Aus dem Amerikanischen übersetzt von Erwin Häckel nach der erweiterten
Neuauflage von 1966 The Free Press, A Division of the Macmillan Company. 1.
Auflage 1963
Originaltext
in Verdana / eigene Anmerkungen in Times Roman
Das Buch sollte im Original gelesen werden; ich konnte und wollte nur Auszüge
heranziehen, die ein Minimum an Verständnis über die bedeutend eingehender
dargelegten Zusammenhänge bewirken sollen.
Karl Wilhelm Deutsch hatte sich seit 1962 mit
diesem Gebiet befasst und geht in der Einleitung auf andere Ergebnisse auf dem
Gebiet der Kommunikations-und Steuerungsprozesse ein:
Die Integration und Desintegration großer politischer Gemeinschaften im
Zusammenhang mit Kommunikations- und Steuerungsprozessen wurde in zahlreichen
Untersuchungen weiter erforscht... (a. a. O. S.13)
In engem Zusammenhang mit dem Problem der Integration steht die
„Empfänglichkeit“ (responsiveness) einer Regierung, Organisation oder Gruppe
gegenüber Nachrichten und spürbaren Bedürfnissen einzelner Menschen oder
anderen politischer oder sozialer Einheiten. Es handelt sich hier imgrunde um
einen kybernetischen Begriff, der die Wahrscheinlichkeit positiver oder
adäquater Reaktionen innerhalb eines relevanten Zeitraumes anzeigt, wobei die
Definition dessen, was positiv, adäquat und relevant ist, von den empirischen
Merkmalen des jeweils untersuchten Systems abhängt. (a. a. O. S.14,15)
Im Bereich der Laboratoriumsversuche entdeckten Anatol Rapoport und seine
Mitarbeiter in umfangreichen Experimenten mit einem Spiel, das sie „Gefangenen-Dilemma“
nannten, daß die Häufigkeit kooperativen Verhaltens relativ wenig von der
persönlichen Veranlagung der einzelnen Spieler abhing, dafür umso mehr vom
„Sperreffekt“, der in den ersten Spielrunden entsprechend der von den Spielern
erfahrenen Empfänglichkeit oder Feindseligkeit wirksam wurde und deren
Verhalten für den Rest eines Spieles mit 300 Spielrunden zu beeinflussen
schien.
Die Empfänglichkeit für
Biotelie ist derzeit gering, da sich sowohl Regierung als auch „Opposition“ in
Eintracht mit den Medien auf den linken Kurs gegen fast alles Konservative
eingeschworen haben, was allerdings zum Verlust konstruktiver Politik und in
den Zusammenbruch führt. Erst im Zusammenbruch könnte Biotelie ins Spiel
kommen, wenn es mit Hilfe von Einsichtigen und Verantwortungsvollen gelingt,
das biotele Gutachtensystem als Ausweg wenigstens sichtbar bleiben zu lassen.
Der „Sperreffekt“ ist auch besonders stark gegen die biologische Sicht mit
Beachtung des Aspekts der Auslese, gegen den sich zu versündigen besonders
schwer wiegt, da ja die natürliche Entwicklung vom Naturgesetz der Auslese
bestimmt wird. Ausgelöst wurde dieser Sperreffekt durch den Genozid an den
Juden und das Euthanasieprogramm des deutschen Nationalsozialismus, der damit
selbst in grässlicher Weise gegen die AUSLESE und Menschlichkeit verstieß.
Einige dieser Arbeiten dokumentieren bereits jene Schwerpunktverlagerung, die
in den vergangenen vier Jahren beschleunigt vor sich gegangen ist: eine Tendenz
zur umfassenderen und zugleich sorgfältigeren Verwendung quantitativer Daten in
der politischen Forschung. Diese „Datenwelle“ rennt schon seit längerer Zeit
auf uns zu... (a. a. O. S.15)
Insgesamt wird hier
indirekt auch die negative Wirkung vorhergesagt, welche ein politisch
motivierter Datenschutz auch auf die anderen Wissenschaften hat. Anders
ausgedrückt: es wird die Notwendigkeit sichtbar, möglichst viele, auch als
„persönlich“ abgestempelte, Daten geschützt vor unberechtigtem Zugriff zu
bewahren.
Gemäß diesem theoretischen Beispiel wurden zahlreiche Daten gesammelt und
analysiert, aus denen hervorging, daß die Außenhandelsquote (Die Summen der
Ein- und Ausfuhren als Prozentsatz des Bruttosozialprodukts) mit zunehmender
Bevölkerungszahl rapid abfällt: ein Staat, der etwa ein Fünfzehntel der Menschheit
umfaßt, wickelt mit der übrigen Welt nur noch einen Außenhandel von weniger als
einem Zehntel seines Bruttosozialprodukts ab. Diese Entdeckung einer sich
beschleunigenden Tendenz zur Selbstabschließung bei zunehmender
Bevölkerungsgröße eines Landes kam unerwartet; sie war das unmittelbare
Ergebnis der erwähnen theoretischen Interessen. (a. a. O. S.18)
Ob dieses
Untersuchungsergebnis — etwa für China — heute noch bestätigt werden könnte??
Wäre eine derartige Autarkie aber nicht auch zum Teil wünschenswert, um etwa
nach schweren lokalen etwa kosmisch bedingten Katastrophen Überlebenschancen zu
heben?
Ist die Annahme einer rationalen Gesellschaft gerechtfertigt?
Im ersten dieser Streitpunkt geht es um die Frage, ob nicht in der Idee einer
selbststeuernden Gesellschaft ein „typisch amerikanisches“ Vorurteil zugunsten
einer optimistischen und rationalistischen — oder auch konservativen —
Betrachtungsweise stecke. Werden machtvolle Interessengruppen nicht gleichsam
dafür belohnt, daß sie sich weigern, etwas zu lernen, oder dafür, daß sie nur
auf pathologische Weise lernen, und werden solche Interessengruppen nicht mit
großer Wahrscheinlichkeit jedes rechtzeitige und lebenserhaltende Lernen, jede
Selbstkorrektur ihrer Gesellschaft blockieren? Läuft nicht die
Betrachtungsweise der Kybernetik auf eine Apologie der bestehenden
Gesellschaften hinaus, indem sie dieser als rationaler und lernfähiger
erscheinen lassen, als sie tatsächlich sind?... (a. a. O. S.22)
Werte sollten uns nicht blind für Tatsachen machen, und Tatsachen nicht dazu
dienen, unsere Werte zu verleugnen...
Im
Mittelpunkt der hier vertretenen Weltanschauung steht das Bestreben, jedem
endlichen Geist, jeder endlichen Gruppe einen Zugang zum Unendlichen, das heißt
die Möglichkeit zur Kommunikation mit einer potentiell unerschöpflichen Umwelt
und mit einer potentiell unbegrenzten Zukunft zu erhalten.
Daraus folgt, daß von diesem Standpunkt aus der Selbstmord und jedes andere
Verhaltensmuster der Selbstzerstörung, der Ausweglosigkeit, der extremen Selbstisolierung
oder Selbstlähmung als schlecht zu bezeichnen ist.
Lebensfördernde Verhaltensmuster sind jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit verhältnismäßig leicht mit anderen Werten in Einklang zu bringen, die vom Handelnden selbst oder anderen Personen oder Gruppen erstrebt werden. Die potentielle Legitimität solcher lebensbejahender Werte — Das heißt ihre Vereinbarkeit mit anderen Werten — wird in der Regel deshalb sehr hoch sein... (a. a. O. S.24)
Eine
geistige Zielsetzung für unser Zeitalter
Vom Standpunkt der Kybernetik aus gesehen muß es deshalb unser Ziel sein, die
menschliche Leistungsfähigkeit sowohl im Bereich der Intelligenz wie im Bereich
des Gefühls zu steigern. Dazu gehört auch die Fähigkeit, mit künstlich
konstruierten und künstlich erweiterten Geisteskräften und mit dem Universum in
uns und um uns umzugehen — also mit dem. Was Karl Jaspers >das
Umgreifende< genannt hat... (a. a. O. S.25)
Das Streben nach verstärkten Geisteskräften auf der Ebene des manipulativen
Denkens [Verstandes], der Weisheit [Abwägung des Wertes von Lösungsstrategien]
und des wahrnehmenden Denkens [Vernunft] wird sich höchstwahrscheinlich in
einem Ensemble von Dialogen verwirklichen: intern zwischen den einzelnen
Bereichen der individuellen Persönlichkeit; gesellschaftlich im Austausch
zwischen kleineren und größeren Gruppen sowie zwischen Staaten und Nationen;
und in der in Stille, in Gedanken, Forschungen und Befunden, zwischen dem
einzelnen Wissenschaftler und dem äußeren und inneren Universum der ihn
umgebenden Natur... (a. a. O. S.25,26)
[ ] mein Zusatz als
verkürzte Deutung K. W. Deutschs. Vernunft wird als „Aufnahmebereitschaft für
systemfremde Informationen...aus dem übrigen Universum,
>Intelligenzverstärkung< im Sinne W.Ross Ashby von K. W. Deutsch
verstanden, was ja dem Wortsinn des Vernehmens entspricht.
Vorwort
Dieses Buch ist ein Zwischenbericht über ein geistiges Unternehmen, das noch andauert. Am Ende dieses Unternehmens soll eine Theorie der Politik stehen, die sowohl den nationalen als auch den internationalen Bereich umspannt... (a. a. O. S.29)
Letzten
Endes sollte eine ausgereifte Theorie dieser Art uns erkennen lassen, welche
politischen Werte und Handlungsweisen lebensfähig, wachstumsfähig und
schöpferisch sind. Es gibt heute keine solche Theorie...
Aber es dürfte klar sein, daß vor uns immer noch die Aufgabe liegt, eine
umfassende, zusammenhängende, relevante und — so möchte ich hoffen — zunehmend
wirkungsvolle Theorie der Politik zu schaffen und auszubauen... (a. a. O. S.30)
Im wesentlichen geht es auf den Seiten dieses Buches um Ideen,Theoreme und
Modelle, die den Naturwissenschaften entnommen sind, insbesondere der Theorie
der Kommunikation und Steuerung, die man oft — mit einem Ausdruck von Norbert
Wiener — als >Kybernetik< zu bezeichnen pflegt... (a. a. O. S.30,31)
Dieses Buch vertritt die Auffassung, daß es nützlich sein könnte, den
Regierungsprozeß nicht so sehr als Problem der Macht, sondern eher als
Problem der Steuerung zu betrachten, und es versucht zu zeigen, daß
Steuerung im Grunde ein Problem der Kommunikation ist.... (a. a. O.
S.31)
Erster Teil
Auf der Suche nach Modellen der Gesellschaft und Politik (a. a. O. S.37)
...Erkenntnis und Modelle in der Sozialwissenschaft...
Verstehen bedeutet deshalb immer: auslassen und auswählen. In diesem Sinne ist
Erkenntnis niemals >objektiv<.
Verstehen bedeutet aber: Anpassung unserer Auswahlkriterien an die Bedürfnisse
der Praxis, der unsere Erkenntnis dienen soll... (a. a. O. S.41)
Karten und Zeitdiagramme leisten aber mehr als nur die Aufzeichnung bestehender
Erkenntnisse. Sie können Wege zu neuer Erkenntnis aufzeigen; sie können bei der
Voraussage von Regelmäßigkeiten helfen, die durch spätere Erfahrung oder
Messung bestätigt oder auch nicht bestätigt werden...
Allgemeine Voraussagen über Interessenfragen gehören zur heuristischen
Funktion von Modellen; sie sagen uns, wo wir irgendetwas erwarten
können. Besondere Voraussagen über Verteilungszustände sind Voraussagen im
eigentlichen Sinne — etwa über künftige Zuwachsraten der Bevölkerung, über
voraussichtliche Änderungen der Marktlage oder der Nachfrage nach Rohstoffen,
über Konjunkturschwankungen oder über Veränderungen der militärischen
Schlagkraft oder politischen Stabilität — sind den Sozialwissenschaftlern
durchaus geläufig... (a. a. O. S.43)
Die Naturwissenschaftler können auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit von
Sturmfluten für den Fall voraussagen, daß die Gehzeiten, die Mondphase, die
Stellung des Monds und ein starker Wind vom See her in ihrem maximalen
Wirkungspunkt zusammentreffen. Sozial- und Politikwissenschaftler könnten auf
ähnliche Weise die Wahrscheinlichkeit von sozialen Sturmfluten für den Fall
abschätzen, daß mehrere Vorgänge, die normalerweise unabhängig voneinander
soziale Spannungen erzeugen, auf dem Gipfelpunkt ihrer Wirksamkeit
zusammentreffen....
Aus unserer Erörterung über das Wesen der Erkenntnis ergeben sich eindeutige
Konsequenzen für die Funktion von Modellen.Modelle erfüllen (mehr oder weniger
mangelhaft) vier verschiedene Funktionen: eine organisatorische Funktion, eine heuristische
Funktion, eine Funktion der Voraussage und eine Funktion der Messung... (a. a.
O. S.44)
Die Zuverlässigkeit unserer Voraussagen hängt in jedem Falle von den vier
Elementen des Erkenntnisvorgangs ab, die wir weiter oben aufgezählt haben.
Eines dieser Elemente haben wir niemals ganz unter Kontrolle: die tatsächliche
Struktur des Vorgangs nämlich, den wir gegenwärtig verstehen und zukünftig
voraussagen wollen. Falls in dieser Struktur genügend große Unstetigkeiten
auftreten, bleiben womöglich alle unsere Schätzungen und Extrapolationen
verfehlt... (a. a. O. S.46)
Schließlich wächst auch die Wirksamkeit unserer Symbole und Symbolsysteme mit
unserer Fähigkeit, die uns verfügbare Datenmengen auszuwählen, und zu
abstrahieren, zu speichern und wieder verfügbar zu machen, zu analysieren und
neu zu ordnen, auf Voraussagen auszudehnen, zur Kommunikation bereitzuhalten,
durch operationale Tests zu verifizieren und in unserer Praxis anzuwenden.
Jeder Fortschritt in der Wirksamkeit von Symbolen und Symbolsystemen bedeutet
deshalb einen grundlegenden Fortschritt in der Technologie des Denkens und in
der Entwicklung menschlicher Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten.
Ein Symbol ist eine Anweisung, sich irgendeines bestimmten Gegenstandes
oder Vorganges oder einer bestimmten Menge von Gegenständen oder Vorgänge zu
erinnern. Jede Tätigkeit, jeder Vorgang mit der Wirkung eines solchen Befehls
hat daher die Wirkung eines Symbols. Wenn wir mehrere Symbole benutzen, um uns
mehrere Gegenstände in die Erinnerung zurückzurufen, müssen wir unsere Symbole
mit einer Art von Gebrauchsanleitung verbinden. Eine bestimmte Anzahl von
Symbolen und die dazugehörige Gebrauchsanweisung bilden zusammen ein Symbolsystem
oder Modell... (a. a. O. S.47)
Alles,
was sich gegenseitig beeinflussen und für uns von Bedeutung sein kann, muß
untereinander (und in geringem Ausmaß auch mit uns selbst) gewisse strukturelle
Ähnlichkeiten aufweisen. Nichts spricht von vornherein dagegen, daß alles, was
Struktur hat, seine Entsprechung in geeigneten Symbolen finden könnte.
Natürlich sind unsere gebräuchlichen Modelle von bestimmten Ereignissen zu
primitiv für eine zuverlässige Darstellung der zugrunde liegenden
Wahrscheinlichkeitsregeln oder für eine zuverlässige Voraussage von für uns
bedeutsamen wahrscheinlichen Ergebnissen...(a. a. O. S.52)
Die Fragen der vergleichenden Politikwissenschaft sind dabei immer mehr zu
Fragen hinsichtlich des speziellen oder allgemeinen Funktionierens politischer
Systeme in verschiedenen Ländern geworden... (a. a. O. S.53)
Die Auswahl von Modellen
Da es viele Modelle geben kann, die einer bestimmten empirischen Situation
hinreichend entsprechen, muß zwischen ihnen ausgewählt werden. Zwei
Auswahlkriterien bieten sich zunächst an: Relevanz und Ökonomie der
Darstellung... (a. a. O. S.54)
Die Politikwissenschaftler müssen nicht für jeden besonderen Zweck ein Modell
entwickeln und dieses wieder gegen ein neues austauschen, sobald sich der
Gegenstand ihrer Untersuchung nur geringfügig verschiebt. Vielmehr können sie
durchaus nach Modellen streben, die bei der Erforschung der Politik
verschiedener Länder und Kulturräume anwendbar sind.
Die Einheit der menschlichen Erkenntnis
… Dieses Buch geht grundsätzlich davon aus, daß der Erkenntnisprozeß eine
Einheit bildet — was nicht bedeutet, die menschliche Natur einfacher machen zu
wollen als sie ist, sondern vielmehr den Reichtum und das Wunderbare in aller
Erkenntnis zu offenbaren. (a. a. O. S.57) Wir haben gesehen, daß der Mensch in
Modellen denkt. Seine Sinnesorgane abstrahieren die Ereignisse, mit denen sie
in Berührung kommen, und sein Gedächtnis speichert Spuren dieser Ereignisse als
verschlüsselte Symbole. Er kann sie nach erlernten Mustern neu zusammenfügen.
Unsere Gedanken stellen dabei Symbole dar, die gemäß einer Gebrauchsanleitung
zu einander in Beziehung oder Folge gesetzt werden....
Der Benutzer solcher Modelle kann mit ihrer Hilfe seine Denkvorgänge
vereinheitlichen und, falls er seine Modell klar in Erinnerung behält, auch
wiederholen; sie verleihen seinem Denken die Eigenschaft der Nachvollziehbarkeit,
ohne die es keine Vernunft gibt. (a. a. O. S.58,59) Ein weiteres Merkmal der
Vernunft, die Triftigkeit, ergibt sich, wenn solche Modelle bei
verschiedenen Personen zu identischen Ergebnissen führen. Das ist auch der
Fall, wenn die Übereinstimmung mit tatsächlichen Ereignissen gar nicht sehr
groß ist... (a. a. O. S.59)
Die Frage der Triftigkeit stellt sich ja auch beim
unabhängigen biotelen Gutachtenverfahren, wozu genaue und für die Gutachter
verbindliche Begriffsfestlegungen Voraussetzung sind.
Tatsächlich ist Ungleichmäßigkeit die Voraussetzung jeder Erkenntnis, jeder
Beobachtung, jeder symbolischen Darstellung, jeder Vorstellung, jeder
Verständigung. Dennoch ist dieser Satz weder tautologisch noch trivial. Er
besagt, daß alles, was erfahren oder beobachtet werden oder überhaupt auf
irgend etwas in dem uns bekannten Universum eine Wechselwirkung ausüben kann,
relative Unstetigkeiten, das heißt aber: irgendeine Struktur aufweisen muß. Was
Wechselwirkung hat, das hat Struktur. Und was Struktur hat, ist der Erkenntnis
zugänglich....
Eine Welt, die ungleichmäßig genug ist, einen Plattwurm zu ernähren, ist
vielleicht auch ungleichmäßig genug, um von Menschen erkannt werden zu
können... (a. a. O. S.60)
Zweites
Kapitel
Einige klassische Denkmodelle (a. a. O. S.61)
.
..Die
abendländische Wissenschaft und deren Sprößling, die moderne Wissenschaft,
erwuchsen (wie man überzeugend nachgewiesen hat) aus der zur Zeit des
Hellenismus zustande gekommenen Vermählung der bildhaft anschaulichen
klassischen griechischen Wissenschaft mit der Rechenkunst der Babylonier, und
aus der immer wieder zustande gekommenen Vereinigung neuer Errungenschaften des
bildhaften mit denen des quantifizierenden Denkens, in dem seitdem die
Entwicklung der Mathematik und überhaupt aller Wissenschaften vor sich gegangen
ist...
Materielle Modelle als Hilfsmittel
Es war bisher nur von formalen Modellen, von Symbolgruppen und
Gebrauchsanleitungen, wie sie vor allem in den Köpfen der Menschen aufbewahrt
werden. Der Begriff des materiellen Modells ist von Arturo Rosenblueth
und Norbert Wiener erörtert worden. Sie definieren ihn als >die Darstellung
eines komplexen Systems durch ein System, von dem angenommen wird, daß es
einfacher ist und einige Eigenschaften besitzt, die den zu untersuchenden
Eigenschaften in dem ursprünglichen komplexen System ähnlich sind<... (a. a.
O. S.62)
Was dem klassischen Begriff des >Mechanismus< sein gewaltiges Gewicht in
der Ideengeschichte gab, waren nicht die tatsächlichen Eigenschaften von Uhrwerken,
nicht bloß die Implikationen der Newtonschen Mechanik, sondern auch die
allgemeinen Folgerungen, die sich daraus für Das klassische >Zeitalter der
Vernunft< (etwa von 1650 bis 1790) zu ergeben schienen... (a. a. O. S.63)
Die strenge Ordnung der ägyptischen Pyramide, die von einigen Steinen gekrönt
und von den vielen untersten Steinen getragen wird, dient seit langem <als
Modell für die Idee einer >sozialen Pyramide< oder allgemein einer
>Hierarchie< (von Priestern, Offizieren oder auch, wie in der
aristotelischen Philosophie, von Ideen, Werten und Zwecken)....
Eine derartige Rangfolge
ist im System der Biotelie schwerlich auszumachen. Die Spitze der Pyramide wäre
mit dem Hauptziel der dynamischen Stabilität gegeben. Aber die biotelen Aspekte
sind derart unterschiedliche Bausteine, dass sie sich schwer einfügen ließen.
Höchstens der Aspekt der AUSLESE zum Überlebenstüchtigeren hin als Gesetz der
Natur könnte einen Vorrang (oder nur Primat?) vor den anderen Aspekten
beanspruchen, weil im die gesamte Evolution zugrunde liegt oder weil diese ohne
Auslese seit Charles Darwin nicht mehr gedacht werden kann. Allerdings haben im
biotelen Gutachtenverfahren Fachleute in Spezialfragen als die mutmaßlich
Kenntnisreicheren vor weniger Sachkundigen den Vorrang; es gibt also insofern
eine Art Rangfolge.
Das zweite dieser Modelle ist die Waage. Aus der Verbindung der beiden
Waagschalen ergab sich der Begriff des stabilen Gleichgewichts und daraus die
Folgerung, daß die Gegenkräfte um so stärker sein müßten, je mehr die wahre
Gleichgewichtsstellung gestört sei. (a. a. O. S.64,65) Die Idee der diké, das
>Nicht-zu-viel<, der goldenen Mitte....
Dieses Modell liegt sicherlich dem Hauptziel der dynamischen Stabilität zugrunde aber auch deren Aspekt der GEGENSEITIGKEIT (Wechselseitigkeit).
Aus anderen einfachen technischen Verfahren ergaben sich alsbald Modelle, in denen Gedanken wie Prozeß, Fortschritt und Geschichte in einfachster, elementarster Form ausgedrückt wurden. Ein hervorragendes Modell dieser Art ist der Faden, der als Schicksalsfaden, Gedankenfaden oder Lebensfaden gesponnen wird. Ein Gewebe aus solchen Fäden offensichtlich eine Erweiterung dieses Modells dar, wobei jetzt aber der Gedanke der Wechselwirkung hinzukommt...
Das
klassische Modell des Mechanismus … trat... am Ende des Mittelalters in
Erscheinung. Ein Mechanismus kann zerlegt und wieder zusammengesetzt werden...
(a. a. O. S.65) ...Die Entwicklung des Uhrwerks seit dem dreizehnten
Jahrhundert lieferte das klassische Modell eines >Mechanismus< — ein
Model, Das auf die Beschreibung der Sternenbahnen angewandt wurde im
Newtonschen System; auf die Politik in den Schriften von Machiavelli und
Hobbes; auf die Theorien der balance of power und der checs and
balances bei Locke,
Montesquieu und den Vätern der amerikanischen Verfassung; und auf den
menschlichen Körper von Autoren des achtzehnten Jahrhunderts wie LaMettrie, dem
Verfasser des Buches L‘homme Machine …
Der klassische Mechanismus beruhte auf der Idee eines Ganzen , das mit der
Summe seiner Teile vollkommen identisch ist, das auch im umgekehrten Sinne
ablaufen kann und sich stets gleichartig verhält, unabhängig auch von der
Reihenfolge, in der Zerlegung und Zusammensetzung vor sich gehen. Es lag ihm
also der Gedanke zugrunde, daß die Teile weder durch ihresgleichen noch durch
ihr Geschichte spürbar verändert würden....“ (a. a. O. S.66)
Schon aus dem Grund heraus,
dass biotele Aspekte gegenseitig zur Gesamtzielfunkton der dynamischen
Stabilität abgestimmt werden müssen, scheint die Anwendbarkeit dieses Modells
des Mechanismus für die Biotelie zu entfallen; da die gegenseitige Abstimmung unter den
biotelen Führungsbestandteilen, ihren Aspekten, aber recht träge und
langfristig erfolgt, wird man doch zur — allerdings recht vorsichtigen —
Verwendung dieser Modellvorstellung verführt.
Vorstellungen von irreversiblem Wandel, von Wachstum, von Evolution, von
Neuerung und Finalität hatten darin keinen Raum. Der klassische Begriff des
Mechanismus war eine metaphysische Idee. Niemals ist etwas gefunden worden, was
seine Bedingungen genau erfüllt hätte...
Diesem Modell entsprach eine bezeichnende analytische Methode: die Suche nach
bestimmten, nämlich einfachen und unveränderlichen Elementen., die sich nach
einfachen und unveränderlichen Gesetzen verhalten. Wissenschaftler und
Philosophen entdeckten solche einfachen Elemente wie Atome, Teilchen und Wellen
in der Physik; wie Moleküle und Elemente in der Chemie; wie den homo
oeconomicus in der Wirtschaftswissenschaft; und den >Schmerz- oder
Lustgewinn< in der Ethik und Philosophie eines Jeremy Bentham, wovon noch
ein leiser Nachhall in den freilich viel differenzierteren Formeln über
Faktoren der >Begünstigung< und >Benachteiligung< (indulgences
and deprivations) bei Harold Lasswell und Abraham Kaplan zu spüren ist. (a.
a. O S.67)
… Einen solchen Mechanismus begegnen wir auch in den Sozialwissenschaften jener
Epoche. Fasziniert gibt sich dieses Zeitalter der Entdeckung von Ländern,
Naturgesetzen und Verhaltensregeln hin. Die Natur wird erobert, indem man ihr
gehorcht, meint man mit Francis Bacon, aber man erwartet nicht, daß sich die
Natur dabei auch verändert. So ändern sich für Machiavelli weder die Charaktere
der Fürsten noch die Gesetze, nach denen sich ihr kluges Verhalten richten muß;
sie erscheinen dem Verfasser vom Il Principe vielmehr ebenso unwandelbar
wie die politische Apathie der Volksmassen. Ein Jahrhundert und eine Revolution
später läßt Thomas Hobbes diese Prämisse der Apathie fallen. In der Welt des Leviathan
sind alle Menschen auf höchst intensive und beklagenswerte Weise tätig,
nämlich wie Wölfe untereinander. (a. a. O. S.68,69) Nun gilt diese rasende
Aktivität als unveränderlich: sobald der staatliche Zwang durchbrochen ist,
besteht als Naturzustand ein >Krieg aller gegen alle<.
[Solche Unveränderlichkeit der Sterne und der Menschen galt] vor der Einführung
des Evolutionsprinzips durch Kant... (und später durch Laplace)... Kant sah...
den Weg... Sein berühmter Entwurf einer Allgemeinen Geschichte (1784)
ging von den Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Menschen und
ihren Institutionen aus und endete mit einer Stufenfolge historischer Epochen,
die jeweils durch verschiedene Verhaltensmuster gekennzeichnet waren und in
konsequenten Schritten zu einer künftigen Weltregierung von Wissenschaftlern
hinführen mußten...
Mit der globalen
Einführung bioteler Kontrollkörperbüros wäre die Herrschaft der
Wissenschaftler, so weit sie wünschenswert und erträglich ist, Wirklichkeit
geworden. Denn die Tätigkeit unabhängiger Fachgutachter wäre erforderlich, um
biotele Gesetze als solche der direkten Demokratie (nach Abstimmung durch die
Betroffenen) auf den Weg zu bringen. Wissenschaftler herrschten damit nicht
nach ihrem Willen, Gutdünken oder gar Eigeninteresse, sondern durch Anwendung
ihres Wissens innerhalb eines Steuerungsvorganges, welche nur durch eine aktiv
gewordene Mehrheit der vom einzelnen biotelen Gesetzesvorschlag Betroffenen
abgebrochen werden könnte.
Damit wäre das Gemeinwohl vernunft- und verstandesmäßig in die Hände (oder
Köpfe) der Wissenschaftler und Intelligenteren —auch als die einzig
erfolgreichen Gesetzesantragsteller —gelegt, gefühlsmäßig aber stärker in den
Schoß der aufgeklärten Volksmassen, welche ja die Folgen ihres
Abstimmungsverhaltens (mit)zutragen hätten. Darin bestünde auch die biotele
Reform der Demokratie, in welcher lebenstragende Verfassung und deren
technische Durchführungsgarantie durch die kybernetische Verfahrensweise
voneinander untrennbar sind.
Das klassische Modell des Organismus
Das Versagen der Idee des Mechanismus trat am deutlichsten in den
Sozialwissenschaften und in der Biologie zutage...
[Ein Organismus] hat eine bedeutsame Vergangenheit und eine Geschichte (das
gibt es im klassischen Mechanismus nicht!), ist aber doch nur zum Teil
historisch. Man glaubte nämlich, daß ihm Geburt, Reifezustand und Tod in einem
eigentümlichen >organischen Gesetz< vorgezeichnet seien, welches nicht
nach klar erkennbaren mechanischen >Ursachen< analysiert werden könne. Er
hatte so etwas wie einen >Zweck<, nämlich seine Reife beziehungsweise
Fortpflanzungsfunktion, auf die alle früheren Entwicklungsstufen anscheinend
hinzielten, worauf dann im allgemeinen eine Periode der Fortdauer oder
Wiederholung und früher oder später der Zerfall folgten. (a. a. O. S. 70,71)
Es besteht offensichtlich eine Verwandtschaft zwischen dieser >Reife< und
dem aristotelischen telos. Doch konnten weder Aristoteles noch die
>Organiker< oder >Vitalisten< des neunzehnten Jahrhunderts eine
wirkliche Analyse des Vorgangs liefern, der den >reifen< und keinen
anderen Zustand herbeiführt, oder des Vorgangs, der nach der Reifezeit jede
weitere Veränderung in eine Wiederholung oder Degeneration auslaufen läßt; und
schon gar nicht konnten sie im einzelnen einen Vorgang denken, in dem ein
solcher Kreislauf mit seiner angeblich wesenseigenen Zweckbestimmung eine
grundsätzlichen Richtungsänderung erfahren könnte.... (a. a. O. S.71)
Auch
der Kreislauf ist ein uraltes Modell, wie es durch das Erleben der Tages- und
Jahreszeiten sich bereits den Menschen der Frühzeit anbot. Heute ist ja das
Recycling von Rohstoffen ein moderneres Beispiel.
Als Richtungsänderung fällt mir der Wechsel der Schmetterlingsraupe über
Verpuppung in den Falter ein.
„Schrittweiser Ablauf in erkennbarer Richtung“ als „historische Methode“
spielten bei den Sozialwissenschaften eine Rolle; ihr Beginn liege im
Christentum, wobei Vinzensius von Lerinum 434 n. Chr. Bereits >echten<
von >falschem< Fortschritt unterschied. Kant, Hegel und Marx sind zu
nennen, letzterer mit dem Modell des Klassenkampfes. (a. a. O. S.76)
Organizistische
Modelle haben sich für die Biologie, die psychologische Pädagogik und sogar für
die Wirtschaftswissenschaft als nützlich erwiesen, indem sie auf die Probleme der
Interdependenz und Wachstum aufmerksam machten. Dieser nützliche Beitrag hielt
sich jedoch in Grenzen... (a. a. O. S.72)
Mechanistische Theorien, die mit >Gewohnheiten< argumentierten, konnten
wiederum schwerlich erklären, warum das gemeinsame Leben unter einer Dynastie
oder Regierung wohl die Gewohnheit politischen Zusammenhalts zwischen
Engländern und Schotten schaffen konnte, aber nicht zwischen Engländern und
Iren, oder zwischen Tschechen und Deutschen in Böhmen oder zwischen Franzosen
und Arabern in Algerien.
In der politischen Ideengeschichte findet sich das klassische Modell des
Organismus in den Schriften von Edmund Burke, Adam Müller, Friedrich List,
Oswald Spengler und anderen....(a. a. O. S.73)
>Reife< ist kein Begriff, der einem helfen könnte...
Obwohl das Wort >Unreife< im Hinblick auf politische Situationen
plausibel ist, in denen es den Teilnehmern offensichtlich an Erfahrung und
Tradition fehlt, so läßt sich der gleiche Tatbestand doch auch als >Mangel
an sachdienlicher Tradition< oder als >fehlende Grundlage einer
einschlägigen Erfahrung< umschreiben, wodurch irreführende organizistische
Nebentöne vermieden wären. (a. a. O. S.74)
Der augenfällig nahe
Eintritt der Prophezeiung >Untergang des Abendlandes< (Oswald Spengler)
wird von den „68-ern“, die ihn herbeiführen helfen und unterstützen, als eine
>natürliche Entwicklung< hingenommen, ohne Prüfung, ob es nicht auch eine
Umkehr zu neuer Lebendigkeit geben könne.
