterstützt durch eine systematische Befähigung der Gemeinwesen (enabling communities) und seiner Bürger zur Verantwortlichkeit und zur Sicherstellung menschenrechtlicher Ansprüche von Menschen mit Behinderungen…. (a. a. O. S.125) … Man sollte allerdings auch beachten, dass zu viel staatliche Steuerung auch mehr Verwaltung und Bürokratie bedingt, was zur Folge haben könnte, dass die Selbstbestimmung weniger Chancen hat.

f)     Diskriminierung nicht ausgeschlossen

… Art.3 Abs.3 … im Grundgesetz…: “Niemand darf wegen seiner Behinderung diskriminiert werden“…. Diskriminieren wörtlich “Unterscheiden, um zu trennen“. Als strukturelle Diskriminierung kann allein die Tatsache gelten, dass ein Kind die Förderschule besucht („Abstempelung“), also schulisch abgesondert wird. Sowohl das Kind als auch die Eltern können sich diskriminiert fühlen bzw. von anderen diskriminiert werden…   [Aber:] Die Annahme, dass ein behinderter Schüler nicht mehr diskriminiert wird, wenn er eine allgemeine Schule besucht, dürfte irrig sein. (a. a. O. S.12 6)
… An sich kann man auch als nichtbehindertes Kind, sogar wegen einer Kleinigkeit im „Outfit“ distanziert, isoliert oder gar gemobbt werden. Manche Kinder sind geradezu Meister im Herausfinden von Schwächen anderer Schüler, um sie diesen gelegentlich vorzuhalten…
In integrativen Klassen ist (nachmündlicher Mitteilung einer Kollegin, die soziale Eingliederungsprozesse von Jugendlichen mit Down-Syndrom untersucht) durchaus auch ausgeprägtes Mobbing gegen diese zu beobachten. Sie sind hier jeweils die Schwächeren und können sich niht wirksam wehren. .. Verbale und sonstige Aggressionen können innerhalb und außerhalb des Schulzimmers erfolgen, z. B. auf dem Schulhof oder auf dem Schulweg… (a. a. O. S.127)
… Soll und kann jeder Lehrer auch die Gebärdensprache erlernen? …
Soll es Kombinationslehrämter (Sonderpädagogik als Zweitfach oder als Masterschwerpunkt) geben? Lässt sich überhaupt ein „Lehramt an Sonderschulen“ in der bisherigen Form neben dem übrigen Lehramtsstudium noch aufrechterhalten? … (a. a . O. S.130)
Vom Versuch einer Kombination ist seitens der Universität Bielefeld berichtet worden… Es entsteht eine „Sonderpädagogik mit dem Schwerpunkt Heterogenität“. Was hat man sich darunter vorzustellen?...:
Pädagogische Spezialisierung und heilpädagogische Professionalität sind aber auc fü Lehrämter der Sonderpädagogik notwendig. Andernfalls müsste wertvolles Fachwissen verlorengehen… (a. a. O: S.131)
Auf die auch kritisch zu beurteilende Umwandlung der inklusiv tätigen Sonderpädagogen in Beratungslehrer ist bereits hingewiesen worden…

10  Allgemeine Schlussfolgerungen (a. a. O: S.132-141)

… d) Gleichberechtigung für alle Schulsysteme:  Eine generelle Priorisierung oder ein „Vorrang“ von Inklusion/(Integration bedeutet  keine höhere Wertigkeit und keine Privilegierung inklusiver Schulformen…
Eine Marginalisierung der besonderen Bedürfnisse zumeist schwerer behinderter Kinder und Jugendlicher gegenüber integrativ geförderten Kindern und Jugendlichen wäre einfach nicht vertretbar…  (a. a. O: S.133,134) e) Die Förderschulbesuchsquote ist auf ein Minimum des pädagogisch Notwendigen zu beschränken….
f) den Eltern steht … fachlich beraten… ein bedingtes Wahlrecht bezüglich der Schulart oder des Lernortes für ihr behindertes Kind zu. Sie können in Ausnahmefällen auch eine Förderschule wählen. Als Regelfall aber gilt das Recht auf eine Aufnahme in die allgemeine Schule…
g) Die Heil- oder Sonderpädagogik hat eine normative und eine wissenschaftliche Funktion. Sie vertritt nicht nur die normative Idee, sondern hat  als wissenschaftliches Fach auch die Aufgabe, die praktische Umsetzbarkeit von Integration/Inklusion in der schulischen Wirklichkeit samt ihren Hindernissen und besonderen Chancen zu analysieren und zu begleiten…
d) Das Programm Integration/Inklusion ist nicht kurzfristig erreichbar… (a. a. O. S.134)
… Der heutige inflationäre und emphatische Gebrauch der Metapher „Inklusion“ lässt eher darauf schließen, dass ihm eine Realitätsflucht zugrunde liegt, eine Flucht vor dem Faktum der wachsenden Ungleichheit und sozialen Ungerechtigkeit, die der aufgeklärte Mensch zu beseitigen versprochen hatte, deren Beseitigung ihm aber nun doch zu schwer erscheint, wenn er gleichzeitig seinen Lebensstandard erhalten will. Er nimmt deshalb Zuflucht zu den „Sternen“, zu einem (durchaus verständlichen) Idealismus, der im Wollen steckenbleibt, dort aber wenigstens die Befriedigung findet, sich mit dem „Elend der Welt“ nicht abfinden u müssen… (a. a. O. S.135)

IV  Frühkindliche Bildung für alle

Eine hochwertige Bildung ist wesentlich von der frühkindlichen Erziehung und Bildung abhängig…
1  Erste Modelle integrativer Elementarerziehung
a) Einer der frühesten Integrationsversuche war der von einer Mental Health-Forschungsgruppe unter Leitung des Psychologen Hellmut Strasser in München ins Leben gerufene gemischte Kindergarten für gliedmaßenfehlgebildete Kinder (Strasser et al. 1968). Die Erfahrungen in diesem gemischten Contergan-Kindegarten in den Jahren 1962/(64 waren im Ganzen positiv. Man konnte beobachten:

…Die Kompensationsfähigkeit kann ein erstaunlich hohes Maß erreichen, wenn sie auf eine natürliche Weise heraus gefordert wird, also nicht durch eine behütende Erziehung .. [etwa] in der eigenen häuslichen Umwelt.. behindert wird. (a. a. O. S.136)
b) Der Montessori Kindergarten der „Aktion Sonnenschein“ in München (Hellbrügge 1977)…  Der Montessori-Kindergarten genießt als private Einrichtung eine Sonderstellung [und] ist auf übliche Verhältnisse nicht übertragbar…
c) Ein weiteres Unternehmen in München war der „Kindergarten Pasing e. V.“ (Sasse et al. 1980) Er wurde von 32 nichtbehinderten und 48 behinderten Kindern im Alter von zwei bis zehn Jahren besucht, war also mit der Form der Kindertagesstätte für Schulkinder kombiniert.
… verteilt… auf sechs kleine heilpädagogische Gruppen mit vier bis sechs behinderten Kindern und drei Integrationsgruppen mit sieben bis 13 nichtbehinderten und ein bis vier behinderten Kindern. Alle Gruppen waren gegenseitig offen, d.h. die Kinder konnten nach eigenen Bedürfnissen und Fähigkeiten am Spielen und Arbeiten anderer Gruppen teilnehmen, wenn dadurch keiner überfordert oder eingeschränkt wurde… durch gezielte pädagogische Aktivitäten verstärkt. .. Fachkräfte (Psychologen, Heilpädagoginnen, eine Kinder-und Jugendpsychotherapeutin, eine Logopädin, eine Rhythmiklehrerin).
s) Differenzierte Berichte … aus den USA… u.a.1978 von Guralnick und Mitarbeitern v9n der Ohio State University … das Integrationskonzept… nicht einfach ein Schmelztiegel-Konzept… vielmehr … eine variable. Differenzierte und auf die speziellen individuellen Bedürfnisse der Kinder abgestimmte Organisation.. (a. a. O. S.137)
.. Die damals gemachten Erfahrungen wurden als insgesamt positiv und ermutigend eingeschätzt… Nach wie vor werden behinderte Kleinkinder auch in Sonderkindergärten oder „schulvorbereitenden Einrichtungen“ gefördert. Davon gab es im Schuljahr 2003/03 in Bayern insgesamt 377 mit 8.710 behinderten Kindern in 950 Gruppen (Bayer. Staatsministerium f. Unterricht und Kultus 2004). Wie aus dem von dem KMK herausgegebenen „Zweiten Nationalen Bildungsbericht“ (2008b) hervorgeht, ist die Zahl der Sonderkindergären für behinderte Kinder von 691 im Jahr 1998 auf 307 im Jahr 2002 zurückgegangen , hat sich aber seitdem bis 2007 wieder auf 346 Einrichtungen geringfügig erhöht… … (a. a. O: S.138)

2.      Inklusion – ein Kindergarten für alle

Die unbefriedigenden Resultate integrativer Kindergartenintegration haben, ähnlich wie im Schulbereich, zur Schlussfolgerung geführt, dass es eine wirkliche Weiterentwicklung des gemeinsamen Lernens im Vorschulbereich nur geben könne, wenn das Gesamtkonzept der Kindertagesstätten … grundlegend geändert wird….. (Kreuzer/Ytterhus 2011). Die Realität hierzulande ist von diesem Ziel weit entfernt.
Besonders motivierend in dieser Richtung wirken Anstöße aus dem Ausland. … In Norwegen beispielsweise haben Kinder mit Funktionsbeeinträchtigungen sogar ein Vorrecht, im nächstgelegenen Kindergarten aufgenommen und gefördert zu werden… (a. a. O. S.139)
… Erst kürzlich wurde… Norwegen… als das Land mit dem höchsten Lebensstandard auf der Welt eingestuft. .…

Aus einer jüngsten Elternbefragung an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg (Burghart et al. 2010) geht hervor, das die soziale Integration und die sozialen Kontakte seh- und hörgeschädigter Kinder in integrativen Kindertagesstätten mit Risiken sozialer Isolation behaftet sind. 60% der Eltern sehgeschädigter Kinder in Einzelintegration berichteten, das ihr Kind außerhalb des Kindergarens keinen Kontakt zu anderen Kindern der Gruppe habe; für sehgeschädigte Kinder in integrativen Gruppen traf dies für 40% zu …  (a. a. O. S.140)
In Australien, wo man seit Jahrhunderten genötigt ist, multikulturell zu denken und zu organisieren… existieren in den Universitäten vierjährige Bachelor-Studiengänge, deren erfolgreicher Abschluss nicht nur zur Tätigkeit in einem Kindergarten, sondern auch in den beiden ersten Jahrgangsstufen einer Grundschule berechtigt. (a. a. O. S.140,.141)
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Tanja Sturm
Lehrbuch Heterogenität in der Schule

Ernst Reinhardt Verlag. München. Basel 2013
ISBN 978-38252-3893-3 UTB–Band Nr.: 3893

Einleitung
… Die Diskussion um Heterogenität wird in der Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft mit der Erwartung verknüpft, die aktuell bestehenden Ungleichheiten in der Beteiligung an schulischen Bildungsgängen zwischen sozialen Gruppen zu überwinden. Die bestehende Chancengleichheit im Zugang zu Bildungsgängen ist lediglich formal, was sich beispielsweise darin zeigt, dass Kinder und Jugendliche aus sozio-ökonomisch nicht privilegierten Familien im Vergleich zu privilegierten Gleichaltrigen seltener das Gymnasium besuchen. Von der Realisierung des demokratischen Anspruchs , einen von der familiären Sozialisation unabhängigen Zugang zu Bildung zu ermöglichen, ist die Schule in Deutschland, Österreich und der Schweiz weit entfernt. Benachteiligung besteht über den Zugang zu Bildungsgängen hinaus auch hinsichtlich des fachlichen Kompetenzerwerbs. So weisen Schüler / -innen mit Migrationshintergrund niedrigere Kompetenzwerte im Lesen auf als ihre Peers ohne diesen Hintergrund. Die Schule nimmt bei der Reproduktion sozialer Ungleichheiten in struktureller und kultureller Hinsicht eine Schlüsselstellung ein, da sie die Legitimation für berufliche Perspektiven schafft. Dies bezieht sich auf alle Schulformen und Schulstufen der  Bildungsorganisation Schule…  (a. a. O. S.9)
… Dass Schule und Unterricht dabei selbst als Produzierende von Heterogenität bzw. Differenzen agieren, ist eine zentrale Linie dieses Buches. Die Akzeptanz des Beteiligtseins an Prozessen von Differenzerzeugung und Benachteiligung ist die Grundlage für einen reflektierten Umgang mit den widersprüchlichen An- und Herausforderungen in Schule und Unterricht. Dies erfolgt mithilfe der wissenssoziologisch fundierten Begriffe der „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ (Nohl 2010, 145ff.).. orientiert… am Abbau besehender Bildungsungleichheiten als Voraussetzung und Notwendigkeit für ein demokratisches Miteinander in einer pluralen Gesellschaft…. (a. a. O: S.10)

2         Differenzen in Schule und Unterricht

„Heterogenität“ ist etwa seit dem Jahr 2000 zu einem zentralen Begriff geworden, wenn es um die Beschreibung schulischer und unterrichtlicher Realität geht (Budde 2012). 