Viertes
Kapitel
Die Spieltheorie
Einen neuen Weg zur Untersuchung politischer und sozialer Entscheidungen und
darüber hinaus zur Untersuchung von Strategien und Entscheidungen über ganzen
Entscheidungskategorien haben John von Neumann und Oskar Morgenstern mit ihrer
Arbeit über die Spieltheorie aufgezeigt. Die Methode … gründet sich empirisch
auf die Ähnlichkeit zwischen gewissen gesellschaftlichen Spielen und gewissen
wiederkehrenden sozialen Situationen... (a. a. O. S.96)
Die Methode der Spieltheorie besteht zunächst in einer Analyse von prototypisch
vereinfachten Spielen wie Schach und Poker; sodann in der möglichst genaueren
Berechnung der Gewinnchancen beim jeweiligen Spielstand; schließlich in einer
Klassifizierung der Bedingungen, die geben sein müssen, ehe vorteilhafte
Koalitionen eingegangen oder die Erfolgschancen strategischer
Alternativlösungen bewertet werden können. Entscheidungen in Spielen dieser Art
müssen im allgemeinen bei unvollständiger Information getroffen werden... (a.
a. O. S.97)
Wenn der von Machiavelli und seinen Schülern entwickelte Begriff des
Gleichgewichts der Macht eine Berechtigung in der Politikwissenschaft hat, dann
kann man auf die Spieltheorie nicht verzichten... (a. a. O. S.98)
Lineare Rangordnung und punktuelle Souveränität
Die Spieltheorie betont, daß eine lineare Rangordnung (transitivity) in
einem Spiel oder Entscheidungssystem nur dann besteht, wenn sie ausdrücklich
festgelegt worden ist. In einem Kartenspiel, in dem die Dame einen höheren Wert
als der Bube und der König einen höheren Wert als die Dame hat, muß zugleich
auch festgelegt werden, daß der König einen höheren Wert als der Bube haben
soll... kreisförmig Herrschaftsmuster konnten Biologen in der Pickordnung auf
dem Hühnerhof beobachten; eine Parallele läßt sich in der Beziehung zwischen
dem englischen Parlament und dem Premierminister erkennen, wo das Unterhaus den
Premierminister stürzen, aber dieser das Unterhaus auflösen kann... Tatsächlich
dürfte es sich lohnen, einmal zu untersuchen, ob ein autonomes, also ein sich
selbst steuerndes und regelndes Entscheidungssystem überhaupt eine rein lineare
Rangordnung haben kann. (a. a. O. S.99)
Die begrenzte Vielfalt stabiler Lösungen
...Es mag in vielen Spielen mehr als einen Weg geben, um zu gewinnen oder am
besten abzuschneiden, aber es gibt unendlich viel mehr Wege, um zu verlieren
oder schlecht abzuschneiden. Die Spieltheorie verwirft folglich jede
indifferent Haltung; denn grundsätzlich ist eine Strategie durchaus nicht
ebenso gut wie eine andere. Während sie aber der Indifferenz entgegenwirkt und
zugleich verdeutlicht, daß die Zahl siegreicher Strategien oder stabiler
Lösungen sehr klein sein wird, enthält die Spieltheorie doch auch ein Element
der Aufgeschlossenheit und Toleranz, indem sie beweist, daß die kleine Zahl der
>besten< Lösungsmöglichkeiten immerhin größer als eins sein kann. (a. a.
O. S.100,101)
Objektive und subjektive Strategien
… Die Identifizierung der objektiv besten Strategie ermöglicht es,
unpersönliche Wahrscheinlichkeitsfaktoren und persönliche Präferenzen
auseinanderzuhalten und die Fehler jedes Spielers in ihrem Ausmaß und in ihrer
Tendenz, das heißt als Abweichung von der theoretisch besten Strategie zu
bestimmen... (a. a. O. S.101)
Statistische Voraussetzungen der Spieltheorie
Im
allgemeinen beruht die heutige Spieltheorie auf der Annahme, daß in den
Funktionsmerkmalen der Elemente, aus denen sich das Spiel zusammensetzt, keine
Veränderung erfolgt, solange das Spiel andauert...
Genauso wenig wie bei den Funktionsmerkmalen der einzelnen Elemente rechnet die
Spieltheorie im allgemeinen mit einer Veränderung der Spielregeln. Diese
doppelte Einschränkung dürfte die Spieltheorie zur Beschreibung von
Lernprozessen weitgehend untauglich machen... (a. a. O. S.102)
Mit anderen Worten, die herkömmlichen Spiele wie auch die Spieltheorie haben
sich bisher eher für Probleme geeignet erwiesen, bei denen es um die Verteilung
verfügbarer Mittel geht, während das Problem der Erzeugung neuer Hilfsmittel
aus beschränkten Anfangsmitteln weitgehend vernachlässigt worden ist. Wachstum,
Neuerung und Innovation sind deshalb Probleme, mit denen die Spieltheorie
bisher nicht fertig geworden ist...
Eine interessante Weiterentwicklung der Spieltheorie in die Richtung einer
Untersuchungsmethode für dynamische Prozesse stellen die Spielserien dar. In
einer solchen Serie hängt der Charakter eines jeden Spiels jeweils vom Ausgang
des vorhergegangenen Spiels ab.
(a. a. O.S.103) Entsprechend könnte man auch jeweils die Spielregeln ändern,
weil jede nennenswerte Änderung der Spielregeln den folgenden Teil des Spiels
eigentlich zu einem neuen Spiel macht... (a. a. O. S.103,104)
Werte in der Spieltheorie und in der Politik
Die Anwendung der Spieltheorie auf umfassende politische oder militärische Probleme
muß deshalb in Frage gestellt werden, weil bei der Erwägung solcher Probleme
sich Wertfragen und Sachentscheidungen vermengen...
Fast jede Zivilisation, fast jedes politische System unterstellt
stillschweigend, daß die eigenen Wertvorstellungen mit dem eigenen Überleben
jetzt und in Zukunft vereinbar sind; aber die Geschichte lehrt, wie oft man
sich in dieser Frage schon geirrt hat... (a. a. O. S.105)
Gegenüber der Anwendung der Spieltheorie auf politische und militärische
Probleme muß deshalb ein sehr wichtiger Vorbehalt geltend gemacht werden: da
die Wahrscheinlichkeit und Tragweite des Irrtums so groß ist, sollte im
Zweifelsfall immer nur diejenige Lösung akzeptiert werden, die den größten
Zeitgewinn und die höchste Schonung von Menschenleben verspricht — im Einklang
mit der von Edmund Burke aufgestellten Regel, wonach der Politiker nirgends so
sparsam sein soll wie in der Erzeugung des Bösen... (a. a. O. S.106)
Die Minimax-Strategie geht von der Voraussetzung aus, daß solche neuen Gedanken
[für eine Theorie der Offensive] jederzeit gefunden werden können. Dies ist nur
eine andere Form jener Voraussetzung, daß jede für jedes Spiel relevante
Information allen Spielern unbeschränkt und unverzüglich zur Verfügung steht...
K. W. Deutsch nimmt dann
auf alte russische Schachbücher Bezug, die dem Spieler raten, „nicht eine Strategie der >stärksten Position< zu
verfolgen“ und den Gegner mit einem plötzlichen
Strategiewechsel zu verwirren. (a. a. O. S.107) So hätten die Sowjets mit der
Berliner Blockade 1948 die Aufmerksamkeit der Amerikaner vom Sieg der
Kommunisten in China abgelenkt und 1950 durch den Koreakrieg verhindert, daß „die Konsolidierung westlicher Positionen andernorts
entsprechend ins Stocken geriet“. (a. a. O. S.108)
Es gehe darum, die materiellen und geistigen Kapazitäten des Gegners zu
überfordern. (a. a. O. S.110)
Abschreckungsbeispiele und das Versagen der klassischen Spieltheorie
Die klassische Spieltheorie eignet sich bestens zur Analyse von
>Nullsummenspielen<, in denen der Gewinn für einen oder mehrere Spieler
dem Verlust für einen oder mehrere Rivalen gleich ist.... (a. a. O. S.113)
Ein präzis durchdachter Ansatz müßte ein solches Zwei-Personen-Spiel als ein
Spiel mit >gemischten Interessen<begreifen, weil beide Länder nicht nur
gegensätzliche, sondern auch wichtige gemeinsame Interessen haben...
Drohungen sind nur sinnvoll, meint... Thomas C... Schelling, wenn sie zwischen
Personen oder Ländern ausgetauscht werden, die zugleich wichtige gemeinsame
Interessen haben. Ein gutbrauchbares mathematisches Modell solcher Situationen
sind die >Spiele mit gemischten Interessen<, nicht aber die
>Nullsummenspiele<, die mit reiner Feindseligkeit und vollkommen
gegensätzlichen Interessen rechnen..
Das logische Gegenstück der Nullsummenspiele sind die reinen
Koordinationsspiele, in denen die Spieler vollkommen gleichlautende Interessen
haben, jedoch die Aufgabe bewältigen müssen, ihre Züge bei unvollständiger
Information , unter Zeitdruck oder ähnlichen erschwerten Bedingungen zu
koordinieren. (a. a. O. S.114,115) Wenn also die Vereinigten Staaten und die
Sowjetunion ein vollkommen identisches Interesse daran hätten, die Ausrüstung
dritter Länder mit Kernwaffen zu verhindern...
Die Wirksamkeit von Drohungen ist nach Schelling proportional zu ihrer Intensität
und Glaubwürdigkeit...
Aber es sollten auch mit
„Borniertheit, Leichtsinn, mangelnde][r Kontaktfähigkeit“ (a. a. O. S.115),
“Trotz“ (a. a. O. S.118) und andere Beweggründe in Rechnung gestellt werden.
Zweiter Teil
Kybernetik — ein neues Modellsystem der Kommunikation und Steuerung (a.
a. O. S.123)
...Ein grundlegender Wandel hat sich seit 1942 allmählich vollzogen. Sein
Ausgangspunkt lag in der neuen Entwicklung der Nachrichtentechnik, die es in
zunehmenden Maße mit sich selbst überwachenden, selbst regulierenden und selbst
steuernden Vorgängen zu tun hatte. Indem man Apparate herstellte, welche die
Funktionen der Kommunikation, Organisation und Steuerung übernehmen konnten,
näherte man sich zugleich dem Verständnis dieser Funktionen selbst... (a. a. O.
S.125)
Kybernetik ist die systematische wissenschaftliche Beschäftigung mit Kommunikations- und Steuerungsvorgängen in Organisationen aller Art. Im Sinne J. B. Conants handelt es sich um ein Bezugssystem >im großen Maßstab<. Die Kybernetik bezeichnet im wesentlichen eine Schwerpunktverlagerung unseres Interesses, das nicht mehr so sehr den Antrieben als der Steuerung gilt, nicht so sehr den Instinkten als den Entscheidungs-, Regulierungs- und Kontrollsystemen einschließlich der nichtzyklischen Aspekte solcher Systeme. (a. a. O. S. 126,127) Die Reichweite einer solchen Interessenverschiebung läßt sich vergleichen mit der Einführung der quantitativen Chemie durch Lavoisier oder mit Darwins Begriff der Evolution.... Der grundsätzliche Ansatzpunkt der Kybernetik und seine Bedeutung für die Sozialwissenschaft ist von Norbert Wiener klar dargelegt worden...
Mit
anderen Worten, die Kybernetik geht von der Annahme aus, daß alle Organisationen
sich in gewissen grundsätzlichen Merkmalen gleichen und durch Kommunikation
zusammengehalten werden.... (a. a. O. S.127)
Durch Kommunikation, das heißt durch die Fähigkeit, Nachrichten zu übermitteln
und auf sie zu reagieren, entstehen Organisationen; diese Feststellung trifft
anscheinend gleichermaßen auf die Organisation der lebenden Zellen im
menschlichen Körper wie auf die Organisation der Einzelteile in einer
elektronischen Rechenmaschine wie auch auf die Organisation denkender menschlicher
Wesen in einer sozialen Gruppe zu. (vgl. Wiener, Cybernetics....) (a. a. O.
S.128)
Die biotelen Aspekte des AUSTAUSCHS besonders aber des VERGLEICHENS werden damit angesprochen, zumal letzter, das es sich ja um Nachrichten handelt, die verglichen werden sollen.
Im Verlaufe derselben Jahrzehnte fand auch der Begriff der Homöostase
Verbreitung, zunächst durch die Arbeiten von Claude Bernard, später durch die
Physiologen Walter B. Cannon und Arturo Rosenblueth... (a. a. O. S.129)
Die von der Kybernetik gelieferten Analogien zwischen Kommunikationskanälen und Steuerungsprozessen in Maschinen, Nervensystemen und menschlichen Gesellschaften müssen zu neuen Beobachtungen, Experimenten und Voraussagen führen, die anhand der Tatsachen bestätigt oder widerlegt werden können... (a. a. O. S.131)
Die Energietechnik überträgt elektrische Energiemengen, die Kommunikations- oder Nachrichtentechnik überträgt Informationen. Sie überträgt nicht Ereignisse an sich, sondern das Strukturmuster einer Beziehung zwischen Ereignissen... (a. a. O. S.133)
Erinnern
und Erkennen
...1. wird die aufgenommene Information zu geeigneten Symbolen abstrahiert und
verschlüsselt (>Kodiert<);
2. werden diese Symbole
gespeichert, und zwar mit Hilfe von mehr oder weniger dauerhaften Zustandsänderungen
in geeigneten materiellen Vorrichtungen...
3. wird aus dieser Information ein Teil abgespalten;
4. werden einige der abgespaltenen Einzelheiten zusammen mit größeren
Informationsmengen aus dem Gedächtnis in die Erinnerung >zurückgerufen<;
5. werden erinnerte Einzelheiten teilweise zu neuen Mustern zusammengefügt...
6. erfolgt eine erneute Abstraktion oder Verschlüsselung der umgeordneten
Einzelheiten, wobei das neue Strukturmuster erhalten bliebt... (a. a. O. S.138)
7. wird eine neue Informationseinheit entweder zur Speicherung wieder dem
Gedächtnis zur Speicherung überwiesen oder zur praktischen Anwendung in
Tätigkeit umgesetzt. Die Anwendung einer Neuerung im Verhalten können wir auch
als Initiative bezeichnen...
Zur operationalen Begriffsbestimmung von Quantität und Qualität
...Autoritäre Philosophen und Staatstheoretiker von Plato und Aristoteles bis
zu Oswald Spengler, Otto Strasser und Ernst Jünger sind mit qualitativen
Urteilen, den Maßstäben des guten Geschmacks und der ästhetischen Maxime des
>Alles oder Nichts< gegen die Rationalität oder gegen die Demokratie zu
Felde gezogen. Nur die rohen und primitiven Objekte des sozialen Lebens, so
etwa lautet das Argument, seien der Zählung und Messung zugänglich, während die
wirklich tiefen und wesentlichen Dinge sich der Quantifizierung und der ins
einzelne gehenden Analyse entzögen. In ihrer unwägbaren und unvergleichlichen
Einzigartigkeit folgen sie ihren eigenen Gesetzen; entsprechendes gilt für die
naturgewollte Überlegenheit privilegierter Persönlichkeiten, Klassen oder
Rassen unter den Menschen.... (a. a. O. S.139)
In jedem dieser Fälle ergab sich, daß der entscheidende Schritt zum Erkennen
der Qualität eines Gegenstandes darin besteht, eine strukturelle
Übereinstimmung zwischen einem Teil des erkennenden Systems und dem zu
erkennenden System herzustellen und diese Übereinstimmung dann einem kritischen
Prozeß zu unterwerfen, also einem physischen Vorgang, dessen Ergebnis vom
Ausmaß eben dieser Übereinstimmung abhängt (Peter B. Neiman). Qualität wird
also erkannt, wenn und sofern sich zwei gegebene Strukturen entsprechen. . Der
entscheidende Schritt besteht im Nachweis einer solchen Entsprechung.
Quantität wäre demnach ein viel komplizierterer Begriff als Qualität.
Quantität kann erst gemessen werden, nachdem eine qualitative Entsprechung
eingetreten oder nachgewiesen ist. Aus diesem Vergleich ergibt sich dann ein
>Mehr< oder >Weniger<, und aus dem Vergleich mit einem Zahlensystem
ergibt sich ein Maßstab, an dem die Anzahl der vollständigen Entsprechungen
abgelesen werden kann. (a. a. O. S.140)
Qualität beruht demnach auf einer einfachen, Quantität auf einer doppelten
Entsprechung...
Rückkopplung und Gleichgewicht
Als einen weiteren Begriff, der seit den vierziger Jahren an Bedeutung ständig
zugenommen hat, müssen wir den Begriff der >Rückkopplung< (feedback)
erwähnen. Das Strukturprinzip der Rückkopplung ist allen selbstregulierenden
Kommunikationssystemen gemeinsam: elektronischen Steuerungsgeräten,
Nervensystemen, sozialen Organisationen. .. >Unter Ausgabe (output)
wird jede Veränderung verstanden, die der Gegenstand in seiner Umgebung
bewirkt. Umgekehrt wird unter Eingabe (input) jedes Ereignis verstanden,
das von außen her irgend eine Veränderung des Gegenstandes bewirkt.<
(Rosenblueth-Wiener-Bigelow) (a. a. O. S.141,142)
Anders ausgedrückt bezeichnet Rückkopplung (man spricht auch vom Prinzip eines >Servomechanismus< oder >Regelkreises>) ein Kommunikationsnetzwerk, das auf eine Informationseingabe mit einer Tätigkeit reagiert, deren Ergebnis als Teil einer neuen Information auf das weitere Verhalten des Systems selbst zurückwirkt... (a. a. O. S. 142)
Lernprozeß und Zweckbestimmung
Auch der einfache Regelkreis zeigt uns schon die wesentlichen Merkmale eines
>Lernprozesses<, wie ihn John Dollard bei Tieren und Menschen beschrieben
hat. Nach Dollard gehören zum Lernprozeß >Antrieb< (drive),
>Anstoß< (cue), >Reaktion< (response) und Belohnung (reward)...
(a. a. O. S.145)
Jeder einfache Rückkopplungsprozeß hat einen bestimmten >Zweck< oder ein
>Ziel<. Damit soll gesagt sein, daß ein solches Ziel nicht bloß in der
Vorstellung des menschlichen Beobachters gegeben ist; es hat vielmehr
objektiven Wirklichkeitscharakter im Zusammenhang mit einem gegebenen
Rückkopplungsnetz, sobald dieses physische Wirklichkeit erlangt hat. Ein Ziel
kann demnach definiert werden als >ein Endzustand, in dem der Gegenstand,
dessen Verhalten untersucht wird, einen definitiven räumlichen und zeitlichen
Bezug zu einem anderen Gegenstand oder Ereignis erreicht.< (Rosenblueth-Wiener-Bigelow)
Diese Definition eines Ziels, einer Zweckrichtung, bedarf einer näheren
Erläuterung. Es gibt für jedes
Kommunikationssystem mindestens ein solches außerhalb des Netzes liegende Ziel
(eine Beziehung des Gesamtsystems zu einem außenliegenden Objekt), dem
innerhalb des Netzes ein Zustand des verhältnismäßig geringsten inneren
Ungleichgewichts entspricht. Auf diese Weise wird ein mehr oder weniger
wirkungsvoller Ersatz für die tatsächliche Herstellung der angestrebten
Beziehung mit der Außenwelt geschaffen. Es gibt zahlreiche Beispiele für eine
solche stellvertretende Zielerreichung oder Ersatzbefriedigung: Kurzschlüsse in
elektronischen Rechenmaschinen, Trunkenheitssymptome bei gewissen Insekten,
Rauschgiftsucht oder Selbstmord beim Menschen, Ausschreitungen gegen
Sündenböcke und Prügelknaben in einer krisengeladenen sozialen Gemeinschaft.
Diese Beispiele weisen auf die Notwendigkeit hin, zu unterscheiden zwischen
einer einfachen internen Reorganisation und einer Neuordnung, die im
wesentlichen mit Mitteln versucht wird, durch die zugleich eine angestrebte
Beziehung mit einem bestimmten Teil der Außenwelt herbeigeführt wird.
Damit kommen wir zu einer etwas komplexeren Form des Lernprozesses... (a. a. O.
S.146)
Eine komplexere Art des Lernens stellt die sich selbst regulierende, ihr Ziel
selbst verändernde Rückkopplung dar. Ein solches Netz kann durch Rückkopplung
seine inneren Strukturprinzipien und damit auch sein darin vorgeschriebenes
Ziel verändern oder sich selbst ein neues Ziel setzen, nach dem es im folgenden
streben muß, um sein inneres Ungleichgewicht zu mindern. Zieländernde
Rückkopplung ist mit einer aristotelischen Teleologie, in der jedem Ding ein
individuelles, unveränderliches telos zugeschrieben wird, unvereinbar, nicht aber mit der
Darwinschen Evolutionslehre... Pathologisches Lernen ähnelt einem Verhalten,
das von Moralisten als >Sünde< bezeichnet wird.... (a. a. O. S.147)
T'elos (Ziel) ist in Biotelie jedoch nicht unveränderlich, weil es ja mit dem sich verändernden Leben verbunden und auf dieses ausgerichtet ist.
Unter Zweckbestimmung zweiten Grades (a. a. O. S.148) — die ersten Grades wäre
unmittelbare Triebbefriedigung (a. a. O. S.147) — wäre dann ein innerer und
äußerer Zustand zu verstehen, der mit der größten Wahrscheinlichkeit oder
erfahrungsgemäß zu erwartender Zuverlässigkeit das Netz befähigen würde, an
seinem Streben nach einer Zweckbestimmung ersten Grades festzuhalten.
Selbsterhaltung des Netzes wäre demnach eine Zweckbestimmung zweiten Grades,
der sich alle Zwecke ersten Grades unterordnen müßten. Ein solches Netz müßte
bereits eine viel komplexere Struktur haben.
Eine Zweckbestimmung dritten Grades könnte dann ein Zustand sein, der über die
>Lebenszeit< eines einzelnen Systems hinausgehend eine ganze Gruppe von
Netzen mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu befähigen würde, an ihrem Streben nach
Zwecken des ersten und zweiten Grades festzuhalten. Diese Einzelsysteme müßten
untereinander genügend Ähnlichkeit aufweisen, um ihre jeweiligen Erfahrungen
gemeinsam als relevante Testfälle verwerten zu können; und sie müßten komplex
und anpassungsfähig genug sein, um untereinander eine verläßlich Kommunikation
betreiben zu können. Ihre gegenseitige Wechselwirkung — mit anderen Worten ihr
Charakter als Gesellschaft — ist
wieder eine wesentliche Vorbedingung für eine höhere Stufe des Lernprozesses,
die über Zwecke des dritten Grades noch hinausführen könnte.
Als Zweckbestimmung vierten Grades schließlich wäre ein Zustand zu betrachten,
der mit hoher Wahrscheinlichkeit die Erhaltung des Strebens nach einer
Zweckbestimmung noch jenseits der Erhaltung einer bestimmten Gruppe oder Art
von Systemen gewähren könnte. Die Erhaltung oder Entwicklung des
>Lebens<, des >Geistes<, der >Weltordnung< und viele andere
im Bereich der Wissenschaft, der Philosophie und der Religion formulierte
Zweckbestimmungen wären hier einzuordnen.
Unsere vier Abstufungen überlagern sich gegenseitig, sie sind nicht scharf
voneinander abzugrenzen... (a. a. O. S.148,149)
Wertvorstellungen und Lernfähigkeit
Beim Durchgang von Nachrichten durch komplexe Rückkopplungsnetze stellt sich
ein >Wert<- oder >Schaltproblem<. Es handelt sich dabei um das
Problem der Entscheidung zwischen verschiedenen Möglichkeiten, eintreffende
Nachrichten durch verschiedene Kanäle oder auf verschiedenen
>Assoziationspfaden< (Vannevar Bush) im Netzwerk weiterzuleiten. Wenn für
eine geringe Menge von Nachrichten eine hohe Zahl gleichwertiger Kanäle zur
Verfügung steht, kann das Netzwerk durch Unentschlossenheit sein eigenes
Funktionieren gefährden; wenn eine geringe Zahl von Kanälen von einer großen
Menge von Nachrichten beansprucht wird, kann es zur >Verstopfung< des
Netzwerkes kommen... (a. a. O. S.149)
Tatsächlich scheint eine gewisser Zusammenhang zu bestehen zwischen der
Lernfähigkeit einer Kultur und ihrer Fähigkeit, unter anderen Kulturen zu
überleben und sich auszudehnen.... Die Lernfähigkeit eines Systems oder
einer Organisation, das heißt die Reichweite einer tatsächlich mögliche n
internen Neuordnung , kann ... teilweise an der Anzahl und Vielfalt der ungebundenen
Hilfsmittel, die dem System oder der Organisation zur Verfügung stehen,
gemessen werden... (a. a. O. S.152)
Es gibt eine wichtige dritte Art der Rückkopplung, die gleichzeitig mit der
Kontrolle einer aus dem Innern des Systems ausgewählten Datenreihe abläuft; sie
entspricht der Erscheinung, die wir gemeinhin als >Bewußtsein<
umschreiben. (a. a. O. S.153)
Sechstes Kapitel
Bewußtsein und Wille als Strukturmuster des Nachrichtenflusses
Wir können das Bewußtsein annäherungsweise und pragmatisch definieren
als eine Ansammlung von internen Rückkopplungsvorgängen , durch die sekundäre
Nachrichten im Umlauf gehalten werden. Sekundäre Nachrichten berichten
über Zustandsveränderungen in einzelnen Teilen des Systems, also über primäre
Nachrichten. Primäre Nachrichten sind solche Nachrichten, die im System
infolge einer Wechselwirkung mit der Außenwelt umlaufen. Jede sekundäre
Nachricht oder Nachrichtenkombination kann jedoch die Funktion einer primären
Nachricht übernehmen, indem sie sich mit einer Kombination von primären
Nachrichten oder mit anderen sekundären Nachrichten oder mit deren Kombination
verknüpft, was in beliebig weit reichenden Abstufungen fortgesetzt werden kann.
In jedem Fall funktioniert die sekundäre Nachricht als Symbol oder als internes
Kennzeichen für eine Zustandsänderung im Netzwerk selbst. Sie wird als neue
Information ins Netz zurückgeführt und beeinflußt so dessen weiteres Verhalten
in der gleichen Weise wie alle anderen Daten, die der Rückkopplung unterliegen.
>Bewußtsein< besteht aber nicht allein aus dieser internen
Kennzeichnung, sondern auch aus allen Vorgängen, die bewirken, daß solche
sekundären Nachrichten im Netz entstehen und der Rückkopplung unterliegen und
mit zwei oder mehreren Nachrichten zu gegenseitiger Wechselwirkung geführt
werden.
Das Bewußtsein sozialer Organisationen
Rückkopplungsnachrichten über
interne Einzelzustände des Netzes gibt es in vereinfachter Form in
elektronischen Rechenmaschinen, wo sie wichtige Erinnerungsfunktionen ausüben.
(a. a. O. S.154,155) Im menschlichen Nervensystem bilden sie äußerst komplexe
Strukturmuster, die nicht einfach zu Studienzwecken isoliert werden können. Es
gibt sie aber auch (und zwar in einer der Forschung relativ leicht zugänglichen
Form) im Prozeß der Arbeitsteilung in großen menschlichen
Arbeitsgemeinschaften, die sich mit Informationsverarbeitung befassen und als
Kollektiv gewisse Denkfunktionen ausüben. Man findet solche
Arbeitsgemeinschaften in den Forschungslaboratorien der Industrie sowie in
politischen und militärischen Nachrichtendiensten...
Die
leitenden Beamten, Planungsausschüsse und Beratungskommissionen einer solchen
Organisation können die gewaltige Informationsmenge nicht aus den Dokumenten
selbst beziehen. Sie befassen sich im allgemeinen nur mit Überschriften,
Inhaltsanalysen, summarischen Übersichten, Projektvorschlägen, Aktennotizen und
ähnlichen sekundären Symbolen, während die große Masse des Materials lediglich
>unter der Bewußtseinsebene< der Führungs- und Planungsorgane
weiterverarbeitet wird. Nur solche Problemkreise und Entscheidungen, die durch
Einschaltung und Rückkopplung von sekundären Symbolen >nach oben<
gelangen, werden der Organisation unmittelbar >bewußt<.
Allerdings ist die auswählende Tätigkeit eines jeden Netzwerkes keineswegs nur
auf die >Bewußtseinszone< der sekundären Symbols beschränkt. Welches
Material dank seiner gesonderten Kennzeichnung und Aufbewahrung überhaupt zur
Verarbeitung in jene Zone gelangt, hängt schon davon ab, welches Material in
den anderen Bereichen des Systems ausgewählt oder ausgeschieden, zugeordnet
oder abgesondert, weitergeleitet oder blockiert, aufbewahrt oder fehlgeleitet
oder verloren wird. Eine gewissermaßen automatische >Siebung< leitet
schon der Berichterstatter draußen im Revier und dann abermals der
Sachbearbeiter in der Nachrichtenorganisation; und wir dürfen annehmen, daß ein
ähnlicher Auslesevorgang durch >unbewußtes< Erinnern und Vergessen, durch
individuelle >Abneigungen< oder >Vorgefühle< und wohl auch mit
Hilfe >unausgesprochener< Konventionen und Annahmen, Präferenzen und
Tabuvorstellungen in menschlichen Gesellschaften und Kulturen*)
funktioniert....
*) >Unter Kultur verstehen wir alle historisch gewachsenen selektiven
Prozesse, die als Kanäle für menschliche Reaktionen auf interne sowohl wie auf
äußerliche Reizwirkungen fungieren.< — Clyde Kluckhohn und William H. Kelly:
The Concept of Culture. In: R. Linton : The Science of Man in the Word Crisis,
New. York 1945, S.84
(a. a. O. S.155,156)
Die Einordnung des Bewusstseins in die politische Kybernetik durch K. W. Deutsch bietet Anlass, auf das besondere Geheimnis und Problem des Phänomens Bewusstsein einzugehen, dessen Erschließung in seiner qualitativen Andersheit als Erlebniswelt gegenüber sonstigen Phänomenen der "Welt-Mechanik" wahrscheinlicherweise uns Menschen verborgen bleiben wird. Es geht wohl auch über das hinaus, was K.W. Deutsch "Geist" nennt. Die eben skizzierte Haltung stützt die bescheidene Auffassung des Agnostizismus, der Überzeugung also, dass uns Menschen die letzten Zusammenhänge und eine wahrscheinliche riesige Masse von Vorgängen in der Natur unbekannt bleiben, weil wir nicht über die Sinnesorgane verfügen sie wahrzunehmen. Die agnostische Auffassung begründet auch eine neutrale Haltung des Staates gegenüber Weltanschauungen und Religionen soweit diese sich im Zusammenleben mit anderen tolerant aufführen. Der Agnozistismus schließt aber spekulatives Denken nicht aus, auch wenn er einem solchen beispielsweise in der Wissenschaft nur instrumenell-fiktiven Raum einräumt
Dem Islam gegenüber ist eine Änderung unseres staatlichen Umgangs unabgänglich, da der Islam eine Einheit von Religion, Recht und Staatsorganisation vertritt, welche mit den Lebens- und Rechtsauffassungen anderer Religionen und Staaten unverträglich ist und damit gefährlichen Konfliktstoff bietet. So abseitig zunächst die Forderung nach einer Relativierung der schriftlichen göttlichen Offenbarung auch des Koran gegenüber den Regeln der Vernunft (als göttliches Geschenk) derzeit erscheint, die Muslime werden den Weg dieser Reformation beschreiten müssen, wenn sie auf Dauer in eine menschlichen Weltordnung aufgenommen werden wollen, außerhalb derer sie auf Dauer schwer oder gar nicht werden überleben können.
Die
Andersartigkeit der Funktion einer biotelen Gutachteninstanz gegenüber derer
des (auch parlamentarischen, also repräsentativ-demokratischen)
Regierungsapparates liegt darin, dass die Gutachter ohne Einfluss der Parteien
nach Zufallswahl aus durch ihre Ausbildung mutmaßlich Geeigneter ausgewählt
werden. Anders als bei den Ministerien greifen diese Gutachter nicht nur auf
die Wissensmaterialien und Vorlagen zurück, welche Parteien und
Interessenverbände für sie zusammengestellt haben. Biotele Gutachter können
sich selbst entscheiden, welche Materialen sie aus Internet, Bibliotheken oder
anderen Quellen für ihre Entscheidung heranziehen und können sich bei ihrer
Materialsammlung auch in direkten Anfragen an Institute und
Wirtschaftsunternehmen wenden, die zur Auskunft verpflichtet sind. Die biotelen
Gutachter sind dann hinsichtlich ihrer Beurteilung an das biotele Symbolsystem
gebunden, das mit seiner Bewährung steht und fällt. Andere Rücksichtnahmen auf
Interessen sind nach Gesetz ausgeschlossen; bei menschlichen und fehlbaren
Wesen, können solche Fehlsteuerungen durch Interessen, etwa auch als unbewusste
Hypothek, natürlich nicht völlig ausgeschlossen, sondern nur über die
Diskrepanz des Ergebnisses verschiedener Gutachter eingedämmt werden.
Indem wir in einem Rechen- oder
Verhaltensvorgang einzelne Teilvorgänge mit sekundären Symbolen versehen,
können wir das Ergebnis des Gesamtvorgangs verändern. Die sekundären Symbole
werden nämlich durch Rückkopplung wieder ins Netz eingeführt; damit wird die
gekennzeichnete Nachricht dem System >bewußt" gemacht, in ihm häufiger
als andere, nicht gekennzeichnete Nachrichten umlaufen und deshalb für eine
vorrangige Behandlung eher zur Verfügung stehen; sie kann also, je nach gerade
gültigen Betriebsregeln des Systems, vorrangig in einen gedanklichen
Zusammenhang gebracht oder aufgespeichert, übertragen oder blockiert oder auch
unterdrückt werden.
Wenn einzelne Teile oder Verbindungsstücke, in denen die Betriebsregeln sich
verkörpern, mit sekundären Symbolen versehen werden, so werden sie damit dem
Netz unmittelbar >bewußt<. Durch Rückkopplung wird ihre statistische
Verfügbarkeit erhöht und ihre Anwendbarkeit verbessert; sie können dadurch aber
auch, sofern diese Möglichkeit im System vorgesehen ist, leichter modifiziert
werden. Die Auswirkungen einer solchen internen Kennzeichnung kann man sich
etwa der Wirkung dramatischer Symbole oder meinungsbildender Institutionen in
einer Gesellschaft vergleichbar vorstellen...(a. a. O. S.156,157)
Konfrontation und simultane Sichtung von Nachrichten
Bewußtsein besteht jedoch nicht nur aus einem, sondern mindestens aus zwei
Vorgängen. Da ist einmal die rigorose Auswahl und Aussonderung einzelner
Einheiten aus dem Strom der primären und nachgeordneten Nachrichten und ihre
Verdichtung und Verschlüsselung in einer stark verkürzten Reihe von Nachrichten
mit besonderer Kennzeichnung. Zum anderen aber erfolgt grundsätzlich eine mehr
oder weniger simultane Sichtung, ein >Abtasten< der kondensierten Menge
von sekundären Informationen, freilich nur so weit, wie die
>Bewußtseinsspanne< (die >Brennweite> der Aufmerksamkeit und
Übersicht) eines einzelnen Menschen oder die wirklich zu leistende
Überwachungsfunktion oder Kontrolltätigkeit einer Organisation reicht.
Es gibt zahlreiche Beispiele solcher Einrichtungen, in denen sekundäre Symbole
verdichtet und konzentriert erfaßt und zur gleichen (oder fast zur gleichen)
Zeit einer Sichtung unterworfen werden. Man denke an die Generalstabskarten des
neunzehnten Jahrhunderts, auf denen farbige Stecknadeln und andere bewegliche
Symbole zur Darstellung von Truppenbewegungen dienten... (a. a. O. S. 157,158)
Die Gefahren, die daraus erwachsen, daß technische Neuerungen dieser Art
voreilig und ohne wirkliche Kenntnis dazu verwendet werden sollen, um
blitzartige und fast notwendig oberflächliche Entscheidungen über Leben und Tod
von Millionen Menschen zu erleichtern, sind erschreckend... Der Realismus
seiner [Norbert Wieners] Warnungen wird deutlich, wenn man erfährt, daß am 24.
November 1961, auf einem spannungsgeladenen Höhenpunkt der Berlin-Krise, ein
falsches Signal schon als Anlaß genügte, um Düsenbomber des Strategischen
Luftkommandos der Vereinigten Staaten an die Startbahnen rollen zu lassen. (a.
a. O. S.159)
Wille und Abschließung von Entscheidungssystemen
Es besteht eine offensichtliche Beziehung des Bewußtseins zum >Willen< —
oder zu jenem Gefühl, einen Entschluß zu fassen, eine autonome Entscheidung
fällen zu können., die wir meinen, wenn wir von unserem >freien Willen<
sprechen. Wille in diesem Sinne umfaßt nicht nur intern gekennzeichnete
Entscheidungen über den unmittelbaren Einsatz einer Tätigkeit oder über
verschiedene Einsätze im Rahmen einer Tätigkeit, er umfaßt auch Entscheidungen
darüber, ob eine Tätigkeit sofort oder erst bei einem späteren Signalzeichen aufgenommen
werden soll, wobei dann die wirkliche Tätigkeit in ihren einzelnen Abschnitten
automatisch abläuft, ohne daß diese noch einmal >bewußt< gekennzeichnet
sein müßten... (a. a. O. S.162)
Ein grundsätzliches Problem des >Willens< in jedem selbststeuernden Netzwerk liegt .. in der Aufgabe, verschiedene Daten aus der Vergangenheit hervorzuholen und in Tätigkeit umzusetzen, und zwar bis zu dem Zeitpunkt da sich der >Wille< formt (oder die Absicht >verfestigt<, die Entscheidung >erhärtet<), und zugleich jede nachfolgende Information abzuschirmen, sofern die die >gewollte< Entscheidung beeinflussen könnte. Der Wille ähnelt dem Redaktionsschluß bei der Zeitung: man kann ihn umschrieben als eine intern kenntlich gemachte Bevorzugung von Nachrichten, die vor einer Entscheidung eintreffen, zu Lasten solcher, die erst danach eintreffen... (a. a. O. S.163)
Ein
vergleichbarer Vorgang [es handelte zuletzt um zielsuchende Torpedos]
primitiver Art kann sich ein für allemal festsetzen: es handelt sich um jenes
>Lernen durch Prägung<, das bei jungen Graugänsen, aber auch bei
verschiedenen anderen Jungvögeln, beobachtet worden ist: >Lorenz hat als
erster auf die merkwürdige Tatsache hingewiesen, daß eine junge Graugans...
allem, was sie in den ersten Stunden nach dem Ausschlüpfen erkannt hat, sei es
ein Vogel, Tier oder Mensch, so beharrlich nachlaufen wird, wie sie
normalerweise ihrer Mutter nachliefe. Es zeigt sich, daß die Fixierung sich...
im wesentlichen... auf einen beliebigen Gegenstand richtet, der zuerst in Bewegung
wahrgenommen wird... (W. Grey Walter: The Living Brain, New York 1953,
S.136f.) (a. a. O.
S.164)
.
..Es handelt sich hier um das extremes Zerrbild eines Willens, ein blindes
Hineingleiten in eine unwiderrufliche Entscheidung, in der die eigenen Wünsche
und Neigungen ein für allemal festgelegt werden — eine extreme Art zu lernen,
künftig nichts mehr zu lernen...
So
aufgefaßt kann man den Begriff des >Willens< wohl auch in sinnvoller
Weise auf die Verhaltensweisen von politischen Bewegungen, Völkern und sozialen
Organisationen über tragen. Im Bereich von Staat und Politik ist Wille zu
verstehen als ein Strukturmuster von relativ verfestigten Präferenzen und
Hemmungen, die eine soziale Gruppe aus ihren früheren Erfahrungen bezieht,
einen relevanten Teil ihrer Mitglieder bewußtseinsmäßig kennzeichnet und von ihnen als praktische
Richtschnur angewendet wird, wodurch ihre Handlungsweise gelenkt und nachfolgende
Erfahrungen begrenzt werden. *)
*) Über die Bedeutung des >Willens< für Nationalismus und Nationalität
vgl. Hans Kohn: The Idea of Nationalism. New York 1944,S.6-16 (a. a. O. S.165)
Wesensmerkmale des >freien Willens<
...Das Netz will, so lange es Autonomie besitzt, so sein, wie es ist. Seine
Verhaltensmuster (die >Persönlichkeit<), die es in der Vergangenheit
erworben hat und die es mit jeder Entscheidung laufend verändert und neu
gestaltet, sind von ihm gewollt. Dadurch, daß es in der Vergangenheit gelernt
hat, ist es nicht völlig von der Gegenwart abhängig. Die Neuordnung, die es
jeweils in seinem Innern vornimmt, um mit neuen von außen kommenden Problemen
fertig zu werden, erfolgt in einem Wechselspiel zwischen den Erfahrungen seiner
Gegenwart und seiner Vergangenheit. In diesem Wechselspiel können wir so etwas
wie >innere Freiheit< erkennen. .. (a. a. O. S.166)
...Die Vielfalt der neuen Kombinationsmöglichkeiten wird also neben anderen
Faktoren auch von der möglichen Vielfalt der aus der Außenwelt zugeführten
Informationen sowie von der Leistung des >Gewohnheitsverbrechers<
abhängen, der die inneren Schranken niederzureißen hat, welche der Integration
der neuen Eingabe mit den anderen Daten des Netzes entgegenwirken.
>Spontaneität< kann, abgesehen davon, daß sie den Zufluß neuer
Informationen erleichtert, lediglich den Strom der bereits im Netz enthaltene n
Wirkungsmöglichkeiten ausweiten.
Rückkopplungsnetzwerke dieser Art können eine Analogie zum Problem des
>freien Willens< aufzeigen. Nach einer solchen Analogie arbeitet etwa
eine Maschine, in der ein Speicher, der bestimmte Erinnerungen enthält, mit
einem wahllos variierenden inneren Empfangsorgan durch Schaltungen verbunden
ist, in denen die Entnahme und Kombination von Erinnerungen gesteuert wird. Der
Zufallseffekt oder >plötzliche Impuls< des inneren Empfangsorgans wird
dann einerseits durch das statistische Gewicht der Alternativen, andererseits
durch den Einfluß kritischer Erkennungsprozesse und schließlich auch anhand der
Strukturmuster, die aus der gespeicherten Vergangenheit der Maschine (ihrer
>Persönlichkeit<) verfügbar sind, korrigiert. Eine solche Maschine kann
>frei< handeln, kann Initiative entwickeln und doch >sich selbst
treu< bleiben.
Unsere Analogie lehrt, daß moralische Verantwortlichkeit sich aus dem
determinierten, kumulativ erlernten Teilelement des Gesamtsystems ergibt. Wenn
wir einen Menschen als >verantwortlich< behandeln, so handeln wir in der
Annahme, daß sein Lernprozeß intakt ist. (a. a. O.S.168,169) Ein jeder von uns
ist verantwortlich für das, was er gerade ist, denn seine Persönlichkeit hat
jeder sich in der Vergangenheit durch freie Entscheidungen selbst erworben. (a.
a. O. S.169)
Siebentes
Kapitel
Politische Macht und soziale Transaktionen
Es besteht ein Zusammenhang
zwischen Wille und Macht. Die Verfestigung einer Entscheidung — das heißt die
Abschließung des die Entscheidung treffenden Systems gegen alle nachfolgenden
Nachrichten, die eine Modifizierung der Entscheidung bewirken könnten — ist
praktisch bedeutungslos, sofern keine Vorrichtungen gegeben sind, um sie gegen
mögliche äußere Widerstände durchzusetzen oder doch soweit wirksam werden zu
lassen, daß sie verglichen mit der Gesamtheit der Umweltveränderungen, die
ohnehin eingetreten wären, ein merklicher Unterschied sichtbar wird.
Der Zusammenhang zwischen Macht und Wille
Wille ist also wirkungslos ohne Macht; aber Macht ist ohne Wille nur eine
Wirkung ohne Ziel. Macht kann nur eine Reihe von zufälligen Einwirkungen auf
die Umwelt erzeugen, so lange kein relativ fixiertes Ziel, keine
Zweckbestimmung, keine Entscheidung, keine strategische Entscheidungslinie
gegeben ist, die bei der Anwendung von Macht als Richtschnur und Anleitung
dienen kann... (a. a. O. S.170)
Als Macht verstehen wir dann das Ausmaß, in dem eine Person oder Organisation nachhaltig und erfolgreich ihrem Charakter und Wesen gemäß handeln kann. Anders ausgedrückt: als Macht verstehen wir die Fähigkeit einer Person oder Organisation ihrer Umwelt die Extrapolation oder Projektion ihrer inneren Struktur aufzuzwingen. In einfacheren Worten ausgedrückt heißt das: Macht besteht darin, daß man nicht nachgeben muß, sondern die Umwelt oder eine andere Person zum Nachgeben zwingen kann. Macht in diesem engeren Sinn bedeutet Priorität der Leistung (output) gegenüber der Empfänglichkeit (intake), bedeutet die Möglichkeit, zu reden anstatt zuzuhören. Macht hat in gewissem Sinne derjenige, der es sich leisten kann, nichts lernen zu müssen... (a. a. O. S.171)
Ein quantitativer Begriff des Konflikts
Aus unserer Auffassung von Macht läßt sich ein Begriff des Konflikts ableiten,
der prinzipiell meßbar sein müßte. Man kann den Konflikt zwischen zwei Systemen
A und B auf zweierlei Art messen:
1. als den wahrscheinlichsten Grad der Unvereinbarkeit ihrer beiden Programme
in der Zukunft, und
2. als die wahrscheinlichen Kosten, die einem Partner oder beiden Partnern bei
der Vermeidung eines Zusammenstoßes entstehen...
Die Unvereinbarkeit zwischen zwei handelnden Systemen ist meßbar als die
Summer der wahrscheinlichen internen Strukturveränderungen im System A und im
System B für den Fall, daß jeder der beiden Systeme sein Programm ausführt. Die
Unvereinbarkeit der geplanten Bewegungsrichtung zweier Schiffe oder zweier
Staaten kann dann gemessen werden am wahrscheinlichen Kollisionsschaden, der
entsteht, wenn beide Schiffe oder beide Regierungen auf ihrem jeweiligen Kurs
fortfahren. (a. a. O. S.172)
Lasswell
und Kaplan definieren die Macht als >Mitwirkung an der
Entscheidungsbildung<, wobei >Entscheidung< definiert ist als >eine
Verhaltensweise, die schwerwiegende Sanktionen mit sich bringen kann<... (a.
a. O. S.175)
Keiner dieser Theorieansätze versucht aber ausdrücklich, die Kosten zu
ermessen, die dem Mächtigen bei der Ausübung seiner Macht entstehen... (a. a.
O. S.176)
Fragestellungen
dieser Art führen zu unserer Unterscheidung zwischen >wirklicher Macht< (net
power) und >wirksamer Macht< (gross power) zurück und lassen
uns die Macht der Ohnmächtigen erkennen. >Der weiße Mann in den Südstaaten
kann den Neger nur im Dreck halten,<, soll Booker T. Washington gesagt
haben, >so lange er selbst im Dreck bleibt.<...
>Wirkliche Macht< könnte definiert werden als die Differenz zwischen den
Veränderungen, die ein Machtträger bewirken kann, und jenen, die er in Kauf
nehmen muß... (a. a. O. S.177)
...
Zahlreiche Nationen und Regierungen finden sich in der mittleren Kategorie und
müssen entsprechende Einbußen an ihrer Fähigkeit, die eigenen Handlungen zu
steuern und Herr über das eigene Schicksal zu bleiben, in Kauf nehmen — also an
der Fähigkeit, die doch gerade durch ihr Machtstreben gewährleistet schien.
Robert Dahl hat einen Weg erschlossen, um die Macht in gewissen Situationen
quantitativ messen zu können. Harold Lasswell hat die Macht in den Zusammenhang
zwischen allen möglichen >Grundwerten< und >Nebenwerten<
eingeordnet und damit zu ihrer begrifflichen Klärung unter den verschiedensten
Bedingungen beigetragen. Talcott Parsons geht in seinen neueren Schriften einen
Schritt weiter. Er sieht die Macht im dynamischen Zusammenhang einer
wechselseitigen Tauschbeziehung zwischen den wichtigsten funktionalen
Teilsystemen des Gesellschaftsverbandes, und er hat damit den Weg geebnet, der
erstmals seit den Tagen von Hobbes und Locke zu einem grundsätzlich neuen
Verständnis der Macht führen kann.
Talcott Parsons' allgemeines Modell der Tauschbeziehungen
Parsons unterscheidet für jedes soziale System vier funktionale
Grundbedingungen: (1) die Erhaltung oder Fortpflanzung der eigenen
Verhaltensmuster (pattern maintenance); (2) Anpassung (adaption)
an die Umwelt und ihre Veränderungen; (3.) Erreichung von Zielen, die das
System sich angeeignet oder sich selbst gesetzt hat (goal attainment);
und (4) Verschmelzung (integration) der sämtlichen Funktionen und
verschiedenen Teilsysteme zu einem fest gefügten und geordneten Ganzen.
Zu jeder dieser vier Hauptfunktionen müssen alle gesellschaftlichen Teilsysteme
einen gewissen Beitrag liefern, doch gehört zu jeder der vier Grundfunktionen
ein größeres gesellschaftliches Teilsystem, dessen Beitrag dieser einen
Funktion viel stärker als allen anderen gilt.
Nach Parsons wird die Erhaltungs- oder Fortpflanzungsfunktion vorwiegend vom
Teilsystem der Familienhaushalte wahrgenommen, also von jenem Element der
Gesellschaft, das die Kindererziehung besorgt, neue Arbeitskräfte bereitstellt
und verwandtschaftliche Bindungen pflegt. Der Anpassungsfunktion entspricht
vorwiegend das Wirtschaftssystem mit allen seinen wissenschaftlichen und
technologischen Ausläufern. (a. a. O.S.178,179)
Zur Erreichung von gesellschaftlichen Zielen muß das Teilsystem der Politik,
und hier vor allem der Staat, den entscheidenden funktionalen Beitrag leisten.
Die Integrationsfunktion schließlich obliegt größtenteils dem Teilsystem der
sozialen Kultur, wozu auch die öffentlichen und halböffentlichen
Erziehungsinstitutionen, die Religion und die Massenkommunikationsmittel zu
rechnen sind.
Zwischen diesen vier wichtigsten funktionalen Teilsystemen, die man sich am
besten als die vier Ecken eines Quadrats vorstellt, können nun sechs
Hauptströme wechselseitiger Tauschbeziehungen verlaufen und die vier Teilsysteme
gewissermaßen entlang der vier Seiten und den beiden Diagonalen des Quadrats,
miteinander verbinden. Im einfachsten Fall läßt sich dann erkennen, wie etwa
die Familienhaushalte die Wirtschaft mit Arbeitskräften versorgen und dafür von
ihr Konsumgüter beziehen; es handelt sich also um einen Transaktionsstrom, bei
dem Waren gegen Dienstleistungen eingetauscht werden. (a. a. O. S.179)
Es ist unverkennbar, daß
zumindest in Deutschland und nicht nur hier das Zusammenwirken dieser Ströme in
den "Tauschbeziehungen" außer Gleichgewicht geraten ist.
In einem fortgeschrittenen System werden solche Transaktionen immer flexibler
und allgemeiner dank einem sozialen Mechanismus, der >eng auf
Allgemeingültigkeit spezialisiert< ist. Wir nennen diesen Mechanismus
Zahlungsmittel; in unserem Fall handelt es sich um Geld, sei es in der Form von
Gold, Banknoten oder Schecks....(a. a. O. S.179)
Tauschbeziehungen des politischen Systems
Betrachten wir nun das politische System, so sind es im einfachsten Fall wieder
die Haushalte, die ganz bestimmte und eindeutige Forderungen an das politische
System richten. Sie bieten den Regierenden ihre Unterstützung an, und diese
wiederum benützen die angebotene Unterstützung, um bindende Entscheidungen, wie
sie von den Anhängern gewünscht werden, zu treffen und durchzusetzen... (a. a.
O. S.180)
Kreditpolitik und Investitionspolitik erscheinen also in der Betrachtung dieser
Theorie vornehmlich als eine dem Wirtschaftssystem zugeführte politische
Eingabeleistung. Dieser Zusammenhang wird durch die enge Beziehung zwischen
Regierungspolitik und Zentralbankwesen noch verdeutlicht. Wo die Funktionen
einer Zentralbank ausschließlich von unkontrollierten Privatbanken oder anderen
Kreditinstitutionen wahrgenommen oder mitbestimmt werden, da liegt die
Vermutung nahe, daß Banken und ihre Direktoren ein entsprechend großes Maß an
politischer Macht in Händen halten... (a. a. O. S.181,182)
Die Macht als Zahlungsmittel
Aus dieser Perspektive kann man die Macht als das wichtigste
>Zahlungsmittel< in den Tauschbeziehungen zwischen dem politischen System
und allen anderen größeren Teilsystemen der Gesellschaft betrachten.... (a. a.
O. S.182)
Macht und Sanktion bedeuten in diesem Sinne weit mehr als nur einen
zwangsweisen Willensvollzug. Prestige verhält sich dabei zur Macht wie Kredit
zum Bargeld. Und physische Gewalt, also Zwang im engeren Sinne, verhält sich
zur Macht wie Gold zum Papiergeld, Spar- oder Scheckbuch....
Das Verhältnis von Gold zum Münzgeld und Papiergeld ist in quantitativen Größen
gut bekannt, und das gleiche gilt für das Verhältnis von Bargeld zu allen
anderen Geldsorten oder für das Verhältnis von Geldumlauf und Volkseinkommen.
In den Vereinigten Staaten betrug Anfang 1962 das Volkseinkommen ungefähr $
3000 pro Kopf der Bevölkerung, während die Goldreserven nur etwa 3 Prozent
dieses Betrags ausmachten, nämlich ungefähr $ 90 pro Kopf. Zwischen diesen
Extremen lag der Wert des umlaufenden Bargelds bei ungefähr § 160 und die
gesamte Geldmenge einschließlich der Kreditpapiere bei $ 810 pro Kopf der
Bevölkerung. *)
*) Nach Angaben in: International Financial Statistics (hrsg. vom
Weltwährungsfonds, Bd.15, Nr.4, April 1962, S.268-271)...
Gold und Bargeld wirken demnach als marginale Hilfs- und Reservemechanismen,
aber sie machen nicht die Substanz des vermögenbildenden Prozesses aus.
Gold
und Gewalt als Mechanismen der Schadensbegrenzung
Das politische System beruht also, ebenso wie das Wirtschaftssystem weitgehend
auf einem Gewebe von gleichgerichteten Erwartungen...
Wenn Gold in ausreichender Menge vorhanden ist, können alle Einleger voll
ausgezahlt werden; und indem man diese Aussicht besonders deutlich macht, kann
schon die rechtzeitige Ankunft und öffentliche Zurschaustellung eines
Goldtransports genügen, um eine beginnende Panik im Keim zu ersticken.
In ganz ähnlicher Weise ist physische Gewalt in Gestalt ihrer Anwendungsmittel
(Menschen, die mit Panzern und Gewehren ausgerüstet sind) ein Mechanismus zur
Schadensbegrenzung im Bereich der Gesellschaft... (a. a. O. S.184)
Eine
Regierung oder eine Besatzungsarmee, die über genügend physische Gewalt
verfügt, um alle widersetzlichen Personen zu töten oder zum Gehorsam zu
zwingen, besitzt die primitivste Art von politischer >Zahlungsfähigkeit<;
und indem sie ihren Besitz an roher Gewalt zur Schau stellt, kann sich eine
mögliche Kettenreaktion des Ungehorsams oder Widerstands im Keim ersticken oder
noch im Anfangsstadium aufhalten. Die Panzer, die Präsident de Gaulle an einem
kritischen Tag zu Anfang des Jahres 1962 durch die Straßen von Paris
patrouillieren ließ...
Die Politik ist, ebenso wie die Wirtschaft auf menschliche Zusammenarbeit
angewiesen, und diese wiederum beruht auf gleichgerichteten Erwartungen.
Wirtschaftliche Tätigkeit besteht im wesentlichen in koordinierter,
anpassungsfähiger und gegenseitig abhängiger Arbeitsteilung, oder anders
ausgedrückt, in der produktiven Kombination von menschlichen Fachkenntnissen
und Leistungen mit einem technischen Maschinenpark, den aus der Umwelt
bezogenen Rohstoffen und natürlichen Reichtümern. Aus diesem Gewebe aus
anpassungsfähiger und produktiver Zusammenarbeit — und nicht aus einer noch so
großen Menge an Papiergeld, Münzen und Goldbarren — entsteht Wohlstand und die
Fähigkeit zur Erzeugung des Wohlstands... (a. a. O. S.185)
Ähnliches gilt auch für die Politik.. Wo der gewohnheitsmäßige Gehorsam der
Gesellschaft gegenüber der gesetzmäßigen Ordnung zusammengebrochen ist, wird
Militär oder Polizei einschreiten müssen, um den Aufruhr unter Kontrolle zu
bringen... In der Regel sind es aber gleichgerichtete Erwartungen und nicht
Drohungen, wodurch die Dinge im Gang gehalten werden... (a. a. O. S.186)
Eine Anmerkung zur politischen Theorie
Macht ist weder der Kern noch die Substanz der Politik. Sie ist lediglich eines
von mehreren politischen Zahlungsmitteln, einer von mehreren wichtigen
Mechanismen zur Schadensbegrenzung in Situationen, wo Einfluß, Gewohnheit oder
freiwillige Gleichrichtung versagt haben oder wo diese Faktoren zur Erreichung
gesellschaftlicher Ziele nicht mehr funktional ausreichend wirksam sind. Gewalt
ist ein verwandtes, aber doch ein davon verschiedenes Zahlungsmittel, nur in
beschränktem Umfang brauchbar zur Schadensbegrenzung. Wieder von anderer Art
sind Einfluß sowie Austausch von kleinen Gefälligkeiten, den man in der Umgangsprache
auch als >politisches Geschäft< zu bezeichnen pflegt. Alle diese Faktoren
sind wichtig, aber jeder von ihnen ist durch andere ersetzbar, und so sind sie
alle von untergeordneter Bedeutung gegenüber dem eigentlichen Wesen der
Politik, wie es uns in dieser Perspektive erscheint: nämlich einer im Hinblick
auf die Erfüllung gesellschaftlicher Zielvorstellungen zuverlässig
funktionierenden Gleichrichtung von menschlichen Arbeitsleitungen und
Erwartungen.
Es folgen einige
Betrachtungen über die Möglichkeit, unter "zunehmendem Wohlstand und
Bildungsstand" die staatliche Zwangsgewalt abzubauen, wie bereits Marx und
Engels erträumten und Lenin es in >Staat und Revolution, Berlin 1918 oder
Herbert Marcuse in >Gesellschaftslehre des sowjetischen Marxismus<, Neuwied-Berlin
1964 , H. G. Wells in >Men Like Gods, London 1927. K. W. Deutsch
>Anarchism< In: Enzyclopedia Britannica, Bd.1,Chicago, 1962, S.867-869
erörterten. Es braucht nur einige Kenntnisse der menschlichen Natur, um
Machtbeziehungen als unaufhebbar zu halten und den Anarchismus als zukünftige
Staatsform abzulehnen, wie ich meine. (a. a. O. S.187)
Für K. W. Deutsch „ist... sie ... imgrunde wohl nicht unerreichbar“. (a. a. O.
S.188)
Einige quantitative Folgerungen
Aus dem Modell des politischen Teilsystems mit seinen Tauschbeziehungen zu
anderen wichtigen Teilsystemen der Gesellschaft ergeben sich quantitative
Folgerungen. Der Umfang aller an ein Regierungssystem gerichteten effektiven
Forderungen kann annäherungsweise bestimmt werden...
Eine differenziertere Analyse könnte die kumulativen Veränderungen dieser
gegenseitigen Aktionsströme verfolgen. Wo die Privathaushalte ständig mehr
Arbeitskraft in die Wirtschaft hineinstecken als zur Erzeugung der entnommenen
Konsumgüter nötig ist, werden Ersparnisse und Investitionen die Folge sein. Wo
die Regierung, und zwar in größerem Umfang als dies effektiv von ihr verlangt
wird, die Verantwortung für weitere Zuständigkeiten an sich zieht, da haben wir
die leicht erkennbare Spielart eines Obrigkeitsstaates vor uns. Wo die
Regierung sich dagegen weigert, die Verantwortung für dringend verlangte
Zuständigkeiten zu übernehmen (beispielsweise für das Bedürfnis einer
erträglichen Lebenshaltung, nach Gesundheitsdiensten, Erziehung, sozialer
Sicherheit, Arbeit), wird eine politische Entfremdung eintreten und sich
schließlich auf die politische Stabilität auswirken...(a. a. O. S.188,189)
Aus Wahlstatistiken und wohl auch aus Meinungsumfragen lassen sich in direktem
Zugriff Annäherungswerte für die politische Integrationsquote ablesen...
Ein Programmvorschlag
Diese wenigen Beispiele für Verhältniszahlen und deren Veränderung in relativen
Geschwindigkeitswerten mögen genügen, um die Möglichkeit aufzuzeigen, wie das
Modell der Tauschbeziehungen schließlich vollständig quantifiziert und
teilweise zu Voraussagen befähigt werden kann. Ein Teil dieser Entwicklung
müßte in der Anwendung kybernetischer Begriffe auf dieses System bestehen,
müßte also auch häufiger und gezielter von Zeitvariablen und von Denkmethoden
der Wahrscheinlichkeitsrechnung und der Statistik Gebrauch machen. Dazu würde
zum Beispiel auch die Messung oder annäherungsweise Berechnung folgender
Faktoren gehören: Größenordnung und wahrscheinliche Schwerpunktlage von
Gleichgewichtsstörungen im Transaktionsfluß; entsprechende Belastung der
Mechanismen zur Ausbalancierung oder Anpassung der Teilsysteme; Verzögerung,
Gewinn und Führung, gemessen an deren jeweilige Reaktionen; schließlich auch
die wahrscheinliche Stabilität und die voraussichtlichen Zustandsveränderungen
des ganzen Systems und seiner Einzelteile... (a. a. O. S.190,191)
Es dürfte bereits aufgefallen sein, dass einige Zielbegriffe und Aspekte der Biotelie in diesem Zusammenhang der Kybernetik genannt werden, wie Gleichgewicht, VERGLEICHEN, STABILITÄT, Tausch (für AUSTAUSCH), das Ziel, mit weniger Gewalt und Macht auszukommen entsprechend der HYPARCHIE; Gliederung und AUTONOMIE,. SPONTANEITÄT und AKTIVITÄT, AUSLESE (als Auswahl), PLURALITÄT (als Vielfalt) werden noch folgen oder weiter ausgebaut, wenn auch manchmal unter anderen Bezeichnungen.
Achtes Kapitel
Autonomie, Integrität und Bedeutung
Inzwischen haben wir bereits die Hauptelemente einer Theorie der
Selbstbestimmung angedeutet. Alle selbststeuernden Netzwerke haben drei
Grundelemente: Empfangsorgane, Wirkungsorgane und Regelkreise. Die
Eigengesetzlichkeit oder Autonomie solcher einfachen Netzwerke beruht gänzlich
in ihren Regelkreisen...
Autonomie und Steuerungsstellen
Differenziertere Systeme können ihre Ziele ändern und ihre
Rückkopplungsmechanismen neu >einstellen<, indem sie eine Wechselwirkung
mit den in besonderen Speichergeräten aufbewahrten Informationen über die
eigene Vergangenheit erzeugen. Autonomie ist hier letztlich auf Gedächtnis
angewiesen, wo alle Erinnerungen verloren gegangen sind, wo alle früheren
Informationen und Präferenzen nicht mehr wirksam sind, haben wir es nicht mehr
mit einem sein Verhalten selbst bestimmenden individuellen Menschen oder
Sozialverband zu tun, sondern mit einem selbststeuernden Automaten. Die
Speicheranlagen des Gedächtnisses und insbesondere die Schaltungen der Kanäle
zur Entnahme, Neuordnung, erneuten Speicherung und erneuten Anwendung von
Erinnerungen sind hier von entscheidender Bedeutung. (a. a. O. S.192,193) Es
kann keinen Willen, keine Entschlußkraft geben ohne funktionierendes
Gedächtnis. Der Wille eines Einzelmenschen oder einer Gruppe ist gelähmt,
sobald die gespeicherten Informationen über die Vergangenheit zerstört oder ihr
Einströmen in das System unterbrochen wird.
Hier setzte die Strategie des
fortgesetzten Krieges der Alliierten gegen Deutschland Ende der 60er Jahre an,
die nahezu totale Geschichtsfälschung bzw. Auslöschung über eine systematische
"Umerziehung", die offensichtlich zur Selbstaufgabe und Vernichtung
führen wird, aber ganz Europa und vielleicht die "Weißen" insgesamt
mit in den Abgrund reißen wird, wenn nicht — sozusagen in letzter Minute — eine
Besinnung und damit eine Umkehr erfolgt.
Netzwerke
mit noch komplizierterer Struktur weisen interne Bewußtseinsvorgänge auf, die
bestimmte Teilzustände des Netzes überwachen. Wo Bewußtsein in genügendem
Ausmaß vorhanden ist, da wird es zum entscheidenden Element im Gesamtverhalten
des Systems. Die entscheidenden Stellen für die Autonomie des Systems sind dann
die überwachenden Kanäle und die aus ihnen gespeisten
Informationssammelstellen. Die Autonomie eines Menschen, eines
Wirtschaftsunternehmens, einer sozialen Gruppe, einer Partei oder eines
Regierungsapparates kann zerstört werden, wenn man zwar das Gedächtnis
unbeschädigt läßt, aber das Bewußtsein ausschaltet, indem man den
Informationsfluß, der über den Zustand der verschiedenen Teile berichtet,
unterbricht und damit die Steuermechanismen, die zur Lenkung innerer Vorgänge
auf eben diese Informationen angewiesen sind, außer Betrieb setzt...
Diese Aufgabe haben unsere
Publikationsmedien übernommen, die unter dem Vorwand von "Kampf gegen
Rechts" wesentliche Informationen unterdrücken und so die Demokratie der
"politisch korrekten" öffentlichen Meinung unterwerfen und den
Durchschnittsmenschen zum Schlafwandler degradieren.
Eine
Gesellschaft, die sich selbst steuern soll, muß in voller Stärke fortlaufend
einen dreifachen Informationsfluß empfangen: Informationen über die Außenwelt;
Informationen aus der Vergangenheit, wodurch der Bereich der Entnahme und
Neuordnung von Erinnerungen sehr weitgespannt sein muß; Informationen über sich
selbst und alle Einzelteile. Wenn einer dieser drei Ströme längere Zeit
unterbrochen bleibt, etwa durch Unterdrückung oder Geheimhaltung, wird die
Gesellschaft zu einem Automaten, einer wandelnden Leiche. Sie verliert die
Kontrolle über ihr eigenes Verhalten, und zwar nicht nur in einzelnen Teilen,
sondern schließlich und gerade auch an ihrer Spitze... (a. a. O. S.193)
Bei der Selbstbestimmung sind die Rückführschaltungen mit dem relativ höchsten
hierarchischen Rang diejenigen Stellen, in denen das >Selbst< des
Systems zu suchen ist. Diese Rückführschaltungen liegen niemals nur an einer
einzigen Stelle; sie können vielmehr eine breite räumliche Streuung aufweisen.