2.1  Heterogenität in der Schule – eine Definition

… Die Definition orientiert sich an einem sozial-konstruktivistischen Verständnis und unterscheidet sich folglich von Perspektiven, die aus anderen theoretischen Positionen heraus Heterogenität definieren. So verweist diese Definition, im Gegensatz zu kognitionspsychologischen Überlegungen darauf, dass Differenzen nicht aufgrund von Dispositionen bestehen, die sich in verschiedenen Merkmalen verdichten, sondern in sozialen Interaktionen hergestellt und bearbeitet werden (Trautmann/Wischer 2011.42f.).Sozial-konstruktivistische Überlegungen definieren Heterogenität mehrheitlich, z. T. auch mithilfe anderer Begriffe, anhand folgender vier Punkte: relativ, sozial-kulturell eingebunden, sozial konstruiert und partial (Lang et al. 2010, 315f.; Prengel 2006, 30ff.; Wenning 2007). (a. a. O. S.14,15) Sie werden nachfolgend für die Definition herangezogen. Die Kriterien werden hier zwar analytisch voneinander getrennt, sind jedoch aufeinander bezogen und erlangen im Zusammenspiel einen definitorischen Charakter.
„Heterogenität“ kommt aus dem Griechischen, bedeutet übersetzt „Ungleichartigkeit“ und bezeichnet somit Unterschiede oder Differenzen. Diese können dann beschrieben werden, wenn mindestens zwei Aspekte oder Eigenschafen miteinander in Beziehung gesetzt, also verglichen werden. Dies erfolgt mithilfe eines Maßstabes, der an die zu vergleichenden  Aspekte angelegt wird und so ihre Relation zueinander beschreibbar macht. Das Ergebnis dieses Vergleiches lautet gleich oder ungleich respektive homogen oder heterogen. … Das Resultat des Vergleiches ist relativ, das an den jeweils angesetzten Maßstab gebunden ist, über den der Vergleich vorgenommen wird. Verschiedenheit und Gleichheit sind also maßstabgebunden (Lang et al. 2010.31).
Ein Aspekt wie die schulische Leistung kann folglich nicht heterogen sein. Erst die Angabe des Maßstabes konkretisiert, auf welchen Aspekt schulischer Leistung genau Bezug genommen wird und worin die Verschiedenartigkeit besteht. In der Schule wird die Relation häufig zwischen den Leistungen eines Schülers zu unterschiedlichen Zeitpunkten gesehen, gegenüber der Klasse oder Lerngruppe, gegenüber einer konkreten Bezugsnorm und ihren Ergebnissen oder auch gegenüber von außen und extern festgelegten Kriterien (Schuck 2004, 353f.). Letzteres wird in Bildungsstandards und  / oder Klassenzielen festgeschrieben… (a. a. O. S.15)

Wechselspiel von Gleichheit und Verschiedenheit

Vergleiche setzen ihrerseits Gleichheit voraus. Heterogenität und Differenzen sind nur zu bestimmen und zu erkennen, wenn Homogenität, also Gleichheit, auf einer abstrakteren Ebene vorhanden ist. … Folglich kann nur Gleiches mit Gleichem verglichen werden. Eigenschaften oder Dinge, die auf abstrakterer Ebene gleich sind, können zueinander in Relation gesetzt werden, die dann als gleich / ungleich beschrieben wird. Homogenität und Heterogenität sind folglich dialektisch aufeinander bezogen und miteinander verbunden, da sich das eine nicht ohne das andere beschreiben lässt. Ein solcher vergleichsinterner und zu bestimmender Maßstab wird auch „tertium comparationis“ genannt (Prengel 2009, 141). Im schulischen Kontext besteht Homogenität, also die Vergleichsgrundlage. Zunächst darin, dass alle Kinder und Jugendliche als Schüler / -innen gesehen werden (Wenning 2008, 6)…

Soziale und kulturelle Rahmungen

Vergleiche, deren Ergebnis Gleichheit oder Unterschiedlichkeit darstellt, finden immer in sozialen und kulturellen Rahmungen statt. Als solche sind sie nicht neutral, sondern eingebunden in die Bedeutungen und Werte des jeweiligen Kontextes. Die Vergleiche werden aus einer Perspektive heraus vorgenommen, die durch spezifische kulturelle und soziale Bedeutungen gekennzeichnet ist, in denen die Ergebnisse mit positiverer oder negativerer Bedeutung (Wenning 2008, 6) bzw. mit Rangordnungen und Hierarchien (Prengel 2006, 34) verbunden sind…
So galt jemand vor etwa 150 Jahren im deutschsprachigen Raum als alphabetisiert, wenn er seinen Namen schreiben konnte. Zu Beginn des zweiten Jahrtausends werden derartige Schreibkompetenzen im Erwachsenenalter tendenziell mit „funktionalem Analphabetismus“ beschrieben… (a. a. O. S.17)
… Die sozialen Prozesse der Produktion und Reproduktion von Differenzen sind nicht abgeschlossen, sondern fester Bestandteil jeder menschlichen Interaktion (West / Fenstermaker 1995, 9).

Heterogenität ist partial

Heterogenität, die als sozial konstruiert verstanden wird, ist immer auf einzelne Aspekte bezogen, auf konkrete Differenzen…
So führt Lernen dazu, dass  die Diskrepanz zwischen etwas nicht gekonntem zugunsten von Können überwunden werden kann. (a. a. O. S.18,19)
… Heterogenität ist das Ergebnis von Vergleichen, die eingebunden in soziale und kulturelle Zusammenhänge stattfinden. Durch die Vergleiche erhält das Ergebnis eine Bedeutung.

2.2. Heterogenität von Milieus

Im Anschluss an diese allgemeine und begriffliche Definition von Heterogenität soll sie, anknüpfend an die Ausführungen de „Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten“ von Arndt-Michael Nohl (2010) dargestellt und durch Ausführungen zur Relation unterschiedlicher Milieus zueinander im sozialen Raum der Gesellschaft von Bourdieu (1987, 2009) erweitert werden. A. M. Nohl hat seine Ausführungen an die wissenssoziologischen Überlegungen von Karl Mannheim (1980) und Ralf Bohnsack (2010) angeknüpft und weiterentwickelt….

2.2.1  Zugehörigkeit zu Milieus

Um Heterogenität aus der Perspektive der praxeologischen Wissenschaftssoziologie heraus zu betrachten, ist es notwendig, zwischen zwei unterschiedlichen Wissensformen zu unterscheiden: der kommunikativ-generalisierten und der konjunktiven bzw. handlungspraktischen. (a. a. O. S.19,20)  Kommunikativ-generalisiertes Wissen steht auf wörtlich-begrifflicher Ebene zur Verfügung und ist milieuübergreifend zugänglich (Nohl 2010, 149f.). Seine Verwendung setzt eine Distanz gegenüber den umschriebenen Gegenständen und Sachverhalten sowie Abstraktion voraus. So wissen andere, wenn wir den Begriff „Buch“ verwenden, dass wir uns auf ein Bündel gebundener Blätter  beziehen die mit Schrift und / oder Bildern bedruckt sind.
Das handlungspraktische Wissen beschreibt hingegen Erfahrungswissen, das einzelne durch die Beziehung zu anderen Personen und / oder zu Gegenständen gemacht haben, so beispielweise die Kindheitserfahrung, aus Büchern vorgelesen zu bekommen. In der je konkreten Situation wird die Erfahrung der Beziehung, gemeinsam eine Geschichte zu verfolgen, einer „Kontagion“ (Mannheim 1980; 208); gemacht – einer existentiellen Bezogenheit auf den Gegenstand „Buch“, der diese bereithält. Derartige Erfahrungen, die Mannheim als „konjunktive“ [verbindende WW] Erfahrungen (Mannheim 1980, 208) bezeichnet, stehen nicht notwendigerweise begrifflich reflexiv zur Verfügung. Sie machen jedoch einen wesentlichen Teil menschlichen Wissens aus und sind zugleich orientierende Grundlage für Praktiken und Handlungen, in die sie einfließen.
Definition: Dass handlungspraktische Erfahrungswissen ist jenes, das in der Auseinandersetzung mit der sozialen und materialen Welt gesammelt wird. Aus dieser Erfahrung ergibt sich ein praktisches Verhältnis der Menschen zur Welt, das vorbegrifflich zur Verfügung steht. Dieses Praxiswissen steht nicht unmittelbar reflexiv zur Verfügung (Mannheim 1980,, 205ff.). Das in eigener Handlungspraxis erworbene Erfahrungswissen wird in Handlungssituationen reaktiviert.
Folglich fungiert es als „opus operatum und modus operandi“ [vollbrachtes Werk und Handlungsweise  WW] (Bourdien 1987, 98, Herv. Im Original), also aus selbst erfahrener Handlungspraxis heraus wird die Praxis generiert. Dass Menschen über unterschiedliche Erfahrungen verfügen, zweigt sich in ihren je verschiedenen alltäglichen Praktiken… u.a. sich ernähren, sich kleiden, einer Arbeit nachgehen, die Freizeit zu gestalten… (a. a. O. S.20) Innerhalb pluraler Gesellschaften finden sich unterschiedliche Formen der Lebenspraxis, die als „Milieus“ (Nohl 2010, 148) bezeichnet werden.
Definition: Milieus stellen Kulturen der praktischen Lebensführung und der Alltagsgestaltung dar, die auf der Grundlage kollektiver Erfahrungen basieren (Nohl 2010. 145). Milieus stellen gelebte Praxis innerhalb kollektiver Zugehörigkeiten dar, welche die Angehörigen durch Einbindung in vergleichbare homogene, soziale Lebenszusammenhänge erwerben…
Die Zusammenhänge müssen nicht weiter expliziert werden, sie werden verstanden, da sie in ihrer Existenz verstanden werden, die innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraumes besteht  Die Zugehörigkeit zu Milieus kann zwar reflexiv zugänglich sein, ist es jedoch im Alltag üblicherweise nicht (Bohnsack 2010, 63). In diese Praxis werden Menschen hineingeboren und sind in sie eingebunden, sie werden in sie einsozialisiert… (a. a. O. S.21)
Die Mehrdimensionalität von Milieus ergibt sich aus der Überlappung unterschiedlicher Erfahrungsdimensionen, wie beispielswiese der geschlechtlichen Erfahrungsdimension mit der des sozio-kulturellen Milieus…
Milieus sind weder einheitlich noch statisch, sondern vielfältig, dynamisch und damit wandelbar. Unterschiedliche Erfahrungen überlagern sich… (a. a. O. S.22)
… Milieus sind weder einheitlich noch statisch, sondern vielfältig, dynamisch und damit wandelbar… Einen Menschen auf die Zugehörigkeit zu nur einem Milieu zu reduzieren, wäre eine Verkürzung der Realität (Nohl 2010, 174)….(a. a. O. S.22)
… In den Konjunktionen sind zugleich Distinktionen enthalten, da Zugehörigkeit zu einem Milieu immer auf Abgrenzung gegenüber anderen Milieus verweist (Nohl2010, 147) … Anders als konjunktives Erfahrungswissen, das auf unmittelbarem Verstehen basiert, ist das kommunikative-generalisiere auf Interpretationen angewiesen. Dort, wo über die Grenzen von Milieus und geteilten konjunktiven Erfahrungen hinweg kommuniziert wird, wird kommunikatives Versehen notwendig. Die Verständigung ist darauf angewiesen, dass milieugebundene Selbstverständlichkeiten überkonjunktiv expliziert werden. Um die Bedeutung von etwas zu erklären, ist es erforderlich, konkrete Erfahrungen in abstrakte Sprachlichkeit zu übersetzen. Hierfür bedarf es der Kommunikation auf explizit-begrifflicher Ebene, die auf Abstraktionen von milieugebundenen Perspektive angewiesen ist (Nohl 2010, 130).
Neben verbaalen Formen liegt dieses auf der Ebene kultureller Repräsentationen vor (Nohl 2010, 245ff.) Sie korrespondieren mit kommunikativ-generalisierten Bedeutungen, sind sprachlicher und in symbolischer sowie nonverbaler Hinsicht vorhanden… Die Kleidung stellt eine solche kulturelle Repräsentation dar, die uns Hinweise z.B. auf das Geschlecht einer Person gibt. Zuschreibungsprozesse finden überwiegend auf der Grundlage kultureller Repräsentationen statt, die aufgrund der Eindeutigkeit,, mit der sie von allen erkannt werden können und sollen zugleich von der Vielfalt abstrahieren, die in Milieus anzutreffen ist (Nohl 2010, 147f.)…. (a. a. O. S.23)
Zugehörigkeit zu Milieus: Milieus bestehen durch die und in den Lebenspraxen ihrer Angehörigen. Die Aktualisierung und Weitergabe milieuspezifischen Wissens an die nächste Generation, mittels Sozialisation, erfolgt durch die Reaktualisierung in Alltagspraktiken…
Liegen keine … Orientierungsmodelle und Vorbilder handlungspraktischen Wissens vor bzw. sind diese nicht mit den gesellschaftlichen Erwartungen zu vereinbaren, vor die die nachwachsende Generation gestellt ist, spricht man von „stark heterogenen Milieus“… Dies kann durch die Erfahrung von Migration oder durch gesamtgesellschaftliche Umbrüche, wie dem „Fall der Berliner Mauer“ bedingt sein… (a. a. O. S.24)
… Die Differenzierung der Gesellschaft in Milieus steht in Relation zu den unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten, die zu den gesellschaftlichen Gütern besehen. Teilhabe- und Partizipationsunterschiede zu gesellschaftlich angesehenen Gütern sollen i nachfolgenden Abschnitt dargestellt werden.