Wenn die ranghöchsten Kanäle vernichtet oder gestört sind, dann geht das
selbststeuernde Verhalten auf die nächstniedrigere Ebene über, und das
verbleibende, schon primitivere >Selbst< ist nun an den Stellen zu
suchen, an denen noch die relativ ranghöchsten Rückführschaltungen
funktionieren. Wo es ein Bewußtsein gibt, da ist die Eigengesetzlichkeit an den
Stellen konzentriert, die das Bewußtsein tragen, also im System der
selbstüberwachenden Rückführschaltungen... (a. a. O. S.194)
Eigengesetzlichkeit
erscheint in dieser Perspektive nicht als eine stabile Eigenschaft, sondern als
Funktion einer bestimmten Anzahl von Kanälen in einem Kommunikationssystem. Die
Selbstbestimmung ist um so größer, je höher die Zahl, die Wirksamkeit der
Organisationsform und die Rangordnung dieser Kanäle ist. Diese Auffassung
stimmt mit dem Hinweis von A. J. Toynbee überein, wonach die Entwicklung von
Organismen und Kulturen nicht an ihrer zunehmenden Größe, sondern an ihrer
zunehmenden Selbstbestimmung zu messen sei. (Arnold J.
Toynbee: A Study of History. Bd.3. London 1935, S.112 - 217)
Integration und Würde
Integrität bedeutet somit das ungestörte Funktionieren der Anlagen, die dem
Vorgang der Selbstbestimmung zugrunde liegen. Die >Integrität< jedes
selbststeuernden Systems kann entweder dadurch gestört werden, daß man einigen
Kanälen eine nicht-autonome Veränderung aufzwingt (etwa indem man einen Kanal
abtrennt oder seine Schaltverbindungen unterbricht), oder auch dadurch, daß man
die Kanäle unversehrt läßt, ihnen jedoch eine so große Nachrichtenlast
aufbürdet, daß der eine oder andere seiner Funktion nicht mehr gewachsen ist.
...
Wenn wir unsere >Integrität< verteidigen, dann meinen wir unsere
autonomen Lernmechanismen, das heißt die Persönlichkeitsstruktur, die wir uns
erworben haben. Wenn wir die Würde eines Menschen verteidigen, dann meinen wir
seine Fähigkeit, von seiner Persönlichkeit Gebrauch zu machen: wir verteidigen
ihn gegen den Zwang, mit unerträglich hoher Geschwindigkeit lernen zu müssen;
also sein Verhalten unerträglich rasch ändern zu müssen — unerträglich
insofern, als dieser Zwang mit dem dauernden Funktionieren seiner
Selbstbestimmung, mit seinem autonomen Lernprozeß unvereinbar ist. Demnach wird
die Würde eines Menschen beeinträchtigt, wenn man ihn zu einer Handlung zwingt,
die ihn von der autonomen Steuerung seines eigenen Verhaltens ausschließt und
ihn stattdessen zum Objekt eines anderen Vorgangs, in Kants Terminologie zum
>Mittel< anstatt zum >Zweck< werden läßt. Je umfassender der
Verlust der Selbstbestimmung, desto tiefgreifender ist der Verlust der Würde...
Begriffe
wie >Menschenwürde<, >Integrität< und >Eigenwert der
menschlichen Persönlichkeit< haben eine bedeutende politische und emotionale
Wirkungskraft. Sie wurden in die Charta und in die Menschenrechtserklärung der
Vereinten Nationen aufgenommen. Sie wurden zuweilen wegen ihrer Unbestimmtheit
kritisiert, aber es scheint, daß man ihnen nunmehr eine präzise und
operationale Bedeutung zuschreiben kann, nämlich Respekt vor dem Recht jedes
Menschen, mit seiner eigenen Geschwindigkeit und mit seinem eigenen inneren
Rüstzeug nach einem ununterbrochen ablaufenden, autonomen Verfahren zu lernen
und dabei seine persönliche Vergangenheit, die er gespeichert, und seine persönlichen
Präferenzen, die er sich angeeignet hat, auf jeder Stufe soweit anzuwenden, daß
das Ergebnis dadurch zumindest mitbestimmt wird.
Würde ist ungestörtes Lernen. Integrität ist ein störungsfreier und
unbeschädigter Zustand der inneren Lernmechanismen. (a. a. O. S.196,197)
Aber was hat da der Westen den
Afghanen und Irakern jüngst zugemutet?
In Katastrophenfällen und plötzlich hereinbrechenden Ausnahmesituationen sind
Würde und Integrität nicht immer mit dem Überleben vereinbar. Wo die Macht der Umstände
den Menschen eine halsbrecherische Geschwindigkeit im Lernen aufzwingt, da sind
häufig zweierlei Opfer zu beklagen: die stolzen, unbeu8gsamen Charaktere
>alter Schule<, die um sich schlagen und mit fliegenden Fahnen
untergehen, und die rückgratlosen Opportunisten, die sich das Leben erkaufen,
nur um zu überleben.
Die Lösung des Problems liegt vielleicht in einer Erweiterung aller inneren
Anlagen, die eine ununterbrochen störungsfreie Anpassung mit hoher
Geschwindigkeit bewältigen können. Hohe Lerngeschwindigkeiten und weitgehende
Verhaltensänderungen ohne jeden Verlust an innerer Struktur und wirksamer
Vergangenheit sind vielleicht am besten zu erreichen, indem man Vielfalt,
Flexibilität und Zahl der inneren Kommunikationskanäle steigert. Integrität und
Würde reichen nicht aus, um dauerhafte Selbstbestimmung zu gewährleisten. In
der Sprache der Religion heißt das, daß Stolz den Tod bedeutet, wo eine
Glaubensänderung das Leben retten kann...
Zur Begriffsbestimmung des Geistes
Nach diesem sehr flüchtigen Überblick über gewisse Kommunikationsmuster können
wir vielleicht versuchen, den Begriff des Geistes näher zu bestimmen.
Als Geist (mind) kann zunächst einmal jeder sich selbst in Gang haltende
physische Vorgang definiert werden, der folgende neun Operationen mit
einschließt: Auswahl, Abstraktion, Übermittlung, Speicherung, Unterteilung,
Entnahme, Neuordnung, kritisches Erkennen und erneute Anwendung von
Informationselementen.
Einzelne (>diskret<) Informationselemente, die durch ein Netzwerk geleitet werden, heißen >Nachrichten<. (a. a. O. S.197,198) Physikalisch gesehen ist jede Nachricht ein reproduzierbares Strukturmuster von Zustandsveränderungen einzelner Netzteile, dem regelmäßig bestimmte, von diesem Strukturmuster abhängige Vorgänge nachfolgen. (Mitteilung von Norbert Wiener. 11.04.1949) Jede Nachricht, die eine relativ stabile Beziehung zu einem Ereignis außerhalb des Netzes aufweist, kann als Symbol tätig sein. Geist ist demnach als ein sich selbst erhaltender Vorgang zur Übermittlung und Verarbeitung von Symbolen zu verstehen...
Beim
schöpferischen wie auch beim eklektischen Denken erfolgt eine Neuordnung alter
Elemente; aber während der Eklektizismus nicht über diesen Vorgang hinausgeht,
abstrahiert die Schöpferkraft neue Strukturmuster aus der Kombination und
verwendet sie weiter. Nach einer solchen sekundären Abstraktion und Speicherung
kann das neue Strukturmuster entweder zu neuen Kombinationen im Rahmen einer
weiteren geistigen Tätigkeit verarbeitet oder gleich direkt in neuen Aktionsmustern
der Wirkungsorgane des Systems angewandt werden.
Dieses letztere Ergebnis einer Neuerung, nämlich die Einführung eines neuen
Verhaltenselements. können wir als Initiative bezeichnen. In besonderen
Fällen kann Initiative eine ganze Reihe von Verhaltensweisen betreffen, wobei
die Neuerung darin besteht, daß Präferenzen und Wertvorstellungen nach einem
allgemeinen Strukturmuster verändert werden, wodurch ganze Kategorien künftigen
Handelns eine neue Wahrscheinlichkeit gewinnen....(a. a. O. S.198,199)
Gibt
es einen Lernprozeß der Gruppe, das heißt bewirken neue Informationen
wesentliche Veränderungen in der Struktur der Gruppe? ... daß also ein Mensch
oder eine kleinere Gruppe an mehreren selbststeuernden Kommunikationssystemen,
in denen Gedanken erzeugt und verarbeitet werden, teilhaben kann.
Der Vorgang, den wir >Geist< genannt haben, ist auf eine bestimmte
Zusammenstellung von physischen Anlagen angewiesen; er ist aber nicht
angewiesen auf die Erhaltung der einzelnen Anlagen , sofern diese jeweils durch
andere Anlagen ersetzt werden können, ohne daß die Gesamtstruktur zerstört
wird... Auf diese Weise können Steinquader bei der Renovierung einer
Kathedrale, Drähte und Relais in einer Telephonzentrale, Zellen in einem
lebenden Körper ersetzt werden; Menschen leben und sterben und werden in ihrer
Funktion für die Gesellschaft ersetzt — dies alles, ohne daß dabei die
relevante Zusammensetzung dieser Strukturen notwendigerweise zerstört wird....
(a. a. O. S.200)
Da der Geist auf physische Anlagen angewiesen ist, gehört dazu notwendigerweise auch ein Vorgang, der diese Anlagen vor dem Verfall bewahrt. Zum Geist gehört Leben. Organisches und soziales Leben ist in gewisser Hinsicht als ein sich selbst erhaltender, reproduzierender und verändernder Autokatalysator zu verstehen, oder allgemeiner gesprochen, als eine sich selbst erhaltende, reproduzierende und verändernde Struktur von materiellen Vorgängen...(a. a. O. S.201)
Leben kann ohne Denken bestehen, weil die fortlaufende Instandhaltung von Kanälen auch ohne zusätzliche Rückkopplung von Informationen möglich ist., aber Geist kann nicht ohne Leben bestehen, weil die fortlaufende Rückkopplung von Informationen nicht ohne die Instandhaltung der Kanäle möglich ist...(a. a. O. S.202)
In
gewissen Kanalanlagen, zum Beispiel in Rechenmaschinen, können alle
Informationsströme gelöscht werden, so daß jeder neue Durchlauf unbeeinflußt
von allem, was zuvor geschehen ist, von vorne beginnt...
der Geist ist keine Maschine, sondern das Strukturmuster eines nur einmal
durchlaufenden Informationsprozesses.
Zum Geist gehört deshalb Individualität. ... Es scheint nahezu ausgeschlossen,
daß sich zwei Menschen, deren Geistestätigkeit längere Zeit in einer
nicht-einheitlichen Umwelt abläuft, nicht allmählich geistig voneinander
unterscheiden, selbst wenn die >körperliche Ausstattung< — die Anlage
ihrer Kanäle — anfangs genau identisch gewesen ist. Die unterschiedliche
Entwicklung der Persönlichkeit von eineiigen Zwillingen scheint diese
Auffassung zu bestätigen... (a. a. O. S.203)
Aus
den Ergebnissen der Forschungen über Entropie können wir vielleicht schließen,
daß Geist nur relativ selten vorkommt. Vorgänge mit einem hohen Ordnungsgrad
sind statistisch weniger häufig als Vorgänge, die durch weniger Ordnung (also
größerer Entropie) gekennzeichnet sind...
Nach den gleichen Erwägungen kann man aber auch erwarten, daß Geist zwar
selten, aber doch weit verbreitet im Universum vorkommt...
Wie wir voraussetzen, daß es Gesetze der Gravitation oder der Verbrennung oder
der Biologie gibt, können wir auch annahmen, daß es gewisse >Gesetze des
Geistes< gibt, die für jede Spielart des Geistes gelten, und zwar unabhängig
von den jeweiligen physischen Vorgängen, auf denen die inneren
Kommunikationskanäle beruhen. (a. a. O. S.204) Zum Geist gehören zum Beispiel
in jedem Fall Gedächtnis, Autonomie und Individualität. Geist muß in
irgendeiner Weise die gegenwärtigen Informationen aus der Außenwelt mit den
Informationen aus seiner eigenen Vergangenheit (seinem Gedächtnis) in Einklang
bringen. Er kann nicht ohne Präferenzen oder Werte arbeiten. Was wir über
Eigengesetzlichkeit, Integrität und Würde gesagt haben, muß auf jede Form des
Geistes zutreffen; das gleiche gilt für den Zusammenhang zwischen
schöpferischem und pathologischem Lernen.
Es ist bekannt, daß die ethischen Normen der großen philosophischen und
religiösen Lehren der Welt weitgehend ähnlich, ja häufig identisch sind...
Begriffe wie >geistige Gesundheit< und >moralische Gesundheit< sind
uns vertraut, und es hat schon immer Mutmaßungen über ihren Zusammenhang
gegeben. Es müßte möglich sein, diese allgemeinen Begriffe mit genaueren
strukturellen Details auszufüllen, die der Nachprüfung durch bestimmte
Operationen zugänglich wären...
Zwischen dem Begriff der Selbstbestimmung und dem Begriff des Wachstums besteht
ein Zusammenhang, und ein zeitgenössischer Geschichtsphilosoph hat die Ansicht
vertreten, daß ein Zuwachs an Selbstbestimmung das wesentliche Kriterium des
Wachstums sei. [Toynbee, a. a. O. S.217]. Gleichwohl sollte der Begriff des
Wachstums noch weiter gefaßt werden..
Wachstum sollte nicht nur den höchsten Grad von Einheit und Selbstbestimmung
innerhalb der bestehenden Grenzen eines Systems bedeuten (was man mit Parsons
als >Integration< bezeichnen könnte) und auch nicht einfach eine bloße
Erweiterung des System ohne jede Veränderung seiner Leistungsmerkmale (also
Wachstum im Sinne der Erhaltung von Verhaltensmustern oder pattern
maintenance, wie es bei Parsons heißt. [a. a. O. S.205, 206] Wachstum
sollte auch bedeuten, daß die Lernfähigkeit des Systems dazu verwendet wird, um
seine Aufnahmebereitschaft, das heißt die Reichweite, Vielfalt und
Leistungsfähigkeit seiner Kanäle zur Aufnahme von Informationen aus der
Außenwelt zu vergrößern (was etwa der >Anpassung< oder adaption
bei Parsons entspricht).
Darüber hinaus sollte Wachstum eine Steigerung in der Fähigkeit einer
Organisation bedeuten, auf ihre Umwelt in wirksamer Weise und entsprechend
ihren Bedürfnissen zu reagieren (also nach Parsons die Erreichung der eigenen
Ziele , die Funktion des goal attainement, zu gewährleisten). Und
schließlich sollte Wachstum auch eine Zunahme der Reichweite und Vielfalt aller
Ziele, denen eine Organisation nachstreben kann, bedeuten — einschließlich der
Fähigkeit, ihre Ziele zu ändern und sich selbst neue Ziele zu setzen. Das
dritte dieser Wachstumskriterien, die Aufnahmebereitschaft und
Anpassungsfähigkeit eines Systems, ist von Philosophen und großen religiösen
Führern immer als >Demut< bezeichnet worden. Das letzte dieser Kriterien,
also die Fähigkeit einer Organisation, nicht der Gefangene einer zeitweiligen
Zielvorstellung zu bleiben, sondern ihre Ziele ändern zu können, hat man auch
als die Fähigkeit des Menschen bezeichnet, der >Vergötzung von vergänglichen
Einrichtungen< (idolization of ephemeral institutions) zu entgehen.
Aus
Sicht der Biotelie heraus, kann all diesen Forderungen nach Fähigkeiten eines
Systems zugestimmt werden, wobei sie im Hauptzielbegriff der dynamischen
Stabilität enthalten sein sollen und von K. W. Deutsch treffend beschrieben
werden. Der Bogen reicht über den Aspekt der AKTIVITÄT als Handlungsfähigkeit;
gestützt durch das VERGLEICHEN; letztlich bis zur Überlebensfähigkeit; die mit dynamische
Stabilität ausgedrückt wird.
Das Bevölkerungswachstum der Menschheit ist jedoch derart aus den Fugen
geraten, dass der Erhaltung der Massen jegliche Rücksichten auf die hier
aufgeführten hehren Ziele der Selbstbestimmung in wachsendem Maße zum Opfer
fallen und Massenelend, wenn nicht sogar zukünftig Massenvernichtungskriege,
die Folge sind. Hier sollte der Mut und die Bemühung derjenigen von höherer
Bildung und bequemem Auskommen ansetzen, eine Regelungspolitik neben der
Machtpolitik zu entwickeln, um sie gegenüber letzterer, die doch zu einer
lebenserhaltenden und zugleich für alle erträgliche Politik auf lange Sicht
unfähig ist, in eine Vormachtstellung zu bringen.
Geisteshaltung und Bedeutung
.. Während der Geist niemals ohne Werte arbeiten kann, bezeichnet Geisteshaltung
eine Wertung zweiten Grades, eine Gruppe von Präferenzen, bezogen auf
verschiedene Gruppen von Präferenzen. Menschen, Völker, Epochen haben neben
anderen Eigenschaften auch die Eigenschaft gemeinsam, daß sie Systeme
repräsentieren; die Geisteshaltung eines Menschen, eines Volkes oder einer
Epoche besteht in der Zusammensetzung der Regeln, nach denen die Wertsysteme
geordnet und angewandt werden. Die Beziehung zwischen Geisteshaltung und Werten
entspricht der zwischen Strategie und Taktik, zwischen Richtlinie und
Einzelmaßnahmen. Eine Änderung der Geisteshaltung bedeutet demnach eine
strategische Veränderung der Verhaltensmuster. Unter geeigneten Bedingungen
kann eine solche Änderung wie eine Nachricht übertragen werden.
Wie Geisteshaltung die internen Strukturmuster des Geistes betrifft, so
bezeichnet Bedeutung seine Beziehungsmuster in einem weiteren
Zusammenhang....
In kürzeren Worten: Bedeutung heißt Zusammenhang. Eine Bedeutung erkennen heißt
Ähnlichkeiten in einer Reihe mit gleichem logischen Rang und darüber hinaus die
Extrapolation dieser Reihe in einer anderen Reihe von höherem logischen Rang
erkennen.
Bedeutung ist demnach eine physische Position in einer Folge von Ereignissen.
Bedeutung ist deshalb immer relativ. Es gibt so viele Bedeutungen, wie es
logische Rangstufen gibt. Und es gibt so viele logische Rangstufen wie es
physische Zusammenhänge, das heißt objektive Abläufe von physischen Ereignissen
gibt. In diesem Sinne ist >Bedeutung< wirklich vorhanden, ob sie nun von
einem Beobachter wahrgenommen wird oder nicht: der Felsbrocken, den ein kleiner
Junge auf die Eisenbahnschienen gelegt hat, >bedeutet< im Zusammenhang
mit der Eisenbahn möglicherweise eine Katastrophe, ob nun der Junge sich dessen
bewußt ist oder nicht; er kann in anderen Zusammenhängen noch mehr bedeuten,
beispielsweise in der Erziehung des Jungen oder in seiner
Persönlichkeitsbildung, und auch diese Veränderungen sind nicht
notwendigerweise von seiner Einsicht abhängig, wenngleich sie davon beeinflußt
werden können...(a. a. O. S.207)
Aus unserer früheren Darstellung dürfte klar hervorgehen, daß ein wesentlicher
Teil des Geistes darin besteht, Ereignisse mit Bedeutungen in Beziehung zu
setzen und die zugeschriebenen Bedeutungen zu verifizieren... (a. a. O. S.208)
Dritter Teil
Kommunikationsmodelle und politische Entscheidungssysteme
Neuntes Kapitel
Kommunikationsmodelle und politische Entscheidungssysteme
Einige Folgerungen für die Forschung
... Allgemein kann Information definiert werden als das Strukturmuster eines
Verteilungszustandes oder auch als ein Beziehungsmuster von Ereignissen.
Entsprechend kann die Verteilung von Licht und Schatten in einer Landschaft
annähernd wiedergegeben werden durch die Verteilung deiner Menge von
elektrischen Impulsen in einem Fernsehkabel... (a. a. O. S.212)
Empfang von Informationen
Die Wirkung einer Information beim Empfänger ist von zweierlei Bedingungen
abhängig. Zunächst müssen sich zumindest einzelne Teile des empfangenden
Systems in einem sehr unstabilen Gleichgewicht befinden, so daß die winzige
Energiemenge, die das Signal überträgt, schon genügt, um einen weitgehenden
Veränderungsprozeß auszulösen. Wenn ein solches Ungleichgewicht beim Empfänger
nicht schon vorhanden ist, wird die Information keine bedeutenden Auswirkungen
haben... (a. a. O. S.214)
Fülle der Information und Selektivität des Empfangs
Bei der zweiten Art von Bedingungen, nach denen sich die Wirkung einer
Information richtet, handelt es sich um die begrenzte Aufnahmefähigkeit oder Selektivität
des Empfängers. Welche Informationsmuster muß der Empfänger schon
gespeichert haben und wie genau passend müssen die eintreffenden Signale sein,
um eine Wirkung hervorzurufen? Ein einfaches Beispiel für dieses Problem ist
die Beziehung zwischen Schlüssel und Schloß... (a. a. O. S.215)
Messung von Informationen und Wiedergabetreue von Kanälen
Als Ergebnis aller dieser Arbeiten hat sich ein quantitativer Begriff der
Information herausgebildet. Information kann gemessen und gezählt, und die
Leistung eines Informationskanals, der die Informationen überträgt oder
verzerrt, nach quantitativen Maßstäben bewertet werden... (a. a. O. S.216)
Information und sozialer Zusammenhalt
Wenn wir Informationen messen können, und sei es auch nur in grober Annäherung,
dann können wir auch den Zusammenhalt von Organisationen oder Gesellschaften
messen, und zwar an ihrer Fähigkeit, Informationen mit kleineren oder größeren
Verlusten oder Verzerrungen zu übertragen. Je geringer die Verluste und
Verzerrungen und beigemischten irrelevanten Informationen (oder
>Geräusche<) sind, desto leistungsfähiger ist ein Kommunikationskanal
oder eine Kommandostruktur (>Befehlskette<). (a. a. O. S.217)
Die Fähigkeit zur weitreichenden und wirksamen Kommunikation über nichttraditionale Themen dürfte von Bedeutung sein für Zusammenhalt und Lernfähigkeit von Völkern und politischen Systemen in Ländern, die eine rasche Industrialisierung durchmachen... (a. a. O. S.218)
Systeme der persönlichen Kommunikation und Symbole der Legitimität
Viele Studien über Politik haben die Bedeutung der Macht und des Zwanges
hervorgehoben; nun ist es an der Zeit, darauf hinzuweisen, daß jeder Zwang auf
vorherige Information angewiesen ist. Es ist unmöglich, die Ausführung eines
Befehls zu erzwingen, solange die Zwang ausübende Stelle nicht weiß, gegen wen
sich der Zwang richten soll— eine Binsenweisheit, die den Liebhabern von
Kriminalromanen schon viel Vergnügen bereitet hat. Das Problem wird ernster,
wenn Zwang sich gegen eine größere Anzahl von persönlich nicht bekannten
Mitgliedern einer widerspenstigen Bevölkerung gerichtet werden soll: solche
Situationen ergeben sich gegenüber Verschwörungen, Untergrundbewegungen,
Widerstandsaktionen in militärisch besetztem Gebiet und Guerillakämpfern.
In ähnlicher Weise ist Folgeleistung auf vorherige Information angewiesen.
Niemand kann einem Befehl folgen, solange er nicht weiß, was befohlen wird...
(a. a. O. S.219)
Bei
der Beurteilung der politischen Rolle dieses Sachverhaltes [es handelte von der
Legitimitätswirkung von Befehlen] können leicht zwei Fehler gemacht werden. Der
erste besteht darin, die Rolle von unpersönlichen Kommunikationsmitteln
(Rundfunksendungen, Zeitungen und dergleichen) zu überschätzen und
unvergleichlich größere Bedeutung von persönlichen Kontakten zu unterschätzen.
Die entscheidende Wirkung einer politischen Partei oder einer Untergrundorganisation
besteht gerade in ihrer Funktion als ein Netzwerk von solchen persönlichen
Kontakten...
Der zweite Fehler besteht darin, die Legitimationsmythen oder -symbole isoliert
von den Nachrichtensystemen und menschlichen Kontaktnetzen (die man auch als
>Organisation<, >Maschine<, >Apparat< oder >Bürokratie<
bezeichnet) zu sehen, in denen sie übertragen und selektiv verbreitet werden.
Während des Zweiten Weltkriegs galten mehrere Exilregierungen beim Großteil der
Bevölkerung in den von den Deutschen besetzten Gebieten weiterhin als die
einzigen legitimen Regierungen. Die entscheidende Unfähigkeit der Nazis, ihren
Legitimitätsvorstellungen in diesen Ländern Geltung zu verschaffen, führte zum
Aufbau von Widerstandsorganisationen im Untergrund, deren Mitglieder weitgehend
Kommunisten und ihnen nahestehende Personen waren. Die Möglichkeit zur
Mitarbeit im Untergrund verdankten die Kommunisten zumindest anfangs teilweise
den Legitimationsvorstellungen, die eine solche Zusammenarbeit zuließen; ohne
diese Vorstellungen, durch die das Ansehen der französischen oder
tschechoslowakischen Republik oder der norwegischen Krone allen Mitwirkenden im
Untergrund zugute kam, hätten die Kommunisten eine eigene und schwächere
Untergrundtätigkeit organisieren müssen. (a. a. O. S.220,221)
Ohne weitverbreitete günstige Legitimationsvorstellungen ist der Aufbau eines
Netzwerks der persönlichen Kommunikation überaus schwierig, wie beispielsweise
der Fehlschlag der Quisling-Gruppe in Norwegen gezeigt hat...
Wir
können demnach annehmen, daß politische Macht eigentlich im mehr oder weniger
weit reichenden Zusammenwirken von Legitimationsvorstellungen und sozialen
Kommunikationskanälen entstehen kann... (a. a. O. S.221)
Das biotele System verfügt noch
nicht über wirksame soziale Kommunikationskanäle. Von den infragekommenden
Ansprechpartnern gehobener Bildung werden zunächst höchstens einzelne zu einer
Mitarbeit bereit sein, zumal es sich ja um einen ehrenamtlichen Anfang handelt.
Die Legitimationsfrage scheint — theoretisch wenigstens — einfacher zu lösen
sein. Die Zielsetzung der dynamischen Stabilität entspricht der international
anerkannten "nachhaltigen Entwicklung" der Brundtland-Kommission, die
Teilziele und Methoden in den biotelen Aspekten ist weitgehend altes philosophisches
Gedankengut mit weitgehender Anerkennung. Mit der Erklärung von Biotelie zum
Naturrecht, wird an uralte Sehnsüchte der Menschheit angeknüpft. Selbst die
Anhänger einer "Herrschaftslosigkeit" (Anarchie) können in der
Anwendung eines unabhängigen biotelen Gutachtenverfahrens ein Stück
Machtverzicht erkennen. Um den vorherrschenden Stimmungen der einer biotelen
Gesetzgebung Unterworfenen Rechnung zu tragen, wird das Inkrafttreten jedes
biotelen Gesetzes an die Zustimmung (oder besser ausgedrückt: Duldung) der von ihm
Betroffenen in direktdemokratischer elektronischer Abstimmung unterworfen. Man
darf freilich sich nicht der Illusion hingeben, daß die Abstimmenden immer der
Tatsache Rechnung tragen werden, daß sich biotele Gesetzesanträge am Gemeinwohl
orientieren. Gegen Anti-Korruptionsgesetze werden nicht nur die Reichen,
sondern auch die Armen zunächst starke Bedenken haben. Die kleinen Leute werden
erst lernen müssen, daß sie bei Verzicht auf kleine Gaunereien trotzdem
profitieren, wenn den großen Gaunern in weitem Umfang das Handwerk gelegt wird.
Aber vielleicht findet sich doch eine mächtige Gruppe aus den Eliten, welche
das Schmierentheater der gängigen Politik nicht gänzlich unkontrolliert
weiterlaufen lassen wollen und für eine sachlich orientierte und gesteuerte
Politik in überschaubaren Teilbereichen eintreten oder wenigstens für eine
Vorbereitung einer solchen für den Fall großer Katastrophen.
Die >mittlere Ebene< der
Nachrichten- und Befehlsübermittlung
Die strategisch wichtige >mittlere Ebene< kann etwas genauer eingegrenzt
werden. Es handelt sich um diejenige Kommunikations- und Befehlsebene, die in
>vertikaler< Richtung der großen Masse der Verbraucher, Staatsbürger oder
einfachen Soldaten nahe genug liegt, um jeden dauernden und wirksamen
Kontakt zwischen diesen und den Personen auf der >höchsten Ebene< zu
unterbinden oder ihm zuvorzukommen; es ist dies zugleich die Ebene, die hoch
genug über der breiten Masse liegt, um eine wirksame >horizontale<
Kommunikation und Organisation zwischen einem hinreichend großen Teil der
Personen und Einheiten der gleichen Rangstufe ermöglichen. Unter diesem
Gesichtspunkt ist im allgemeinen die Zahl der Generale zu klein, als daß es
ihnen möglich wäre, von den Mannschaften direkt Informationen entgegenzunehmen
oder ihnen direkt befehle zu erteilen; und die Zahl der Feldwebel und Leutnante
ist zu groß, als daß es ihnen möglich wäre, sich zu politischen Zwecken in
wirksamer Weise zu organisieren. In jeder Hinsicht scheinen die Obristen an der
Stelle zu sitzen, die für politische Intrigen am besten geeignet ist; und
tatsächlich sind die Länder, in denen Offiziere traditionsgemäß sich in die
Politik einmischen dürfen, sofern man dies nicht gar von ihnen erwartet, die
Obristen diejenige Gruppe, die sich am meisten hervorzutun pflegt... (a. a. O.
S.222,223)
Mit diesem Begriff der >mittleren Ebene< haben wir vielleicht einen
relativ einfachen Zugang zur Analyse von Regierungsformen, Parteien oder
politischen Entscheidungssystemen gewonnen, die kurzfristig durchführbar ist,
wo Zeit und Forschungsmittel beschränkt sind. In allen Systemen dieser Art
sollte man zuerst nach der entscheidenden Gruppe auf der mittleren Ebene (oder
eigentlich schon auf einer >mittleren Hochebene<) sehen, die jene fünfzig
bis fünfhundert Personen umfaßt, ohne deren Mitwirkung oder Zustimmung (oder
auch Ersetzung) in fast allen Entscheidungssystemen nichts unternommen werden
kann. In der Armee sind dies die Obristen; im Regierungsapparat vielleicht die
höchsten Beamten der Ministerien und die Leiter der Personalabteilungen... (a.
a. O. S.225)
Es ist bemerkenswert, daß die Personen auf dieser strategisch wichtigen
>mittleren Ebene< im allgemeinen sehr geringe Publizität erhalten. Sie
sind >Männer hinter den Kulissen<, die die eigentliche Arbeitslast der
Ausarbeitung, Genehmigung und Ausführung der meisten strategischen
Entscheidungen tragen... (a. a. O. S.224)
Interne Intelligenzfunktion und kontinuierliches Führertum
Zur Politik gehört, wie wir gesehen haben, einerseits ein Instrumentarium, mit
dem die Durchsetzung von Befehlen erzwungen werden kann, andererseits eine
gewohnheitsmäßige Folgeleistung gegenüber diesen Befehlen. Die zwei damit
zusammenhängenden Informationsströme können unter >normalen< politischen
Verhältnissen als gegeben vorausgesetzt werden; das heißt unter den typischen
Verhältnissen eines westeuropäischen Staates im späten neunzehnten Jahrhundert,
in einer Friedenszeit ohne unmittelbare Kriegsgefahr und ohne innenpolitische
Umwälzungen...(a. a. O. S.225,226)
In
... Unruhesituationen sieht sich eine Regierung nicht nur dem vordergründigen
Problem gegenüber, wie sie dafür sorgen könne, daß ihre Beamten den gewünschten
Loyalitäten und Wertvorstellungen treu bleiben, sondern auch dem technischen
Problem, wie sie sich einen ständigen Zustrom von verläßlichen Informationen
über das Verhalten ihrer Beamten sichern soll. (a. a. O. S.226,227) Bis zu
einem gewissen Grad genügt auf die Frage >Wer bewacht die Wächter?< die
Antwort: >Seine Kollegen sowie die gesamte Bevölkerung, sofern sie in den
allgemeinen Legitimitätsvorstellungen eine ausreichende Motivation finden.<
In einer Gesellschaft aber, in der die politischen Opportunisten überwiegen,
die sich wenig um Legitimität kümmern und lieber den Siegern jeweils
rechtzeitig zu Hilfe eilen, wandelt sich das Problem zu einem Rechenkunststück,
mit dem man herauszufinden hofft, wie viele Menschen in einem gegebenen
Zeitraum ihre politische Gesinnung in welchem Ausmaß ändern werden. In einem
Land oder in einer Zeit mit schwachen Legitimitätsvorstellungen ist deshalb der
Zeitfaktor bei jedem politischen Gesinnungswandel, bei jeder Verschwörung, bei
jeder Säuberung von höchster Bedeutung. Selbst wo es fest verankerte
Legitimationsvorstellungen gibt, müssen potentiell aufsässige Inhaber von
Führungspositionen manchmal langsam und in ehrenvollen Abstufungen degradiert
werden (wie es zeitweise in der Sowjetunion üblich war), damit die Gefolgsleute
genügend Zeit finden, sich von ihnen mit dem geringsten Gesichtsverlust zu
lösen.
Die Inhaber der politischen Vollzugsgewalt scheitern aber nicht nur, wenn sie
sich über das wahrscheinliche Verhalten ihrer Mitarbeitern oder untergeordneter
Organisationen nicht laufend zu informieren verstehen, sondern möglicherweise
auch dann, wenn sie die Reaktion der Bevölkerung auf die Ausübung politischen
Zwanges falsch eingeschätzt haben... (a. a. O. S.227)
Freiwillige Nachahmung und militärische Kampfmoral
...Werden die Regierenden von den Regierten als Vorbilder oder
>Bezugsgruppen< (reference groups) akzeptiert? Diese Frage ist von
A. J. Toynbee mit dem Zusammenbruch von Imperien in Beziehung gesetzt worden:
Werden Verhaltensmuster, die von den Regierenden vorgeführt oder angeregt
werden, von der Bevölkerung freiwillig nachgeahmt? Toynbee vertritt die
Auffassung, die er mit einer Reihe von historischen Beispielen belegt, daß die
Verweigerung der Nachahmung lange vor der Verweigerung des Gehorsams eintritt
und ein Vorzeichen der Auflehnung darstellt. (a. a. O. S.229,230) In Toynbees
Terminologie sind Kulturen, die in Ausdehnung begriffen sind, dadurch
gekennzeichnet, daß sie von einer Minderheit regiert werden, die es versteht,
die Masse der Bevölkerung so zu >bezaubern<, daß diese sie nachzuahmen
sucht...
Entscheidungssysteme und Informationstragfähigkeit
(a.
a. O. S.230)
In allgemeinerem Sinne führt dieser Gedanke zu der Mutmaßung, daß
Nachrichtenüberlastung oder Entscheidungsüberlastung einen ganz entscheidenden
Faktor beim Zusammenbruch von Staaten und Regierungssystemen bilden kann... (a.
a. O. S.231)
Zehntes Kapitel
Lernfähigkeit und Kreativität in der Politik
...Nach der Auffassung Toynbees ist die Weigerung einer Bevölkerung, ihre
Herrscher nachzuahmen, auf die Unfähigkeit dieser Herrscher zurückzuführen,
einer neuen >Herausforderung< (challenge) an Staat oder Gesellschaft
eine wirksame neue Erwiderung (response) entgegenzustellen. Nach dieser
Deutung wurden die griechischen Talbauern durch den Andrang räuberischer Hirten
aus dem Bergland herausgefordert; sie >erwiderten< darauf mit der
Erfindung der polis, des Stadtstaates. Später waren es die Athener, die
sich der >malthusianischen Herausforderung< einer wachsenden
Bevölkerungszahl auf dürftigem Ackerland gegenübersahen und als
>Erwiderung< die Erfindung der >solonischen Revolution<, nämlich
Ölbaumkultur und Fernhandel, einführten...(a. a. O. S.233)
Aber die Wirkung einer
großen Einzelpersönlichkeit auf einen Staat kann heute bei dem Umfang auch
schon kleinerer Staaten nicht mehr so unmittelbar sein wie im alten Athen.
„Persönlichkeiten“ werden heute weitgehend als Trugbilder von den Medien
aufgebaut.
Fernhandel
Die Anlagen des sozialen Lernens und ihre Struktur
... Die Wahrscheinlichkeit einer Neuerung und die Lernfähigkeit hängen... bis
zu einem gewissen Grade vom Umfang der möglichen Neukombinationen aus einzelnen
Informationselementen und materiellen internen Hilfsmitteln ab. In diesem Sinne
ist die Lernfähigkeit einer Organisation davon abhängig, wie viele neue
Kombinationen aus menschlichen Kenntnissen, Arbeitskräften und materiellen
Anlagen in ihrem Innern zur Verfügung stehen. Die Vielfalt solcher
Kombinationsmöglichkeiten wächst vermutlich mit der >Auflösungsleistung<
des Systems, also in dem Maße, in dem Anlagen zur Informationsverarbeitung und
Informationsspeicherung — und damit auch die Einzelteile, aus denen sich
Kenntnisse zusammensetzen — in immer kleinere, voneinander unabhängige Elemente
untergliedert werden können. (a. a. O. S.235)
Wenn
eine Millionenherde von Affen auf einer Million Schreibmaschinen schreibt, so
ergibt sich... ein Variationsbereich möglicher Buchstabenkombinationen, der
auch die Gesammelten Werke William Shakespeares einschließt; aber die
Wahrscheinlichkeit, daß auf diese Weise die entsprechenden Kombinationen
innerhalb eines begrenzten Zeitraums gefunden werden können, ist unendlich
klein. Jeder Lernprozeß, bei dem eine große Anzahl von beziehungslosen
Einzelteilen zu neuen Kombinationen zusammengestellt wird, muß deshalb sehr
langsam vor sich gehen und möglicherweise durch zusätzliche Auswahlkriterien,
die nicht aus der Menge der zu kombinierenden Einzelteile selbst stammen
können, unterstützt werden. Dem entspricht die Beschreibung, die D. O. Hebb vom
>Lernprozeß der Kleinkinder< gegeben hat; das gleiche gilt für die vom
gleichen Autor stammende Beschreibung des Erlernens visueller
Orientierungsfähigkeit bei Personen, die ihr Augenlicht erst als Erwachsene
Dank einer Hornhautoperation gewonnen haben. [D. O. Hebb: The Organization of
Behavior. New York 1949, S.109-134] Davon unterscheidet Hebb den >Lernprozeß
der Erwachsenen<. Dieser besteht seiner Ansicht nach darin, daß eine viel
kleinere Anzahl von größeren Formationen, in denen Erinnerungen und
Gewohnheiten gleichsam gebündelt sind, zu neuen Kombination zusammengefügt
wird; das gleiche Prinzip gilt mutatis mutandis auch dann, wenn Formationen von
materiellen Anlagen neu kombiniert werden. Der Lernprozeß der Kleinkinder
gleicht nach dieser Auffassung dem Bau eines neuen Hauses aus einzelnen
Ziegelsteinen, der Lernprozeß der Erwachsenen der Montage von
Fertigbausteinen...(a. a. O. S.236)
Biotelie wäre demnach ein "Erwachsenenlernen", indem mit der Zielsetzung der dynamischen Stabilität und deren Aspekte Fertigteile vorgegeben wären, aus denen sich ein Haus jeweils recht schnell erbauen lässt. Aber da ein derartig erbautes Haus selten ist, kann eine Regierung nicht ohne "Kinderlernen" auskommen, d. h. ohne eine um Machtverhältnisse für Kompromisse ringende Politik.
Der Lernprozeß der Kinder ist langsamer, kennt aber vielfältigere
Entwicklungsmöglichkeiten als der Lernprozeß der Erwachsenen; Dieser ist
schneller, doch nur innerhalb der Grenzen, die der Kombinationsmöglichkeit
größerer Formationen von vorneherein gesetzt sind. [D. O. Hebb, a. a. O.]
(a. a. O. S.236)
Aus der Deutung ergeben sich drei neue Probleme: (1) ob sich ein optimaler
Bereich zwischen dem >kindlichen< und dem >erwachsenen< Lernen
gefunden werden kann; (2) ob verschiedene Stufen ein und derselben Organisation
zwischen kindlichem und erwachsenem Lernen alternieren können; (3) ob
strategische Interessenkriterien gefunden werden können, mit deren Hilfe es
möglich wäre, erfolgversprechende Kombinationen aus dem großen Bereich des
kindlichen Lernens auszuwählen und mit eher dem Lernprozeß der Erwachsenen
entsprechenden Methoden intensiver weiterzuentwickeln...
Eine Lösung wäre optimal, wenn die entsprechenden Kombinationsmuster
gleichzeitig gekennzeichnet sind durch einen hohen Grad an Vielseitigkeit und
Originalität (und das heißt: Unwahrscheinlichkeit), schnelle Verfügbarkeit bei
Auswahl und große Relevanz hinsichtlich der Herausforderungen<, die der
Organisation von ihrer Umwelt entgegengestellt werden.
Zur
Möglichkeit einer Messung des Lernprozesses und der Innovationsleistung
Der strukturelle Befund über eine gegebene Lernfähigkeit kann am empirischen
Befund der beobachteten >Lernleistung< kontrolliert werden. Die Forschung
könnte hier versuchen, die Konzeption einer >Lernkurve< auf das Verhalten
von Organisationen, Industriezweige oder Länder anzuwenden... (a. a. O. S.237)
Die
Registrierung der >Lernleistung< auf verschiedenen, aufeinanderfolgenden
zeitlichen Stufen kann selbst wieder zur Grundlage einer Messung gemacht
werden. Eine solche Messung zweiten Grades hätte einen Faktor zu messen, den
Gregory Bateson als >sekundäres Lernen< (deutero-learning) einer
Organisation bezeichnet hat. [G. B.: Social Planing and the Concept of
>Deutero-Learning<. In: T.M. Newcomb und E. L. Hartley (Hrsg.): Readings
in Social Psychology. New
York 1947, S.121-128] Sekundäres Lernen ist ein Lernprozeß zweiten Grades;
seine Messung würde bedeuten, daß die Schnelligkeit gemessen wird, mit der eine
Organisation zu lernen lernt, das heißt die relative Geschwindigkeit, mit der
sie ihre Leistung verbessert, wenn sie mit einer Reihe von verschiedenen
Lernaufgaben konfrontiert wird....
War der Lernprozeß der Organisation kreativ, hat er die mögliche
Reichweite ihrer Informationsaufnahme aus der Außenwelt und die mögliche
Reichweite ihrer inneren Neuordnungsvorgänge erweitert? Oder war der Lernprozeß
der Organisation bloß lebenserhaltend, hat er also die Kapazitäten, die der
Organisation zum Lernen und zur Selbststeuerung zur Verfügung stehen, weder
etwas hinzugefügt noch sie geschmälert? Oder war die Lernleistung pathologisch,
hat also die Organisation etwas gelernt, wodurch die Fähigkeit, weiterhin zu
lernen und ihr eigenes Verhalten zu steuern, vermindert worden ist? Wir haben
schon einmal angedeutet, daß ein solches selbstzerstörerisches Lernen dem
entspricht, was die Moralisten >Sünde< nennen. Vielleicht hatte Sokrates
das im Sinne, als er lehrte, daß kein Mensch willentlich irre.
Der Bundestagsbeschluß vom 29. Juni 2012 mit dem der "Fiskalpakt" mit
Zweidrittelmehrheit verabschiedet wurde scheint ein Beispiel pathologischen
Lernens zu sein. Mit großem Stolz wurde gerühmt, daß auch abweichende Meinungen
hätten dürfen vorgetragen werden. Aber auf deren Inhalt wurde in keiner Weise
reagiert, Die vorgetragenen ernsthaften Gegengründe stand gar nicht zur
Debatte. Mit der Flucht aus der Nationalität unter die Fittiche einer Regierung
der EU-Kommissare wird der Mehrheit der mißwirtschaftenden europäischen
Nationen das Recht zur Ausplünderung Deutschlands eingeräumt und mit der
Aufgabe der Haushaltssouveränität das wesentlichste Stück der Demokratie ohne Not
aus ideologischer Borniertheit aufgegeben.
Der Übergang vom >kindlichen< zum >erwachsenen< Lernen hat
zumindest einen Zug ins Pathologische. In dem Maße, in dem Informationen oder
materielle Hilfsmittel sich zu größeren Formationen verfestigen, Gewohnheiten
und Routinehandlungen sich in wenigen regelmäßigen Bahnen eingraben, wächst die
Geschwindigkeit und Wahrscheinlichkeit, mit der die Organisationen auf eine
begrenzte Vielfalt von jeweils wahrscheinlichen oder aktuellen Reizwirkungen
reagieren kann. (a. a. O. S.240,241) Diese offenkundige und beobachtbare
Leistungssteigerung in Routineangelegenheiten hat jedoch ihren Preis: sie muß
bezahlt werden mit einer Beschränkung der Vielfalt der verfügbaren
Neukombinationen innerhalb der Organisation, also mit der Verringerung ihrer
inneren Reserven an Originalität und Kreativität...
All dies kann zur Folge haben, daß der Bereich der zum Eintritt in die
Organisation zugelassenen oder in ihr wahrscheinlich wirksam werdenden
Informationen sich verengt. Die Organisation läuft dann gleichsam mit
Scheuklappen, die sie sich selbst angelegt hat, und ein kumulativer Verlust an
Sensibilität kann hinter der Fassade von scheinbar ständig reifer werdendem
Verhalten in teilweiser Blindheit enden. Es scheint, daß dieser pathologische
Aspekt im Lernprozeß der Erwachsenen den frühen Christen intuitiv geläufig
gewesen ist. Ihre Aufforderung, die Menschen sollten >werden wie die
Kinder<, muß die Jünger der platonischen Philosophie, die den Zustand der
Reife und Vollkommenheit priesen, schockiert haben... (a. a. O. S.241)"
Es wird also deutlich, daß mit
dem biotelen Entscheidungssystem weitgehend auch mehr "kindliches"
Lernen in die Regierungspraxis eingeführt würde, Kreativität, die von einzelnen
nachdenklichen und denkfähigen Bürgern ausgeht; der Anteil des
>Erwachsenenlernens< liegt in der konservativen Bindung an die uralten
und bewährten Erfahrungen mit den Begriffen, die in den Aspekten und in der
Hauptzielsetzung überliefert wurden.
Der
Abbau von festen Formationen, Gewohnheitsbahnen oder Routineverfahren kann also
sowohl schöpferisch wie pathologisch sein. Er ist schöpferisch, wenn er
einhergeht mit der Verbreitung grundlegender Hilfsmittel und folglich mit einer
Ausweitung des Bereichs, aus dem möglicherweise neue Informationen und neue
Kombinationen gewonnen werden können. Schöpferisch ist das Aufbrechen der
verkrusteten Sitten und Gebräuche in einer Gesellschaft oder Organisation, wenn
deren menschliche Einzelglieder dabei nicht nur aus alten Beschränkungen
befreit, sondern zugleich zu einer besseren Kommunikation und Kooperation mit
der Welt, in der sie leben, befähigt werden. Wo diese Bedingungen nicht erfüllt
werden, da kann es sich um eine echte Regression handeln. Der Rückfall in die
Barbarei bedeutet dann nicht allein den Verlust wertvoller Traditionen oder
Routineverfahren, sondern jede relative Unfähigkeit zu reden und zu hören, die
mit dem griechischen Wort barbaros ursprünglich gemeint war. (a. a. O.
S.242)
Das Verhalten und die Auswirkungen der 1968er Kulturrevolutionäre muss wohlweitgehend als barbarisch eingestuft werden.
Programmaspirationen und prophetisches Führertum
Wenn eine echte oder vermeintliche Lösung zu einem neuen Problem von einem
einzelnen oder von einer sozialen Gruppe entdeckt worden ist, so muß sie
anderen Menschen oder Gruppen zugänglich gemacht werden, um Zustimmung und
Unterstützung zu finden und schließlich zur Ausführung zu gelangen.... (a. a.
O. S.243)
1. müssen die vorgeschlagenen Lösungen zumindest teilweise die Gewohnheiten,
Präferenzen, Überzeugungen und vielleicht auch die sozial genormten
Persönlichkeitsstrukturen ihrer Befürworter ausdrücken. Andernfalls würden sie
von eben diesen Personen nicht und im Extremfall von überhaupt niemandem
vorgeschlagen werden...
2. müssen die vorgeschlagenen Ideen oder politischen Programme eine geeignete
Erwiderung auf Herausforderungen, mit denen Staat oder Gesellschaft
konfrontiert sind, darstellen...
3. müssen die vorgeschlagenen Lösungen, um in der Praxis verwirklicht zu
werden, nicht nur bei ihren eigentlichen Befürwortern und Förderern, sondern
darüber hinaus bei einer genügend großen Zahl von Personen und Gruppen in der
Gesellschaft genügend viel Anklang finden....
Dagegen gibt es für sehr ernste Herausforderungen, die das Funktionieren von Staat und Gesellschaft infrage stellen, unter Umständen nur solche Lösungen, die mit Hilfe der in der Gesellschaft vorhandenen normierten und allgemein anerkannten Erinnerungen, Gewohnheiten, Präferenzen und Kulturformen nur schwerlich entdeckt werden können. (a. a. O. S.244,245) Wenn solche Lösungen überhaupt rechtzeitig genug gefunden werden, um noch von politischer Bedeutung zu sein, dann vielleicht am ehesten von gewissen Außenseitern der Gesellschaft — von Personen also, deren Erinnerungen, Gewohnheiten oder Standpunkte sich wesentlich von ihrer sozialen oder kulturellen Umwelt unterscheiden und die, wenn sie sich mit neuen Ideen oder Verhaltensmustern identifizieren, weniger Gewohnheiten und Interessen opfern müssen als andere Leute...
Am Ende wird das neue Programm dann von den Mächtigen in Kraft gesetzt, die Ohnmächtigen aber bleiben ausgeschlossen, um sich entweder zu zerstreuen oder weiterhin das Leben einer Sekte zu fristen, die über die unvollkommene Verwirklichung ihrer Prinzipien klagt... (a. a. O. S.245)
Die bekannte Unterscheidung von >Programmaspirationen< und >Machtaspirationen< scheint in Situationen dieser Art ihre Bestätigung zu finden... (a. a. O. S.246)
Jegliches Abblocken von Vorschlägen und Maßnahmen, um die Unabhängigkeit der
Urteilsabgabe im biotelen Gutachtenprozeß vor Einflußnahmen von Fremdinteressen
und Korruption zu schützen, hebt das gesamte Verfahren als Steuerungsprozeß auf
und muß möglichst rasch als Einbruch der Machtpolitik entlarvt werden. Auch die
Beeinträchtigung bei der Erforschung wichtiger gesellschaftlicher
Zusammenhaltsfaktoren und die Unterdrückung von deren Forschungsergebnissen
gehören in diese Rubrik, wie eben überhaupt die Beeinträchtigung der
öffentlichen Information über lebenswichtige Zusammenhänge.
Gleichwohl spürt man etwas vom Berufsrisiko des Propheten, wenn Toynbee erneut
behauptet, daß jeder Schöpferakt eine >geheimnisvolle Handlung<, daß eine
>Neuerung logisch nicht verstehbar< sei und daß >man
Kausalzusammenhänge überhaupt leugnet, wenn man sagt, daß eine Ursache nicht
immer die gleiche Wirkung haben muß<. {A. J. Toynbee: Reconsiderations (A
Study of History, Bd.12), New York 1961, S.252,254,257]
Die letzte dieser drei Behauptungen ist schon seit längerer Zeit überholt,
nämlich seitdem sich statt der deterministischen eine
wahrscheinlichkeitstheoretische Denkweise durchgesetzt hat...(a. a. O. S.247)
Kommunikation und Zusammenhalt in Staaten und Föderationen
Viele Politikwissenschaftler neigen dazu, die bestehenden politischen
Einheiten, Staaten, Nationen und Föderationen, als gegeben hinzunehmen. Es
kommt aber auch vor, daß Staaten auseinanderbrechen; die Einwohner bestimmter
Regionen, die Angehörigen bestimmter Nationalitäten, die Anhänger bestimmter
politischer oder religiöser Glaubensüberzeugungen versuchten, aus dem
politischen Verband auszubrechen, und es gelingt ihnen mitunter. In anderen
Fällen versuchen bislang voneinander getrennte Staaten oder Völker, sich in
einer Föderation oder in einer anderen Form der politischen Einheit
zusammenzuschließen... (a. a. O. S.248)
Die
Untersuchungsergebnisse bei all diesen Faktoren messen gleichsam die
unsichtbare Kommunikationsausrüstung, die jeder Angehörige einer Bevölkerung in
seinem Geist mit sich herumträgt. Daraus lassen sich dann Rückschlüsse ziehen,
die nicht allein den Zusammenhalt eines schon bestehenden Volkskörpers oder die
Zugehörigkeit einzelner Personen oder Gruppen zu diesem Volk betreffen, sondern
auch Aufschluß darüber geben, ob ein Minimum an kultureller Verträglichkeit und
gegenseitigem Verständnis vorhanden ist und ob dieses Minimum genügt, um mit
Hilfe von gemeinsamen politischen und wirtschaftlichen Institutionen
verschiedene Bevölkerungsteile in einem schrittweisen sozialen Lernprozeß zu
einem Volk oder zu einer Nation zu verschmelzen.
Die Bestandsaufnahme oder Messung der Kommunikationsgewohnheiten muß ergänzt
werden durch eine Bestandsaufnahme oder Messung der tatsächlich erfahrenen
Kommunikation. Wo sind Bevölkerungskonzentrationen, wie sehen die
Siedlungsstrukturen aus, wie groß ist das Verkehrsvolumen, welche Bedeutung
haben Bevölkerungsverschiebungen, wie sind Radiohörer und Zeitungsleser
verteilt, mit welcher Häufigkeit und in welchem Umkreis spielen sich
persönliche Kontakte ab?... (a. a. O. S.249)
Präferenzen, Autorität und Werte
In jedem Kommunikationssystem — von den allereinfachsten Systemen dieser Art
einmal abgesehen — kann es vorkommen, daß mehrere Nachrichten um ein und
denselben Kommunikationskanal konkurrieren, dessen Kapazität nicht ausreicht,
um sie alle zur gleichen Zeit zu übertragen...
Kein Kommunikationssystem von auch nur geringer Komplexität kann deshalb ohne
eine gewisse Anzahl von innerbetrieblichen Präferenzen oder Prioritäten
funktionieren. Eine Telephonistin muß wissen, daß ein Anruf bei der Feuerwehr
vorrangig vor jeder gewöhnlichen Unterhaltung abzufertigen ist...
Von einer Nachrichtenquelle, die in der Politik oder im sozialen Leben
gewöhnlich eine vorrangige Behandlung erfährt, indem ihre Nachrichten bevorzugt
beachtet, übermittelt und befolgt werden, kann man sagen, sie habe Autorität.
Im Extremfall besteht Autorität im erfolgreichen Anspruch auf vorrangige
Behandlung der Nachrichten, die von einer bestimmen Quelle ausgehen, wobei die
eigentliche Natur dieser Quelle oder auch — wie im August 1945 im Falle des
Kaisers von Japan — der Inhalt keine Rolle spielt. Wieder in einem anderen Fall
besteht Autorität im Anspruch auf vorrangige Behandlung von Nachrichten , die
von einem bestimmten Autoritätssymbol — so etwa vom großen Reichssiegel im
England des sechzehnten Jahrhunderts — begleitet werden, wobei wiederum der
eigentliche Inhalt der Nachrichten keine Rolle spielt... (a. a. O. S.252,253)
und in dem Maße, in dem eine Quelle von geringer Autorität oder mit geringem
Status oder Prestige laufend Nachrichten aussendet, die den Empfängern wichtig
und wertvoll erscheinen, werden diese lernen, den Nachrichten aus einer solchen
Quelle mehr Beachtung zu schenken... (a. a. O. S.252)
In einem erweiterten Sinne wird unter >Wert< in der Sozialwissenschaft
häufig eine innerbetriebliche Präferenz verstanden, die verknüpft ist mit
anderen Präferenzen und mit den wichtigsten Erinnerungen und emotionalen
Reaktionsmustern der Personen, die an diesem Wert festhalten. Werte in diesem
erweiterten Sinne sind also letztlich wohl nichts anderes als wiederholt
auftretende oder dauerhafte >Bündel< jener einfacheren innerbetrieblichen
Präferenzen, die wir etwas weiter oben erwähnt haben. Welchen Wertbegriff wir
uns auch zu eigen machen, es bleibt die Tatsache, daß in den Beziehungen der verschiedenen
Werte zueinander und untereinander das entscheidende Problem liegt. Es ist
unmöglich, die Funktion eines einzelnen Wertes zu verstehen, außer eben
dadurch, daß man ihn im Zusammenhang sieht mit anderen Werten, die für ihn
relevant sein können. Wie Worte nur einen Sinn im Gefüge der Sprache haben, so
kann man die Funktion eines Wertes nur im Hinblick auf ein Wertgefüge
beschreiben... (a. a. O. S.253)
Diese Aussage trifft auch für die dynamische Stabilität und deren Aspekte zu.
Elftes
Kapitel
Der Regierungsprozeß als Steuerungsvorgang
Man wird sich erinnern, daß das englische Wort für >Regierung<, government,
auf ein griechisches Stammwort zurückgeht, das die Kunst des Steuermanns
bezeichnet. Der gleiche Begriff liegt auch dem neu-englischen Wort governor zugrunde,
das eine Doppelbedeutung hat und einmal einen >Regierenden< bezeichnet,
also einen Menschen, der die administrative Lenkung eines politischen
Gemeinwesens ausübt, und zum anderen den >Fliehkraftregler<, also eine
mechanische Vorrichtung, welche die Leistung einer Dampfmaschine oder eines
Automobils steuert... (a. a. O. S.255)
Ich behaupte nun, daß die Arbeitsweise einiger neuerer Kommunikationsmaschinen
genau der Arbeitsweise des lebenden Individuums entspricht. In beiden Systemen
beruht eine Phase des Arbeitskreislaufs auf sensorischen Empfangsorganen, das
heißt in beiden ist eine besondere Vorrichtung vorhanden, die Informationen aus
der Außenwelt auf niedriger Energieebene sammelt und für die Tätigkeit des
Menschen oder der Maschine verfügbar macht. In beiden Fällen werden diese von
außen kommenden Nachrichten nicht unvermittelt, sondern durch die umformenden
inneren Kräfte des lebenden oder leblosen Apparates aufgenommen und in eine
neue Form gebracht, in der sie für die weiteren Phasen des Arbeitsablaufs
benutzbar sind. Sowohl beim Lebewesen wie bei der Maschine ist dieser
Arbeitsablauf dazu bestimmt, auf die Außenwelt zurückzuwirken. Bei beiden wird
die auf die Außenwelt wirklich ausgeübte und nicht einfach die beabsichtigte
Tätigkeit an die zentrale Steuerungseinrichtung zurückgemeldet...
Zielstrebiges Verhalten: Einige Anwendungen der negativen Rückkopplung
Wie wir wissen, hat die moderne Steuerungstechnik unser Leben bereits mit allen
möglichen Anwendungsarten des Rückkopplungsprinzips erfüllt. Der Thermostat in
unserer Wohnung, der selbsttätige Aufzug im Verwaltungsgebäude, die
automatische Feuerleitanlage in Flakbatterien und die neuerdings entwickelten
Fernlenkwaffen sind Anwendungsformen dieses Prinzips. (a. a. O. S.256)
In allen diesen Fällen wird zunächst ein elektrisches oder mechanisches System
in einen Zustand inneren Ungleichgewichts gebracht. Dieses kräftige
Ungleichgewicht dient als Antrieb, und zwar insofern, als das System die
Tendenz hat, sich in Richtung eines Zustands zu bewegen, in dem das innere
Ungleichgewicht verringert oder, freier ausgedrückt, in dem die innere
>Spannung< gemildert wird. Das innere Ungleichgewicht muß übrigens von
besonderer Art sein: es muß so beschaffen sein, daß es sich verringert, sobald
das Gesamtsystem in eine bestimmte Situation oder Beziehung gegenüber der
Außenwelt gebracht wird. Diese Situation des Systems gegenüber der Außenwelt
können wir als Zielsituation oder einfach als Ziel bezeichnen...
Zweitens muß das System, um die Annäherung an sein Ziel leiten zu können, eine
Rückkopplung aufweisen. Es muß Informationen empfangen, aus denen die Position
des Ziels und seine eigene Entfernung vom Ziel ersichtlich wird; und es muß
Informationen empfangen, in denen angezeigt wird, wie sich die Entfernung vom
Ziel dank der Eigenleistung des Systems verändert. Solche Nachrichten sind
meist negativ, das heißt sie wirken den laufenden Handlungen des Systems
entgegen, um zu verhindern, daß die Bewegung über das Ziel hinausschießt
Drittens muß das System in der Lage sein, auf diese Information erst zu
reagieren, indem es seine Position oder sein Verhalten abermals korrigiert. Mit
diesen Anlagen wird das System, sofern man ihm genügend freien Spielraum läßt,
sich allmählich seinem Ziel annähern.
Viertens werden die Antriebskräfte oder inneren Spannungen des Systems
teilweise vermindert, sobald die Korrekturen in Kraft getreten sind und das
System sein Ziel erreicht hat.
Wie wir schon früher gesehen haben, besteht eine offenkundige Ähnlichkeit
zwischen diesen Einzelschritten zielstrebigen Verhaltens und Begriffen wie
>Antrieb<, >Anstoß<, >Reaktion< und >Belohnung<, die
aus der Psychologie des Lernens geläufig sind.
Ähnliche Verhaltensmuster findet man auch in der Leistung des Nervensystems bei
Tieren und Menschen. Auf Rückkopplungsvorgängen scheint der eigentliche
Mechanismus der Homöostase zu beruhen. Durch Homöostase werden bestimmte
lebenswichtige Zustände oder Funktionen aller Organismen (zum Beispiel die
Körpertemperatur oder die Atmungsgeschwindigkeit) auf einer gleichmäßigen Höhe
gehalten. Die Erhaltung gleichmäßiger Zustände und das Aufsuchen und Ansteuern
äußerer Ziele werden also im wesentlichen von ein und derselben Formation
zusammenhängender Vorgänge bewirkt... (a. a. O. S.257,258)
Regierungen oder politische Organisationen streben nicht nur nach Zielen, sie versuchen auch häufig, einen allgemeinen Zustand zu bewahren, der ihnen wünschenswert erscheint, also zum Beispiel eine Hochkonjunktur im Wirtschaftsleben oder eine ungestörte Ruhelage in der Politik. Sie müssen, um dies erfolgreich tun zu können, ständig Informationen über das Ausmaß und den zeitlichen Ablauf aller Störungen empfangen und die Größenordnung und Schnelligkeit ihrer Gegenmaßnahmen entsprechend abstimmen...
Das Rückkopplungsprinzip als Alternative zum Gleichgewichtsprinzip
In seiner Anwendung auf den Bereich der Politik eröffnet uns der Begriff der
Rückkopplung einen differenzierteren methodischen Zugang als der traditionelle
mechanistische Begriff des Gleichgewichts. Er erschließt uns auch einen viel
weiteren Bereich zur Analyse und Messung. (a. a. O. S.258,259)
Wenn die Störungen zu groß werden, können wir uns allenfalls vorstellen, daß das System irgendwie umgestürzt oder zerstört wird, aber abgesehen von vagen Andeutungen einer Katastrophe gibt uns der Gleichgewichtsbegriff wenig oder gar keinen Aufschluß darüber, was denn von nun an geschehen wird. Kurz gesagt, das Gleichgewichtsmodell ist nicht in der Lage, einen wichtigen Bereich von dynamischen Erscheinungen zu erfassen. Es kennt keinen zeitlichen Ablauf grundlegender Veränderungen.... (a. a. O. S.259)
Auf den ersten Blick mag der Vorgang des zielstrebigen Verhaltens, den wir oben beschrieben haben, dem Vorgang gleichen, durch den ein einfaches Gleichgewicht wieder hergestellt wird. Tatsächlich unterscheiden sich diese Vorgänge jedoch zumindest in vierfacher Hinsicht. Zunächst und vor allem liegt bei jedem Rückkopplungsprozeß die angestrebte Zielsituation nicht innerhalb, sondern außerhalb des zielstrebigen Systems. Zweitens ist das System nicht von seiner Umwelt isoliert, sondern es ist vielmehr darauf angewiesen, einen ständigen Zustrom von Informationen aus seiner Umwelt zu beziehen und damit den ständigen Strom von Informationen über seine eigene Leistung zu ergänzen. Drittens kann das Ziel ein sich veränderndes Ziel sein. Es kann seine Position verändern wie beispielsweise ein Vogel oder ein Flugzeug, und es kann auch noch seine Geschwindigkeit und Bewegungsrichtung ändern wie etwa ein Hase, der von einem Hund verfolgt wird. (a. a. O. S.260)
...In
der Politik ist es das Problem, wie ein strategischer Zweck durch eine Reihe
von veränderlichen taktischen Zielen hindurch unverändert beibehalten werden
kann...
Wenn die Zahl der Fehlleistungen zu- anstatt abnimmt, wird das System sein Ziel
überhaupt nicht erreichen. Es wird in eine Folge von immer weiter
ausschwingenden Pendelbewegungen verfallen und am Ende womöglich ganz
zusammenbrechen. Ob das geschieht oder ob es dem System gelingt, sich dem Ziel
über eine Reihe von immer geringer werdenden Fehlleistungen anzunähern, hängt
ab von den wechselseitigen Beziehungen zwischen vier quantitativen Faktoren...
1. Die >Belastung< (load) durch neue Informationen, das heißt
durch das Ausmaß und die Geschwindigkeit der Positionsveränderung des Zieles im
Verhältnis zum zielstrebigen System....
2. Die >Verzögerung< (lag) in der Reaktion des Systems, das heißt
der Zeitraum, der vom Empfang der Information, welche die Position des Ziels
anzeigt, bis zur Ausführung des entsprechenden Schrittes im zielstrebigen
Verhalten des Systems verstreicht... (a. a. O. S.261,262)
3. Der >Gewinn< (gain), der durch jeden korrigierenden Schritt
erzielt wird..
4. Die >Führung< (lead), das heißt die Entfernung zwischen der
exakt vorausberechneten Position des beweglichen Ziels und der tatsächlichen
Position, von der die zuletzt empfangenen Signale kommen. Dementsprechend
>führen< Sportschützen beim Zielen auf fliegende Wildenten oder Tontauben
mit einem >Vorhalt<, das heißt sie schießen auf die vorausberechnete und
nicht auf die tatsächlich wahrgenommene Position des Zielobjekte.... (a. a. O.
S.262)
Die Erfolgschancen jeder zielstrebigen Aktion sind... stets umgekehrt proportional zur Belastung und Verzögerung. Bis zu einem gewissen Grad sind sie zum Gewinn direkt proportional, doch kann sich das Verhältnis bei hoher Gewinnrate auch umkehren. Zur Führung sind sie stets direkt proportional. [vgl. W. S .McCulloch...]...
1.
Wie groß ist das Ausmaß und die relative Geschwindigkeit des Wandels der
internationalen und innenpolitischen Situation, mit der eine Regierung fertig
werden muß?...
2. Wie groß ist die Verzögerung, mit der eine Regierung oder Partei auf eine
neuartige Krisensituation oder Herausforderung antwortet?...(a. a. O.
S.263)
Wenn Armeen und totalitäre Regierungen ihre Verzögerungsrate durch eine rasche
Befehlsübermittlung von oben nach unten vermindern können, bis zu welchem Grad
geht dann dieser Vorteil wieder verloren und wie weit erhöht sich vielmehr das
Ausmaß der Verzögerung dadurch, daß in solchen Systemen Schwierigkeiten bei der
Weiterleitung neuer Inforationen von unten nach oben auftreten können?...