2.2.2  Milieus im sozialen Raum

Die ausgeführten wissenssoziologischen Überlegungen zum Milieu werden mit den theoretischen Ausführungen Bourdieus (198; 1998) zum Habitus verknüpft. Bourdiens empirische Annäherung an den Habitus (1982;1998) erfolgt über die Kapitalien und ihre Zusammensetzung, die Akteur..e zur Bewältigung ihres Lebensalltags zur Verfügung stehen. Kapitalkonfigurationen unterschiedlicher Milieus betrachtet er in Relation zueinander und anhand der Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die darin enthalten sind. (a. a. O. S.25)
… Der Habitus fungiert somit als Muster, mit dem die Welt betrachtet wird und in dem gleichzeitig Praktiken begründet werden, ohne jedoch konkrete Handlungsschritte vorzuschreiben… (Bourdieu 1987, 100ff.)…
Definition: Kapital meint akkumulierte Arbeit, die in materieller oder immaterieller – also in verinnerlichter (oder inkorporierter) – Hinsicht vorliegt (Bourdien 1992, 49). Menschen investieren Arbeit und Zeit, um Kapitalien zu erwerben; dies gilt gleichermaßen für inkorporierte Formen. Der Besitz von viel Kapital eröffnet mehr Zugangsmöglichkeiten zu gesellschaftlich begehrten Positionen und Lebensstilen, als dies bei wenig Kapital der Fall ist. (a. a. O: S.26,27)
Kulturelles Kapital: Kulturelles Kapital kann in drei unterschiedlichen Formen vorliegen: inkorporiert, objektiviert und institutionalisiert. Inkorporiertes Kapital ist körpergebunden; d. h. der Lernaufwand, der zu seiner Aneignung notwendig ist, muss vom Individuum selbst geleistet werden. Die Investition von Zeit in ein Studium… muss… finanziert werden… Materielle Träger wie Bücher, Gemälde und Musikinstrumente machen das objektivierte Kulturkapital aus…[, was] nur erschlossen werden kann, wenn inkorporiertes Kulturkapital vorliegt, wie z.B. das Instrument spielen zu können…. [Zum] institutionalisierten Kulturkapital … zählen Bildungszertifikate und akademische Titel … So kann Zertifikat  wie der „Master of Education“ genutzt / getauscht werden, um zunächst ein Referendariats- und später einen Arbeitsplatz als Lehrer oder Lehrerin … zu erhalten… Inhalte, die sich Menschen autodidaktisch angeeignet haben, lassen sich nicht auf vergleichbare Weise transferieren (Bourdien 1992, 61ff.) (a. a. O. S.27)
Soziales Kapital: Diese Kapitalform bezeichnet soziale Netzwerke zwischen Menschen. Sie können genutzt werden, um materielle und / oder immaterielle Tauschbeziehungen vorzunehmen. Derartiger Austausch setzt die gegenseitige Anerkennung der Akteure … voraus… Zum sozialen Kapital zählen also Freundschaften,, aber auch die Familie oder eine Parteizugehörigkeit…
Ökonomisches Kapital: Zu ökonomischem Kapital zählen neben Geld all jene Gegenstände und materielle Güter, die jemand besitzt. Hierzu zählen Häuser, Kunstwerke, Aktien u. v. mehr. … (a. a. O. S.28)
Symbolisches Kapital: Die vierte Kapitalform, das symbolische Kapital, unterscheidet sich von den drei anderen dadurch, dass sie ihnen innewohnt. Symbolisches Kapital stellt die wahrgenommenen und anerkannten Eigenschafen der drei anderen Kapitalsorten dar. Erst durch das symbolische Kapital erhalten die anderen Kapitalsorten ihren Wert, ihre Anerkennung. Die Allgemeine Hochschulreife, das Abitur, die Matura sind anerkannte Bildungsabschlüsse… Es ist festzuhalten, das die jeweils zur Verfügung stehenden Kapitalien in Art und Umfang den Habitus von Menschen prägen, d. h. ihre Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster, mit denen sie die materielle Welt und das soziale Miteinander betrachten und bewerten und die gleichzeitig ihre Handlungen in dieser materillen Welt strukturieren…
Soziale Felder und Feld der Macht: … (a. a. O. S.30)
… Bourdien (1993) verbindet die Möglichkeiten, sich an dem Spiel…[um] Positionen im Feld… zu beteiligen mit dem jeweiligen Kapitalbesitz… (a. a. O. S.31) …
Feld der Macht[:] Das gesamtgesellschaftliche Feld ist zugleich als ein Machtfeld konstruiert…, die… [anderen Felder] angesiedelt sind, [bei] unterschiedlichen Machtpositionen…. Der relative Wert sowie der Tauschwert von Kapitalsorten steht hier auf dem Spiel…
Das Hervorbringen und Bearbeiten sozialer Differenzen in der Schule ist ebenfalls eingebunden in Konkurrenz um Macht und Vorteile innerhalb de Gesellschaft… (a. a. O. S.32)

2.3  Schule als Organisation
Milieu und Organisation: Sozialisation-, Bildungs- und Lernprozesse finden nicht allein in sozialen Milieus statt, sondern zu einem nicht unerheblichen Teil in gesellschaftlichen Organisationen wie der Schule…
Organisationen zeichnen sich … durch explizite Regeln aus. Diese sind formal festgehalten und umfassen Verhaltenserwartungen sowie Rechte und Ressourcen, die an die Mitglieder – nicht als Einzelpersonen, sondern im Modus sozialer Rollen –formuliert werden… (Nohl 2007, 66f.)
In der Schule besteht eine formale Regel, wann der Unterricht beginnt. Zu dieser Zeit haben die Schüler… anwesend zu sein… (a. a. O. S.33)…

Diskriminierung [/] Schule als Ort milieuübergreifender Verständigung und systematischer Benachteiligung sozialer Gruppen: Sowohl die Strukturen, d.h. die formale Ebene, als auch die Praktiken in Organisationen bergen Risiken systematischer Benachteiligungen und Schlechterstellungen von Schülergruppen. Innerhalb der Organisationen kann die als „Diskriminierung“ bezeichnet werden…. (a. a. O: S,346) … Wird … Reduktion auf eine Erfahrungsdimension herangezogen, um das Verhalten und die Praktiken einzelner Personen infrage zu stellen – und entlang dieser Zuschreibungen auch den Zugang oder die Mitgliedschaft innerhalb einer Organisation -., so ist das diskriminierend.  … durch die Beschreibung der Gruppe… mit Migrationshintergrund.. wird diese andererseits als solche  ... auch konstruiert und – in eindimensionaler Perspektive – betrachtet. Derartige Identifizierungen schließen andere Milieudimensionen aus, denen die Schüler… ebenfalls angehören… (a. a. O. S.27) [Andere] Typen systematischer Schlechterstellung… [sind] Diskriminierung jenseits totaler Identifizierung durch formale Regeln, informelle Regeln des Organisationsmilieus, milieugeprägte Umgangsweisen mit formalen Regeln und toleriertes milieubedingtes Unterleben (Nohl 2010,224ff.) … (a. a. O. S.38)

3  Schule: Institutionelle Bearbeitung und Herstellung von Differenzen
… 3,1 Funktionen der Schule in der Gesellschaft
Die Schule übernimmt als pädagogische Organisation Aufgaben für die Gesellschaft: Die Heranführung der je nachwachsenden Generation an das gesellschaftliche Wissen, an die gesellschaftliche Fähigkeiten und ihre Werte sowie die Einführung darin sind notwendig, um die Gesellschaft in ihrer bestehenden Form zu reproduzieren, „Innovation“ verweist auf die Weiterentwicklung und Verbesserung der Gesellschaft (Fend 2008, 49).
Dieser gesellschaftliche Auftrag konkretisiert sich in … vier Funktionen.. (a. a. O: S.41) Diese Funktionen können analytisch voneinander getrennt werden; sie fungieren jedoch im Zusammenhang und stehen im Widerspruch zueinander (Braun/Wetzel 2 001; Fend 2008, 49ff.)…
Unter den gegebenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer zugleich kapitalistischen und demokratischen Gesellschaft stehen die vier [nachstehend aufgeführten] Funktionen im Widerspruch zueinander (Braun/Wetzel 20012, 375f.; Rihm 2006, 398f.).
Enkulturation
Die generationelle Weitergabe kultureller Sinnsysteme … Auch Mathematik [als] als eine Sprache.., mit der Zusammenhänge erklärt werden…‘
Qualifikation
Die Qualifikationsfunktion beinhaltet das Ziel, der nachwachsenden Generation entsprechende Kompetenzen zu vermitteln, um am ökonomischen Arbeitsprozess teilhaben zu können…
Allokation
Die Allokationsfunktion verweist auf gesellschaftlichen Positionsverteilungen, orientiert am Leistungsprinzip. Individuelle Leistung wird in Schulnoten ausgedrückt, die in Form von Zeugnissen und Bildungszertifikaten Übertrittsmöglichkeiten in Ausbildungsverhältnisse und auf den Arbeitsmarkt eröffnen bzw. verschließen…(Braun/Wetzel 2001, 376).. (a. a. O. S.42,43)
Legitimation
Die Legitimationsfunktion, die zuweilen auch als „Integrationsfunktion“ bezeichnet wird, fokussiert weniger den Arbeitsmarkt und damit das zukünftige Sein der Kinder und Jugendlichen als Wirtschaftsbürger…, sondern die politische Konstitution der Gesellschaft und die Loyalität ihr gegenüber.  In demokratisch organisierten Gesellschaften ist die politische Praxis auf eine außerparlamentarische Anerkennung ihrer Entscheidungen angewiesen. Dies beinhaltet auch Formen der Ungerechtigkeit zu akzeptieren, die innerhalb der Gesellschaft bestehen….

3.2  Differenzbearbeitung durch die Schule im Wandel der Zeiten

… Die Differenzverarbeitung liegt im Widerstreit zwischen der Sicherung und dem Abbau von Privilegien und den Zugangsmöglichkeiten zu Bildung (Herrlitz et al. 2009,15)… (a. a. O. S.43)
3.2.1  Umbruch: Lösung des Ständeprinzips und Einführung des Leistungsprinzips
… Obwohl die allgemeine Schulpflicht in Preußen bereits Ende des 18.Jhrhunderts eingeführt wurde, setzte sie sich erst wesentlich später flächendeckend durch… (a. a. O: S.44) …
Abgrenzung
Das einst emanzipatorische Moment des Leistungsprinzips verlor im 19.Jahhundert insofern an Bedeutung, als die einst dem Adel zugestandenen Privilegien nun zwar mit dem Bürgertum geteilt, jedoch gleichzeitig zur Abgrenzung gegenüber dem Proletariat herangezogen wurden. Die Sicherung von Privilegien im Zugang zu höherer Bildung erfolgte wesentlich entlang der zentralen Bedeutung, die der Sprache im Kontext von Bildungs- und Lernprozessen beigemessen wurde (Sacher 2004, 16), Aspekte, die auch heute noch… von elementarer Bedeutung sind, wenn es um Benachteiligungen im Kontext schulisch unterrichtlicher Lern- und Bildungsmöglichkeiten geht…
Berechtigungswesen
Die höhere Bildung, die an Gymnasien zu erwerben und dem Gedanken der Allgemeinbildung verpflichtet war, folgte den Ideen des Neuhumanismus, in denen Pädagogik und Politik eng miteinander verknüpft und mit der Staatsfunktion gekoppelt waren. Die zukünftigen Staatsbeamten wurden an den Universitäten, die eine gymnasiale Bildung voraussetzten, ausgebildet. Es setzte sich ein „Berechtigungswesen“ durch, … das den Zugang über die Universität zum Staatsdienst eröffnete…
niedere und höhere Bildung
Konträr zu den Prinzipien gymnasialer Bildung sehen die der Volksbildung, die sich neben Grundlagen in den Kulturtechniken – Lesen, Schreiben und Rechnen – an religiösen Aspekten orientiert. (a. a. O. S.45,46)
… Mit der Realschulgründung setzte sich das wirtschaftliche Bürgertum damit durch, höhere Bildungsmöglichkeiten für diejenigen Schüler… zu schaffen, deren Ziel nicht die Arbeit im Staatsdienst ist, sondern in der Wirtschaft….

Koedukation
Geschlechtsspezifische Rollenvorstellungen
Da die.. staatsbürgerliche[n] Aufgaben… von Jungen bzw. Männern übernommen wurden… waren die staatlichen Überlegungen zur Organisation des Schulwesens, der Lehrpläne und zur Ausbildung des Lehrpersonals auf die soziale Gruppe der Jungen gerichtet. … Für die Mädchen lagen die Bildungs- und Erziehungsziele … zur damaligen Zeit wesentlich darin, ihnen jenes Wissen zu vermitteln, das sie befähigte, gute Ehefrauen und Mütter zu werden. (a. a. O: S.46,47) Die erstgenannte implizierte die Auseinandersetzung mi höheren Künsten, um dem Ehemann eine interessante Gesprächspartnerin sein zu können..
Erweiterung der Bildungsmöglichkeiten
Vor dem Hintergrund der Ausbreitung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert wurden zunehmend Arbeitskräfte gebraucht, und diese konnten nicht mehr allein aus der Gruppe der Männer rekrutiert werden…
verbunden mit der Frage nach der Leitung von Schulen für höhere Mädchenausbildung (Faulstich-Wieland 1991, 14 1).
Entlastung der Volksschule
Hilfsschulgründungen:
Erste „Hilfsschulen“, so wurden die Schulen für Kinder und Jugendliche mit sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf im Förderschwerpunkt Lernen damals genannt, wurden Ende des 19. Jahrhunderts gegründet…
Die Ursachen des Scheiterns wurden in einer individuellen Minderbegabung gesehen, wobei der Anteil der Volkschulen am schulischen Versagen der Schüler … ausgeblendet wurde (Werning/Lütje-KLose 2012, 35). Die Pathologisierung – verstanden als die von einer genetisch-biologischen Norm bestehenden Abweichung – der Andersartigkeit der Schüler… legitimierte, dass nicht die Volksschulen für sie zuständig waren, sondern die Hilfsschulen. (a. a. O. S.47)
… Der Unterricht wurde individueller und auf die Bedürfnisse der Kinder abgestimmt gestaltet. Bereits damals gab es Widerstand gegen die Entwicklung von Hilfsschulen. Er entfaltete sich am Begriff des „Schwachsinns“ und der Ausblendung des Anteils der Volksschulen am Versagen der Schüler… (Werner/Lütje-Klose 2012, 2919).
Gesellschaftlich waren zwei Aspekte mit der Einrichtung von Hilfsschulen für sogenannte „schwachsinnige Kinder“ verbunden: eine Reduzierung der Sozialausgaben, indem die Schule die Schüler… sozial brauchbar machte, und die Erzeugung von Loyalität gegenüber staatlicher Obrigkeit. Die Qualifikationsfunktion der Schule war auf einfache Tätigkeiten des Arbeitslebens gerichtet… Wie heute auch, kamen die Schüler…  der Hilfsschule aus prekären Lebenssituationen, die von Armut gekennzeichnet waren … Die Integrationsfunktion der Hilfsschule richtete sich auf die Loyalität der Schüler… gegenüber der Verteilung von Reichtum in der Gesellschaft… Die Hilfsschule hatte auch präventive Aufgaben, namentlich der Kriminalität vorzubeugen (Lütje-KLose 2012, 31f.).
Vergleichbar der Rollenvorstellungen zur Differenzdimension Geschlecht wurden im Bereich der Hilfsschulbedürftigkeit biologische oder genetische Voraussetzungen als Gründe für die Einrichtung  spezifischer  Bildungsorganisationen und –ziele angeführt. Wenn auch nicht in vergleichbarer Weise (beim Geschlecht wurde im Gegensatz zur Behinderung nicht von einer Pathologie ausgegangen), ist dies im Bereich des Sonderschulbesuchs leitendes Erklärungsprinzip gewesen.
Für Kinder und Jugendliche ohne deutsche Staatsangehörigkeit gab es bis Mitte der 1960er Jahre keine Schulpflicht…
gemeinsam vierjährige Grundschule
…. Mit der Reichsschulkonferenz ….1920 setzte sich in Deutschland eine vierjährige Volksschule durch, die von allen Schüler…n besucht werden solle – mi Ausnahme derjenigen, die in Sonderschulen (so vorhanden) unterrichtet wurden. (a. a. O. S.48,49) Anschließend besuchten die Schüle… die Oberstufe der Volksschule. Die Mittelschule oder das Gymnasium…. Die Unterschiede zwischen den Schulformen drückten und drücken sich in einer Leistungshierarchie aus…