3. Wie groß ist der Gewinn der Erwiderung, also die Schnelligkeit und
Größenordnung der Reaktion, mit der ein politisches System auf neu aufgenommene
Daten reagiert?... (a. a. O. S.264)
4. Wie groß ist das Ausmaß der Führung, also der Fähigkeit einer
Regierung, neue Probleme wirksam vorauszusehen und ihnen zuvorzukommen? In
welchem Ausmaß versuchen die Regierungen, ihre Führungsgeschwindigkeit zu erhöhen,
indem sie besondere Nachrichtendienst, Führungs- und Planungsstäbe und ähnliche
Einrichtungen schaffen? Welche Wirkung hat die freie Öffentlliche Diskussion,
bei der auch die Freiheit einer unorthodoxen Meinungsäußerungen gewahrt
ist...?...
Da
der Faktor Gewinn mit dem Faktor Macht zusammenhängt, müssen Regierungen oder
Organisationen mit wenig Macht bemüht sein, ihre geringe Gewinnrate durch
Steigerung ihrer Voraussicht und Reaktionsgeschwindigkeit zu kompensieren, das
heißt ihre Verzögerung zu vermindern und ihre Führung zu verbessern. Großmächte
dagegen werden mit einer Situation häufig schon dank der Größenordnung ihres
Reaktionsvermögens fertig, obwohl die Reaktionen selbst vielleicht schwerfällig
erfolgen und ihre Voraussicht zu wünschen übrig läßt... (a. a. O. S.265)
Dies spricht im Hinblick
auf ein forciert angestrebtes Vereinigtes Europa als Zentralstaat nicht gerade
für eine Verbesserung der Lösungsmöglichkeiten der Finanzkrise durch die
Eurobürokratie. Es wird nämlich eine Einheit vorausgesetzt, die noch gar nicht
vorhanden ist.
Wenn auch die Bewertung politischer Systeme als Steuerungssysteme technisch
durchaus möglich ist, so wäre sie doch recht einseitig. Sowohl Perikles als
auch John Stuart Mill könnten uns daran erinnern, daß man Staaten nicht einfach
nach ihrer Funktionstüchtigkeit als Staaten beurteilen soll, sondern vielmehr
nach der Beschaffenheit der Persönlichkeiten und Charaktere, die sie in den
Reihen ihrer Bürger hervorbringen, und nach den Gelegenheiten, die sie allen
ihren Bürgern zur Entfaltung ihrer Individualität gewähren...
Noch ein Wort der Warnung sei hinzugefügt. Wir haben in unseren Erörterungen
nur von Zielen und nicht von Zielvorstellungen gesprochen. Ziele haben wir
stets im Zusammenhang mit der tatsächlichen Beschaffenheit der Steuerungs- und
Entscheidungssysteme und ihrer Umwelt gesehen.... (a. a. O. S.266)
Die tatsächlich verfolgten Ziele können natürlich identisch sein mit Zielen,
die manche oder alle Beteiligten in ihren Vorstellungen haben, aber das muß
nicht notwendigerweise der Fall sein. Wenn die Vorstellungen, in denen jemand
seine Ziele ausmalt, sich von dem Vorgang unterscheiden, durch den Ziele
tatsächlich angestrebt werden, dann kann die Information, die aus solchen
Vorstellungen entsteht, in einem Rückkopplungsprozeß wieder in den
Steuerungsmechanismus geleitet werden und dessen Leistung beeinflussen...
Automatische Reaktionssteigerung: Einige Anwendungsformen der verstärkenden
Rückkopplung
Wir haben bisher nur über Erscheinungsformen der negativen Rückkopplung
geredet... In anderen Situationen können wir jedoch auch einer positiven oder
verstärkenden Rückkopplung begegnen. Bei der verstärkenden Rückkopplung bewirkt
jede Information über die Reaktion des Systems eine Verstärkung dieser Reaktion
in der gleichen Richtung, und jede Information über die verstärkte Reaktion
kann wieder eine weitere Verstärkung dieses Verhaltens zur Folge haben. Die
Panik einer Menschenmenge, eine Panik an der Börse, gewisse Fälle einer
galoppierenden Inflation, jedes Rüstungswettrennen, die Verstärkung bitterer
Gefühle in einer gespaltenen Gemeinschaft — all dies sind Beispiele einer
verstärkenden Rückkopplung im sozialen und politischen Leben... (a. a. O.
S.267)
Wenn
hingegen die laufende Verstärkung eine fallende Tendenz zeigt, also im ganzen
gesehen, jeder neue Verstärkungsimpuls kleiner als der vorangegangene ausfällt,
dann wird die Gesamtverstärkung sich schließlich einem oberen Grenzwert nähern,
der noch innerhalb der Kapazität des Systems liegen kann...(a. a. O. S. 268)
Als Präsident Kennedy im März 1962 ankündigte, daß die Vereinigten Staaten die
abgelaufene Serie der russischen Kernwaffenversuche in der Atmosphäre mit einer
eigenen, kleineren Serie solcher Versuche beantworten würden, wenn es
nicht binnen kurzer Zeit zu einer Einigung über einen Atomteststopp kommen
würde, handelte es sich vielleicht um den Versuch, in einer Situation mit
verstärkender Rückkopplung, wie ihn das nukleare Wettrüsten darstellt, eine
solche Taktik der >kleineren Vergeltung< oder abnehmenden
Steigerungsquote zu praktizieren. [The New York Times, 3. März
1962, S.1f.] (a. a. O. S.269)
Kontinuierliche Entscheidungssysteme: Einige Begleiterscheinungen der zieländernden Rückkopplung. (a. a. O. S.270)
Ein
spezifisch politisches Problem ergibt sich, wenn ein strategisches Hauptziel
nur auf dem Umweg über eine Reihe von taktischen Zwischenzielen zu erreichen
ist. Nach Adolf Hitlers Auffassung der Massenpsychologie besteht in solchen
Fällen die Kunst der Massenführung in der Fähigkeit, jedes Zwischenziel als das
endgültige Ziel erscheinen zu lassen und die Anhängerschaft davon zu
überzeugen, daß alles von ihrer Anstrengung abhängt, dieses Kampfziel hier und
sofort und ohne Rücksicht auf alles andere einzunehmen. Nur Endziele sind nach
dieser Auffassung geeignet, große Menschenmengen zur uneingeschränkten
Mobilisierung aller ihrer Reserven zu bewegen. Trotz heftiger Ablehnung der
anderen Theorien Hitlers hat sich die kommunistische Agitation oft eines
ähnlichen Verfahrens bedient: jedes einzelne und vorübergehende Ziel wird
zeitweise als Endzweck aller politischen Tätigkeit hingestellt, bis ein neues
Ziel an seine Stelle tritt....
Trotz ihrer gelegentlich erwiesenen Zweckmäßigkeit ist eine solche >aufs
Ganze< gehende Taktik mit schwerwiegenden politischen Kosten belastet.
Thukydides hat schon frühzeitig auf einen .dieser Nachteile hingewiesen: wenn
jedes taktische Ziel als äußerst wichtig, ja als das Endziel schlechthin
dargestellt wird, dann wird jede abweichende Meinung über taktische Folgen zum
Hochverrat. Da zudem die mit der größten Bedenkenlosigkeit gewählten Ziele am
leichtesten als Endziele oder als dem Sieg gleichwertig hingestellt werden
können, erscheinen die bedenkenlosesten Taktiken leicht als die zugkräftigsten;
da sie geeignet sind, in größerem Ausmaß Meinungsverschiedenheiten
hervorzurufen, liefern sie zugleich einen ausgezeichneten Vorwand für die
>Säuberungen< Andersdenkender... (a. a. O. S.272)
Eine
solche >Vergötzung von vergänglichen Zielen< — um noch einmal eine
Formulierung Arnold Toynbees aufzugreifen — bewirkt nicht nur einen enormen
Personalverschleiß, sie hat auch eine eigentümliche Auswirkung auf die
Kategorie von Personen die einer Partei oder Regierung ungeachtet ihrer
Taktiken treu bleiben. Einerseits wird es immer eine mehr oder weniger große
Zahl von nimmermüden Aktivisten geben, die jede Schwenkung ohne Frage
akzeptieren und sich jedem Ziel, solange es gilt, mit Haut und Haar
verschreiben. Andererseits muß irgend jemand die Funktionen der strategischen
Planung, der Auswahl einer Reihe von taktischen Zielen und der Bestimmung des
richtigen Zeitpunkts für jede Schwenkung von einem Ziel zum andern ausüben. Da
viele bedingungslose Aktivisten psychologisch allmählich ungeeignet zur Bewältigung
dieser zweiten Gruppe von Aufgaben werden, kann sich die Notwendigkeit ergeben,
eine neue Struktur zu entwickeln, die diese Funktion zu übernehmen vermag:
einen neuen >inneren Kreis< von Parteistrategen und Eingeweihten, die
einen Teil ihrer Aufmerksamkeit auf Sachverhalte konzentrieren, welche mit der
aktuellen politischen Gesamtlinie unvereinbar sind, und die untereinander einen
Teil der Überlegungen und Beratungen austragen, welche für jede neue Schwenkung
der politischen Linie unerläßlich ist.
Parallelerscheinungen zu dieser funktionalen Aufspaltung treten sogar in
Geschäftsunternehmungen auf... vom Typ >Pfadfinder< oder >fleißiger
Biber< ... (a. a. O. S.274)
Die meisten Bestandteile unserer Analyse müßten der Forschung zugänglich sein. Wie tiefgreifend war die Änderung der Ziele oder der politischen Linie, wie viele Menschen wurden davon erfaßt, in wie kurzer Zeit, mit welchen Konsequenzen? Wie deutlich ist die Spaltung zwischen der Masse der Außenstehenden und dem inneren Kreis der >Eingeweihten< in einer bestimmten politischen Partei oder Regierung?... (a. a. O. S.275)
Eine letzte Erscheinungsform der zieländernden Rückkopplung ergibt sich, wenn Ziele von Grund auf verändert werden. Eine Organisation hat bisher eine bestimmte Art von Zielen verfolgt und wendet sich dann einer ganz anderen Art von Zielen zu. So lenkte das schwedische politische System vom Streben nach militärischer Macht im siebten Jahrhundert zum Streben nach Neutralität und sozialer Wohlfahrt im zwanzigsten Jahrhundert um... wo ein solcher Wandel sich in einem kurzen Zeitraum zusammendrängt, begegnen wir einer Renaissance, Reformation, Revolution oder Konversion. Alle diese Erscheinungen bringen wesentliche Veränderungen der Gesamtfunktion und des Gesamtverhaltens sowie eine wesentliche strukturelle Neuordnung des Gesellschaftskörpers mit sich... (a. a. O. S.276)
Zwölftes Kapitel
Politisches Selbstbewußtsein, Autonomie und Souveränität
Wir haben schon weiter oben
bemerkt, daß Zielvorstelllungen in einem zielstrebigen System gespeichert
werden und als gespeicherte Informationen im späteren Verhalten des Systems
Verwendung finden können... Als primäre Nachrichten gelten Nachrichten, die
sich auf Ereignisse außerhalb des Systems beziehen; als sekundäre Nachrichten
gelten solche, die sich auf primäre oder auf andere sekundäre Nachtrichten
beziehen, was in beliebig weit zurückreichenden Abstufungen denkbar ist. Mit
Hilfe einer primären Nachricht kann ein Entscheidungssystem etwas über einen
äußeren Sachverhalt >wissen<; durch sekundäre Nachrichten >weiß<
es, daß es etwas >weiß<. Das war nach unserer Auffassung das wohl
einfachste Modell dessen, was wir >Bewußtsein< nennen.
Sekundäre Symbole in
Organisationen
(a. a. O. S. S.277)
Die vielleicht wichtigste Funktion sekundärer Symbole ist es, eine
Entscheidungsbildung auf der Grundlage großer Informationsmengen zu
ermöglichen. Die Kapazität jedes informationsverarbeitenden Systems ist
begrenzt; das gilt vom menschlichen Gehirn genauso wie für jeden Ausschuß und
für jeden Elektronenrechner... (a. a. O. S.278)
In
einem etwas weiter gefaßten Sinne können wir Bewußtsein auch auf den
Gesamtprozeß der Ableitung und Anwendung von sekundären Symbolen in einem
Entscheidungssystem ausdehnen. Dieser Prozeß reicht von der ersten Verknüpfung
primärer Nachtrichten mit sekundären Symbolen über deren Zusammenschau und
erneuten Verknüpfung auf den höchsten Entscheidungsebenen bis hin zur erneuten
Anwendung im praktischen Handeln. In diesem Sinne ist Bewußtsein die Gesamtheit
der Rückkopplungsprozesse, die sekundäre Symbole zum Gegenstand haben.
Das Bewußtsein ermöglicht eine hohe Präzision beim Steuern... (a. a. O. S.279)
Die Kontrolle über die sozialen Institutionen der Massenkommunikation und
allgemein über die Speicherung und Weiterleitung von Informationen ist offen
kundig ein Hauptbestandteil der Macht.
Weniger offenkundig, aber wohl nicht weniger zutreffend ist, daß die
potentielle Macht, die aus den Rückkopplungsprozessen des sozialen Bewußtseins
erwächst, nicht allein von der Größenordnung der informationsverbreitenden
Institution (etwa einer Tageszeitung mit Millionenauflage) abhängt, sondern
zuweilen noch in viel entscheidenderem Maße vom Grad der Verdichtung der
primären Daten und von der strategischen Position der Kontrollstelle an
einem Punkt, wo sich der Strom der sekundären Informationen wie in einem
Flaschenhals zusammendrängt
Die gewaltige Menge potentieller historischer Fakten wirft ein solches
Flaschenhalsproblem auf, und wenn man schon der Meinung ist, daß die
Vergangenheit einer Nation in den aktuellen politischen Entscheidungen eine
Rolle spielt, dann kann eine kleine Anzahl von Historikern tatsächlich einen
langfristigen Einfluß von überraschender Tragweite ausüben. Damit soll nicht
gesagt sein, daß allein die Historiker den Nimbus Napoleons in der ersten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts wieder hergestellt hätten, oder daß
Historiker und Journalisten allein hoffen könnten, irgendwann in der Zukunft
auch den Nimbus Adolf Hitlers wiederherzustellen. (a. a. O. S.280,281)
...In
wieweit unterscheiden sich... Bewußtsein, Situationsvorstellungen und
Entscheidungen eines Ausschusses. eines Expertenstabes oder einer Organisation
von denen eines einzelnen Menschen? Inwieweit ist es also möglich, daß sich das
>Denken< der einen oder anderen Regierung vom Denken der einzelnen
Menschen, aus denen sie sich zusammensetzt, unterscheidet?
Und schließlich, welche Verwendung finden die sekundären Daten und die >bei
Bewußtsein< gefällten Entscheidungen? Verzögern sie die primäre Reaktion der
Organisation so sehr, daß diese, >von des Gedankens Blässe angekränkelt...
verlieren so der Handlung Namen<? Erfolgen sie zu spät oder mit ungenügender
Autorität, um das tatsächliche Verhalten der Organisation zu beeinflussen, so
daß Personen, die ein realistisches Bewußtsein der wahren Situation haben,
hilflos zusehen müssen wie Kassandra dem Fall Trojas?...
Mehr noch als auf verschiedenen anderen Gebieten werden wir hier weiterhin auf
intuitive Einsicht und Scharfsinn angewiesen sein, doch könnten wir mit Hilfe
der Kommunikationsanalyse seines Tages lernen, diese Einsichten in einer Weise
zu organisieren, die es uns ermöglicht, sie häufiger zu vergleichen und zu
verifizieren... (a. a. O. S.282)
Autonome Organisationen und ihre Grenzen
..Die Grenzen einer autonomen Organisation kann man sich als ein Kommunikationsgefälle
vorstellen: Zwischen den Angehörigen oder den Teilen einer Organisation besteht
schnellere und wirksamere Kommunikation als mit Außenseitern...
Ob
allerdings ... eine Organisation auch einen funktionalen und operativen
Zusammenhalt aufweist, hängt viel mehr von der Leistungsfähigkeit der inneren
Kommunikationsvorgänge ab. Wenn diese schwach entwickelt sind, deutet die
Tatsache, daß jene noch schwächer sind, eher auf Isoliertheit als auf
Lebensfähigkeit hin. Jeder Versuch, die besondere Identität einer Organisation,
Gruppe, Partei oder eines Volkes durch verminderten Informationsaustausch mit
Nichtmitgliedern statt durch erhöhten Informationsaustausch zwischen den
Mitgliedern zu stärken, mag zwar an der Oberfläche erfolgreich sein, kann sich
aber letztlich als falscher Lösungsversuch am falschen Ende des Problems
erweisen... (a. a. O. S.283)
Wie seine physische Form im einzelnen auch aussehen mag, ein Gedächtnis oder
Speicher ist für die Ausübung jeder Autonomie über einen längeren Zeitraum
hinweg unerläßlich. Tatsächlich können wir Autonomie, die über die Ebene der
einfachen Rückkopplung hinausgeht, als einen Prozeß definieren, bei dem aus
irgendeinem Speicher (und damit aus der Vergangenheit) entnommene Daten in die
aktuelle Entscheidungsbildung einbezogen werden.
Autonomie ist nach dieser Auffassung auf den Ausgleich zweier
Rückkopplungsströme angewiesen: der eine vermittelt Daten über das gegenwärtige
Verhalten des Systems in seiner Umwelt, der andere vermittelt Daten über die
Vergangenheit des Systems in Form von Symbolen, die als Erinnerung aus seinem
Speicher entnommen werden.
>Freiheit<, sagte Jean-Jacques Rousseau einmal, >ist Gehorsam
gegenüber dem Gesetz, das wir uns selbst gegeben haben<. Das >Wir< in
dieser Feststellung, wie überhaupt die Idee der Selbstherrschaft, die den
Worten Rousseaus zugrunde liegt, setzt als wesentliches Element ein Gedächtnis
voraus: ohne Gedächtnis könnte das selbst auferlegte Gesetz weder formuliert
noch erinnert werden. Ohne Tradition und Gedächtnis wird jede Organisation, die
sich selbst steuern will, leicht in Gefahr geraten, im Strom der Umwelt
dahinzutreiben. Ohne Aufnahmebereitschaft für neue Informationen aus ihrer
Umwelt aber wird jede selbststeuernde Organisation leicht in Gefahr geraten,
die Kontrolle über sich selbst zu verlieren und sich wie ein Geschoß, das
allein von seiner Vergangenheit angetrieben wird, zu verhalten.... (a. a. O.
S.284)
Wenn jedoch die regionale Kommunikation in einem kritischen Ausmaß die Kommunikation
mit dem ganzen übersteigt, kann sich das letztlich nur trennend auswirken. Die
Entwicklung getrennter Erinnerungen und getrennter Speicheranlagen, getrennter
Regelkreise der Kommunikation und ähnliche Erscheinungen signalisieren einen
fortschreitenden Sezessionsprozeß. Aber auch die entgegengesetzte Entwicklung,
also der Vorgang der politischen und organisatorischen Integration, kann an dem
sich verringernden Kommunikationsgefälle zwischen den fusionierenden Einheiten
und an der Entwicklung gemeinsamer Speicheranlagen, Kommunikationskanäle und
Steuerungssysteme verfolgt werden...
Tatsächlich kann Politik als Kooperation und Konflikt zwischen solchen
autonomen oder halbautonomen Gruppen verstanden werden. Die weitverbreitete
Vorstellung vom politischen Prozeß als einem Drängen, Ziehen und Zusammenstoßen
von Interessengruppen ist geeignet, diesen Aspekt der Autonomie allzu leicht
außer Acht zu lassen; sie kann deshalb auch nicht die merkwürdige Tatsache
erklären, daß es zwischen all den verschiedenen Gruppen nicht mehr erbitterte
Konflikte gibt, als in der Wirklichkeit zu beobachten sind... (a. a. O. S.285)
Anstatt
einfach nach einer >starken Zentralgewalt< zu rufen — einer Gewalt
übrigens, die sich in gewissen innerpolitischen Konflikten als recht unsicher
erweisen kann und in der internationalen Politik überhaupt nicht existiert —,
wäre es angemessener zu fragen, wie viel zentrale Autorität in Verbindung mit
welcher Anordnung autonomer Organisationen mit welchem Leistungsgrad der
Selbststeuerung nötig wäre, um die Häufigkeit und Intensität von
Gruppenkonflikten unter einer für das ganze System gefährlichen Höhe zu halten.
Eine Analyse von Gruppen mit >Programmaspirationen< und Gruppen mit
>Machtaspirationen< könnte unter diesem Gesichtspunkt ergänzt werden,
indem man deren Steuerungskapazität und Steuerleistung in Betracht zöge...
Die Fähigkeit politischer Systeme, individuelle Freiheiten und die Neigung zur
Innovation mit innerem Frieden und Stabilität zu vereinen, dürfte mit den
Antworten auf solche Fragen zusammenhängen. (a. a. O. S.286)
In
der Theorie der Souveränität gibt es keine Organisationen und auch keine
Präferenzen oder Werte, die sich von außen her in die Arbeit des Systems
einmischen dürfen, um die Wahrscheinlichkeiten der inneren Entscheidungsbildung
zu beeinflussen..
Schließlich bedeutet die an einer einzigen Stelle erfolgende Konzentration
aller Entscheidungen, die andere Entscheidungen aufheben können, daß innerhalb
der umfassenden politischen Organisation kein autonomes Teilsystem zugelassen
ist, jedenfalls keines, das genügend autonom wäre, um die an der Spitze
getroffenen Entscheidungen zu modifizieren oder sich über sie hinwegzusetzen.
(a. a. O. S.287.288)
Diese Organisationsprinzipien sind in den absoluten Monarchien Europas von den Tagen
Machiavellis bis zu Friedrich von Preußen praktiziert worden und bilden
weitgehend auch das Erbe des modernen unitarischen Staates.... (a. a. O. S.288)
Eine
Überschätzung der Entscheidungskonzentration an einer einzigen Stelle ist
geeignet, auch einer Überschätzung der Wichtigkeit einzelner Ämter oder
Personen Vorschub zu leisten....
Eine realistische Einschätzung der tatsächlichen Situation ist nur möglich
durch sorgfältige Auslotung der Verteilung und Anordnung von
Entscheidungsstellen, des Ausmaßes ihrer gegenseitigen Abhängigkeiten und
Kontrolle und des Vorrats oder Mangels an Reserveanlagen, welche die Funktionen
der vorübergehend außer Betrieb gesetzten oder zerstörten Entscheidungsstellen
und entscheidungsbildenden Systemteile übernehmen könnten...(a. a. O. S.289)
Die Milchmädchenrechnung mit der konzentrierten Souveränität kann in der internationalen Politik noch weniger aufgehen. Die einseitige Orientierung an der Souveränität ist geeignet, von der Tatsache abzulenken, daß die Entscheidungen auch der mächtigsten Nationen sehr reale Grenzen haben. Kein Staat ist allmächtig oder verfügt über unbegrenzte Hilfsmittel, und keine Regierung kann ihrem Volk unbegrenzte Opfer auferlegen.... (a. a. O. S.290)
Wirkungsvolles
Verhalten seitens einer autonomen Organisation setzt voraus, daß diese
innerhalb ihrer Aktions- und Überlebensgrenzen bleibt, also ihren
Grenzwahrscheinlichkeiten durch die Berücksichtigung von Grenzsignalen und
Grenzvorstellungen genügt. Souveräne Staaten stehen in dieser Hinsicht der gleichen
Aufgabe wie andere autonome Organisationen gegenüber, aber sie werden mit ihr
nicht so leicht fertig. (a. a. O. S.290,291) Obwohl ihr Verhalten den gegebenen
Grenzen und Grenzwahrscheinlichkeiten unterworfen ist, und sie im allgemeinen
einige Grenzsignale empfangen, kennen souveräne Staaten in der Regel keine
Grenzvorstellungen. Sie lehren ihre Bürger und häufig auch ihre Parlamentarier
und Beamten, jeden Zwang, jede Beschränkung ihrer eigenen Entscheidungsfreiheit
und der Verhaltensfreiheit ihres Landes als unwirklich oder zumindest als
illegitim abzulehnen. Nicht nur durch das Fehlen institutionalisierter
Grenzvorstellungen sind souveräne Staaten gefährdet, sondern auch dadurch, daß
den Grenzsignalen, sofern sie überhaupt empfangen werden, ein niedriger Status
zuerkannt wird, was sich sowohl in ihrem Prestige wie in ihrer Behandlung bei
der Kommunikation bemerkbar macht....
Über ähnliche Auswirkungen in der Innenpolitik, wo der Verlust von
Grenzvorstellungen und die Mißachtung von Grenzsignalen zu extremen
Gruppenkonflikten und zum Bürgerkrieg führen kann, haben wir bereits in einem
früheren Kapitel gesprochen. (a. a. O. S.291)
Dreizehntes Kapitel
Die Selbstabschließung politischer Systeme
Einige
optimistische Betrachtungsweisen
In vielen alten Deutungen wird die Politik mit dem Guten identifiziert oder es
steckt in ihnen zumindest der Gedanke, daß Politik moralisch gut sein könnte
und deshalb auch gut sein sollte. Begriffe wie Gesetz und Recht, frei
anerkannte Führung und institutionalisierte Autorität wurden erst allmählich im
Laufe der Geschichte zu getrennten Begriffen. Selbst als die Menschen
entdeckten, daß summum ius summa iniuria sein könne, und daß Gesetz
weder Recht noch Gerechtigkeit bedeuten müsse, deuteten sie diese Erfahrung
noch im Rückblick auf das >Goldene Zeitalter< der Brüderlichkeit, eine
vergangene Ära, die noch ohne die neue Polarität von Sittlichkeit und Macht, in
der kein Zwang vorhanden oder nötig oder in der jeder Zwang immer nur gut und
gerecht gewesen war.
Während einige von vergangenen Zeitalter der Autorität und Gerechtigkeit
träumten, projizierten andere diesen Traum in die Zukunft oder doch in das
Reich der Ideale und des vielleicht teilweise Erreichbaren. Politische Utopien
von Plato über Thomas Morus bis in unsere Tage hinein schildern
Gesellschaftsordnungen, in denen Zwang und Gehorsam entweder nicht existieren
oder eng mit einem positiven, genau umrissenen ethischen System verknüpft sind.
Eine andere Gruppe von Denkern ging so weit, die Übereinstimmung von Politik und
Moral im menschlichen Leben als eine Wahrscheinlichkeit zu bezeichnen. Für John
Locke und Adam Smith wird die Welt bewohnt von rational denkenden Männern und
Frauen, die sich durch ihre Erfahrungen dazu bestimmen lassen würden, ein
gerechtes System der natürlichen Rechte im politischen Bereich einzurichten.
Diese gerechten Systeme würden, sobald sie einmal errichtet wären, von Dauer
sein; und wenn sie durch Dummheit oder Ehrgeiz einmal vorübergehend gestört
sein sollten, würde eine unausbleibliche Reaktion oder der erneute Druck der
Erfahrung früher oder später einen natürlichen und gerechten Gesamtzustand
wieder herstellen.
Wieder andere Denker waren bereit einzuräumen, daß die Errichtung eines
gerechten politischen und sozialen Systems längere Zeit in Anspruch nehmen
könne. Sie widmeten deshalb ihre Aufmerksamkeit vor allem dem zeitlichen Ablauf
oder der tatsächlichen Stufenfolge durch die dieser erwünschte Zustand erreicht
werden sollte. Sie entwickelten folglich Theorien über den Fortschritt... so
sah es Condorcet...
Nach Kants Auffassung der Weltgeschichte träte der ewige Friede an die Stelle
des Krieges und die Macht der Wissenschaft an die Stelle der Fürstenmacht in
dem Maße, in dem Bewußtsein allmählich an die Stelle blindwütiger Streiterei
träte. Wirtschaftlicher Überfluß, die Abschaffung der Klassen und das Absterben
des Staates — so meinten Marx und Engels — würden den Kapitalismus und die
Unterdrückung ablösen. Immerwährende Prosperität auf dem höchsten Niveau würde
dank der vereinten Aktivität aufgeklärter Wirtschaftsführer dazu führen — so
glaubte Herbert Hoover —, daß die Armut zunächst in den Vereinigten Staaten und
allmählich wohl auch in der übrigen Welt ausgerottet werden könnte.
Alle diese Auffassungen betrachteten die Welt als imgrunde tatsächlich oder
potentiell gut. Aber sie alle mußten zugleich eine Erklärung dafür finden, daß
es in der Gegenwart immer noch Ungerechtigkeit und Bosheit gab...
Die Theorien des politischen Optimismus sind deshalb in gewissem Sinne
potentielle Kreuzzugstheorien. Sobald nur die schuldigen Parteien, die Feinde
der Aufklärung, die Fürsten, Kapitalisten, staatlichen Bürokraten oder die
radikalen Agitatoren einmal aus der Gesellschaft eliminiert wären, würde alles
in Ordnung sein. Natürlich können auch Menschen guten Willens über die
genaueren Ursachen des Bösen geteilter Meinung sein. Sollten nur die deutschen
Offiziere und >Junker< vernichtet werden, so fragten sich viele
Amerikaner im Jahre 1944, oder lag die Schuld beim gesamten Volk der
Deutschen?... (a. a. O. S.294)
Die Politik und das Böse
Die Tradition, im Politischen das tatsächlich oder potentiell Tragische oder
Böse zu sehen, geht auf Augustinus zurück, und Anklänge an diese
>augustinische< Betrachtungsweise der Politik, finden sich im Denken
Martin Luthers, Johannes Calvins und Sören Kierkegaards. Spuren dieser
Tradition finden sich auch im Werk von Denkern wie Max Weber und Karl
Jaspers... Macht korrumpiert, so heißt es, und ohne Macht gibt es keine
Politik. Menschen guten Willens haben keine andere Wahl, als entweder sich
zurückzuziehen oder dieses unheilige Spiel so gut wie möglich mitzuspielen...
(a. a. O. S.295)
Das Unvermögen von Herrschern und Staatsmännern, auch nur die pragmatischen
Ergebnisse ihrer politischen Entscheidungen vorauszusehen, von den moralischen
und seelischen Auswirkungen ganz zu schweigen, ist vielleicht doch die Regel
und nicht die Ausnahme...
Kann es vielleicht sein, daß in der Natur der Autonomie, in der Selbststeuerung
und Selbstbeherrschung jeder individuellen Persönlichkeit und jeder autonomen
menschlichen Organisation ein Paradoxon steckt? Autonomie ist nicht möglich
ohne Aufnahmebereitschaft für Nachrichten aus der Außenwelt; doch zugleich ist
Autonomie auch unmöglich, wenn die von außen zufließende Information nicht weitgehend
von internen Erinnerungen und Präferenzen verdrängt wird. Welche
Fehlentwicklungen können bei diesem unstabilen Streben nach einem fortwährend
sich verändernden Gleichgewicht auftreten, und wie groß ist die
Wahrscheinlichkeit jeder autonomen Organisation, durch Funktionsstörungen und
schließlich durch Selbstzerstörung zu enden? (a. a. O. S.297)
Autonomie und ihre Funktionsstörungen
Autonomie oder Selbststeuerung ist ein Merkmal aller Organisationen, deren
Verhalten durch eine zyklische Abfolge von auf den Entscheidungszyklus selbst
zurückwirkenden Entscheidungen gelenkt wird. Eine einfache Organisation dieser
Art empfängt eine Information über ein äußeres Ziel und wird von ihrem eigenen
inneren Ungleichgewicht zur Annäherung an dieses Ziel getrieben; auf der
nächsten Stufe ihres Verhaltens wird sie durch den Empfang von Informationen
gelenkt, die sowohl das Ziel wie ihr eigenes Verhalten und ihre Position
gegenüber dem Ziel betreffen...
Die hauptsächlichen Ansammlungen von Erinnerungen (die sich in einer
Organisation in den Köpfen einiger weniger Personen befinden können) und die
hauptsächlichen Knotenpunkte der Entscheidungskanäle, an denen diese
Erinnerungen auf die aktuelle Entscheidungsbildung einwirken, sind in diesem
Sinne strategische Entscheidungsstellen. (a. a. O. S.298,299) Die
Anordnung solcher Entscheidungsstellen kann im Lernprozeß von großer Bedeutung
sein...
Individuen wie auch große soziale oder politische Organisationen können...
lernen, ihr Verhalten laufend zu ändern. Sie können ihre Aufmerksamkeit in eine
neue Richtung lenken, einzelne Präferenzen verändern und auch die Struktur und
Konsistenz größerer Teile ihres Präferenzensystems modifizieren. Alles, was sie
zu irgendeinem Zeitpunkt in der Außenwelt tun, ist ein Ausdruck der Verhaltenswahrscheinlichkeiten,
die ihrer inneren Struktur in diesem Augenblick innewohnen. In diesem Sinne
sagt man von Personen, sie handelten >ihrem Charakter gemäß< oder
entsprechend ihren inneren Bedürfnissen, Trieben und Persönlichkeitsstrukturen.....
Je größer das Maß der Autonomie, desto größer muß das Ausmaß und die
Leistungsfähigkeit der Speicheranlagen sein, die sie benutzt; je
leistungsfähiger diese Speicheranlagen sind, desto wahrheitsgetreuer werden sie
die Informationen speichern, die sich aus der sich verändernden Umwelt und den
wechselnden Reaktionen der Organisation auf diese Umwelt ergeben. Jedes
selbständig handelnde System muß deshalb, während es handelt, seine eigenen
Erinnerungen und seine innere Struktur laufend umgestalten. ... (a. a. O.
S.299,300)
Jedes autonome Entscheidungssystem wird nach dieser Darstellung wahrscheinlich
früher oder später seine innere Struktur neu ordnen.