3.2.2  Ausweitung der formalen Gleichheit, bestehende Ungleichheit
Während der Herrschaft der Nationalsozialisten, die sich an einem hochdistinkten Verständnis von Menschen ausrichtete und an der Schule und ein Teil der Lehrerschaft aktiv beteiligt waren, war Rassismus das leitende Prinzip der Bearbeitung von Differenzen im Kontext von Schule und Unterricht… entlang „völkischer Zugehörigkeit“ … organisiert (Herrlitz er al. 2009, 139f.). Kinder und Jugendliche mit Behinderungen wurden (teilweise unter Mithilfe der Hilfsschullehrerschaft) sterilisiert – ein Akt, der durch das Gesetz zu „Verhütung erbkranken Nachwuchses“ geregelt und „legitimiert“ war (Ellger-Rüttgardt 2008, 242 ff)….
Die Gestaltung des Schulsystems in der BRD knüpfte wesentlich an die Situation der Weimarer Republik an… Erhalten geblieben ist damit auch der anhaltende Widerstreit zwischen der Sicherung von Bildungsprivilegien und der Bemühung der Realisierung von Chancengleichheit… (a. a. O. S.49)Resümierend kann vorweggenommen werden, dass die grundlegende Struktur und ein leistungsorientiertes Berechtigungswesen erhalten geblieben sind, es aber zahlreiche Reformansätze und –Bemühungen gab und gibt… bis heute – angestoßen durch die PISA-Studie. (a. a. O: S.49,0) Nach der Beendigung des Zweiten Weltkrieges sahen die alliierten Besatzungsmächte … grundlegende Veränderungen vor, mit den Zielen der Entnazifizierung und Demokratisierung. Ihre Vorschläge bezogen sich auf die schulische Struktur, die zugunsten einer Gesamtschule nach US-amerikanischem Vorbild (die keine vertikale Gliederung kennt) sowie einer Revision der Inhalte gestaltet werden sollte….  Trotz des Erhaltes der Mehrgliedrigkeit in Form von Sonderschule, Hauptschule, Realschule und Gymnasium gab es Angleichungen zwischen den hierarchisch gegliederten Schultypen… auf der inhaltlichen Ebene, wie es der Allgemeinbildungsanspruch aller Bildungsgänge zum Ausdruck bringt.
Neben der Strukturierung des Schulsystems ist Ende der 1960er Jahre eine zweite Diskussionslinie aufgetaucht, welche die Frage nach der Reproduktion sozialer Ungleichheit durch die Schule aufgreift. (a. a. O. S.50,51) … unter dem Stichwort der „Ausschöpfung der Begabungsreserven“, … im Zuge der „deutschen Bildungskatastrophe“(Picht 1965) proklamiert… (Brake/Büchner 2012, 35). … Breitere Bevölkerungsschichten konnten anspruchsvollere Bildungsgänge besuchen und länger zur Schule gehen (Herrlitz et al. 2009, 181f.)…. Sogenannte „Bildungsexpansion“…, in der mehr Schüler… höhere Schulformen besuchen und abschließen konnten (Brake/(Büchner 2012, 34). Dennoch zeigen die internationalen Vergleichsstudien, dass Bildung ebenso wie Zugangsmöglichkeiten zu Bildungsinstitutionen in Deutschland wesentlich von sozialen Merkmalen, also Milieuzugehörigkeit, abhängig sind – dies gilt gleichermaßen für die Schweiz (Zahner Rossier/Holzer 2007, 43) wie für Österreich (Schwantner/Schreiner 2010, 40). Die Aufhebung geschlechtshomogener Lerngruppen und Schulen setzte sich in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960er Jahren flächendeckend durch… allerdings ohne, dass Inhalte, Methode und Didaktik dieser Situation angepasst wurden (Faulstich-Wieland 1991, 30ff.).
Der Deutsche Bildungsrat formulierte 1972 das erste politische Dokument, das den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung vorschlug ()Schnell 2003, 78)…. (a. a. O. S. 51)

3.2.3  Entwicklungen und Diskurse seit 2000
PISA-Studie
… Die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 hat Bewegung in die Diskussionen um die Gestaltung der Schule in der Gesellschaft gebracht…  Die Reformüberlegungen, die im Anschluss hieran gestartet wurden, haben jenen der 1960er- und 1970er-Jahre gemeinsam, dass Restaurationen bestehender Strukturen vorgenommen wurden statt grundlegender reformieren…  Reformen …entlang der Begriffe „Schuleffektivität“ und „Schulqualität“, die den Übergang von einer Input- zu einer Output-Steuerung de Bildungswesens markiert… (Gomolla 2010, 246f.)… Je nach Bundesland eröffnet nicht nur das Gymnasium die Möglichkeit, Abitur zu machen und einen Hochschulabschluss zu erwerben, sondern auch eine weitere Schulform der Sekundarschule, wie z. B die Stadtteilschulen in Hamburg und die Sekundarschulen in Berlin. (a. a. O. S.52) … Van Ackeren und Klemm konstatieren, „dass in der zerfaserten und entgrenzten Schulformenlandschaft die historisch verwurzelten und über die Jahrzehnte und Jahrhunderte weite gegebenen charakteristischen Unterschiede zwischen ‚niederer‘ und ‚höherer‘ Bildung fortleben: ‘Niedere‘ Schulbildung begrenzt Entwicklungsmöglichkeiten und orientiert auf kognitiv weniger anspruchsvolle Bildungs- und Berufsabschlüsse.“ (Ackeren/Klemm 2009, 61). Edelstein … ()2006, 127).. hebt zudem hervor, dass sich die PISA-Werte in Deutschland in den letzten Jahren zwar gebessert haben, also im Bereich des Unterrichts Entwicklungen zu verzeichnen sind, dies jedoch wesentlich im gymnasialen Bereich…
Folgende Kritikpunkte werden bei den formalen Regeln des Schulsystems, die Ungleichheiten zwischen Schülern… begünstigen, gesehen: die vorgesehene frühe Selektion, die geringe Durchlässigkeit, die terminale Ausrichtung der Schule sowie die Stützung der Struktur auf die Begabungsideologie. (a. a. O. S.53,54) …
Hamburger Volksentscheid
Am 18.07.2010 sprachen sich die Bürger… in Hamburg gegen Schulreformen aus, die von Senat und Bürgerschaft beschlossen waren. Ein zentraler Punkt, über den in der Stadt diskutiert wurde, war die Verlängerung der Grundschulzeit um zwei Jahre. Diese Verlängerung wurde abgelehnt.

Die Aufteilung von Schüler…n in Schulen mit unterschiedlichen Leistungsansprüchen sowie verschiedenen Bildungs- und Lernzielen erfolgt in Deutschland wie auch in Österreich im Anschluss an die vierte Klasse… mit oder ohne Berücksichtigung des Elternwillens und zielt letztlich darauf, leistungshomogene Lerngruppen zu konstruieren. Dass dies nur unzureichend gelingt und die Idee der Homogenisierung eine Fiktion ist, beschreiben Klafki und Stöcker bereits 1976 (497). … (a. a. O. S.54)
… Bis zur 10. Klasse haben 25% aller in Deutschland zur Schule gehenden Kinder und Jugendlichen die Erfahrung des Sitzenbleibens gemacht (Saldern 2007, 43). In Schulsystemen wie dem deutschen, die terminal (abgebend) organisiert sind, kommt der Selektion eine große Bedeutung zu. Diese Entscheidung über die Mitgliedschaft und Nichtmitgliedschaft ist allgegenwärtig… Für Deutschland konstatiert Gomolka (2013), im Unterschied zum angloamerikanischen Sprachraum, eine starke Orientierung an der Begabungsideologie. Anders als das Leistungsprinzip dominiert in Deutschland die Vorstellung, dass die Schüler…. aufgrund ihrer biologisch-genetischen Ausstattung unterschiedlich begabt sind…
Die Schule selbst wird in diesem Verständnis nicht als Ort oder Raum verstanden, der einen Beitrag zur Leistungs- und Lernentwicklung von Schülern… leisten kann, was einer professionsspezifischen Selbstaufgabe gleichkommt. (a. a. O. S.55)

3.3 Differenzherstellung und –bearbeitung durch Schule am Beispiel schulischer Leistungsbewertung

.. Dass die Kontrolle mittels Noten funktioniert, steht im Zusammenhang mit der Knappheit begehrter gesellschaftlicher Positionen, die mittels zertifizierter Bildungsergebnisse zu erreichen sind bzw. vergeben werden.
… Während Schulnoten zu Beginn der Schulzeit häufig motivierend sind übernehmen sie zu einem späteren Zeitpunkt auch die Funktion des Aufzeigens realistischer Perspektiven…. Die kontrollierende Funktion bezieht sich sowohl auf Schüler… als auch auf Lehrpersonen… (a. a. O. S.56)
Zensuren werden herangezogen, um Prognosen für die weitere Schullaufbahn und den Unterricht, die Unterrichtsgestaltung zu generieren… (Sacher 2004, 26ff.) …

Formen der Leistungsbewertung: Schulnoten werden in Deutschland wie auch in Österreich und der Schweiz vorwiegend in Zifferform vergeben. Bei der Bewertung der Schülerleistung wird in Deutschland in der Regel ein sechsstufiges System von Noten (Klassen 1 bis 10) oder ein fünfzehnstufiges Punktesystem (gymnasiale Oberstufe) angewendet… Neben den Ziffernzeugnissen ist es seit einem Beschluss der KMK (1970, 9) in der Grundschule möglich, sogenannte „verbale Beurteilungen“ abzugeben. Die Anregungen hierfür kamen aus der Reformpädagogik… (a. a. O. S.57)
Vergleichsarbeiten
Die Bewertung schulischer Leistung durch Lehrkräfte erfolgt zunehmend durch vergleichende Schulleistungstests, v.a. im Hinblick auf Kompetenzen (Fürstenau/Gomolla 2012, 13f.). … Seit Ende der 1990er Jahre werden neben den Klassenarbeiten zentrale Abschlussprüfungen und Vergleichsarbeiten eingesetzt, die eine weitere Form der Leistungsbewertung darstellen und im engen Kontext mit Schuleffektivitätsuntersuchungen darstellen. Letztgenannte Entwicklungen sind Ausdruck der Deregulierung und Dezentralisierung der Schulsystemsteuerung, die andererseits mit Monitoring einhergeht (auf ökonomische Kriterien aufbauende Kontrolle), dem sogenannten „Controlling“… mithilfe standardisierter Testes… Zielvereinbarungen und Evaluationen sind zwei Instrumente…

Bildungsstandards
Im gleichen Zeitraum wurden auch andere Formen der Leistungsbewertung (weiter)entwickelt… beispielsweise Portfolios, Lerntagebücher, Kompetenzraster. Ihnen ist das Ziel gemeinsam, individuelle Lernprozesse zu betrachten und auf diesen aufbauend, nächste Lern- un d Entwicklungsschritte von Schüler...n und deren didaktisch-methodische Unterstützung zu planen (Fürstenau/Gomolla 2012, 15)… [wobei] Wissen stärker in einer anwendungsbezogenen Form abgeprüft wird.

Notenvergabe … (a. a. O: S.60)
…Nicht nur die Bedeutung der Einzelnote gegenüber der Gesamtzahl von Noten ist relativ, auch die Vergabepraxis ist durch Relationierung gekennzeichnet… Die Legitimation von Noten erfolgt nicht selten über die Zuschreibung von Talent, Begabung und Anstrengung aufseiten der Schüler… Es gilt in der Regel dann als nicht mehr ausreichend, wenn eine ganze Lerngruppe in einer konkreten Leistungsanforderung schlecht bewertet wird…
Auch Schüler… werden in  die Notenfindung einbezogen, allerdings konstatieren Zaborowtski et al. (2011), dass dies wesentlich mit dem Ziel der Validierung der von der Lehrperson vergebenen Note vorgenommen und so letztlich auch die Legitimität der Note hergestellt und zugleich unterstrichen wird (Zaborowski et al. 2011, 350)…. (a. a. O. S.61)

Übungsaufgaben
Aufgabe 2
 Das folgende Zitat von Joachim Schröder bezieht sich auf das gegliederte Schulsystem:
„Denn in das gegliederte Schulsystem ist eine Struktur der Homologie eingeschrieben, das in oberen und mittleren Milieus verfügbare kulturelle Kapital korrespondiert mit den in den höheren Schulformen vermittelten Bildungskapital, und ebenso entspricht das in unteren sozialen Milieus benötigte dem in den Haupt- und Sonderschulen bereitgestellten Kulturkapital. Diese homologen Strukturen zeichnen milieustabile Bildungswege vor und ermöglichen vor allem den Angehörigen der unteren sozialen Milieus nur in Ausnahmefällen einen gesellschaftlichen Aufstieg.“ (Schröder 2010, 119, Herv. im Original)
Konkretisieren Sie die Überlegungen des Zitats exemplarisch an formalen schulischen Strukturen, die dies begünstigen.
Aufgabe 3
Erläutern Sie, warum die Anwendung von Leistungs- und Mindeststandards zu Benachteiligungen führen kann. (a. a. O. S.62)

4  Heterogene Milieus in Schule und Unterricht

Die Schüler… gehören, ebenso wie die Lehrkräfte einer Schule unterschiedlichen sozialen Milieus an, aus denen heraus sie Schule und die Erwartungen, welche die Organisation an ihre Rolle stellt, bearbeiten…. (a. a. O. S.64)

4.1  Sozioökonomische Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht
Sozio-ökonomische Heterogenität (also Unterschiede im Zugang zu Ressourcen), über die Milieus verfügen, wird in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften vorwiegend entlang des Begriffs „soziale Ungleichheit“ diskutiert (Büchner 2003; Butterwegge 2019; Bradil 200; Bauer 2010): soziale Ungleichheit korrespondiert mi „Bildungsungleichheit“ (Becker/Lauterbach 2008; Krüger et al. 2010), da mittels schulischer Bildung soziale Privilegien gesellschaftlich legitimiert werden und  Chancengleichheit nicht eingelöst wird. Fehlender Schulerfolg wird nicht selten als mangelnde Begabung oder Motivation den Schülern.... zugeschrieben bzw. unterstellt und so als Problem individualisiert (Gomolla 2012, 32f.) Konträr dazu stehen sozialwissenschaftliche und menschenrechtliche Perspektiven, die Bildungsungleichheit als Ausdruck gesellschaftlicher Ungleichheit sehen, die durch das Bildungssystem reproduziert und produziert wird… (a. a. O. S.65)
Lerninhalte
Die Bedeutung schulischen Lernens wird von privilegierten Kindern wesentlich in den Inhalten gesehen, während die nicht privilegieren diese funktional verstehen… Nicht Lerninhalte, sondern deren Funktionalität und Tätigkeiten wie Lesen, Schreiben und Rechnen werden von ihnen thematisiert… (a. a. O. S.76)
… im Gegensatz zu …schweizerischen… Hauptschüler[n]… setzen die Gymnasiast…en  sich kritisch mit den Lehrpersonen und ihrer Unterrichtsgestaltung auseinander. Die Bedeutung einer zweckfreien Bildung jenseits ökonomischer Verwertbarkeit zeigt sich… (a. a. O. S.77)
schulische Regeln
… Vertrautheit mit Regeln und Regelverletzung unterscheiden die nicht privilegierten von den privilegieren Schüler...n…
… Sprache: Die Sprache, die in Schule und Unterricht verwendet wird, mit deren Hilfe Inhalte und Regeln transportiert werden, stellt einen zweiten Bereich dar, durch den für Schüler… aus nicht privilegiertem Milieu Nachteile entstehen…(a. a. O. S.78)
Die milieugeprägten Orientierungen von Bildung und Lernen… finden (häufig) eine Milieuentsprechung in der Lehrerschaft…

4.2  Geschlechtsbedingte Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht

… neben der sozio-ökonomischen Zugehörigkeit ein zentrales gesellschaftliches Strukturierungsprinzip

… Die binäre Unterscheidung zwischen männlich und weiblich hat… auch eine vertikale Komponente, die ich z.B. in der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zeigt…
Die Differenzdimension soll in diesem Kapitel in Bezug auf schulische Formen der Benachteiligung vorgestellt werden. Dazu wird zunächst ausgeführt, wie Geschlecht in einer sozial konstruktivistischen, wissenssoziologisch fundierten Perspektive verstanden wird… (a. a. O: S.79

4.2.1  Geschlechtsbedingte Heterogenität
Im Alltag wird üblicherweise von einer binären Unterscheidung von Männern und Frauen, Mädchen und Jungen ausgegangen. Hier soll gezeigt werden, dass Geschlecht eine Heterogenitätsdimension respektive milieugeprägte Erfahrungen hervorruft, die in interaktiven Situationen alltäglicher Praxis hergestellt und bearbeitet werden (West/Zimmermann 1987, 126f.). Geschlecht wird entlang dieser Überlegungen nicht als eine biologisch determinierte Kategorie verstanden, sondern als soziale Konstruktion, die mehrdimensional ist… Im engen Zusammenspiel mit anderen Milieudimensionen, die einander überlappen, leben und praktizieren Menschen Geschlechtlichkeit und Geschlechtszugehörigkeit.
„doing gender“
Geschlecht ist als ein soziales Konstrukt zu verstehen, verbunden mit dem Ziel der Überwindung einer einseitigen Betrachtung, wird seit den 1980-er Jahren in der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft diskutiert (Faulsich-Wieland 2004a, 176). Die Überlegungen sind wesentlich inspiriert vom Ansatz des „doing gender“ (West/Zimmermann 1987, 126). Dieser unterscheidet zwischen „sex“, „sex category“ und „gender“, um Geschlecht innerhalb der Gesellschaft zu erklären (West/Zimmermann 1987, 127). „Doing“ im Zusammenhang mit „gender“ unterstreicht die Aktivität der Akteure… in dem Prozess….
Sex verweist auf biologische Merkmale, anhand derer Geschlechtlichkeit definiert wird. Hierzu zählen beispielsweise Chromosomen und sichtbare Genitalien… (a. a. O-. S.80=
… Mit „sex category“ ist Anwendung der Kategorie „sex“ im Alltag gemeint… da im Alltag die biologischen Kriterien… nicht sichtbar bzw. erkennbar sind… Aufgrund im Alltag sichtbarer Merkmale wie Kleidung, Frisur und Schmuck einer Person wird ihr ein Geschlecht entlang der „sex category“ zugeschrieben… Die Praxis der Herstellung von Geschlecht wird als „gender“ bezeichnet…[was] in adäquatem, also geschlechtsangemessenem Verhalten zum Ausdruck kommt… auch in körperlicher Bewegung. Dies zeigt sich besonders deutlich am Beispiel von Menschen, die an einem bestimmen Zeitpunkt ihres Lebens entscheiden, ihre geschlechtliche Zugehörigkeit, gender und/oder ihr biologisches Geschlecht zu wechseln…. (a. a. O. S.81) … Innerhalb der Gesellschaft wird von einer Konstanz des Geschlechts ausgegangen… (a. a. O. S.82)
… Die Entwicklung geschlechtliche Identität wird mehr als andere kulturell konstruierten Differenzen als naturgegeben wahrgenommen… Gemeinsam ist… verschiedene[n] Kulturen.. , dass sie unterschiedliche Schemata für männlich und weiblich anbieten. Diese werden in ihren Praktiken hervorgebracht und repräsentiert…
Geschlecht und Schule: Der Diskurs um Geschlecht in der Schule wird mithilfe des Begriffs der „Geschlechtergerechtigkeit“ geführt (Budde et al. 2008). Gerechtigkeit kann in diesem Zusammenhang unterschiedlich verstanden werden; als Gerechtigkeit für die Geschlechter oder als den Geschlechtern gerecht werden… (a. a. O. S.84)
4.3  Migrationsbedingte Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht
…Mit den Fragen … beschäftigt sich die Migrationspädagogik bzw, die interkulturelle Pädagogik… (a. a. O: S.93)
… In Gesellschaften, die durch Ein- und Auswanderung gekennzeichnet sind, verändern Migrationsprozesse die soziale und die individuelle Wirklichkeit der Menschen:  Die gesellschaftliche Realität dieser Ein- und Auswanderungsländer wird durch Migration erzeugt und permanent umgestaltet. Nicht selten gilt Migration für sogenannte „Einwanderungsgesellschaften“ auf diese Weise als Ausgangspunkt für Modernisierung und Entwicklung (Mecheril 2010, 156). Die Struktur der Gesellschaft wird dadurch heterogener; es kommen neue Milieus hinzu und neue entwickeln sich (Nohl 2010. 156). Menschen die in ein Land einwandern, bringen neue Sprachen, Erfahrungen, Wissensstrukturen, Perspektiven, Erwartungen und Praktiken mit…. Die sogenannte natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit markiert eine zentrale Unterscheidungsdimension innerhalb des Diskurses um Migrationsandere. … (a. a. O. S.95)
… Alle drei Begriffe blenden in der verwendeten aart und Weise aus, dass innerhalb der nationalen, ethnischen und kulturellen Formen des Zusammenlebens differenziere Milieus und verschiedenartige soziale Praxen (sich überlappende Milieus) existieren. ... (a. a. O. S.96)  … kompensatorische… Maßnahmen… seit der… 1970-er Jahre.. richteten sich ausschließlich auf sogenannte „Ausländerkinder“. Ziel der Maßnahmen war es, die sprachlichen Defizite der nicht deutschsprachigen Kinder … zu überwinden… Insgesamt waren die eingeleiteten Maßnahmen damit assimilativ organisiert, da eine sprachlich Angleichung der „Migrationsanderen“ das Ziel war (Gogolin/Krüger-Potratz 2006, 100) Die kompensatorischen und defizitorientierten Unterstützungsleistungen fielen zeitgleich mit den politischen Bemühungen um eine Rückkehr der „Ausländer…“ in deren sogenannte „Heimat“. Dennoch [kam es zur]  Formierung der „Ausländerpädagogik“ als erziehungswissenschaftliche Disziplin .. in der pädagogischen Bemühung um Kompensation … offenbart sich.. die Vorstellung einer (sprachlich) homogenen Gesellschaft (Krüger-Potratz 200, 100) …
Paradigmenwechsel zur interkulturellen Pädagogik
.. Aus der disziplinären Kritik formierte sich eine Perspektive, die den „Differenzdiskurs“ (Mecheril 2010, 36) der 1980-er Jahre charakterisiert – die interkulturelle Pädagogik… der Differenzdiskurs … betrachtete … die zur Diskussion stehende Migration jetzt als konstitutiven, d.h. elementaren, Bestandteil des gesellschaftlichen Miteinanders (Gogolin/Krüger-Potratz 2006, 105)…. Kultur als Identität stiftendes und gleichzeitig Differenz markierendes Moment löste die Sprache bzw. Sprachdefizite als grundlegendes Unterscheidungskriterium ab. Kultur und kulturelle Identität wurde ein enormer Einfluss auf Individuen und die Konstitution von Milieus unterstellt… Anderssein wurde nicht mehr als Defizit, zumal als ein individuelles, verstanden. Die Kulturen der Migranten… erlangten diskursive Anerkennung. Die mündete in der Forderung, unterschiedliche Identitäten zu respektieren (Mecheril 2010a, 56)….
Hierin ist ein emanzipatorisches Moment enthalten, da nicht mehr nur die Arbeitskraft des Gastarbeiters, sondern der Mensch mit seiner kulturellen Identität der Bezugspunkt pädagogischer Bemühungen wurde (Nohl 2010,. 56). (a. a. O. S.98,99). Gedacht wird dies in einem Gesellschaftsmodell einer multikulturellen, sich als Einwanderungsland verstehenden Gesellschaft. Damit wird von der Interkulturellen Pädagogik gesellschaftspolitische Kritik geübt (Krüger-Potratz 2005, 120)… Strukturelle Fragen der Benachteiligung gelangen verstärkt in den Blick. Differenz wird damit nicht mehr als Defizit gegenüber einer gedachten Norm, sondern als gleichberechtigt nebeneinanderstehend und als Anderssein verstanden (Gogolin/Krüger-Potatz 2006, 105)….
Kritisiert wird die Verwendung eines Kulturverständnisses, in dem kulturelle Aspekte von Andersartigkeit betont werden. Dabei werden andere Formen von Unterschieden ausgeblendet und der Fokus auf die Kultur gelegt…. (a. a. O. S.99): Seit den 1990-er Jahren differenziert sich der Diskus innerhalb der Interkulturellen Pädagogik kontinuierlich weiter. Dies erfolgt entlang unterschiedlicher theoretischer Bezüge und inhaltlicher Fokusse wie die wissenssoziologische Perspektive (Nohl 2010), die Diskriminierungsperspektive (Gomolla/Radtke 2009) und der Verwendung von Rassismus als Analysekategorie (Mecheril/Melter 2010,, 150dd.) sowie religiöser Differenz (Weiße, W. 2010: Religionsunterricht für alle in einer Schule für alle. Inklusion statt Separation, In: Schwohl, J., Sturm T. (Hrsg.): Inklusion als Herausforderung schulischer Entwicklung. Widersprüche und Perspektiven eines erziehungswissenschaftlichen Diskurses. Transkript, Bielefeld, 193-210 (a. a. O. S.100,176)
Bildungspolitisch markiert die Veröffentlichung der ersten PISA-Studie (PISA-Konsortium 2001) einen markanten Punkt für die Weiterentwicklung der interkulturellen Pädagogik… im Hinblick auf migrationsbedingte Heterogenität … geht Diskurs…einher mit einer verengten Fokussierung der Sprachkompetenzen…  und führt nicht selten zu Fördermaßnahmen, die einer defizitorientierten Perspektive zuzuordnen sind (Mecheril 2010a, 58). Gleichzeitig wird einer breiten Öffentlichkeit deutlich, dass es der deutschen Schule nicht gelingt, migrationsbedingte Benachteiligung zu überwinden – dies in anderen Schulsystem und Staaten jedoch erfolgreich(-er) geschieht (Wilmes et al. 2011, 31). … (a. a. O. S.100) ….
Beteiligung und Zugang zu Bildungsgängen und Fachkompetenzen
… Zwar besuchen mehr Schüler… mit Migrationshintergrund ein Gymnasium (26%) als Hauptschulen (24%), jedoch ist innerhalb der Schulform der Anteil der Hauptschüler… mit Migrationshintergrund deutlich höher als derjenige der Schüler… ohne Migrationshintergrund. Im Gymnasium dreht sich das Bild um… In den andern Schulformen bzw. Bildungsgängen ist der Anteil vergleichsweise ausgeglichen (Weishaupt et al. 2012, 254)…
Die Lesevermittlung im Unterricht gelingt der Schule bei Jugendlichen mit Migrationshintergrund nicht in vergleichbarem Maße wie bei jenen ohne… (Weishaupt et al. 2012, 254). (a. a. O. S.102) .. Das sozio-ökonomische Milieu hat mehr Einfluss auf die Lesekompetenz der Gruppe als der Migrationshintergrund…
Unterrichtliche Praktiken
… Das Schulsystem ist durch kulturelle, nationale und linguale Zentriertheit gekennzeichnet, die historisch eng an die Herausbildung des Nationalstaates gekoppelt ist…. (a. a. O. S.103)
Schüler…, deren Familiensprache nicht der Variante des Deutschen entspricht, die in einer bildungsorientierten Mittelschicht anzutreffen ist, werden…  im Unterricht durch die sprachliche Interaktionsgestaltung, die dies voraussetzt, benachteiligt (Schütte/Kaiser 2011, 246). (a. a. O. S.104,105)
Verständnis von Unterrichtsfächern
Hawighorst (200/) hat in einer Untersuchung die elterlichen Bildungsvoraussetzungen mit Migrationshintergrund erfragt. Anhand eines Fallvergleichs kontrastiert sie sie Vorstellungen, die türkisch- und russischsprachige Eltern, in beiden Fällen Väter, auf den Mathematikunterricht und die Bildung ihrer Kinder in Deutschland insgesamt haben.. . Die fachliche Unterstützung ihrer Kinder können sie nicht immer in dem von ihnen gewünschten Maße leisten, weder inhaltlich noch finanziell auf dem Wege der Nachhilfe.. (a. a. O. S.106)