Ob diese Umgestaltung lebenserhaltend oder pathologisch (in der Terminologie
Robert K. Mertons >funktional< oder >dysfunktional<) sein wird,
hängt davon ab, ob sie die Wahrscheinlichkeit, daß das System künftig
erfolgreich funktionieren wird , erhöht oder vermindert; insbesondere auch
davon , ob die die künftige Lernleistung des Systems steigert oder nicht.... (a.
a. O. S.300)
Unter allen autonomen Organisationen nehmen die politischen Systeme einen
besonderen Rang ein. In der Politik geht es im wesentlichen um die
Manipulierung vorrangiger Präferenzen und Prioritäten des sozialen Lebens durch
die Androhung eines Zwanges und durch gewohnheitsmäßige Folgeleistung... (a. a.
O. S.301)
Die Wahrscheinlichkeit von
Funktionsstörungen
Die ... verschiedenen Arten von Funktionsstörungen... schließen alle in der
einen oder anderen Weise eine Überbewertung bestimmter Daten oder Erinnerung in
einem Entscheidungssystem ein...(a. a. O. S.302)
Allen diesen Haltungen liegt die Tendenz zugrunde, die Gegenwart höher zu
bewerten als die Zukunft, selbst auf Kosten zukünftiger Möglichkeiten. Wir
geben dieser Neigung unmittelbar nach, wenn wir Wälder zu Holz schlagen, ohne
wieder aufzuforsten, oder wenn wir die Erosion des Bodens um sich greifen
lassen. Wir geben ihr indirekt nach, wenn wir uns weigern, mit der
Wahrscheinlichkeit einer Bevölkerungsvermehrung in fast allen Teilen der Welt
während der nächsten dreißig oder vierzig Jahre zu rechnen, und wenn wir uns um
die Verpflichtung drücken, unsere politischen, sozialen und wirtschaftlichen
Zukunftsvorstellungen entsprechend zu programmieren.
Worauf es hier ankommt, ist nicht so sehr die Bedeutung der einzelnen
Fehlleistungen oder Unterlassungssünden, sondern es ist vielmehr die Neigung
einzelner Personen, sozialer Gruppen und politischen Organisationen, die
Gegenwart zu überbewerten und solche Fehler immer wieder zu begehen, weil keine
besonderen Vorkehrungen oder Verfahrensweisen entwickelt wurden, um sie zu
vermeiden...
Eine umfassendere Kategorie von Beispielen liefert die wohlbekannte Neigung zum >Ethnozentrismus<, das heißt die Überbewertung der Ideen und Lebensgewohnheiten der eigenen Volksgruppe und Kultur. Zum Teil wird diese Neigung unmittelbar durch die bloße Häufigkeit persönlicher Kontakte erzeugt: wenn die Bevölkerungsdichte eines Gebietes ansteigt und sich unter der Einwohnerschaft eine relativ homogene Kultur entwickelt, wird nur ein immer geringer werdender Anteil der verfügbaren Zeit und Aufmerksamkeit für über dieses Gebiet hinausgehende Kontakte übrig bleiben. Bevor wir darüber jubeln, daß die Geschwindigkeit des modernen Flugverkehrs die Entfernungen auf dem Erdball für einige wenige zahlungskräftige Passagier hat schrumpfen lassen, sollten wir daran denken, daß die Postsendungen, die über die nationalen Grenzen hinweggehen oder an Bürger anderer Länder gerichtet sind, heute einen geringeren Anteil am gesamten Postverkehr ausmachen als noch vor fünfzig Jahren... (a. a. O. S.304)
Starke Reaktionen, die zu spät kommen, sind ein Kennzeichen der >Übersteuerung<, etwa wenn ein ungeübter Autofahrer dem linken Straßengraben mit knapper Not noch ausweicht, indem er den rechten Straßengraben ansteuert... (a. a. O. S.305)
Je starrer die Strukturen und Hilfsmittel einer Organisation an bestimmte Funktionen und Zwecke gebunden sind, desto weniger leicht sind sie für eine neue Aufgabenstellung verfügbar, und desto geringer sind damit die Chancen für jede Neuordnung des Systems... (a. a. O. S.307)
Wie kann Autonomie vor Funktionsstörungen bewahrt werden?
...Selbst wenn bestimmte Institutionen oder Werte vorgeschlagen wurden, geschah
es häufig mit dem nachdrücklichen Vorbehalt, daß es der >Geist< — das
heißt die Geisteshaltung, die Strategie zweiten Grades zur Auswahl von Werten
und Wertsystemen — sei, der als entscheidender Faktor in bestimmten
Verfahrensweisen oder Handlungsabläufen am Werk sein müsse, um ein Überschlagen
in die Selbstzerstörung zu unterbinden. Übrigens richteten diese Anregungen
sich in der Regel an Individuen, nicht an Staaten, Völker oder Organisationen.
(a. a. O. S.308,309) Diese Einseitigkeit hat ihre Berechtigung, da es einzelne
Menschen sind, die in allen größeren Gruppen dieser Art einen großen Teil der
Entscheidungsfunktion ausüben. Sie üben aber nicht die gesamte
Entscheidungsfunktion aus. Viele Entscheidungen hängen teilweise von der
Zusammenstellung der Kommunikationskanäle und Entscheidungsstellen im politischen
und sozialen System ab, und die individuelle Einwirkungsmöglichkeit auf diese
Entscheidungen sollte nicht überschätzt werden....
Hier käme der nicht zu
unterschätzende Vorteil einer biotelen Gesetzgebung zum Tragen, dass jedermann
das Recht eingeräumt wird, mit politischen und sozialen Vorschlägen bei deren
Eignung eine politische Veränderung zu bewirken, wenn der jeweilige Vorschlag
durch die Gutachteninstanz als lebenstragende Verbesserung bestätigt wird.
Allzu häufig wird diese Bestätigung wegen unklarer Sachlage nicht möglich sein;
aber auch in klarliegenden Fällen hätte der Anregende wohl kaum Gehör bei
entscheidungstragenden Personen gefunden, die ja von eingesessenen
Interessenkreisen bürokratisch abgeschirmt werden.
Die Anregungen, von denen im folgenden die Rede sein soll, erscheinen in eine
Sprache gekleidet, die dem Politikwissenschaftler vielleicht nicht vertraut
sein wird, wohl aber einem jeden, der sich für religiöse Dinge interessiert. Es
ist stellenweise Mode geworden, kurzerhand alle theoretischen Formulierungen,
die in der Terminologie der Religion ausgedrückt sind , als >irrational<
oder >nicht verifizierbar< abzulehnen... Wir wollen nichts weiter, als
die zu erörternden Verfahrensweisen nach politischen Maßstäben und vielleicht
auch unter dem Gesichtspunkt einer umfassenden Organisationsforschung auf ihre
Rationalität und Brauchbarkeit hin zu überprüfen....
Demut und Stolz
Die erwähnten sechs verschiedenen Funktionsstörungen der Autonomie [sie fielen
der Textverkürzung zum Opfer] zeigen durchwegs eine Überbewertung des
Naheliegenden auf Kosten des Fernerliegenden, des Bekannten auf Kosten des
Neuen, des Vergangenen auf Kosten des Zukünftigen. Sie waren verknüpft mit
einer Überschätzung oder Überbewertung der Organisation gegenüber ihrer Umwelt,
ihrer überkommenen Methoden und Zweckbindungen gegenüber neuen Methoden und
neuen Bindungen, ihres gegenwärtigen Willens und ihrer gegenwärtigen inneren
Struktur gegenüber allen Möglichkeiten grundsätzlicher Veränderung. (a. a. O.
S.309,310)
Die Aufforderung zur Demut, die mehreren Weltreligionen gemeinsam ist, scheint
unmittelbar auf mehrere Quellen solcher Funktionsstörungen zu zielen. Demut ist
im Grunde wohl eine bestimmte Haltung gegenüber Tatsachen und Nachrichten, die
von außerhalb unser selbst kommen, eine Aufnahmebereitschaft gegenüber
Erfahrungen und Kritik, ein Feingefühl, eine Empfänglichkeit für die
Bedürfnisse und Wünsche anderer. Als Ihr Gegenteil hat man schon immer die
>Sünde des Stolzes< bezeichnet — jene Sünde, die nach G. K. Chesterton
darin besteht, >die eigene Größenordnung im Universum zu verkennen<....
Alles in allem wird vom Begriff der Demut und ihrem Kontrast zur Sünde des
Stolzes eine Haltung bezeichnet, die das Erlernen neuer Sachverhalte, die
Pflege und Erweiterung der Kanäle für die Aufnahme von außen kommender
Informationen und die Bereitschaft zu interner Neuordnung bejaht.
Nicht nur Religionen lehren eine Haltung der Demut; auch in der
Naturwissenschaft und Politik ist ihre Bedeutsamkeit erwiesen... (a. a. O. S.310)
Im Bereich der Politik hat die Haltung der Demut vielleicht ihren
hervorragendsten Ausdruck in den Gedanken und in der Persönlichkeit Abraham
Lincolns gefunden. Ihre klassischen Zeugnisse sind wohl seine Rede zum zweiten
Amtsantritt und seine >Gettysburg Address< sowie sein Ausspruch, daß
>wir uns weniger darum kümmern sollten, ob Gott auf unserer Seite steht, und
eher darum, ob wir auf Seiner Seite stehen<...
Lauheit und Treue
In jeder Zweckbindung liegt das Risiko der Starrheit und des Verlustes der
Fähigkeit, der nächsten Herausforderung entgegenzutreten. Dies einmal erkannt,
was liegt näher, als jede weitere Bindung wenn möglich überhaupt zu vermeiden?
Im Wirtschaftsleben wird der >Kapitalanleger<, der sein Geld unter der
Matratze versteckt hält, alle Risiken vermeiden, denen er ausgesetzt wäre, wenn
er einer Bank anvertraute... (a. a. O. S.311)
Jede Bindung an politische Gesinnungen oder Handlungsweisen vermeiden zu
wollen, heißt nichts anderes, als die eigenen Hilfsmittel höher zu bewerten als
ihren praktischen Gebrauch und das eigene Selbst höher zu schätzen als jede
Leistung, die man vollbringen könne. Bei Organisationen wie bei individuellen
Personen bildet die fortdauernde Verweigerung der Zweckbindung eine besondere
Variante von Ichbezogenheit und Selbstüberschätzung. Daß eine solche
Selbstüberschätzung auf lange Sicht geeignet ist, zur Zerstörung der Autonomie
und Lernfähigkeit zu führen, ist ein ganz guter Beleg für die Wahrheit der
biblischen Voraussage, wonach derjenige sein Leben verlieren wird, der an ihm
hängt, aber derjenige es gewinnen wird, der bereit ist, es zu verlieren... (a.
a. O. S.312)
Zur
Treue gehört eine Bindung an das eigene Urteil, und sei es auch nur unser
Urteile bei der Auswahl der richtigen Autorität oder des richtigen Buches, dem
wir folgen wollen; die Demut aber rät uns, unserm Urteil selbst in solchen
Fällen zu mißtrauen. Auch in ihrem Zusammenhang bieten uns die beiden Begriffe
noch nicht das Modell für ein perfekt funktionierendes System; sie können aber
immerhin die Bedingungen abgrenzen, zwischen denen ein lebenserhaltender
Ausgleich gefunden werden muß.
Ein Zusammenwirken von Demut und Treue, eine Fähigkeit zu rascher und
nachhaltiger Zweckbindung, jedoch ohne Verlust der Aufnahmebereitschaft für
abweichende Informationen und ohne Verlust der Fähigkeit zur Neuordnung und der
Möglichkeit einer neuen Bindung an neue Ziele oder an neuverstandene bisherige
Ziele — dies ist vielleicht eine Voraussetzung, die alle autonomen Systeme
erfüllen müssen, um überleben zu können.
Ehrfurcht und Abgötterei
Wenn Demut dazu ermahnt, allen internen und routinemäßigen Informationen keinen
allzu hohen Wert beizumessen, so liefert Ehrfurcht vielleicht die ergänzende
Ermahnung, allen von außen kommenden Informationen und allen neuen
Informationen den höheren Wert zuzuerkennen. In diesem Sinne haben sowohl Erich
Fromm wie Jacques Maritain in ihren Schriften die Ansicht vertreten, daß es
nicht möglich ist, einen Menschen zu lieben, ohne Achtung vor ihm zu haben, das
heißt ohne der Integrität und Autonomie der geliebten Person , ihren
Bedürfnissen, Wünschen und Nachrichten einen hohen Wert beizumessen. Was für
die menschliche Liebe zutrifft, hat keinen geringeren Wahrheitsgehalt im
weiteren Umkreis unseres Lebens. Ehrfurcht — ob nun als >Ehrfurcht vor der
Natur< oder mit Albert Schweitzer als >Ehrfurcht vor dem Leben< oder
im Sinne der Religion als Ehrfurcht vor Gott — schließt immer eine
Aufnahmebereitschaft und eine hohe Wertung für alle Informationen über Dinge
ein, die außerhalb unser selbst liegen und größer sind als wir selbst... (a. a.
O. S.313)
Das Bekannte höher als das Unendliche und Naheliegende höher als das Universelle zu schätzen, ja das Bekannte und Naheliegende als absoluten Wert, als das Ein und Alles zu betrachten — das ist wohl die eigentliche Bedeutung der Abgötterei...
Die Liebe im Dilemma zwischen Weltbürgertum und Nationalismus
Zur Selbsterhaltung autonomer Organisationen gehört das immerwährende Streben
nach einer Reihe von Gleichgewichtszuständen. Von außen kommende Nachrichten
dürfen nicht sehr viel höher bewertet werden als interne Daten, weil sonst die
Organisation einfach im Strom ihrer Umwelt dahintreibt. Aber interne Daten
dürfen auch nicht höher bewertet werden als die Außenwelt, weil sonst die
Organisation sich selbst durch ihre Macht, ihre Willkür und durch ihren Stolz
zugrunde richtet. Vielleicht ist es gar nicht so ausgefallen, wenn wir
annehmen, daß dieses Gleichgewichtsproblem seinen präzisen Ausdruck in dem
Gebot gefunden hat: >Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.<
Es ist dies ein Gebot, das zugleich die Gegenpole der Liebe andeutet:
Selbsterniedrigung und Selbstvergötzung. Kein Individuum, keine Kultur, kein
Volk und kein Staat kann bestehen ohne Selbstachtung, ohne seinen eigenen
Erinnerungen und seinem eigenen Charakter einen positiven Wert beizumessen.
Aber weder ein einzelner Mensch noch ein Staat kann die Kontrolle über sich
selbst behalten, wenn er seine gegenwärtigen Erinnerungen und Präferenzen so
hoch einschätzt, daß er sich damit die Möglichkeit zur Entwicklung und
Veränderung unter der Einwirkung von Erfahrungen und Informationen aus der
Außenwelt selbst verbaut. (a. a. O. S.314,315)
Über die 68er Kulturrevolution
des vergangenen Jahrhunderts ist Deutschland über die erfolgreiche
geistig-ideologische Umerziehung — eine Fortsetzung der Weltkriege gegen
Deutschland — die uns Deutschen den Nationalstolz ausgetrieben hat und zugleich
den Selbstbehauptungswillen, scheinen wir wir unmittelbar vor der
Selbstauslöschung zu stehen (vgl. Thilo Sarrazin: "Deutschland schafft
sich ab" und "Europa braucht den Euro nicht").. Aber die
Weltbevölkerung als Ganzes, nicht nur Europa würde durch den Untergang der
deutschen Kultur eine fühlbare Niederlage erleiden. Biotelie steht für eine Versöhnung, auch einer solchen zwischen der
deutschen und der jüdischen Kultur, die sich gegenseitig früher so viel gegeben
haben.
Die verblendeten Schwärmer für den übers Knie gebrochenen sofortigen
europäischen Zentralstaat sind eigentlich Anhänger eines strafforganisierten
sozialistischen Weltbürgertums, der widerlegten kommunistischen Ideologie.
Daß auch K. W. Deutsch sich nicht so recht aus dem Korsett der Verheißung der
jüdischen Religion von der Auserwähltheit lösen kann, kommt nicht nur in den
Schlußsätzen seines Buches zum Ausdruck. Wollen wir ihm seinen Traum vom
besseren Menschen schon wegen seines hervorragenden Buches verzeihen.
Im politischen Leben der Nationalstaaten ist dieses grundlegende Problem seit
dem achtzehnten Jahrhundert immer wieder in der Auseinandersetzung zwischen
Nationalismus und Weltbürgertum ans Tageslicht getreten. In jenem Jahrhundert
gab es viele Menschen, die behaupteten, ihre Heimat sei dort, wo es ihnen am
besten ginge, und die der Masse ihrer Landleute, die ärmer, weniger talentiert
oder weniger gebildet waren als sie selbst, einen geringeren Wert zuerkannten.
Sie selbst fühlten sich eigentlich nur zu Hause in einer internationalen Zunft
der Prominenten, sei es in einer Geburts- oder Geisteshierarchie oder in einem
Kreis der meisterhaften Könner auf einem spezialisierten Gebiet der Kunst oder
Wissenschaft, wo das Niveau ihrer Leistung genügend Schutz gewährte, um ihnen
viele ihrer weniger gesegneten Landsleute vom Leibe zu halten.
Die Reaktion gegen die >horizontale< Exklusivität des Weltbürgertums nahm
häufig die Form einer >vertikalen< Exklusivität des Nationalismus an.
Keine Kunst, keine Wissenschaft, keine Ideen und keine Führer sollten geduldet
werden, die nicht auf dem Boden der Nation gewachsen waren. Das Gebot der
großen monotheistischen Religionen, >Du sollst keine anderen Götter haben
neben mir<, fand ein merkwürdiges Echo im Anspruch des Nationalstaates und
der Nationalisten, die sich anschickten, in seinem Namen zu sprechen: >Es
darf keinen Idealismus geben neben unserem Nationalismus!<
Beide
Betrachtungsweisen, Weltbürgertum und Nationalismus, die Unterschätzung wie die
Vergötzung des eigenen Landes, sind geeignet, auf lange Sicht die Autonomie und
Integrität der politischen Gemeinschaften zu untergraben und damit auch das
nationale Interesse zu schädigen, dem zumindest die Nationalisten zu dienen
vorgeben.
Beide sind weit entfernt vom Prinzip der Liebe, wonach wir unsere Nachbarn so
schätzen und achten und lieben sollen wie uns selbst, ja auch unsere
Nachbarländer auf diesem Planten lieben sollen wie uns eigenes Land... (a. a.
O. S.315)
Um der Anspannung des unentwegten Strebens nach einem fast unerreichbaren
Gleichgewicht zu entrinnen und um in unserem Umkreis wenigstens einen kleinen
Bereich der Voraussehbarkeit zu erhalten, haben die meisten von uns sich
entschlossen, den Problemen und Personen, die uns am nächsten stehen, also
unserer eigenen Familie und unserem eigenen Land, eine eindeutige Präferenz zuzuerkennen...
Eine wirklich autonome politische Organisation mit den Mitteln, die ihr
jederzeit gegeben sind, auf unabsehbare Zeit am Leben zu erhalten, das ist — so
sind wir versucht zu folgern — letztlich wohl eine unmögliche Aufgabe.
Neugier und Gnade
Neugier ist ein empirisch beobachtbares Verhaltensmerkmal des Menschen und auch
vieler höherer Tiere. Experimente haben gezeigt, daß viele Tiere einen
>Untersuchungstrieb< haben, der ihre Aufmerksamkeit auf neue Reize
lenkt...
Neugier kann eine Art >Ziellosigkeit bewirken: die neuen Entdeckungen oder
Sachverhalte werden als überaus bedeutungsvoll akzeptiert, ohne daß zugleich
auch die wahrscheinlichen Konsequenzen für Integrität und Autonomie ausreichend
berücksichtigt werden... (a. a. O. S.316)
An diesem Punkt kann der Begriff der Gnade vielleicht eine ganz wesentliche Abweichung von Haltung der Neugier deutlich machen. Unter dem Aspekt der Gnade können wir Informationen oder Ereignisse, die von außen zu uns dringen, als Antworten auf unsere innersten Probleme der Selbstbestimmung betrachten. Sie sind uns zur Verfügung gestellt nicht als bloße Werkzeuge zur Erlangung vorgefaßter und eng begrenzter Ziele und auch nicht als überwältigende Kräfte, von denen wir hilflos mitgerissen werden, sondern als unwahrscheinliche Ereignisse und Sachverhalte, in denen wir vielleicht die fehlenden Ergänzungsstücke zu unseren Denkproblemen, die entscheidenden Einzelheiten zur Lösung einer bestimmten Krise unseres Entscheidungssystems entdecken können... (a. a. O. S.317,318)
Der Biologe Walter B. Cannon umschrieb mit dem Ausdruck >serendipity< die Fähigkeit des Wissenschaftlers, neue und unerwartete Erkenntnis im Verlauf der Untersuchung zu gewinnen, die eigentlich einem ganz anderen Gegenstand gewidmet waren...
Wenn
auch jede zufällige Entdeckung von Bedeutung tatsächlich auch dann
unwahrscheinlich und unvorhersehbar sein mag, wenn der Geist des
Wissenschaftlers im Sinne ...Louis..Pasteuers >vorbereitet< ist, so wird
sie doch noch viel unwahrscheinlicher, wenn der Geist des Wissenschaftlers
unvorbereitet bleibt, weil sie in diesem Fall wahrscheinlich nicht weiter
verfolgt würde. (a. a. O. S.318)
Mit dem Begriff der Gnade sind deshalb drei Grundhaltungen verknüpft:
1. Die Anerkennung der Tatsache, daß auf lange Sicht irgendwelche
unvorhergesehene Ereignisse oder Daten der Außenwelt wesentlich und notwendig
sind, um Lösungen entscheidender innerer Steuerungsprobleme jeder autonomen
Organisation zu ermöglichen...
2. Die Erwartung, daß das Universum auch tatsächlich die wesentlichen Daten und
Vorgänge enthält, die zur Lösung der Steuerungsprobleme der Organisation
notwendig, aber gegenwärtig in ihren inneren Hilfsmitteln nicht gegeben sind...
3. Die Annahme, daß ungeachtet dieses Sachverhalts eine ständige
Empfänglichkeit für wesentliche neue Erfahrungen und Daten die
Wahrscheinlichkeit erhöhen wird, daß solche Erfahrungen und Daten rechtzeitig
gefunden und verwertet werden können, um der Selbstzerstörung entgegenzuwirken.
Empfänglichkeit ist dann vorhanden, wenn die neuen Daten nicht einfach als
Mittel für vorgefaßte Zwecke verwendet, sondern auch so eingesetzt werden, daß
sie auf entscheidende Stellen des Entscheidungsprozesses und selbst auf
Entscheidungen über eine möglicherweise fundamentale innere Neuordnung des
Entscheidungsprozesses einwirken können.... (a. a. O. S.319,320)
In ähnlicher Weise [wie Heraklit oder Propheten] kann man sich eine sehr große soziale oder politische Organisation, die vielleicht Millionen von Menschen umfaßt, als ein Gehäuse vorstellen, in dem ein gewaltiges internes Universum möglicher Denk- und Verhaltensmuster eingeschlossen ist. Gleichwohl ist auch das gewaltigste interne Universum, das wir uns vorstellen können, notwendigerweise winzig im Vergleich zum Universum, von dem es umgeben ist. Während also die der Gnade angemessene Haltung wohl auch Empfänglichkeit gegenüber internen Initiativen und Erkenntnissen einschließen kann, wird die doch in der Hauptsache an die Außenwelt gerichtet sein. (a. a. O. S.320)
Eklektizismus und Geisteshaltung
Wie kann eine autonome Organisation Informationen aus der Außenwelt in ihre
allerwichtigsten Entscheidungen einbeziehen, ohne zugleich ihre eigene
Identität zu verlieren? Der Einfluß auswärtiger Informationen kann ergeben, daß
Entscheidungen entstehen, die miteinander unvereinbar sind. Ihre Einwirkung auf
die Neuordnung innerer Strukturen kann ergeben, daß sich im System innere
Teilstrukturen ansammeln, zwischen denen nur geringe Kommunikation und
Koordination möglich ist. In solchen Fällen kann unkritische
Aufnahmebereitschaft die Autonomie oder gar das ganze System zerstören. Auch
wenn das System selbst überlebt, kann dennoch seine Steuerungsfähigkeit und
seine Befähigung zu weiterem Wachstum entscheidend geschwächt sein....
Wenn wir einen Wert als Entscheidungsmuster für eine bestimmte Klasse von Problemen verstehen, dann ist Geisteshaltung die Menge aller Werte zweiten Grades, die ein Entscheidungsmuster beschreiben, nach dem Werte ersten Grades ausgewählt werden. Eine Geisteshaltung bildet nach dieser Auffassung eine in sich stimmige strategische Konzeption von Werten im Unterschied zu den >taktischen< Werten, nach denen sich die einzelnen Entscheidungsklassen richten. Eine so verstandene Geisteshaltung wäre der Gegenpol des Eklektizismus, zugleich aber auch das Gegenteil engstirniger Intoleranz oder Borniertheit. Als strategisches Wertmuster wird sie von wechselnden >taktischen< Wertmustern ersten Grades in Funktion gehalten. Durch die Suche nach solchen Wertstrategien und deren Identifizierung in den bestehenden Strukturen könnten wir besser verstehen, ob und warum in einem autonomen System die Integration fehlt oder vorhanden ist. (a. a. O. S.321)
Der
Leviathan des Thomas Hobbes, jener Riese, dessen Körper sich aus vielen kleinen
Menschen zusammensetzt, ist vielleicht geistig schwerfälliger als seine
Einzelteile, auch wenn sein Gesichtskreis den ihren weit übertrifft.
Weitläufige politische Systeme sind den individuellen Menschen, aus denen sie
sich zusammensetzen, im Denken, Rechnen und in der raschen Entscheidungsbildung
unterlegen, doch fehlt diesen im allgemeinen die umfassende Information, die
den Regierungen zur Verfügung steht. In der Politik haben langsam denkende
Bürokratien meist Zugang zu sehr weitgespannten Informationsbereichen, während
schnell denkende Einzelpersonen durch mangelnde Kenntnisse in entscheidenden
Bereichen behindert sind.
Mit dem biotelen
Gutachtenverfahren soll dies für die Gutachter weitgehend ausgeglichen werden,
in denen diesen Informationsrechte nach automatischer statistischer
Überarbeitung in den Kontrollzentren (Kontrollkörpern) für ihre
Themenbearbeitung gesetzlich zugänglich gemacht werden.
Die
Autonomie, die Komplexität und der Leistungsbereich der Selbststeuerung ist
also bei der individuellen menschlichen Persönlichkeit viel größer als die
Autonomie und Steuerleistung einer sozialen Organisation jeweils sein kann,
obgleich einzelne begrenzte Funktionen von größeren Organisationen wirksamer
ausgeübt werden können. Das Problem der politischen und sozialen Integration
besteht daher im wesentlichen in der Integration von Gruppen autonomer
Einheiten, deren jede ihre eigene Wertstrategie hat; der Erfolg oder Mißerfolg
der politischen Integration bemißt sich danach, ob eine Wertstrategie zweiten
Grades, eine >gemeinsame Geisteshaltung<, vorhanden ist, die sich in den
verschiedenartigen Wertmustern und Steuerungssystemen der kleineren autonomen
Einheiten nachweisen läßt...
Was die langfristigen Überlebenschancen jedes autonomen Systems betrifft, so
fanden wir, daß sie in entscheidendem Maße von der Vielfalt und Reichweite der
Beziehungen abhängt, welche das System mit den außerhalb seiner eigenen Grenzen
entstehenden Ereignissen und Informationen verbindet. Seine Überlebenschancen
werden also auf lange Sicht weitgehend davon abhängen, ob das System in der
Lage ist, nicht nur sich selbst ständig zu verändern und neu zu strukturieren,
sondern auch Integrationsbeziehungen mit anderen Systemen herzustellen. (a. a.
O. S.322,323)
Politik als sozialer Entscheidungsbereich: Folgerungen für die Forschung
Unsere Überlegungen haben gezeigt, daß es sich bei der Erhaltung einer
individuellen oder Gruppenautonomie, ja selbst bei der Erhaltung einer gewissen
Autonomie ganzer Nationen oder der gesamten Menschheit nicht allein um ein
politisches Problem handelt. Die Erhaltung der Autonomie berührt vielmehr den
gesamten Bereich des individuellen und sozialen Lernens von
naturwissenschaftlichen Entdeckungen und wirtschaftlichen Neuerungen bis hin zu
den subtilsten Veränderungen auf dem Gebiet der Kultur, Ethik, der Werte oder
der Religion.
Gleichwohl nimmt in diesem Bereich die Politik eine besondere Stellung ein:
Zur Politik gehört die Steuerung oder Manipulierung menschlicher
Verhaltensweisen mit Hilfe einer Kombination aus angedrohtem Zwang und
gewohnheitsmäßiger Folgeleistung...
Die Politik ist demnach ein entscheidendes Instrument zur Erzeugung, Erhaltung
oder Veränderung sozialer Zweckbindungen.
All dies spricht dafür, daß es sinnvoll ist, die Politik unter dem
Gesichtspunkt der Autonomie, der Steuerleistung, der Kreativität, der Macht,
der Lernfähigkeit und Selbsterhaltung zu erforschen.... (a. a. O. S.323)
Welche institutionellen Einrichtungen und welche Anreize sind vorhanden, um Kritik zu ermutigen, sie an die Entscheidungsstellen heranzutragen, und die Empfänglichkeit des Systems für jede Art von Kritik zu gewährleisten? Wie sehen die Lernreaktionen des Systems aus?...
Hier wäre die Einführung des
biotelen Gutachtenverfahrens mit allgemeinem Antragsrecht für politische und
soziale Verbesserungen ein revolutionärer Schritt.
Es ist denkbar, daß wir und den augustinischen Standpunkt zu eigen machen
müßten, wonach das Gewicht der Wahrscheinlichkeiten nach wie vor nicht für ein
Überleben, sondern letztlich für die Selbstzerstörung jedes autonomen
Systems spricht. (a. a. O. S.324,325)
Oder vielleicht kämen wir auch zu der Ansicht, daß die bewußte Erkenntnis dieser Zerstörungsgefahr schon in sich selbst ein Faktor sein kann, der die Gefahr mildert, und daß das Universum neue Hilfsmittel in genügender Zahl bereithält, um allen jenen autonomen Systemen eine dauerhafte Überlebenschance zu bieten, die es fertigbringen, sich bereit zu halten und sie zu nutzen... (a. a. O. S.325)
Vierzehntes Kapitel
Machtpolitik und Wachstumspolitik
Politischer Wille
Der Wille beurteilt die Relevanz von Ereignissen und Nachrichten nach einem
zeitlichen Maßstab: Informationen, die vor dem Augenblick der Entscheidung
empfangen wurden, können noch als relevant berücksichtigt werden, spätere
Nachrichten nicht mehr. Wille in diesem Sinne bezeichnet eine funktionale
Priorität aller vor einer Entscheidung eingetroffenen Daten gegenüber allen
danach eintreffenden...
Da der Wille fähig ist, zäh an einer einmal gefaßten Entscheidung festzuhalten,
scheint er den Ausweg anzubieten, mit dem man die psychische Belastung weiterer
Entscheidungsbildung umgehen kann.
In Gruppen oder Regierungsapparaten, wo eine bestimmte Entscheidung vielleicht
erst nach beträchtlichen Schwierigkeiten zustande gebracht wurde, kann es
vorteilhaft erscheinen, beispielsweise an einer außenpolitischen Entscheidung
und den Verfahrensweisen, die ihrer Ausführung dienen wollen, ein für allemal
festzuhalten. Der Vorteil eines solchen Verhaltens liegt auf der Hand: das
ursprüngliche Problem braucht nicht wieder aufgeworfen zu werden; und erneute
innenpolitische Konflikte werden dadurch vermieden. (a. a. O. S.327,328)
Ähnlich liegen die Dinge, wenn Entscheidungen einen Konflikt zwischen
verschiedenartigen Werten bedingen: Beharrlichkeit kann sich dann als leichter
erweisen als jede Korrektur....
In der Mythologie extremer politischer Bewegungen findet dieser Typus von
Willen einen bezeichnenden Ausdruck in der Vorstellung von dem großen Toten,
der aus dem Grab zurückkehrt.... In einer solchen Vorstellungswelt gilt der
tote Held als Symbol der Befreiung aus allen Kompromissen und Frustrationen.
Die Häufigkeit und Anziehungskraft solcher Symbole einer unwiderstehlichen
Streitmacht der Toten — gleichsam die Anziehungskraft des >Todestriebes<
in der Politik — steigert sich unter Umständen in dem Maße, in dem Angst und
Frustration im sozialen und politischen Leben sich mehren.
Das Problem der politischen Macht
Die Idee eines Willens, der nicht bloß unbeugsam, sondern tatsächlich
unwiderstehlich ist, schließt auch die Idee der Macht ein. Unter Macht
verstehen wir gemeinhin die Fähigkeit, >uns< oder >unseren Willen<
durchzusetzen... (a. a. O.S.328)
Wenn
>Wille< als Wunsch verstanden wurde, nicht zu lernen, so ist
>Macht< die Fähigkeit, nicht lernen zu müssen. In dieser einfachen
Bedeutung sind Wille wie Macht Elemente der Pathologie des sozialen Lernens,
und die Beharrlichkeit, mit der Moralisten, Philosophen und Theologen vor dem
Willen und der Macht gewarnt haben, gewinnt hier ihren guten Sinn. Pathologisch
ist ein Lernprozeß (mit entsprechenden Veränderungen der inneren Struktur),
durch den die zukünftige Lernfähigkeit des Systems nicht erhöht, sondern
vermindert wird. Wille und Macht können leicht in selbstzerstörerisches Lernen
umschlagen, wenn sie zur Überbewertung der Vergangenheit gegenüber der Zukunft,
der in einer begrenzten Umwelt erworbenen Erfahrungen gegenüber der Weite des
umgreifenden Universums oder gegenwärtiger Erwartungen gegenüber allen
möglichen Überraschungen, Entdeckungen und Veränderungen führen.