4.4  Behindertenbedingte Heterogenität im Kontext von Schule und Unterricht

Die drei in den vorangegangenen Abschnitten vorgestellten Heterogenitätsdimensionen werden häufig in einem Zusammenhang mithilfe der im angloamerikanischen  Sprachraum verbreiteten Terminologie „race, class and gender“ zusammengefasst (deutsch häufig: Ethnizität, soziales Milieu und Geschlecht), da sie als wesentliche milieuprägende Differenzen aufgefasst werden. Behinderung hat im Gegensatz dazu keinen vergleichbaren Stellenwert in der Diskussion. Dies liegt darin begründet, dass der Grunddualismus derart stark dem Pol der Nichtbehinderung zugeschrieben wird, dass sie im Gegensatz zur Behinderung als nicht erwähnungswert erscheint (Lutz/Wennig 2001, 19ff.). Behinderung soll hier dennoch in vergleichbarer Weise wie sozio-ökonomische Heterogenität dargestellt werden, da die Dimension in ihrer Ausprägung als sonderpädagogischer Förderbedarf in spezifischer Weise der Logik des Schulsystems entspricht.
So wurde in den drei vorangegangenen Abschnitten aufgezeigt, dass spezifische Formen der Milieuzugehörigkeit mit systematischer Benachteiligung im Schulsystem und im Unterricht einhergehen können – die, sofern sie gravierend sind als „individueller Förderbedarf“ zusammengefasst werden. „Sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf“ stellt den schulinternen Begriff für Behinderung dar. Da die Schule und auch der Unterricht wesentlich an der Herstellung von Behinderung beteiligt sind, wird diese Differenzdimension hier als vierte vorgestellt und dargestellt.
Behinderung verweist zugleich auf eine vertikale und horizontale Gliederung der Gesellschaft. Da Behinderung im sozialrechtlichen Sinn auf Einschränkung verweist, sind die Möglichkeiten des Erwerbs ökonomischen Kapitals eingeschränkt. Dies führt zu einer vertikalen gesellschaftlichen Stratifizierung durch die Differenzdimension Behinderung. Horizontal ist sie insofern, als behinderungsbedingte Erfahrungen als eine Milieudimension gefasst werden kann, die mit spezifischen Erfahrungen einhergeht.  
Behinderung wird hier, ebenso wie die anderen Milieus auch, zunächst aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive beschrieben und damit als milieugebundene Erfahrung verstanden (Tervooren 2000). Im schulischen Kontext bedeutet Behinderung, dass die normative Erwartung, schulische Leistungen zu erbringen, nicht erfüllt wird (Weisser 2005 , 151). Die Institution regiert hiermit mit der Vergabe von sonderpädagogischem Unterstützungsbedarf bzw. von besonderem Bildungsbedarf… (a. a. O. S.107,108)

4.4.1  Behinderungsbedingte Heterogenität

… Eine grundlegende Unterscheidung  besteht zwischen einem medizinischen und einem sozialwissenschaftlichen Verständnis von Behinderung.   
Im medizinischen Modell wird  Behinderung als Schädigung verstanden. Folglich stellt sie eine Dysfunktion dar, die auf eine Anomalie, auf eine Abweichung zurückgeführt wird. Die Schädigung des Körpers kann in organischer, mechanischer oder psychischer Hinsicht vorliegen….
Mit dieser Zuschreibungsform von Behinderung als einer Schädigung geht das Risiko der Verkürzung von Behinderung als einem individuellen Merkmal einher, was zu einer Reduktion des Individuums auf seine Schädigung führt (Hirschberg 2003, 172ff.)
sozialwissenschaftliches Model
In den „Disability Studies“ und in Teilen der Behindertenpädagogik wurde diese Kritik aufgegriffen und ein soziales Modell von Behinderung entwickelt. Gesellschaftliche Benachteiligungen und Resonanzen auf eine Schädigung beschreiben das, was hier mit Behinderung gemeint ist… Sind Partizipation und Teilhabe von Menschen behindert, so liegt die Ursache nicht in der attestierten Schädigung, sondern in der Bearbeitung der Schädigung in menschlichen Interaktionen und Praktiken…. (a. a. O. S.108) … Die Unterscheidung zwischen medizinischem und sozialem Paradigma der Betrachtung von Behinderung wird sowohl innerhalb des erziehungswissenschaftlichen Fachdiskurses als auch innerhalb der Disability Studies  weiter differenziert. Die Bezugnahme auf unterschiedliche Metatheorien, wie z.B. dem dialektischen Materialismus oder der Systemtheorie, spiegelt eine differenzierte sonderpädagogische Betrachtung und Definition von Behinderung wider, basierend auf einem Diskurs mit verschiedenen, miteinander streitenden Positionen (Überblick: Bleidick 1999; Moser/Sasse 2008; Vernooij 2007)….
Disability Studies
„Disasbility Studies“ ist eine Forschungsrichtung, die Behinderung als soziale Konstruktion begreift und sich sozialwissenschaftlich mit dem Phänomen der Behinderung auseinandersetzt. Die Perspektive, die Behinderung als Ergebnis sozial konstruierter Barrieren versteht, geht wesentlich auf Analysen und Erkenntnisse der Behindertenbewegung zurück (bifos e. V. 2012). (a. a. O. S.109)  
… Eine solche Definition ist die der Weltgesundheitsorganisation (WHO) … in der ICF, der „International Classification of Functioning, Disability, and Health“, die Funktionsfähigkeit und ihre Einschränkung hinsichtlich der Körperfunktionen und –strukturen sowie die Aktivitäten und Partizipation von den Kontextfaktoren der Umwelt und der konkreten Person… beinhaltet.. (a. a. O. S.110) …
Mithilfe der WHO lässt sich eine eingeschränkte körperliche Funktion, wie ds Fehlen der beine erst dann als ein Problem beschreiben, wenn hierdurch einzelne menschliche Aktivitäten nicht ausgeführt werden können und /oder dadurch die Teilhabe oder Partizipation eingeschränkt sind…. Zudem wird an der ICF kritisiert, dass die Klassifizierung von Behinderung entlang negativer Beschreibungen erfolgt, die zur Stützung eines Normalitäts- und Abweichungskonstruktes beitragen… (Hirschberg 2003, 1777f.) Aus einem sozialen und wissenssoziologischen Verständnis heraus können Erfahrungen der Behinderung auch entlang eines Milieus konzipiert werden. … Der …Gruppe von Menschen… , die gehörlos ist und sich als eine sprachlich-kulturelle Minderheit, im Sinne eines Milieus versteht… ist ihrer Hörschädigung bewusst, jedoch reflektiert sie diese nicht als ein Defizit, sondern als ein sprachliches Problem, das im Kontakt mit der hörenden Gesellschaft auftritt (Galic 2005. 156)… Durch den Einsatz respektive den Erwerb der Gebärdensprache aufseiten seiner Lehrerin kann die Behinderung in der Interaktion zwischen Anton und ihr als bildungsrelevanter Bezugsperson überwunden werden… Die Frage der Behinderung kann also verstanden werden als eine Frage der Passung zwischen Interaktionspartnern….  …  (a. a. O. S.112) …
Die Organisation Schule operiert nicht mit dem Begriff der Behinderung, sondern mit dem des „sonderpädagogischen Unterstützungsangebotes… (a. a. O. S.113) …
Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma
… Im Kontext der Schule hat die Ausstellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs eine Erhöhung der Ressourcen zur Folge, in sächlicher wie in personeller Hinsicht. Die Vergabe von Ressourcen ist finanziell und rechtlich an die Zuweisung des sonderpädagogischen Förderbedarfs gebunden. Dies wird als „Etikettierungs-Ressourcen-Dilemma“ bezeichnet. Da zusätzliche Ressourcen nur dann gewährt werden, wenn ein Schüler… das Etikett des sonderpädagogischen Förderbedarfs trägt (Bleidick et al. 1995, 256). Der sonderpädagogische Förderbedarf markiert somit in erster Linie eine institutionell-administrative Kategorie der Ressourcenzuweisung, unabhängig davon, ob diese in integrativen oder sonderschulischen Settings realisiert wird. … (a. a. O. S.114)
… Die oben eingeführte Unterscheidung zwischen sonderpädagogischem Förderbedarf, dessen Ursache in der Kombination aus Schädigung und Behinderung liegt, und demjenigen, der wesentlich aus sozialen Kontexten und fehlenden Passungsverhältnissen zwischen Schule und Kind/Jugendlicher resultiert, wird unterschiedlich häufig attestiert. Während die erstgenannte Form etwa 30% des Anteils der Schülergruppe mit sonderpädagogischem Bedarf ausmacht, ist die zweite Gruppe mit 70% deutlich größer. Statistisch betrachtet, hängen Behinderung und sozio-ökonomische Milieuzugehörigkeit zusammen. Je niedriger die Milieu- oder Schichtzugehörigkeit ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Behinderung. Die gilt für alle Behinderungsformen gleichermaßen (Cloerkes 2007, 90)… (a. a. O. S.117)

4.4.2  Benachteiligung und Schlechterstellung in Schule und Unterricht…
Beteiligung und Zugang zu Schulischen Bildungsgängen… (a. a. O.S.117)
Aus Abbildung 12 [hier ausgelassen] wird ersichtlich, dass im Jahr 2010 in Deutschland 4% der Schüler… sonderpädagogischen Förderbedarf erhielten. Erfasst sind in der Datengrundlage nur jene Schüler… , die diese Förderung in einer Sonderschule bekamen… Abbildung 13 [hier ausgelassen] zeigt, dass über die Förderschwerpunkte hinweg die Anzahl von Schüler…n insgesamt, die separativ beschult wurden, die Anzahl der integrativen Schüler …n deutlich übersteigt. Sie liegt bei gut 80%. Während Schüler…n mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich „Geistige Entwicklung“ kaum integrativ beschult werden, liegt der Anteil der Schüler…n mit Förderbedarf im Förderschwerpunkt ES (emotionale und soziale Entwicklung) mit etwas über 40% am höchsten. Die Zahlen beschreiben das Jahr 2010… (a. a. O. S.118) …
Die KMK-Empfehlungen von 1994 ermöglichen die reguläre Einführung schulischer Integration, die als eine Beschulungsvariante neben anderen gehandhabt wird, und greifen damit die bereits praktizierte und in den meisten Bundesländern verankerte Integration auf. (a. a. O. S.119)
… Die „Integrationspädagogik“ hat sich aus der Sonder- respektive der Behindertenpädagogik heraus entwickelt…

Die KMK-Empfehlungen von 2011 proklamieren die schulische Bearbeitung von Behinderung als eine Querschnittsaufgabe, die alle Bildungseinrichtungen betrifft…. prinzipiell an jedem schulischen Ort
Der sonderpädagogische Förderbedarf wird abgelöst von „sonderpädagogischen Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangeboten“, die Schüler…n erhalten… (a. a. O. S.120)
… Die Bildung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung wird von politischer Seite damit  als Aufgabe der allgemeinen Schule verstanden. Sonderpädagogische Fördermaßnahmen setzen innerhalb dieses Rahmens an und sollen sich am Subsidiaritätsprinzip orientieren, d.h. die allgemeine Pädagogik unterstützen, also keine eigene darstellten…
Unterrichtliche Kulturen der Benachteiligung
… Einen sonderpädagogischen Förderbedarf im Förderschwerpunkt Lernen erhalten Schüler…n, deren schulische Leistungen durchschnittlich zwei Jahre unter dem Niveau der Klassenstufe liegen, die sie ihrem Alter nach besuchen sollen. Im Verständnis einer kompensatorischen Erziehung ist es Aufgabe dieser Sonderschulform … sog. „Förderschulen“… z.B. „Lernhilfeschule“ oder „Schule für Lernbehinderte“…. , dass sich der relative Abstand von zwei Jahren gegenüber den altersgleichen Peers nicht erhöht – ohne die Erwartung zu haben, das der Rückstand durch die Sonderschulung gänzlich aufgehoben wird (Wocken 2000, 495): (a. a. O. S.121)
Vor diesem Hintergrund hat Wocken (200) in einer Untersuchung schulische Leistungen von Schüler…n, die die 7. Klasse einer Förderschule besuchen, mit denen von Schüler…n der 5. Klasse an Regelschulen verglichen. Die Schüler…n der Förderschulen schneiden in ihren rechtschriftlichen Leistungen deutlich schlechter ab als diejenigen, die eine Hauptschule besuchen. Während erstere in der „Hamburger Schreibprobe“ (HSP) einen Prozentrang von 2,2 erreichen (d.h. 97,8% aller Schüler…n sind besser als sie), erreicht die zweite Gruppe                                                                                                            einen Prozentrang von 13. Diese Ergebnisse zeigen, dass der Unterricht in der Sonderschule nicht zur Kompensation im gewünschten Sinn führt, sondern sogar zur Vergrößerung des Leistungsabstands zwischen den Schüler…n beiträgt (Wocken 2000, 496).
Wockens Befunde erhärten sich in einer zweiten Untersuchung, der eine Erweiterung auf andere Bundesländer zugrunde liegt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Anzahl der Jahre, die eine Förderschule besucht wurde, mit schlechten Schulleistungen und niedriger Intelligenz korrelieren. Die Begründung hierfür sieht der Autor der Studien über die Tatsache hinausgehend, dass die schwächsten Schüler...n bereits früh in eine Sonderschule überwiesen werden, da sie besonders früher erkannt werden; er sieht die Begründung auch im Milieu der Förderschule selbst. Schulleistungen sind immer auch ein Produkt der Schule. Die in vieler Hinsicht fehlende Heterogenität in der Förderschule, v. a. in sozialer und leistungsbezogener Hinsicht, erklärt dies (Wocken 2005, 58 ff.).
Dass Schüler…n mit sonderpädagogischem Förderbedarf in heterogenen Lerngruppen erfolgreicher Lernen, belegen zahlreiche Untersuchungen der Integrationspädagogik (Bless/Kronig 1999; Wocken 2005). Zugleich lernen die nicht behinderten Kinder in Integrationsklassen nicht weniger als in Regelklassen ohne Schüler…n mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Freyerer 1998)….
Eckart u. a. (2011) zeigen in einer Langzeitstudie, die in der Schweiz durchgeführt wurde, dass Schüler…n mit sonderpädagogischem Förderbedarf  im Bereich Lernen, die integrativ beschult wurden, im Gegensatz zu separativ beschulen einen besseren Zugang zu Ausbildungsplätzen haben und über größere soziale Netzwerke verfügen. (a. a. O. S.122,123) Diese sozialen Netze entstehen wesentlich über die berufliche Tätigkeit und umfassen soziales Kapital in Form von Bekanntschaften mi Menschen, die ebenfalls einer Arbeit nachgehen. Die Benachteiligungen, die mit dem Besuch einer Sonderschule verbunden sind, wirken deutlich über die Schulzeit hinaus (Eckart et al. 2011, 111).
Benachteiligungen entlang von Behinderung bzw. von sonderpädagogischem Förderbedarf sind im aktuellen Schulsystem mehr als die anderen Differenzdimensionen durch eindimensionale Zuschreibungen hervorgebracht, die durch die Schule und formal vorgenommen werden. Wenn die Zuschreibung „sonderpädagogischer Unterstützungsbedarf“ über die ressourcenvergebende Instanz hinaus in unterrichtlichen Interaktionen herangezogen wird, wird auch ihr diskriminierendes Potenzial in diesen hereingenommen. Neben der organisatorischen Schlechterstellung der Schüler…n, die für diese Gruppe besonders gilt, sind auch Schlechterstellungen dieser sozialen Gruppe auf unterrichtlicher Ebene zu verzeichnen.
Zusammenfassung
 … Gemeinsam ist den Benachteiligungen der vier Dimensionen ( vgl. S.12: entlang der sozialen Gruppen sozio-ökonomischer, migrationsbedingter, geschlechterbedingter und behinderungsbedingter Heterogenität] , dass sie wesentlich durch milieubedingte Interpretationen formaler Regeln und durch das Organisationsmilieu hervorgebracht werden; Umgangsformen, mit denen die Schüler…n der genannten sozialen Gruppen nicht in vergleichbarer Weise vertraut sind, so dass eine Passung zwischen ihnen und den Anforderungen zuweilen misslingt. Diese Nichtpassung läuft Gefahr, individualisiert zu werden, als persönlicher Bildungsmisserfolg einzelnen zugeschrieben und interpretiert zu werden, anstatt als schulisch-unterrichtliche Bildungsungleichheiten hinterfragt zu werden. (a. a. O. S.123)
4.5  Übungsaufgaben
… Aufgabe 2
Geschlecht wird im Alltag häufig als „dichotome Differenz“ beschrieben. Nennen sie sozialwissenschaftliche Argumente, die diese Position infrage stellen.

Aufgabe 3
 Beschreiben Sie den Paradigmenwechsel von der „Ausländerpädagogik“ zur „Interkulturellen Pädagogik anhand zentraler, sich unterscheidender Bezüge,
Aufgabe 4
Erläutern Sie die wesentlichen Unterschiede zwischen einem medizinischen und einem sozialwissenschaftlichen Modell von Behinderung, indem Sie diese einander gegenüberstellen…. (a. a. O. S.124)

3.      Inklusion als Perspektive schulischer und unterrichtlicher Bearbeitung von Heterogenität … (a. a. O. D.126)

5.1.       Inklusion als pädagogisches Rahmenkonzept … (a. a. O. S.127)

.. Inklusion im Kontext von Schule und Unterricht im Sinne der UN-BRK ist normativ ausgerichtet und, wie die Konvention insgesamt, an den (allgemein) menschenrechtlichen Prämissen entlang der spezifischen Perspektive von Menschen mit Behinderung konkretisiert, sich also nicht an der Bevorzugung einer bestimmten Personengruppe orientiert (Bielefeldt 2010, 66)  Die Ratifizierung… eröffnet… die Möglichkeit zur Gestaltung einer Schule für alle…  (a. a. O. S.128)
Für die Organisation Schule bedeutet die, konkret zu erkennen, wo und wie in ihr und durch sie Exklusion und Marginalisierung realisiert werden und wie diese zu überwinden wären….   An dieser expliziten Verschiebung der Ausrichtung von Adressatenorientierung bin zu einer situationsbezogenen Perspektive auf Inklusions- und auch Exklusionsprozesse vonseiten der Inklusionspädagogen und darauf bezogener Forschung knüpft auch die Forderung nach der Loslösung von der Kategorie der „special educational needs“ (Moore/Slee 2012, 237ff.), dem sonderpädagogischen Unterstützungsbedarf an. (a. a. O. S.129,130)
Behinderung wird als „Behinderung von Teilhabe- und Partizipationsmöglichkeiten“ verstanden, eine Perspektive, die in einer materialistischen Behindertenpädagogi9k eine theoretische Fundierung hat (Feuser 2006; Wocken 2009).Bezogen auf den Unterricht und die Schule ist zu fragen, wo und wie Schüler…n die Teilhabe am unterrichtlichen Geschehen, an den unterrichtlichen Lehrintensionen er Lehrkräfte und der Partizipation an Lern- und Bildungsprozessen behindert werden, z.B. weil nicht an ihre biografischen und milieugeprägten Vorerfahrungen angeknüpft wird…
Inklusive Strukturen und Praktiken entwickeln: Ansatzpunkte für derartige Perspektiven umfassen die Ebene expliziter und formaler Regeln der Schule: D.h. wesentlich ihre Strukturen – die daran gebundene Mitgliedschaft zu Bildungsgängen – und die schul- und unterrichtsspezifischen Regeln, die informellen Regeln (mit denen im schulischen/unterrichtlichen Organisationsmilieu Differenzen bearbeitet werden), die milieugeprägten Interpretationen der formalen Regeln und das (tolerierte) Unterleben der pädagogischen Organisation… Dabei ist ihre Einbindung in das gesellschaftliche Feld konkurrierender Interessen zu reflektieren. (a. a. O. S.130)
[Unterleben als eingeschobenen Begriffserläuterung]
Die formalen Regeln können unterlaufen werden, indem sie nicht beachtet werden, ihnen also zuwider gehandelt wird. Dies ist beispielweise der Fall, wenn die Schüler…n im Unterricht miteinander Gespräche führe, während die Lehrperson  der gesamten Lerngruppe etwas erklärt…. (a. a. O. S.34)

.. Auf formaler Ebene zählt hierzu die Überwindung dichotomer und binärer Beschreibungen von Kindern und Jugendlichen, die in Praxen eindimensionaler Milieuzuschreibungen zu finden sind (wie beispielsweise vorhandener /nicht vorhandener „sonderpädagogischer Förderbedarf“ (Kron 2005,83); ebenso die schulischen Strukturen, welche die Schüler…n zu einer stetigen Legitimation ihrer Mitgliedschaft herausfordern, die… in den Dimensionen Leistung und Verhalten kontrolliert wird…
Eine Schule für alle schließt Exklusion aus Bildungsgängen aus und damit konjunktive Erfahrungen des Verlustes von Mitgliedschaft und/oder Zugehörigkeit zu einem Bildungsgang und einer Lerngruppe aufseiten der Schüler…n sowie deren stetige Überprüfung durch die Lehrer…n . Die Einschränkung der Begegnungsmöglichkeiten von Menschen, die sich in milieuspezifischer Hinsicht voneinander unterscheiden, würde ebenfalls überwunden werden können und Ansatzpunkte zur Verständigung eröffnen… (a. a. O. S.131) … Die Ausrichtung der Lehrbemühungen auf einen Teil der Lerngruppe („die schwächeren“, die „stärkeren Schüler…n) stellt einen Bearbeitungstyp dar. Die Ergebnisse, die auf der Grundlage v on Gruppendiskussionen gewonnen wurden, belegen, dass dies häufig mit dem Ziel der Homogenisierung der Lerngruppe erfolgt. Mit anderen Worten: Ein Teil der Klasse erhält durch das unterrichtliche Angebot vonseiten der Lehrpersonen auf die abgestimmte Lehrangebote, ein anderer Teil erhält keine; dieser Teil der Klasse wird im Lernen behindert (Sturm 2013; 2012b).
Inklusive Praktiken entwickeln
Innerhalb der Schule gilt es dann, die formalen Regeln, die durch die Organisation vorgegeben sind (innerhalb der Einzelschule wie auch des Unterrichts, derart zu konkretisieren, dass sie nicht mehr diskriminierend wirken. Dies umfasst das potenziell tolerierte Unterlebender Schule, mögliche milieugeprägte Interpretationen der Regeln (wie z.B. die unreflektierte Verwendung des Deutschen in seiner Variante der Bildungssprache) sowie das Organisationsmilieu selbst einschließlich seiner unterrichtsfachspezifischen Dimensionen…. (a. a. O. S.132) …
Akzeptanz und Reflexion
Auf konjunktiver Ebene wird Inklusion als geteilte Erfahrung des reflektierten und egalitären Miteianders von Differenz und Gemeinsamkeit dann erkennbar, wenn kollektiv geteilte Praktiken realisiert werden, die die Inklusion aller Beteiligten vorsehen, indem sie ihre Differenzen reflektieren und egalitär nebeneinanderstellen sowie ihnen zugeschriebene Hierarchien reflektieren. Dies umfasst die Akzeptanz der Widersprüchlichkeit von Egalität und Hierarchie sowie ihre reflektierte Bearbeitung…. Es erzeugt Momente der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, die lernend und bildend überwunden werden können; sie sind dabei unterhalb der prinzipiellen Inklusion als Differenzen reflektierenden Miteinander angesiedelt und beziehen sich auf Einzelsituationen. (a. a. O. S.133,134) So diese in einer Balance gehalten, situativ auf Kooperationskontexte bezogen sind und nicht permanent die gleichen Schüler…n inkludiert und exkludiert werden, muss dies nicht mit systematischen Benachteiligungen einhergehen. Vielmehr stellt der kontinuierliche Wechsel einen Möglichkeitsrahmens für milieureflektierte Lern- und Bildungsprozesse dar (Wagner-Willi/Sturm 2012). Exkludierende Modi dieser Art können im Unterricht besehen, wenn eine (spontane) Schülergruppe, die sich innerhalb des unterrichtlichen Geschehens auf eine bestimmte Art mit einer Aufgabenstellung befasst, keine weiteren Schüler…n zulässt. Die Gruppe exkludiert in diesem gedachten Fall einen Schüler, sodass dessen Teilhabe an dem konkreten Geschehen nicht möglich ist. Exkludierende Praktiken wie solche sind nicht per se marginalisierend. Sie werden es erst dann, wenn die Differenzen zwischen einzelnen Schüler…n und/oder Schülergruppen nicht thematisiert und kommunikativ bearbeitet werden….
Die Schule bietet als gesellschaftliche und pädagogische Organisation einen Ort, an dem in und durch Bildung Benachteiligungen abgebaut werden können; das kann durch pädagogische Handlungen unterstützt und eröffnet werden… (a. a. O. S.134)
Diskrepanzerfahrungen sowie lernende und bildende Auseinandersetzung …
Diskrepanzerfahrungen bestehen dort, wo es Passungsschwierigkeiten zwischen dem bisherigen Wissen und Können und/(oder Praktiken der  Bewältigung des Alltags gibt. Sie sind Teil von Lernprozessen, ohne dass letztgenannte eine zwingende Folge sind… (a. a. O. S.136) …
Lernen stellt die Antwort auf die erfahrene Diskrepanz dar, dass die eigenen Wissensbestände nicht ausreichen, um ein auftauchendes Problem zu bearbeiten, ohne dass sich durch den Lernprozess die grundlegende Erfahrung und die Sicht auf Gegenstände verändern…
Bildung wird als qualitative Weiterentwicklung und/oder Änderung der damit zusammenhängenden Praktiken des konjunktiven Erfahrungswissens und seiner reflexiven Durchdringung verstanden. Bildungsprozesse qualitativer Entwicklungen beschreiben sogenannte „Transformationen“, die sich in der praktischen Lebensführung niederschlagen (Rosenberg 2011, 51). … Eine Neuausrichtung ist auf die Anerkennung durch andere angewiesen…
Diskrepanzerfahrungen können dann (und dort) gemacht werden, wenn erfahrbar wird, dass gleiche Ziele durch unterschiedliche Praktiken erreicht werden können. (a. a. O. S.137,138)