Wenn sie zum Exzeß getrieben werden, können Wille und Macht in ihrer einfachen
Bedeutung die Entscheidungssysteme, in denen sie die Oberhand gewonnen,
zugrunde richten... (a. a. O. S.329)
Eine Politik des Wachstums
Man hört oft, es sei Aufgabe der Politik, neben der Berücksichtigung spezieller
und untergeordneter Interessen zunächst und vor allem das >öffentliche
Interesse< oder das >Gemeinwohl< zu fördern. Wenn wir unterstellen,
daß es so etwas wie ein Gemeinwohl gibt und daß sich das soziale Leben nicht
allein im Konflikt der Gruppen erschöpfen darf, so müssen wir zunächst fragen,
was denn dieses gemeinsame Wohl sei.
Trotz tiefgreifender Unterschiede der Kulturformen und Werte können wir vorerst
annehmen, daß die Lebenserhaltung der Familie, der Gemeinschaft, des Volkes und
der Nation wohl am ehesten zu den allgemein anerkannten Werten zu zählen ist.
Im Hinblick auf die Wahrscheinlichkeit ihres Überlebens können wir alle
politischen Systeme oder Organisationen in vier Kategorien einteilen:
1. Selbstzerstörerische Systeme, die womöglich auch unter relativ
günstigen Umweltbedingungen zusammenbrechen;
2. Lebensunfähige Systeme, die mit großer Wahrscheinlichkeit nicht
geeignet sind, mit den vielfältigen Problemen, wie sie unter fast allen
Umweltbedingungen auftreten können, fertig zu werden; solche Systeme müssen
allerdings nicht von vornherein selbstzerstörerisch sein;
3. Lebensfähige Systeme, die geeignet sind, ihre von vornherein
gegebenen Überlebenschancen unter einer begrenzten Vielfalt von Umweltbedingungen
zu realisieren;
4. Sich selbst entwickelnde und erweiternde Systeme, die fähig sind,
ihre Überlebenschancen zu verbessern und ihren Aktionsbereich auf eine
wachsende Vielfalt von Umweltbedingungen auszudehnen.
Während soziale Organisationen sich im allgemeinen von Organismen radikal
unterscheiden, entsprechen die drei letztgenannten Kategorien tatsächlich in
gewisser Hinsicht dem medizinischen Begriff der >Gesundheit< und mehr
noch dem biologischen Begriff des >evolutionären Fortschritts<.*
* Julian Huxley: Evolution, the Modern Synthesis. New York und London
1943, S.556-578, und: Man in Modern World. New York 1951, S.7-27. (a. a. O. S.330,331) Auch dieser
letztere Begriff orientiert sich an dem Gedanken einer langfristigen Überlebenschance
und an der Tatsache der wahrscheinlichen Änderung der meisten Umweltbedingungen
auf lange Sicht, so daß nur sich selbst verändernde und erweiternde Systeme
überleben können, und zwar dank ihrer Fähigkeit mit verschiedenartigen
Umweltbedingungen fertigzuwerden und ihre relative Unabhängigkeit von jeder von
ihnen zu vergrößern...
Alle diese Gedanken, angefangen bei Emile Durkheims Idee der sozialen
Gesundheit bis zu Julian Huyleys Begriff des evolutionären Fortschritts, führen
letztlich zur Erkenntnis, daß Wachstum, Anpassungsfähigkeit und Lernfähigkeit
wesentliche Voraussetzungen für das Überleben von Gesellschaften und Kulturen
sind. Welche Dimensionen hat dieses Wachstum, und welchen Beitrag kann die
Politik dabei leisten? (a. a. O. S.331)
Dimensionen des Wachstums
Als erstes Wachstumskriterium für politische Systeme können wir das Wachstum
des Menschenpotentials und die Verbesserung seiner physischen und geistigen
Gesundheit anführen.
Gegenüber einem weiteren
Anwachsen der Bevölkerung sollten jedoch die meisten Staaten Bedenken tragen
und geeignete Maßnahmen treffen.
An zweiter Stelle wäre das wirtschaftliche Wachstum zu nennen. Ohne daß wir nun
die Literatur über Wirtschaftswachstum zu rekapitulieren versuchen, sei
bemerkt, daß hier vor allen Dingen die Kapazität der verfügbaren
Produktionsfaktoren gemeint sind, also Kapitalgüter, Boden und Arbeitskraft...
An dritter Stelle sind Wachstumskriterien zu erwähnen, die sich auf die
Verfügbarkeit materieller und menschlicher Potentiale für neue
Verwendungsbereiche beziehen. Insbesondere zu erwähnen ist hier die Entwicklung
von operativen Reserven, die vom System zur Verfolgung neuer Ziel, zur
Befriedigung neuer Anforderungen oder zur Bewältigung neuer Herausforderungen
aus der Umwelt bereitgehalten werden.
Eine vierte Gruppe von
Wachstumskriterien bezieht sich auf das Wachstum der Autonomie oder
Selbstbestimmung. Dazu gehört einerseits ein Wachstum der Hilfsmittel und
Funktionen, die den sozialen Zusammenhalt gewährleisten, also Reichweite, Vielfalt,
Geschwindigkeit und Wirksamkeit der internen Nachrichtenübermittlung zwischen
den einzelnen Menschen und zwischen den Institutionen oder Teilen der
Gesellschaft oder des politischen Systems. Auf der anderen Seite gehört dazu
auch ein Wachstum der Steuerungsleistung des Systems sowie eine Steigerung der
Wirksamkeit, mit der das System die aus der Erinnerung entnommenen Daten
verwendet, und der Informationsmenge, dies es von außen empfängt... (a. a. O.
S.332)
Ein
mögliches fünftes Kriterium des Wachstums ergibt sich unmittelbar aus diesem
vierten. Eine wachsende Organisation, also auch ein wachsender Staat oder
Regierungsapparat, muß in der Lage sein, die eigenen Kommunikations- und
Organisationsprinzipien zu verändern, um den Gefahren der Größe... entgegenzuwirken.
Sie muß der sich verstärkenden Tendenz zur Selbstfaszination und schließlich
zur Selbstisolierung gegenüber ihrer Umwelt widerstehen und sich häufig genug
reorganisieren, um dadurch der wachsenden Bedrohung durch interne
Nachrichtenüberlastung und Verstopfung der Übertragungskanäle entgegenzuwirken.
Solche Gefahren — durch das >Parkinson Gesetz< und ähnliche Schriften
über Politik und Verwaltung ins Licht der Öffentlichkeit gerückt* — können am
wirkungsvollsten durch strategische Vereinfachungen behoben werden.
*C. Northcote Parkinson: Parkinson's Law, and Other Studies in
Administration. Boston
1957
Wie sich schon oft in der Geschichte gezeigt hat, besteht organisatorisches
Wachstum und technischer Fortschritt in einer solchen Vereinfachung eines
entscheidenden Bindegliedes in der Kette der ineinandergreifenden und sich
fortpflanzenden Vorgänge, durch welche die Organisation in Gang gehalten wird.
So wurde etwa die immer umfangreichere schriftliche Überlieferung durch die
Erfindung ständig vereinfachter Schriftzeichen und ständig weiter vereinfachter
Schreib- und Druckverfahren entscheidend erleichtert... (a. a. O. S.333)
Ich überspringe hier die
Reihe der von K. W. Deutsch präsentierten Beispiele und verweise auf das
Endstufe der Entwicklung der Schriftzeichen mit der elektronischen
Datenverarbeitung, welche nur noch die beiden Zeichen + und - als Symbole
kennt.
Alle
diese Elemente des Wachstums bewähren sich in ihrem Zusammenwirken an dem
Maßstab, den Simon Kuznets einmal aufgestellt hat, nämlich an der Fähigkeit
einer Organisation, einer Volkswirtschaft oder eines Staates, den einmal
gesetzten Zielen auch tatsächlich näher zu kommen. In diesem Sinne hängt
Wachstum als Fähigkeit zur Annäherung an zuvor gewählte Ziele eng mit der Verstärkung
des Willens und der Macht des Systems zusammen. Je nachhaltiger die Fähigkeit
eines Systems,, alle äußeren Widerstände auszuräumen, desto größer die
Wahrscheinlichkeit, daß ein bestimmtes selbstgewähltes Ziel erreicht wird. In
diesem Sinne verkörpern Wille und Macht die Fähigkeit, eine zeitweilige
Zweckbindung von Interessen und Hilfsmitteln zu verfestigen. (a. a. O.
S.334,335) Kurzfristig gesehen sind Wille und Macht die wesentlichen
Instrumente der Steuerungsleistung, der Autonomie und des Wachstums.
Eine sechste Gruppe von Kriterien bezieht sich auf langfristiges Wachstum.
Hierher gehört jede Steigerung der Fähigkeit zur Zieländerung, also jede
Ausweitung der Vielfalt möglicher Ziele, die eine Gesellschaft, eine Kultur
oder ein politisches System anstreben kann. Hierher gehört auch die Lernfähigkeit,
die nicht allein für operative Reserven sorgt, sondern auch eine tiefgreifende
Neuordnung der inneren Struktur und damit der Herausbildung ganz neuartiger
Funktionen ermöglicht. Hierher gehört schließlich die Steigerung der Fähigkeit,
eine wirkliche Neuerung zu erzeugen, einzelne daraus sich ergebende
Informationsmuster als Initiative auf die Regulierung des Verhaltens anzuwenden
und schließlich durch eigene Kreativität gänzlich neue Strukturmuster in
der physikalischen und sozialen Umwelt zu erzeugen.
Die bisher aus unserem Wachstumsmodell abgeleiteten Kriterien beziehen sich in
erster Linie auf das Entscheidungssystem als Ganzes. Eine wesentliche Eigenart
jeder menschlichen Organisation, durch die sich sie vom Ameisenhaufen
unterscheidet, ist die Wechselwirkung zwischen dem Wachstum der Organisation
einerseits und der Individuen und der mehr oder weniger autonomen Teilgruppen,
aus denen sich die Organisation zusammensetzt, andererseits. In diesem Sinne ist
das Wachstum menschlicher Organisationen immer ein Wachstum mehrerer autonomer
Systeme auf mehreren Ebenen, und das autonome Wachstum und die erweiterte
Selbstbestimmung der einzelnen Menschen ein Prüfstein des umfassenden
Wachstums...
Das Wachstum des gesamten Entscheidungssystems ist also auch zu >messen<
am Fortschritt einer zugleich ineinandergreifenden und differenzierenden
Autonomie der Teilsysteme und somit an der Entwicklung eines Faktors, den
manche Psychologen als >integratives Verhalten< — das die
Autonomie der integrierten Einheiten nicht zerstört — kann wiederum im
Zusammenhang stehen mit der Fähigkeit einer Gesellschaft oder eines Staates,
mit anderen Gesellschaften und Staaten umzugehen, ohne daß es gleich zum
Selbstmord oder zur gegenseitigen Zerstörung kommt... (a. a. O. S.335)
Innovationsbeschleunigung als Aufgabe der Politik
...Definieren wir den eigentlichen politischen Bereich als den Bereich der
zwangsweise vollziehbaren Entscheidungen, die durch die hohe Wahrscheinlichkeit
freiwilliger Folgeleistung und die gleichermaßen hohe Wahrscheinlichkeit eines
angedrohten Zwanges wirksam sind, dann wird Politik zur Methode par
excellence, und die vorrangige Behandlung bestimmter Nachrichten oder
Befehle und die Umverteilung menschlicher und materieller Potentiale
durchzusetzen.....
Beispiele für die konservative Funktion der Politik findet man in vielen
Kulturen. Es ist vielleicht eine Eigenheit abendländischer Politik, daß sie
einen weiten Bereich bedeutsamer Verfahrensweisen zur Beschleunigung der
Innovation erschlossen hat. (a. a. O. S.336,337) Zu den wichtigsten dieser
Verfahrensweisen zählen vielleicht die folgenden drei: die Herrschaft der
Mehrheit, der Schutz der Minderheiten und die Institutionalisierung von
Meinungsverschiedenheiten...
Politische Strukturen, die zu ihrem Funktionieren der Einstimmigkeit bedürfen —
wie dies etwa in der Dorfpolitik des Orients vielfach der Fall ist — sind
geeignet, die Geschwindigkeit des sozialen Wandels sehr weit herabzudrücken.
Die Herrschaft der Mehrheit nach abendländischem Muster erlaubt dagegen viel
schnellere Veränderungen...
Das Zusammenwirken der Herrschaft der Mehrheit, des Schutzes von Minderheit und
der institutionalisierten Meinungsverschiedenheit, verstärkt noch durch einen
systematisierenden, analytischen, kritischen und kombinatorischen Denkstil,
verleiht den abendländisch geprägten Gesellschaften und politischen Systemen
ein ungewöhnlich reichhaltiges Reservoir von Hilfsmitteln und Instrumenten zur
Bewältigung rascher sozialer Lern- und Innovationsprozesse. Wenn auch
andere Kulturen diese Institutionen in ihrer abendländischen Form wohl kaum
unverändert übernehmen können, so werden sie doch irgendwie dafür sorgen
müssen, daß die Funktionen umfassender Nachrichtenbeschaffung und rascher Neuorientierung
auch bei ihnen auf die eine oder andere Weise gewährleistet werden. (a. a. O.
S.337)
Wie
alle Verfahrensweisen, die der Erzeugung und Durchführung von Entscheidungen
dienen, ist auch die Politik kein Zweck an sich. Wir kennen sogar eine Reihe von
hochgemuten Zukunftsvisionen, angefangen von der frühen Christenheit bis hin zu
H. G. Wells, die einen Zustand sozialer Entwicklung voraussahen, in dem jeder
soziale Zwang und damit auch alle Politik überflüssig wäre. Was man von solchen
Hoffnungen auch halten mag, in der Welt von heute ist jedenfalls die Politik
ein wesentliches Instrument des sozialen Lernens. Sie wird besser als
Instrument der Lebenserhaltung und des Wachstums und nicht mehr der Zerstörung
dienen, wenn ihr Weg von Erkenntnis und Einsicht gewiesen wird...
Eine solche Perspektive ist auch für diejenigen unter uns von Bedeutung, die in
der Politik mehr einen Wettstreit als einen Prozess des Erwachens sehen...
Auch in diesem Wettstreit werden Staat und Politik noch für lange Zeit die unentbehrlichen
Instrumente zur Beschleunigung des sozialen Lernprozesses sein, mit dessen
Hilfe der vielfach gespaltenen und noch immer in Staaten organisierten
Menschheit eine schnellere Anpassung an die gefährlichen und doch
hoffnungsvollen Aufgaben des Heranwachsens gelingen kann. (a. a. O. S.338)
Sehr geehrter Herr Wagner,
haben Sie vielen Dank für die Zusendung des Verweises.
Wie ich vermutet habe ist Ihre Verwendung der Texte in jeder
Hinsicht redlich und aus Verlagssicht vollkommen legitim.
Entsprechend hat der Verlag nichts dagegen einzuwenden.
Herzliche Grüße und alle guten Wünsche
Ihr
Torang Sinaga
Von: Wolfgang Wagner
[mailto:d-berlin@biotelie.de]
Gesendet: Mittwoch,
An: Sinaga, Torang
Betreff: Politische Kybernetik
Wolfgang Wagner, Berlin, den
An den
Rombach
Verlag KG
Verlagsleitung
Unterwerkstr.
5
79115 Freiburg i. Br.
Eigene Anmerkungen
Es
ist eine irrtümliche und bedauerliche Fehlauffassung aus der Doktrin des
Sozialismus-Kommunismus heraus, dass AUSLESE und damit auch Konkurrenz bekämpft
werden müsse, ja überhaupt ohne schädliche Folgen bekämpft werden könne. Der
Wettstreit bleibt in einer konstruktiven Politik unverzichtbar und ist eine
Voraussetzung lebensverträglichen Wachstums auch im Sinne des Erwachens. Und
Wettstreit mündet, so er ernsthaft betrieben wird, in der Regel in der AUSLESE.
Die Politik und in ihrem
Schleppzug die Wissenschaft haben meines Erachtens viel zu wenig von K. W.
Deutsch's Erkenntnissen Gebrauch gemacht, so wie der es doch angestrebt hatte.
Mit dem Modellsystem Biotelie soll versucht werden, einen strikten
poltisch-kybernetischen Regelungsbereich zu schaffen und damit einen Teilbezirk
politischen Regelungs- und Entscheidungsmaterials aus ihr herauszulösen. Und
etwas anderes ist es doch wohl nicht als eine Herauslösung, wenn in Biotelie
die Regelungsverfahren das Machtgerangel dort ablösen, wo die Verhaltensweisen
und zugehörigen Strukturen im Hinblick auf das Ziel der Lebenserhaltung mit
hoher Wahrscheinlichkeit nach dem Stand von Fachwissen festgelegt werden
können, falls und soweit die Mehrheit der Betroffenen dem nicht widerspricht.
Der massive Widerstand der herrschenden Kreise in Politik, Wirtschaft,
Wissenschaft und Gesellschaft ist natürlich vorprogrammiert, da diese bisher
nahezu ausschließlich oder doch in beträchtlichem Maße an materiellem Gewinn,
Ansehen und damit letztlich an Macht orientiert sind. Den durchschimmernden
Optimismus von K. W. Deutsch, dass irgendwann in ferner Zukunft einmal
Machtpolitik entbehrlich und hinfällig werden könne, kann ich jedoch auch nicht
teilen.
Der in Jahr Millionen von der Natur herangezüchtete Mensch ist notwendigerweise
auf Macht und nach dem Anwachsen auf Milliarden-Bevölkerungsstärke auf Politik
angewiesen und bleibt dies, es sei denn eine globale Katastrophe würde die auf
unserem Planeten lebende Zahl der Menschen wieder auf ganz kleine Reste
herabsetzen. Aber auch dann würden wir doch wohl wieder zunächst mit dem
Faustrecht beginnen.
Ich
selbst war von Anfang an meinem Gelübde bestimmt und von den wundersamen
"Zufällen", die in mir so etwas wie ein Berufungsgefühl in mir
festigten. Ein Psychologie-Professor erregte sich darüber sehr und fand es belegt in
den so verschiedenen Ansätzen in meiner Homepage 2002, mit denen ich meine
Ideen so penetrant versuchen würde umzusetzen. Aber ist es nicht seltsam, wenn
seit 1998 sich nicht ein einziger Professor oder Student auf meine Hilferufe in
meiner Homepage auch nur zur Diskussion meldete, und vor etwa einem Jahr in
nächster Nachbarschaft ein kompetenter Helfer mit sehr verwandten inneren
Anliegen und ergänzenden Computerkenntnissen sich zur Mitarbeit bereit
erklärte?
Das verkürzt — und dadurch leider verstümmelt — oben herangezogene Buch von
Professor Deutsch hat mich stark beeindruckt und beeinflusst, nachdem es über
eine billig vertriebene Restauflage "zufällig" in meinen Besitz
gekommen war. Der Name des Autors verrät ja schon dessen zumindest teilweise
Abstammung von deutschen Vorfahren. In diesem Zusammenhang möchte ich daran
erinnern, dass ich bei allem Entsetzen und Bedauern über den Völkermord an den
Juden durch das NS-Regime zugleich für eine Versöhnung und erneute enge
Zusammenarbeit zwischen Juden und Deutschen eintrete, die doch historisch
gesehen einmal besonders fruchtbar war. Die Überstrapazierung des
"Holocaust"-Gedenkens und seines weitgesteckten Umkreises in
Deutschland, die zu einem gefährlichen Verlust des natürlichen nationalen
Selbstbewusstseins auch der Jugend geführt hat, steht dem noch im Wege. Dem an
den Haaren herbeigezogene Argument der "Abschreckung" vor derartigen
Verbrechen in der Zukunft, steht die Erfahrung gegenüber, dass ein gedemütigtes
Volk in Krisenzeiten anfällig gegenüber Rettungspropheten wird, wie doch gerade
die Auswirkungen des Versailler Vertrags lehren sollten. Auch das Irren und
Versagen vieler Menschen jüdischer Abstammung in der Frühzeit der Sowjetunion
muss doch vor dem Hintergrund der messianischen Hoffnung des Judentums und des
Glaubens an ihren religiösen Auftrag zur Menschheitsbefreiung verstanden
werden. In der Jahrhunderte langen Verwehrung eines eigenen Staates Israel kann
doch auch eine Wurzel
des sozialistischen Internationalismus vermutet werden.
Namhafte Historiker zerbrachen sich den Kopf über Adolf Hitlers plötzlichen und
so unversöhnlichen Judenhass.
Nach meinem Verständnis wurzelt dieser Hass teilweise auch in der Konkurrenz
des "auserwählten Volkes", das auf Grund der Auslese
jahrhundertelanger Verfolgung und Zurücksetzung nahezu alle die Vorzüge in sich
vereinigte, welche Hitler sich von der "nordischen Rasse" und vor allem
den Angehörigen des deutschen Volkes erträumte.
Ein international unangefochtenes unabhängiges bioteles Gutachtenverfahren kann
derartigen nationalistischen und Irrtümern und Auswüchsen auf Dauer
entgegentreten.
Es ist nicht völlig aus der Luft gegriffen, dass beim Kriegseintritt der USA im
Ersten vor allem aber im Zweiten Weltkrieg, der doch kriegsentscheidend war,
auch jüdische Führungskräfte eine nicht unbeträchtliche Rolle spielten:
War jemand wirklich nur Opfer einer Verschwörungstheorie, wenn er vor allem
seit 1945 auch im Zusammenhang mit dem "Sieg des Kapitalismus" von
einer "jüdischen Weltmacht" ausging?
Die aufsteigende neue Rolle der ostasiatisch-pazifischen Weltmächte und die
Bedrohung der Weltwirtschaft durch den spekulativen Finanzkapitalismus sind
Herausforderungen, denen die Menschheit sich nur erfolgversprechend stellen
kann, wenn neben der Machtpolitik — auch im Bereich einer UNO mit verstärkter
Bedeutung — über ein bioteles
Gutachtensystem auch ein politischer Sektor der politischen Regelungssteuerung
eingerichtet wird.
Hierzu bedarf es einer Verständigung auf ein gemeinsames Basis-Wertesystem, in
dessen Mittelpunkt mit der dynamischen Stabilität die Lebenserhaltung
steht.
Karl Wilhelm Deutsch hat mit seiner "Politischen Kybernetik" einen
wertvollen Beitrag geleistet.
Erst nachträglich erfahre ich über Wikipedia, daß Prof. Deutsch offenbar nicht
jüdischer Abstammung war; da er sich bei der hohen Zahl jüdisch-stämmiger
Soziologen in deren Umkreis bewegte, nehme ich von meinen früheren Ausführungen
eben nur diese Abstammungsvermutung zurück. In der „Liste der emigrierten
deutschsprachigen Sozialwissenschaftler“ von Wikipedia fehlt W. D. noch. Ich bedauere, dass ich ihm
während seiner Tätigkeit in Berlin nicht begegnete.
http://de.wikipedia.org/wiki/Karl_W._Deutsch
Politische
Kybernetik ist ein unverzichtbarer integraler Bestandteil des System der
Biotelie. Wird die Unabhängigkeit der Begutachtung gestört, so liegt kein
bioteles Verfahren mehr vor, sondern es hat sich die Machtpolitik in ihr
eingeschlichen. Gutachter müssen von der Gesetzgebung und ihren
Ausführungsorganen gestützt freien Zugang zu den Informationen erhalten, welche
sie für ihre Aufgabenerfüllung benötigen. Ausgenommen in den Bereichen
technischer Unterstützung, deren Auswirkung sich nicht hemmend auf die freie
Entscheidungsfähigkeit der Gutachter auswirken darf, darf es zu keiner
Berufsentwicklung zum biotelen Gutachter geben, zu keiner Kastenbildung mit der
dann eigene Berufsinteressen verbunden wären und die der Beeinflussung durch
Privat- und Gruppeninteressen zugänglich würden.
Der Unabhängigkeit der Gutachtenabfassung steht die Abstimmung durch die über
lebenswichtige Zusammenhänge so weit als möglich wahrheitsgemäß aufgeklärte Betroffenen
zur Legitimierung der Gutachtenergebnisse als verpflichtende Gesetze an
Bedeutung zur Seite.
Prof. Karl W. Deutsch hat deutlich gezeigt, welch hohe Bedeutung der möglichst
wirklichkeitsgetreue Informationsaustausch zwischen allen Beteiligten des
sozialen Systems in all seinen Gliederungen hat.
Die enge Verflechtung von Medien und Machtpolitik steht einer Mündigkeit der
Bevölkerung durch wirklichkeitsgetreue Aufklärung über lebenswichtige
Zusammenhänge entgegen, die doch Voraussetzung für eine verantwortungsvolle
direktdemokratische Mitwirkung an der Regierung insbesondere mittels des
biotelen Systems ist. Dass hier grobe und für Gesundheit und Freiheit
gefährliche und zerstörerische Missbräuche unter dem Vorwand der Pressefreiheit
vorliegen, ist unbestreitbar und leicht mit Beweisen zu belegen.
Es ist unumgänglich, dass über das unabhängige biotele Gutachtenverfahren eine
Kontrolle über die öffentlichen Medien ausgeübt wird.
Definiert man jegliche Kontrolle der Publikationsmedien mit Zensur, so müsste
man auf einer biotelen Zensur bestehen.
Die bisher bekannte Zensur bezog sich aber auf solche durch Machtpolitik und
zielte unter Täuschung auf Machterhalt ab und wurde im Bonner Grundgesetz
deshalb ausdrücklich unter Verbot gestellt, um die freie Meinungsbildung zu
befördern.
Es hat sich aber herausgestellt, dass die Massenmedien derzeit von mächtigen
Kapitalgebern und Interessenvertretern betrieben und kontrolliert werden unter
die auch die regierenden Parteien zählen, und welche die öffentliche Meinungsbildung
in gefährlichen Ausmaß manipulieren.
Zu den weithin verborgenen und doch wirksamen Mitteln dieser Manipulation
zählen auch die Reizüberflutung und Ablenkung von der Auseinandersetzung mit
lebenswichtigen Problemen. Bereits im Erziehungs- und Schulwesen muss darauf
geachtet und das Ziel verfolgt werden, daß die Beschäftigung von Kindern und
Jugendlichen mit den elektronischen Medien sich nicht vermeidbar hemmend auf
die
Ausbildung und Erhaltung des Wahrnehmungs-, Denk- und freien Entscheidungsvermögens
auswirkt.
Das Zensurverbot des Grundgesetzes bezweckt ein Verbot der Beeinträchtigung der
freien Meinungsbildung und hält die freie Konkurrenz der Publikationsmedien für
das diesem Zweck angemessene Mittel. Die öffentlichen Medien unterbinden jedoch
diese freie Konkurrenz (Beispiele: Rundfunkaufsicht, Medienbeteiligung von
Parteien), so weit eine solchen nicht einfach infolge wirtschaftliche Schwäche
von Anbietern abweichender oder ungewöhnlicher Meinungen nicht gewährleistet
ist.
Biotele
Zensur würde also keine staatliche Einschränkung der Informationsmöglichkeiten
bedeuten, wie sie vom Bonner Grundgesetz Artikel 5 unter Benennung als
Zensurverbot von einer Handhabung ausgeschlossen wird, sondern eine Erweiterung
der Unterrichtung der Öffentlichkeit mit dem Ziel möglichst tatsachen- und
wirklichkeitsentsprechender Meinungsbildung. Biotele Zensur ist also lediglich
Kontrolle auf Ausgeglichenheit von Information zur Behinderung von
Fehlinformation ganz im Geiste des Grundgesetzes.
Es wäre denkbar, dass sich eine biotele „Zensur“ über den biotelen
Gutachtenprozess in etwa in nachfolgenden biotelen Gesetzen auswirken könnte:
(Nachstehendes gilt natürlich
erst im Rahmen und Umfeld der Vorbereitung einer biotelen Gesetzgebung, ist
also noch Utopie) .
a.)
Zwangsweise ist ein Informationsangebot zu verhindern oder doch zu erschweren,
welches sich gegen die Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit auswirkt.
Das unabhängige biotele Gutachtenverfahren, von Kontrollkörperbüros nur
verwaltet und im unabhängigen Ablauf nicht beeinträchtigt, ist unverzichtbarer
Teil der Rechtsstaatlichkeit.
In diesem Sinne muss ein Informationsangebot durch Strafen verhindert werden,
das die biotele Gesetzgebung durch vor dem Hintergrund der Zielsetzung
umfassender Lebenserhaltung sachlich unbegründete Einwendungen und
Fehlinformation entgegen der vorherrschenden Meinungen in der Fachwelt
behindert. Insbesondere gilt dies in Zeitnähe vor Abstimmung über biotele
Gesetze hinsichtlich deren speziellen Inhalt und verstärkt, wenn Einzel- und
Gruppeninteressen einer
biotelen Gesetzesregelung entgegenstehen.
Zensurmaßnahmen richten sich allein gegen Verbreitung in der allgemeinen
Öffentlichkeit, nicht gegen Veröffentlichung innerhalb von wissenschaftlichen
Fachorganen, soweit in diesen eine kritisch-sachliche Sichtung und Beurteilung der Informationen
erwartet werden kann und die Zugänglichkeit dieser Fachmedien durch Art ihrer
Sprache oder andere Vorkehrungen auf ein sachkundigeres Publikum oder ein
solches mit breiten Bildungsgrundlagen im wesentlichen beschränkt bleibt.
Strittige Sachverhalte sind möglichst über biotele und Begutachtung und
möglichst ohne Zeitverzögerung abzuklären.
Es wäre an die Möglichkeit zweier Sanktionsarten gegen Zensurverstöße im Rahmen bioteler Gesetzgebung zu denken.
b-a. Freiwillige Vorzensur von Informationsangeboten an die
Öffentlichkeit über eine biotele Begutachtung auf Kosten des Antragstellers,
wonach eine Unbedenklichkeitsbestätigung von Strafmaßnahmen freistellt, auch
wenn sich nachträglich eine schädliche Wirkung dieses Informationsangebotes
herausstellen solle.
b-b. Nachträgliche Zensur mit der Folge von Strafmaßnahmen
gegenüber den schädlichen Auswirkungen des Informationsangebotes. Dabei müssen die
Strafmaßnahmen derart empfindlich ausfallen, dass ein Anreiz zum Verstoß gegen
den Schutz des Gemeinwohles über Beeinflussung bioteler Gesetzesabstimmung
möglichst gering gehalten wird.
c. Veröffentlichungen, die sich offen oder versteckt gegen das
biotele Ziel der dynamischen Stabilität und die biotele Gesetzgebung oder einen
biotelen Gesetzentwurf richten wären auch in massenwirksamen Medien
gestattet, wenn zeitgleich und in mindestens gleichem Umfang und bei
hervorgehobener Deutlichkeit in derselben Veröffentlichung eine
entgegengerichtete begründete Stellungnahme aus Kreisen bioteler Vereine* und
auf der Grundlage vom dem nächst dem Publikationsorgan gelegenen
Kontrollkörperbüro veranlasste unabhängiger gestufte biotele Begutachtung auf
Kosten des Publikationsorganes erfolgt.
Die Gutachter haben das Recht deutliche Bezugszeichen zu ihrem Antworttext auf
dem beanstandeten Text der bioteliefeindlichen Ausführungen anbringen zu lassen und
bei Notwendigkeit für die inhaltliche Klarstellung eine Textraumerweiterung
durchzusetzen.
*Biotele Vereine wären solche sog. Idealvereine, die sich der Pflege von Heimat, Kultur, der Ausübung von Sportarten, Berufen u.a. widmen und dabei satzungsmäßig beschlossen haben, das biotele Gesetzgebungssystem durch ihren Rat zu unterstützen, ohne irgendeinen materiellen Vorteil aus dieser Unterstützung für sich und ihre Mitglieder oder andere daraus zu ziehen.
Den Publikations-Medien müsste zur Pflicht gemacht werden, den biotelen
Vereinen eine „biotele Ecke der Wissenschaft“ einzuräumen, um möglichst zeitnah
berichtigend auf Darstellungen eingehen zu können, die dem Gemeinwohl
abträglich sind. Diese Beiträge der biotelen Vereine müssten zuvor einer
raschen biotelen Begutachtung unterzogen werden und könnten über eine derartige
Begutachtung später auch richtiggestellt werden, falls sich Irrtümer
eingeschlichen haben sollten. Der Wettbewerb zwischen
Veröffentlichungsbeiträgen bioteler Vereine sollte ebenfalls über das biotele
Gutachtenverfahren entschieden werden.
Auch im Zusammenhang mit der nur eingeschränkten Häufigkeit, klare Sachzusammenhänge zu erkennen und zukünftige Entwicklungswmöglichkeiten vorauszusagen, ist die Gefahr einer Beeinträchtigung der Öffentlichkeitsarbeit für Aufklärung und Unterrichtung durch „biotele Zensur“ äußerst gering. Sie kann noch dadurch gesenkt werden, dass professioneller gewinnbringender Beschäftigung mit bioteler Zensur organisatorisch entgegengearbeitet wird. Die heute schier unerträglichen Fehlentwicklungen auf dem Gebiet der Unterrichtung und die Zeit- und Kräftevergeudung durch Leerlaufkonsum auf fast allen Bereichen zwingen vielleicht in naher Zukunft zur Besinnung auf eine völlig neue Periode der Aufklärung.
Mit
der biotelen „Zensur“, die eigentlich eine Zensurhemmung werden soll, und dem
Aufbruch in ein solches Zeitalter
einer erneuten Aufklärung würde die Klammer geschaffen, die zwischen einem
System kybernetischer Politik und dem der Machtpolitik geschlagen werden muss.
Platon wandte sich mit seiner Utopie vom idealen Staat bekanntlich an den
Tyrannen von Syrakus; kybernetische Staatslehre, wie sie Karl W. Deutsch
anregen will, muss sich an die Völker wenden. Die müssen aber erst für ihre
ungewohnte Verantwortung vorbereitet und an möglichst viele Zusammenhänge in
der Wirklichkeit herangeführt werden.
127