3.3  Diagnostik: systematische Annäherung an Lernprozesse …
Definition:
Pädagogische Diagnostik ist ein Erkenntnisprozess, mit dessen Hilfe Differenzen mit dem Ziel der Unterstützung von Lern- und Bildungsprozessen erkannt und erklärt werden (Schuck 20078, 147). … (a. a. O. S.141) …
Die jeweilige Qualität der Auseinandersetzungen des Lernenden mit einem Lerngegenstand, „die Zone der aktuellen Entwicklung“, wird ebenso wie „die Zone der nächsten Entwicklung“ (Vygotzkij 2002, 326) in diagnostischen Prozessen ermittelt…. (a. a. O. S.145)
Die drei Teilschritte Mikroanalyse, gegenstandsbezogene Handlungsanalyse und Biografieanalyse werden in der Interpretation und bei der Beschreibung von Lern- und Bildungszielen miteinander verbunden… (a. a. O. S.146)
… Mikroanalyse erfasst individuell verwendete Regelhaftigkeiten und Zugriffsweisen auf einen Gegenstand (z.B. Mathematik, Sprache u. a.) … (a. a. O. S.143)

5.4  Unterricht: Anforderungen an die Initiierung von Bildungs- und Lernprozessen …
5.4.1  Didaktik – eine Definition
Der erziehungswissenschaftliche Diskursstrang, der sich mit Unterricht befasst, ist die Didaktik. Die Bezeichnung kommt ursprünglich aus dem Griechischen und bedeutet so viel wie lehren, unterweisen, klar auseinandersetzen und belehrt werden (Lehner 2009, 10) Das im 17. Jahrhundert entwickelte Verständnis von Didaktik als planvolles Lehren und Lernen hat sich bis heue in der schulpädagogischen Diskussion gehalten und lässt sich mit der folgenden Definition Wiaters (2010) zuspitzen: (a. a. O. S.147)
Definition
Didaktik ist als eine Wissenschaft zu verstehen, die „sich mit Situationen, Prozessen und Phänomenen des Unterrichtens und Lernens in der Schule befasst, um sie „auf den Begriff“ zu bringen, zu beschreiben, zu strukturieren, und ihre zentralen Faktoren zu bestimmen, um sie erklärbar und möglichst prognostizierbar zu machen, um aus ihnen Handlungs- und Orientierungswissen für die Unterrichtspraxis zu gewinnen, um an ihnen zu erkennen, wie sich theoretisch/wissenschaftlich gesichertes Wissen über Lehr-Lern-Prozesse unter konkreten Unterrichtsbedingungen nutzbringend aktivieren lässt“ (Wiater 2010, 9). … (a. a. O. S.148)
5.4.2  Unterricht als Milieu  … von Lehrkräften….
Der fachliche Gegenstand… Pädagogisches Wissen und Können beschreibt eine weitere Dimension, die für das Unterrichtsmilieu von Lehrpersonen prägend ist. (a. a. O. S.149,150)
Definition
Das Unterrichtsmilieu stellt eine spezifische Kultur der Interaktion dar, in der vonseiten der Lehrpersonen Bildungs- und Lernprozesse entlang ausgewählter Fachgegenstände aufseiten der Schüler….n initiiert und unterstützt werden. Unterrichtsmilieus werden in interaktiven Praktiken hervorgebracht, in welchen die unterschiedlichen sozialen Milieus der Beteiligten und ihre rollen- und organisationsbezogene Mitgliedschaft der Schule einfließen.
… (Wagner-Willi/Sturm 2012) … (a. a. O. S.150)
.. Durch die… fachwissenschaftliche Komponente erhöht sich das Risiko systematischer Benachteiligung sozialer Gruppen. Und zwar insbesondere für jene, die sich in der Auseinandersetzung mit den Gegenständen nicht auf milieuspezifisches Verstehen verlassen können und auf einen interpretativen Zugang angewiesen sind…
Das Selbstverständnis des Faches und seine Bedeutung im schulischen Fächerkanon, also v. a. auch in Relation zu anderen Fächern, ist Teil des Fachmilieus… Für die Ebene formaler Regeln in der Schule verweist dies darauf, dass sowohl in der vorgegebenen schulischen Fächerkombination innerhalb eines Bildungsgangs als auch in den spezifischen Unterrichts- und Lerngegenständen, die als Bildungs- und Rahmenpläne in der Schule präsent sind, soziale Geschichte eingebunden ist und zwar in Form (fach-) milieuspezifischer Bedeutungen. Dies kann über die Verhaltensebenen hinaus zur Schlechterstellung sozialer Gruppen führen. Die milieugeprägte Interpretation von Regeln erfolgt dort, wo Milieus dominieren und ihren Umgang mit einer Regel , einer Interpretation, durchsetzen. (a. a. O. S.151,152)
Mathematische Sprache und mathematischer Habitus
So argumentiert Zevenbergen (2001) auf der Grundlage Bourdieus für den Mathematikunterricht, dass dieser zum Ziel habe, in die mathematische Sprache und einen mathematischen Habitus einzuführen. Die Schüler…n sollen mathematisch sprechen können und so Teil des mathematischen Milieus werden. Sprache wird dabei von ihr über die linguistische Ebene hinaus als Habitus verstanden (Zevenbergen 2001, 209)… (a. a. O. S.152)
… In der Didaktik wird zwischen Bildungsinhalt, dem potentiellen Wissen und Können, und dem Bildungsgehalt unterschieden. Der Bildungsgehalt ist individuell zu betrachten, aus der jeweiligen Perspektive des Lernenden… (a. a. O. S.153)
Gemeinsamkeiten und Differenzen erkennen
Die pädagogisch-unterrichtliche Herausforderung besteht darin, die milieugeprägten Erfahrungen und das gegenstandbezogene Wissen und Können der Schüler...n hinsichtlich ihrer Gemeinsamkeiten und ihrer Unterschiede zu erkennen. Diese so aufzugreifen, um Lern- und Bildungsprozesse zu initiieren, macht den Kern didaktischen Handelns in gruppenförmig organisierten Lehr- und-Lernsituationen aus…. Bei der pädagogischen Adressierung einer Gruppe, die mit einer Vermittlungsintention einhergeht, ist es notwendig, bestehende Gemeinsamkeiten und zugleich Differenzen heranzuziehen, um Diskrepanzerfahrungen als potentielle Lehranlässe zu schaffen. Fehlt einzelnen Schüler…n der Lerngruppe die Möglichkeit bzw. gelingt es ihnen nicht, an Vertrautes anzuknüpfen, so sind sie aus dem Interaktionszusammenhang ausgeschlossen… (a. a. O. S.154) …
Grundwiderspruch der Lehrtätigkeit
.. Die Überlegung, alle am unterrichtlichen Geschehen partizipieren zu lassen, ein inklusives Setting zu schaffen, liegt konträr zu der schulischen Regel, Situationen zu schaffen, an denen nicht alle vergleichbar partizipieren können, um eine Bewertung im Modus besser/schlechter (nachträglich) legitimieren zu können. Es wird also Marginalisierung durch Nicht-lernen-Können provoziert…. Die egalitäre Differenz zwischen unterschiedlichen Positionen oder Lernständen wird durch die formale Vorgabe von Zielen, die als erreicht/nicht erreicht bewertet werden, in hierarchische Relationen überführt… (a. a. O. S.156) …
Das Ziel der Konzeption eines inklusiven Unterrichts im Kontext der aufgezeigten Widersprüchlichkeit liegt darin, dass die Individuen die unterrichtlichen Inhalte als für sich bedeutsam und relevant erleben, um Diskrepanzen gegenüber ihren aktuellen Vorstellungen erfahren zu können, die in Lern- und Entwicklungsprozesse münden. Ein didaktischer Ansatz, der dies aufgreift, ist Feusers Theorie der „Kooperation am gemeinsamen Gegenstand“ (Feuser 1995, 1q78ff.).
… Der gemeinsame Gegenstand ist nicht das konkrete Material, das im Unterricht erarbeitet und bearbeitet wird, sondern die kulturelle Tätigkeit bzw. der kulturelle Gegenstand in seiner gesellschaftlichen Bedeutung; diese sogenannte „Sachstruktur“ eines Gegenstandes ist aufzuschlüsseln, um die ihr innewohnende Lerngelegenheit zu erkennen. (a. a. O. S.157,158)
Lernen und Bildung ermöglichen und behindern
Der Grundwiderspruch der Lehrtätigkeit korrespondiert auf der Ebene der Organisation Schule, formuliert in ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag: eine ermöglichende sowie eine behindernde Perspektive auf Lernen und Bildung. So können Schule und Unterricht ermöglichen, dass unterschiedliche Perspektiven kennengelernt und ausprobiert werden. Zugleich stellen diese Perspektiven aber eine Auswahl und damit eine Einschränkung dar, die als legitim und besser anerkannt werden. Die letztgenannte Seite der Schule irritiert die gleichberechtigte Anerkennung verschiedener Lebenspraxen und damit verbundenen gesellschaftlichen Perspektiven. Eine gleichberechtigte Betrachtung der Unterschiede kann insofern als eingeschränkt betrachtet werden, da bereits legitime Interpretationen und Vorgaben besehen, die Ausdruck milieugeprägter Interpretationen sind.
Vielfalt von Milieudimensionen kennenlernen
Die pädagogische Zielsetzung, den Schüler…n  das Kennenlernen unterschiedlicher Perspektiven zu ermöglichen, ohne eine assimilative (angleichende) Übernahme dieser Perspektiven zu erwarten, steht im Widerspruch zu einer schulisch legitimierten Perspektive egalitärer Differenz. Das betrifft das didaktische Handeln in besonderem Maße, das es sowohl präskriptiv als auch legitimierend eingesetzt wird und so Perspektiven transportiert, zugleich aber offen für Lernprozesse bleiben muss. Die Grenzen einer unterrichtlichen wie auch diagnostisch gestützten Planbarkeit werden hier unmittelbar berührt. (a. a. O. S.180,181)
Offener Unterricht
Um einen situativen Wechsel zwischen Differenzbezügen zu haben, bieten sich einige Unterrichtsformen eher an als andere. Hierzu zählt der „Offene Unterricht“. Offener Unterricht knüpft an reformpädagogische Traditionen an und umfasst Varianten wie Projektunterricht, Freiarbeit und Stationslernen (Werning/Lütje-Klose 2012, 157f.). … die jeweiligen Verhaltensformen, die eine Unterrichtsform und –gestaltung an die Schüler…n stellt, müssen von ihnen zunächst erworben werden. Dies gilt gleichermaßen für den sogenannten „Frontalunterricht“ wie für andere Formen auch….
Kooperatives Arbeiten … (a. a. O. S.162)
… „Gemeinsam“ verweist hier nicht unbedingt darauf, unmittelbar gemeinsam tätig zu werden, aber Entscheidungen und Praktiken des Teampartners…in mitzutragen und gegenüber den zu Erziehenden zu vertreten… Teamarbeit kann dabei ein positives Vorbild für Schüler…n dafür sein, wie Erwachsene mit Heterogenität und Differenzen umgehen, wie sie Konflikte bearbeiten und welche (grundlegenden) Vorstellungen des Zusammenlebens sie teilen… (a. a. O. S.163)
… Die kommunikative Bearbeitung schulischer und gesellschaftlicher Widersprüche kann ein Unterrichtsthema sein, und zugleich Gegenstand in spezifischen Inhalten… indem Differenz thematisiert wird. Die aufgezeigten pädagogischen Orientierungen dürfen aktuelle gesellschaftliche und schulpolitische Entwicklungen nicht ausblenden, welche die Realisierung von Inklusion erschweren und/oder behindern und parallel zur Stärkung des Abbaus von Diskriminierung durch die Politik der UN-BRK stattfinden (Slee 2006, 160). So hat schulische Inklusion als Orientierung derzeit keine vergleichbare legitime Basis wie sie beispielsweise Bildungsstandards haben, die sich an kognitivem und explizitem Wissen sowie Kompetenzen orientieren und zunehmend als bildungspolitische Steuerungsinstrumente Verwendung finden. Die Steuerungsformen sind wesentlich an marktwirtschaftlichen Prinzipien ausgerichtet (Gomolla 2010, 265ff.; Herz 2010a, 31; Moser 2011, 362f.; Werning 2012, 49). Zudem werden die regulierenden Möglichkeiten des Staates, Ausgleich und Integration zu unterstützen, durch globale und ökonomische Entwicklungen zunehmend eingeschränkt. Die Schule als pädagogische Organisation innerhalb der Gesellschaft, von der eben diese Aufgaben erwartet werden, ist hiervon ebenso betroffen, wie jene Bildungsorganisationen, die mi der Lehrerbildung betraut sind (Sturm 2012a, 297f.) …

Zusammenfassung
… Im gegenwärtigen Schulsystem und Unterrichtswesen bestehen diverse, miteinander verbundene Strukturen und Praktiken, die zu Behinderungen von Lernprozessen führen und soziale Gruppen benachteiligen. Sie stehen jenen gegenüber, die an egalitärer Differenz orientiert sind. (a. a. O. S.164,165) … Inklusion ist die geteilte Erfahrung in Verbindung mit dem Wissen über ein reflektiertes und egalitäres Miteinander von Differenz und Gemeinsamkeit. … (a. a. O. S.165)
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